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  Geschichte   

 


Horst Mahler

Neu Beginnen - Teil 1 -

(Dieser Text wurde auf Einladung von Günther Nenning geschrieben und als "Brief aus dem Kerker" in drei Folgen in der in Wien erscheinenden Zeitschrift "NEUES FORVM" veröffentlicht)
Im Jahr 1980 brachte der der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) nahestehende Verlag DE DONATO den Essai unter dem Titel "PER LA CRITICA DEL TERRORISMO" als Band 103 der Reihe DISSENSI heraus.
In der Bundesrepublik Deutschland fand sich bisher kein Verleger.)

Tegel, Im Jänner/Februar 1978

Die Gralshüter des Goldenen Kalbes sind auf der Suche nach den Ursachen und Gründen des Terrorismus. Doch für die Reaktion ist nichts gefährlicher, für unser Überleben nichts wichtiger als die wahre Antwort auf diese Frage n. Die Linke versäumt ihre Zukunft, wenn sie nicht am kräftigsten und tiefsten bohrt, um sie zu finden.

Jene, die heute mit den Leichen, die ihnen die Terroristen liefern, die Verfassung zudecken und die bürgerliche Freiheit ersticken wollen, wecken doch auch - ganz gegen ihre Absicht - die Entschlossenheit zur Verteidigung dieser Verfassung und der bürgerlichen Freiheit. Die uns von den Nutznießern des Terrors aufgezwungene offensive Ursachenforschung vertieft, schärft und verallgemeinert die Einsicht in die Lebensfeindlichkeit des Kapitalismus. Immer mehr wollen ihn begraben - und damit die Welt von einer schlimmen Plage befreien.

Wo Dregger recht hat

Sosehr sich die Terroristen der "dritten Generation" auch von den Gründern der RAF unterscheiden mögen, so wirkt in ihnen allen doch das gleiche Grundmotiv: Ihre Handlungen sind nur der fehlgehende praktische Ausdruck ihres vernichtenden Urteils über einen gesellschaftlichen Zustand, der die schöpferischen Kräfte der Menschen profitiert und gegen das Leben kehrt, die Herzen versteinert und die Atemluft in Giftgase verwandelt.

Die Heimatlosigkeit des Menschen in der kapitalistischen Welt ist der Nährboden des Terrorismus.

Alfred Dregger hat das fast so in d er Terrorismusdebatte des Bundestages am 28. Oktober 1977 ausgesprochen. In den zerstörerischen Kräften der Verzweifelten erkennt er sogar ,,die fehlgeleiteten idealistischen Energien eines Teils der deutsc hen Jugend". Wer hat ihr die Hoffnung gestohlen?

Wahr ist auch, daß- wie Dregger sagt "der Mißbrauch der Grundwerte und des Geschichtsbewußtseins der 'Deutschen durch Hitler" der Anfang dieser Entwicklung war. Er hätte diesen Gedanken ausführen sollen.

Man begreift nicht die Zerstörungen, die die Nazibarbarei in uns angerichtet hat, wenn man den Staat nur äußerlich als ,,Unterdrückungsmaschine'' faßt und nicht auch als reale Existenz des allgemeinen Willens.

Der Faschismus war die Vernichtung der letzten Reste von Sittlichkeit im öffentlichen Leben. Er hat eine eiternde Wunde in unserem Bewußtsein zurückgelassen.

Als gesellschaftliches Wesen muß der Mensch im Staate als dem Seinigen zu Hause sein, in ihm seinen allgemeinen Willen erkennen und anerkennen, sich so im Staate mit sich selbst identifizieren können. Wo ihm das nicht möglich ist, dort ist er von den Wurzeln seines Seins abgeschnitten. Wie aber könnten junge Menschen, die sich für das Allgemeine, das Gute begeistern, in einem Staate heimisch sein, der sich gerade als mörderischer Leviathan, als das institutionalisierte Ve rbrechen gegen die Menschlichkeit gezeigt hatte? Das ist der Grund, warum dieser Terrorismus - wie Alfred Dregger ebenfalls zutreffend bemerkt - gerade in Deutschland, Italien und Japan erschienen ist.

Eine verlogene "Vergangenheitsbewältigung" hat sich - nach den von uns anders und so erst richtig verstandenen Worten Dreggers- "vielfach nicht bemüht, die von Hitler pervertierten und mißbrauchten Grundwerte in ihrer Reinheit wiederher zustellen, sondern sich bemüht, diese Grundwerte endgültig auszulöschen". Und zwar - so füge ich hinzu - indem sie den Profit zum allesheiligenden Zweck proklamierte. Das hat dem Nachfolgestaat, der Bundesrepublik Deutschland, jenen di e Terroristen antreibenden tödlichen Haß zugezogen, der berechtigterweise dem Faschismus gilt.

Unbeflecktheit des Staates

Weder angebliche Haltlosigkeit noch vermeintliche Schlechtigkeit der Jugend vereiteln deren Identifikation mit dem Staat und dem deutschen Volke, sondern die traumatische Erinnerung an die faschistischen Greueltaten, das Ausbleiben einer antifaschi stischen Revolution in Westdeutschland und die Kontinuität der imperialistischen Verstrickung des Staates hier.

Einen "linken" Professor würde Dregger wegen solcher Einsichten als ,,Sympathisanten" brandmarken. Weil er die Bedeutung seiner Worte verkennt und blind ist für die auf dem Grunde der Gesellschahft wirkenden Kräfte, wird er unfreiwillig zum Zeugen der Wahrheit. Den Faschismus mystifizierend, gibt er Hitler und den Zweiten Weltkrieg für ein irrationales Geschichtsereignis aus. Demgegenüber dringen unsere Fragen tiefer in die Wirklichkeit ein. vertreiben den Nebel der Legenden un d decken die gesellschaftlichen Ursprünge des Faschismus auf, verfolgen seine Spuren bis in die Gegenwart, beleuchten seine vielfältigen Querverbindungen zur erscheinenden Oberfläche des politischen Tagesgeschehens.

Einsicht in die Ursachen des Terrorismus der RAF und ihrer Ableger ist nicht zu trennen von dem Wissen, daß die imperialistischen Weltkriege die Fortsetzung der kapitalistischen Konkurrenz mit anderen Mitteln waren. Die Hitler-Bande wuchs nicht z ufällig auf dem Boden des Profitsystems, das in Westdeutschland den militärischen Sieg der Alliierten überdauert hat. Nur deshalb konnten die Mörder von Hanns-Martin Schleyer in ihre taktischen Überlegungen auch die Fassungslosigk eit, die Wut und die Scham einbeziehen, die viele von uns über die Karriere ihres Opfers empfinden: Ein ehemaliger höherer Führer einer verbrecherischen Organisation, der SS, an hervorragender Stelle bis 1945 verantwortlich für die Aus plünderung der Tschechen und Slowaken, rückt schon 1951 - nur sechs Jahre nach der Kapitulation der Faschisten - wieder in eine Führungsposition der deutschen Wirtschaft ein und wird in einem steilen Aufstieg zum wichtigsten und einflu&szli g;reichsten Interessenvertreter des westdeutschen Kapitalismus.

Die Entführer hofften wohl, den Geiselmord als die Vollstreckung eines Urteils legitimieren zu können, das die befreite tschechoslowakische Republik über Schleyer gesprochen hätte, wäre er 1945 seinen Richtern nicht entkommen, und das möglicherweise auch ein westdeutsches Gericht gegen ihn verhängt hätte, wäre hier das Volk gegen die Faschisten aufgestanden.

Strauß und Dregger versuchen, durch eine Personalisierung der staatlichen Barbarei die rebellische Jugend mit dem Staat wieder zu versöhnen: Die Greuel und Zerstörungen schreiben sie dem angeblich unbegreiflichen Phänomen Hitler zu , und im übrigen wollen sie uns die Unbeflecktheit des Staates weismachen. Daher läuft ihre moralische Aufrüstung gegen den Terrorismus und seine "Sympathisanten" notwendig hinaus auf eine Rechtfertigung der Nazidiktatur.

Die Verteidigungsrede von Strauß für die chilenische Militärjunta enthält in kaum verschleierter Form die Behauptung, Faschismus sei - wenn es um die Erhaltung des Profits gehe - ein notwendiges Übel und in diesem Sinn unter U mständen eine gute Sache. Genau diesen Sinn hat auch Dreggers Lob für das blutige Schah-Regime in Persien. Ihre Kritik an Hitler meint so nur noch einige vermeintlich irrationale "Auswüchse'' seiner Terrorherrschaft.

Die angekündigte Kampagne zur Korrektur der öffentlichen Meinung über das Pinochet-Regime will die deutsche Jugend mit der faschistischen Vergangenheit einverstanden machen, ihr den Ekel über Konzentrationslager und Massenmord nehme n. Es ist ein Programm zur Rebarbarisierung unseres Volkes, das wohl von einigen für reif befunden wird, wieder einmal im eigenen Blute gebadet zu werden.

Ihnen leistet die RAF unschätzbare Dienste.

Die Bombardierung des Springer-Hochhauses in Hamburg, bei der zahlreiche Arbeiter und Angestellte verletzt wurden; die Geiselerschießung in der Stockholmer Botschaft; die Attentate auf Drenckmann, Buback und Ponto; die Erschießung des gefan genen Hanns-Martin Schleyer; der Massenmord an Chauffeuren und Leibwächtern; schließlich die Drohung mit einem Massaker an wehrlosen und völlig unbeteiligten Zivilisten, unter ihnen Kinder, Frauen und Greise - was haben diese Aktionen bewi rkt?

Sie haben die fortschrittlichen Kräfte geschwächt, teilweise demoralisiert, vermutlich die Sozialisten noch mehr im Volk isoliert und diskreditiert.

Während der Schleyer-Krise und danach gab es in unseren Reihen deutliche Zeichen von Fluchtmentalität und Kapitulantentum - weniger aus Feigheit vor dem Feind als aus Ratlosigkeit und Erschrecken über die eigene Mitverantwortung für diese Entwicklung. Wir erkennen die Herausforderung - und wissen doch keine linke Antwort auf sie. Deshalb fühlen wir uns schuldig.

Wir sind wohl auch darüber erschrocken: Trotz Mißstimmung und Krise sucht das Volk mehrheitlich die Alternative zum drohenden Zivilisationsverlust nicht in der Revolution, sondern in der reaktionären Formierung des Staatsapparates. Zu t ief grub sich in sein historisches Gedächtnis das Grauen vor einem Zustand des Faustrechts, der blutigen Barbarei, der unkontrollierten und unkontrollierbaren Gewalttätigkeit in einer zerfallenden Gesellschaft mit ums Überleben kämpfen den Gruppen(interessen).

Zauberkraft Ordnung

Diese Erfahrung offenbart verdeckte Lücken unseres Wissens über die Gesellschaft. Gegen das Wort "Ordnung'' sind wir - so scheint's - allergisch. Über Carl Schmitts These, der Ausnahmezustand sei "immer noch eine Ordnung, wenn auch k eine Rechtsordnung'', haben wir uns meist nur entrüstet, statt darin das Körnchen Wahrheit zu erkennen, ohne das dieser Satz kaum Furore machen würde.

Worin besteht die ,,Zauberkraft", die Antonio Gramsci jenem Wort "Ordnung'' zuschrieb? Georg Lukacs sprach von der "natürlichen und instinktiven Orientierung nach dem Staate'', wie sie auch die Arbeiter haben, selbst "noch inmitten der tödlic hen Krise des Kapitalismus''. Wie ist zu begreifen, daß schon vor der "Machtergreifung'' mehr als ein Drittel der NSDAP-Mitglieder aus der Arbeiterklasse stammte? Zählt man gar Arbeiter und Angestellte zusammen, kommt man auf die absolute Mehrh eit.

Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, daß Völker sich zustimmend einer Tyrannis beugten, weil sie dieser den Vorzug gaben vor einem Zustand der Anarchie, der blutigen Gruppenfehden und Parteikämpfe. Ihnen ist bewußt, da ß eine komplexe Gesellschaft eher in politischer Unfreiheit überleben kann als ohne Ordnung.

Die Aktionen der Terroristen aktualisieren die latente Angst vor dem Chaos und rufen so im Volke die Bereitschaft hervor, den Ausnahmezustand hinzunehmen.

Das säkulare Wachstum des Kapitals ist ernsthaft in Frage gestellt; die Systemkrise gefährdet den sozialen Konsens; dadurch wird die parlamentarische Regierungsform immer ineffektiver und labiler. In einer solchen Situation ist die Bereitscha ft des Volkes zum Ausnahmezustand eine ernste Gefahr. Sie fällt zusammen mit dem objektiven Bedürfnis des Kapitals, die Lasten einer lang anhaltenden Krise auf die Schultern des Volkes abzuwälzen und den vorhersehbaren Widerstand dagegen mi t den Mitteln des Ausnahmezustandes zu brechen.

So erleichtert und beschleunigt der Terrorismus eine Entwicklung, die unweigerlich zu einer Liquidierung der parlamentarischen Demokratie durch ein cäsaristisches Regime führen wird - wenn die Linke in Deutschland weiterhin unter dem Niveau d er Geschichte bleibt, wenn es uns nicht gelingt, auf den Terrorismus und andere Fäulniserscheinungen des Profitsystems eine linke Antwort zu geben, die anders sein muß als abstrakte Revolutionspropaganda.

Offensichtlich genügt es nicht, die Übel des Kapitalismus immer nur zu verbellen, die Mißstände zu "entlarven'', um "bewußtloses Leiden'' in "leidendes Bewußtsein" zu übersetzen. Von Kriegsgeschrei, Arbeitslosigkei t, Krankheit, Alkoholismus, Drogensucht, Kriminalität, Terrorismus und zahlreichen anderen Plagen geängstigt, rufen die Menschen, statt den "Revolutionären" zu folgen, den Staat als Nothelfer herbei. Sie gestehen ihm immer weitergehende Ein griffsrechte zu, weil sie hoffen, er werde sie vor dem Schlimmsten bewahren.

Solche Erwartung gründet auch in ihrer jahrzehntelangen Erfahrung; obgleich der Staat in erster Linie das Eigentum der Unternehmer schützt und deren Profite garantiert, ist er auch eine Macht, die - mit den Gewerkschaften zusammenwirkend - de n Verelendungstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise entgegenwirkt. Den Arbeitern ist es dabei offensichtlich völlig gleichgültig, daß er dies tut in der Absicht die gegebene Gesellschaftsordnung zu konservieren.

Die Linken haben diesen gesellschaftlichen Mechanismus bisher noch nicht richtig verstanden. Jedenfalls haben sie seine Bedeutung für ihre politische Praxis nicht berücksichtigt. Ihre schrille Parole von der "Zerschlagung'' des bürgerlic hen Staates bringt das Volk gegen sie auf. Sie erreichen das Gegenteil von dem, was sie anstreben.

Die terroristischen Aktionen der RAF, die Reaktionen - sowohl des Staatsapparates als auch des Volkes, und die Hilflosigkeit der Linken rücken das Staatsproblem jetzt in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit.

Die Mitschuld der Linken

Doch der Terrorismus offenbart nicht nur das Ungenügende unserer politischen Doktrin: deren Ohnmacht ist zugleich eine Bedingung seines Entstehens. Die Mißerfolge der Linken, ihre Sackgassen und Irrläufe in einer zur gesellschaftlic hen Umwälzung drängenden Wirklichkeit sind Ausdruck eines von dieser Wirklichkeit überholten Bewußtseins. Deshalb gelingt uns nichts mehr. Die RAF ist auch der Versuch, der Ratlosigkeit mit Bomben ein Ende zu machen.

Als uns 1969/70 das Fernsehen vom indochinesischen Kriegsschauplatz die Leichen ins Wohnzimmer warf - hätten wir da den oder einen richtigen Weg zur Überwindung des Imperialismus gewußt, wir hätten nicht die Waffe in die Hand genom men. Denn das war ein falscher Weg. Könnten wir heute die Straße des Erfolges zeigen, dann wäre nach den Erfahrungen mit der RAF - insbesondere nach deren Drohung mit einem Massaker an unbeteiligten und wehrlosen Zivilisten - niemand mehr in Gefahr, den antiimperialistischen Kampf nach dem Vorbild der RAF zu führen.

Der Terrorismus ist ein Symptom der ideologischen Krise der sozialistischen Bewegung insgesamt. Niemand schleiche sich da aus der Verantwortung!

Wo ist heute die Alternative zum Kapitalismus - und sei es auch nur in Umrissen erkennbar und erfahrbar? Es gibt nur erst Keime des Neuen; noch kaum entdeckt. Weil ein besserer qesellschaftlicher Zustand nicht konkret vorstellbar ist, empfindet die Meh rheit des Volkes den kapitalistischen noch als den "eigentlich natürlichen'', die bürgerliche Gesellschaft als die einzig denkbare - und daher auch legale Ordnung. Diese will sie verteidigt wissen. Daher findet sie sich ab mit der Aufrüstun g des Staatsapparates zum Bürgerkrieg.

Im babylonischen Theoriengewirr ist die Linke einheitlicher Zurechnungspunkt eigentlich nur durch ihren negativen gemeinsamen Nenner: die abstrakte Ablehnung des Kapitalismus.

Das macht es problematisch, die RAF und ihre Ableger unvermittelt aus dem Konsens der Linken auszuschließen, zu behaupten, sie seien gar keine Sozialisten im weiteren Sinne, eher Faschisten. Das glaubt uns auch niemand.

Die historischen Tatsachen widersprechen dieser Behauptung. Wer wagt die freche Lüge, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin - zum Beispiel - seien niemals Linke gewesen? Wer wollte bestreiten, daß sie mit dem "Konzept Stadtguerilla" die Verwirkl ichung ihres sozialistischen Ideals erstrebten ?

Damit die notwendige Abgrenzung der Linken gegen die Terroristen nicht nur eine zweifelhafte Unterwerfungsgeste ist, wäre an der Entwicklung der RAF und ihrer Praxis der Umschlagspunkt aufzuzeigen, an dem ihr Irrtum übergeht in eine antisozia listische volksfeindliche Strategie.

Es ist eine vermutlich richtige Annahme, die Terroristen der "dritten Generation" enthielten sich aller politischen Reflexionen, verhielten sich denkfeindlich und seien nur noch von dem Wunsch beseelt, ,,alles in die Luft zu sprengen''. Doch gelän ge auch damit deren Ausgrenzung aus dem linken Spektrum kaum überzeugender, denn der revolutionäre Impuls wäre auch bei ihnen noch nachweisbar. Ihre zerstörerische Besessenheit ist ein verzweifelter Versuch, sich einer erdrückende n Fremdwelt zu erwehren, ist ein Aufbäumen gegen den Kältetod der Seele in der kapitalistischen Wüste.

Das eigene Verrecken nach außen wendend, hoffen, phantasieren sie, indem sie auf Menschen zielen, mit ihren Kugeln das Kapital zu treffen. Und es wäre dieser letzte Funke eines politischen Willens, der sie von gleichermaßen verzweifelt en Selbstmördern, Rauschgiftsüchtigen und psychisch zerstörten Menschen unterscheidet.

Den Trennungsstrich können wir wohl nur aus ihrem Gegensatz gegen die Inhalte der sozialistischen Bewegung und die mit unseren Zielen noch zu vereinbarenden Mittel und Wege des Kampfes herausarbeiten.

Das Volk bleibt ruhig

Revolutionen - friedliche und gewaltsame - schaffen ein neues Gesetz gegen eine überlebte Ordnung, die die vorwärts drängenden Klassen und Schichten des Volkes nicht mehr wollen. Revolution ist revolutionärer allgemeiner Wille.< /P>

Wo das Volk nicht aufsteht, schafft der bewaffnete Angriff auf den Staat kein neues Gesetz sondern Willkür - letztlich Tyrannei.

Die Terroristen setzen so auch nicht das höhere revolutionäre Recht gegen das alte, zum Unrecht gewordene Gesetz. Folglich lösen sich ihre Skrupel auch nicht in einer allgemeinen Überzeugung von der Notwendigkeit revolutionärer Gewaltanwendung.

Für Antifaschisten, die aus Empörung über die Tötung von Menschen Sozialisten geworden sind, ist die Vorstellung, selbst Menschen töten zu sollen, das schwierigste Problem. Um sich zum "Kämpfer" zu machen, muß der an gehende Terrorist sein Gewissen ausmanövrieren. Während der kriminelle Mörder sein moralisches Wertsystem bewußt mißachtet - gar völlig aufgibt, befreit sich der Terrorist von seinen Gewissensbissen, indem er die allgemeine Moral übersteigert, sich so eine absurde eigene Moral setzt. Sein "Herzklopfen für das Wohl der Menschheit'' schlägt um "in das Toben des verrückten Eigendünkels" (Hegel).

Von der absoluten Geltung seines Ideals einer menschlichen Gesellschaft durchdrungen, sich seiner Moralität sicher, ist ihm sein vereinzeltes Bewußtsein das Maß aller Politik, der Gesellschaft und der in ihr lebenden Individuen. Er ver läßt sich nur auf sich, - und verliert so alle Gelassenheit; von ihm allein hänge es ab, ob sich die Welt zum Besseren verändere oder nicht. Mit dieser Erwägung entkoppelt er sich von allen äußeren Einflüssen auf sein Gewissen, ernennt sich zum Herrn über Leben und Tod, richtet in sich den Despoten auf.

Die geschichtlich notwendige Aufhebung des Kapitalismus in sich vorwegnehmend, sieht er die vom Profitsystem verursachten Leiden nur noch als Verbrechen gegen die Menschheit.

Die sogenannten Charaktermasken dieses Systems personifizieren für ihn das Böse, das es zu vernichten gilt. Durch diesen moralischen Rigorismus wird ihm das Töten zur unbedingten moralischen Pflicht. Er ist gegen nichts unduldsamer als g egen den Versuch, seine moralistische Konstruktion in Frage zu stellen. Sie ist sein schwächster Punkt.

In meiner ersten öffentlichen Kritik an der RAF (September 1974) schrieb ich:

Da die RAF ein moralisches Verhältnis zur Politik hat, neigt sie dazu, die Kritik an ihrer Linie als Widerspruch zwischen sich und dem Feind zu erleben und entsprechend zu reagieren. Der moralische Charakter haßt die Unmoral und denjenigen, der die moralischen Ansprüche an sein Verhalten nicht erfüllt. Der moralische Charakter dünkt sich erhaben und demjenigen überlegen, der seine Gebote nicht beachtet Da die RAF-Politik und die Moral der RAF Genossen eins sind, hassen si e jene, die ihre Politik nicht nachvollziehen. Sie überzeugen nicht, sondern sie üben moralischen Terror. Sie führen nicht, sondern sie treiben an. Sie helfen nicht, die Angst zu überwinden, sondern sie denunzieren sie als moralischen Unwert.

In abstrakten Deklamationen verherrlichen sie das Volk. Wo es ihnen aber konkret gegenübertritt, stellen sie die gleichen hohen Anforderungen, denen sie sich selbst unterwerfen - und verachten die Massen, weil sie diese Ansprüche nicht erf&uu ml;llen.

Warum die RAF haßt

Sie haßten (und hassen) nun nicht mehr nur die "Charaktermasken'' des Imperialismus, sondern auch jene Linken, die sich ihrer Politik widersetzten (und widersetzen). Kein Haß ist so unerbittlich und maßlos, wie der eines moralisti schen Eiferers.

In ihrem manichäischen Wahn, der die Welt in Gute und Böse teilt, sind letztlich nur sie Menschen, also gut - der Rest "Bullen'' oder ,,Schweine''. Sie empfinden Genugtuung bei dem Gedanken, daß auch die "feigen Linken'' von den Schl&au ml;gen des gereizten Staatsapparates getroffen werden, dadurch vielleicht "aufwachen" - also ebenfalls zu Terroristen werden.

Sie hassen alle, die den bürgerlichen Staat bejahen und ihn erhalten wollen - damit hassen sie die überwiegende Mehrheit des Volkes.

Ihre Volksfeindlichkeit drückt sich in ihrem Kalkül aus, daß eine Verschärfung der staatlichen Repression bis hin zu faschistischem Terror die ,,Massen" schließlich gegen den Staat empören und so den revolutionären Widerstand im Volke hervorrufen und speisen werde.

Das aber heißt nichts anderes, als daß sie sich selbst der zunehmenden staatlichen Repression als Mittel ihrer Politik bedienen. Sie sind die mittelbaren Täter des um sich greifenden Polizeiterrors.

Seit der Verhaftung von Andreas Baader faselte die RAF davon, daß sich in der Bundesrepublik der Faschismus - den sie gelegentlich als "Reformfaschismus'' apostrophierten - bereits wieder etabliert habe. Sie verriet so nur, wie sehr sie dieser L& uuml;ge bedarf, um ihre mörderischen Aktionen zu rechtfertigen, und wie ungeduldig sie die Liquidation der bürgerlichen Freiheiten herbeiwünscht.

Die Terroristen sind für die politische und soziale Reaktion benutzbar als Vorwand für die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik. Sie sind aber auch in ihrer subjektiven Motivation verrottet und herabgesunken zu K omplizen der Staatsstreichstrategen.

Nicht der Marxismus, nicht der Leninismus und auch nicht die sozialen Utopien der Anarchisten sind der Quellgrund des Terrorismus, sondern die unerträgliche Realität des Kapitalismus, seine in Vergangenheit und Gegenwart an der Menschheit ver übten Greueltaten, die von ihm verursachte seelische und geistige Verelendung. Die daraus entstehende zerstörerische Verzweiflung muß man als den Ursprung des Terrorismus begreifen. Wir müssen uns ihm gegenüber konsequent als zu einem schädlichen und gefährlichen Zerfallsprodukt des Profitsystems verhalten. Das ist eine wichtige Bedingung dafür, daß die fortschrittlicher Kräfte in der gegenwärtigen Krise aus der Defensive herauskommen. Wir müss en den Terrorismus als extremen Ausdruck der Krise der Linken erkennen. Wir werden durch ihn auf einen Mangel unseres Bewußtseins gestoßen.

Erst wenn wir dies sehen, kann der Generalangriff der Reaktion auf alle fortschrittlichen Positionen und Kräfte, ihr Versuch, die Grundrechte zu liquidieren, zum auslösenden Impuls werden für einen Bewußtseinssprung nach vorn - zur ück in die Wirklichkeit, die wir dann auch verändern können.

Ich bin überzeugt, daß nur die Linke den Terrorismus wirklich überwinden kann. Es genügt aber nicht, ihn von sozialistischen Positionen aus nur zu kritisieren. Die Verzweifelten, die noch politisch auf ihre eigene Zerstörung r eagieren, müssen wieder hoffen können. Ihr Wille, die Welt zu verändern, muß wieder einen Boden haben.

Dieser Boden kann nur die reale Bewegung unseres Volkes sein, in das wir zuallererst zurückfinden müssen. Wenn wir feststellen, daß dieses Volk am Kapital leidet und uns dennoch nicht versteht, dann liegt das nicht am Volk - nicht daran , daß es angeblich verhetzt und verdummt ist - das liegt an uns. Und es sind nicht nur sogenannte Sprachbarrieren, die die Verständigung verhindern, sondern der Inhalt unserer Botschaft. Ich wage die Behauptung, daß wir uns mit dem von Ma rx, Rosa Luxemburg und Lenin ererbten Revolutionsmodell den Weg zur sozialen Umwälzung ideologisch verbaut haben.

Ihre Anweisung lautet, das Volk in seiner Unzufriedenheit und Empörung aufzuwühlen zum Sturm gegen den Staatsapparat. Auf dessen Trümmern sei die Diktatur des Proletariats zu errichten und erst danach mit den Mitteln der rovolutionä ren Staatsmacht die Gesellschaftsordnung umzuwälzen. Das ist Anstiftung zu einem untauglichen Versuch, der Grund unserer praktischen Inkompetenz, Ausdruck der Tatsache, daß die Linke den Staat nicht begriffen hat und nur ein Vorurteil über ihn besitzt.

Bisher haben die Linken die "Staatsgesinnung'' den Reaktionären als deren eigentümlichen Acker überlassen. Sie erklärten sie zum "ideologischen Reflex'' der Klassenherrschaft der Eigentümer, damit zu ,,falschem Bewußtsein ''. Sie haben sich nicht darum gekümmert, was sie denn in Wahrheit sei. Die platt mechanistische Anschauung vom Staat als einer bloßen Unterdrückungsmaschine hat das Wissen von seinem Wesen tief verschüttet.

Dafür wurden wir mit jenem lähmenden Pessimismus gestraft, der uns alle Arbeit am vorhandenen Staat als fruchtlos und vergeblich erscheinen läßt, jegliche affirmative Aktion vertagt - in ein phantasiertes Utopia jenseits der realen Möglichkeit.

Von Lenin stammt der mißverständliche Satz, je demokratischer die bürgerliche Republik sei, um so brutaler, zynischer sei die Herrschaft des Kapitalismus. Das gibt jenen ein gutes Gewissen, die sich zum Staat nur äußerlich al s zu einer demnächst zu vernichtenden Macht verhalten - und ihn dadurch länger als geschichtlich notwendig dem Kapital überlassen.

Im Volk lebt das Bewußtsein, daß der Staat notwendig sei. An diesem Bewußtsein - einer geistigen Macht die zur materiellen Gewalt geworden ist - hat er seine reale Existenz. So ist er eins mit der Gesellschaft, deren allgemeiner Wille er ist, und die absolute Macht.

Erst die besondere Existenz des Allgemeinen ermöglicht die besondere Existenz des Besonderen und Einzelnen, die Freiheit des Individuums, die im Sozialismus nicht aufgehoben ist, sondern erst Wirklichkeit wird. Wäre der allgemeine Wille der G esellschaft nicht mehr durch den Staat vermittelt, müßte er unmittelbar als Allgemeinheit (Konformität der Meinungen und Absichten) dasein; denn anders könnte die Gesellschaft nicht zusammenhalten.

Es gibt aber keine schlimmere Unfreiheit, als den Zwang zu konformem Denken. Schon das Vorhaben, den Staat - etwa durch die ,,Diktatur des Proletariats"- überflüssig zu machen und langsam absterben zu lassen führt in der Praxis zum Versu ch, die Individuen zu konformieren - gleichzuschalten. Das erzeugt einen totalitären Konformitätsdruck, der die Freiheit des Individuums negiert, Widerstand erzeugt - und so erst recht die Hypertrophie des Staates verursacht. Macht schlägt um in Willkür.

Marx verfehlt die Realität

Daß das Revolutionsmodell von Marx und seinen orthodoxen Schülern die Wirklichkeit verfehlt, läßt sich theoretisch einfacher aufzeigen, nachdem die Frage beantwortet ist, wie sie zu diesem Modell gekommen sind.

Die Antwort setzt die Bekanntschaft mit jenem Gedanken voraus, den ich im Kursbuch Nr. 48 ("Ausbruch aus einem Mißverständnis'') skizziert habe. Danach war die vom zweiten Drittel des 19. bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts reichen de revolutionäre Arbeiterbewegung in Westeuropa nicht schon das Vorspiel und der Beginn der sozialistischen Revolution. Das Kapital hatte - wie wir heute wissen - längst noch nicht seine historischen Möglichkeiten erschöpft, war noch n icht bis zu seinem Umschlagspunkt gereift. Nicht die soziale Umwälzung stand damals schon auf der Tagesordnung, sondern eine politische Revolution, durch die sich die Arbeiterklasse als Klasse für sich, als politisches Subjekt, der Bourgeoisie e ntgegensetzte.

Die revolutionäre Krise in der Mitte des 19. Jahrhunderts kündigte nicht das Ende der kapitalistischen Formation an, sondern- im Gegenteil - erst den Beginn ihrer vollen Entfaltung auf ihrer eigentümlichen Grundlage, der maschinellen Gro ßproduktion.

Die Erhebung der Arbeiterklasse zum politischen Subjekt, ihre Einbürgerung in die kapitalistische Gesellschaft, die Anerkennung ihrer politischen und sozialen Rechte, war - wie Engels später ( 1892) hervorhob - notwendige Bedingung dafür , daß die Bourgeoisie die volle soziale und politische Herrschaft über die Nation erlangte.

Marx aber war spätestens seit 1857 von der Aktualität der sozialistischen Revolution überzeugt und hielt die Pariser Kommune für deren Generalprobe. Dieser Irrtum, den Lenin und Rosa Luxemburg teilten. führte zu falschen Anscha uungen über die unmittelbaren Aufgaben, Mittel und Wege der sozialistischen Revolution.

Ein sozialistischer Theoretiker, der die soziale Umwälzung in greifbarer Nähe glaubt, wird es als die aktuelle Aufgabe der Arbeiterklasse bestimmen, aus der Möglichkeit die Wirklichkeit zu machen und die Revolution zu vollbringen. Er wir d den gegebenen Zustand als den Reifepunkt der kapitalistischen Entwicklung interpretieren und theoretisch begründen, daß und wie der Übergang gerade von diesem Zustand aus zu vollziehen ist. Er kann nur solche Aufgaben, Mittel und Wege de s Kampfes angeben, die allein jenem konkreten Zustand und den darin zu vermutenden Entwicklungstendenzen entsprechen.

So ist Marx verfahren. Schon 1845/46 schrieb er zusammen mit Engels in der Deutschen Ideologie:

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Be wegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung. [ Hervorhebung von mir, H. M.] (MEW Bd. 3. S. 35)

Marx' Überlegungen über die Formen der proletarischen Revolution, ihre nächsten Aufgaben, Mittel und Wege waren aus den Anschauungen und Erfahrungen jener politischen Revolution geschöpft, die das Proletariat erst in die bürger liche Gesellschaft hinein und nicht schon über sie hinaus führte. Seine Revolutionstheorie mußte so fehlerhaft werden; denn man erfährt nicht, wie ein Apfel schmeckt. wenn man in eine Birne beißt.

Die von Marx begründete, von Rosa Luxemburg und Lenin fortentwickelte Revolutionstheorie - die hier nicht verwechselt werden darf mit ihrer Theorie der politischen Ökonomie des Kapitals - ist aus diesem Grunde prinzipiell ungültig.

Es überrascht daher nicht, daß die nach der Theorie längst überfällige sozialistische Revolution noch nirgends stattgefunden hat. Auch in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Industrieländern ist nicht einmal an satzweise eine diesem Modell entsprechende und an diesem sich orientierende revolutionäre Bewegung vorhanden. Lenins großartiger Versuch, die in "Staat und Revolution'' - seinem revolutionstheoretischen Hauptwerk - konzipierte "Diktatur des Pro letariats" in Rußland zu verwirklichen, ist völlig gescheitert - schon zu seinen Lebzeiten.

Hier kann die Argumentation, mit der der Mangel des Modells konkret aufzuzeigen wäre, nur grob skizziert werden:

Marx hat nachgewiesen, daß und warum der Kapitalismus eine geschichtlich notwendige Gesellschaftsformation war. Daraus zog er den Schluß: Wenn und solange das Kapital das geschichtlich notwendige Produktionsverhältnis ist, setzt seine gesellschaftliche Macht sich auch in politische Macht um. Diese These folgt unmittelbar aus seiner ökonomischen Analyse und wird von seinem oben erwähnten Irrtum nicht berührt. Ich halte sie in dem Sinne für richtig, daß das Komm ando des Kapitals über die Arbeit im bürgerlichen Staat "ihren praktisch-idealistischen Ausdruck findet'' (Marx/Engels, MEW Bd. 3, S. 69).

Staatsfromme Arbeiterklasse

Daraus folgt aber nicht, daß der Staat - wie Engels später formulierte - "nichts sei als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere". Auch für den bürgerlichen Staat gilt, daß in ihm "das gemeinsc haftliche Interesse ... eine selbständige (m. E. richtiger: besondere) Gestaltung" annimmt (Marx, MEW Bd. 3, S. 33).

Zu Marx' Zeiten sprach immerhin der erste Anschein für die Richtigkeit jener These. Damals saß die Arbeiterschaft mit der Bourgeoisie noch nicht zu Tische; sie war vielmehr von der Gesellschaft ausgesperrt und an den Katzentisch verwiesen, " aus der Gesellschaft herausgedrängt" und "nicht als Klasse anerkannt" (Marx). Für die Bourgeoisie war sie schlicht die "canaille'' (Lumpenpack).

Alle Versuche des Proletariats, Bürgerrechte für sich durchzusetzen, wurden von der Bourgeoisie mit Waffengewalt abgewiesen. Was lag unter diesen Umständen also näher als die Annahme, zwischen der Arbeiterklasse und dem bürgerl ichen Staate herrsche auf ewig absolute Feindschaft? Doch vieles hat sich seitdem geändert. Die Lohnsklaven haben den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft erzwungen, sind Citoyens geworden.

Die Arbeiterklasse ist in den Staat integriert, sie verfügt über einen nicht unerheblichen politischen Einfluß und nimmt teil an der staatlichen Machtausübung. Sie anerkennt den Staat als den legitimen Garanten jener gesellschaftli chen Ordnung, innerhalb derer sie sich mit dem Kapital streitet und um eine Verbesserung ihrer Existenzbedingungen kämpft.

Mit fortschreitender Entwicklung des Kapitals sind dem Staat gesamtgesellschaftliche Funktionen zugewachsen - vergegenständlicht in einem Geflecht von Institutionen und Abhängigkeiten. Als der "..stumme Zwang der ökonomischen Verhäl tnisse'' (Marx) erübrigen sie weitgehend die Ausübung roher Gewalt durch die Staatsorgane. Mit dem liberalen "Nachtwächterstaat'', wie ihn Marx in England vor Augen hatte, hat dieser Staat keine Ähnlichkeit mehr.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war das Kapital noch lebenskräftig, widerstandsfähig und elastisch. Die Keime der neuen Gesellschaft, die materiellen und geistigen Voraussetzungen einer sozialistischen Produktionsweise , waren noch nicht vorhanden, die historische Mission des Profitsystems noch nicht erfüllt. Daher war damals die sozialistische Revolution nur vorstellbar als Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse, die ihre politische Macht einsetzen w&u uml;rde, um die ökonomische Basis - die Produktionsverhältnisse - umzuwälzen. Folgerichtig definierte Rosa Luxemburg gegen Eduard Bernstein: "Wir müssen unter "Endziel' nicht verstehen diese oder jene Vorstellung von Zukunftsstaat, son dern das, was einer Zukunftsgesellschaft vorausgehen muß, nämlich die Eroberung der politischen Macht'' (SPD-Parteitag im Oktober 1898).

In der Tat hätte dem Kapital, dessen gesellschaftliche Macht noch gänzlich ungebrochen war, allein eine revolutionäre Staatsgewalt Zügel anlegen können. Nur den "Staat" konnte man sich als jenes Machtinstrument denken, das f&au ml;hig wäre, der noch rüstigen Bourgeoisie das Rückgrat zu brechen.

Jedoch hat Marx mit diesem Transformationsmodell selbst den Boden seiner Gesellschaftstheorie verlassen. Er hatte gelehrt, der Staat sei nicht jenes über den Klassen und Parteien schwebende absolute Wesen, sondern mehr oder weniger nur das Vollzug sorgan der jeweils herrschenden Klasse, deren Herrschaft ihren tieferen Grund darin hat, daß sie das geschichtlich notwendige Produktionsverhältnis verkörpert. Er hatte Bakunins Fixierung auf den Staat kritisiert und dessen Auffassung wide rlegt, daß die Bourgeoisie nur durch die Verfügung über den Staat mächtig sei. Vielmehr sei ihr die Staatsmacht nur deshalb zugefallen, weil sie die gesellschaftliche Macht - die Verfügung über die Produktionsmittel - schon besaß.

Daraus aber folgt, daß die Bourgeoisie - auf Dauer - nur dann die Verfügung über den Staatsapparat verliert, wenn das private Kapital seine gesellschaftliche Macht einbüßt. Das ist ein langer Prozeß, der identisch ist m it der Herausbildung der subjektiven und objektiven Bedingungen der sozialistischen Produktionsweise. Zunächs erscheint er als Entprivatisierung, schließlich als Verstaatlichung des Kapitals.

Gänzlich neue Bourgeoisie

Wohlgemerkt: es ist hier die Rede von der Weiterentwicklung des Kapitals, und ich behaupte damit nicht, daß dieser Prozeß ein "friedliches Hinüberwachsen" in den SoziaIismus ist. Dieser Hinweis scheint mir notwendig, um Mißve rständnissen vorzubeugen; denn wenn wir "Bourgeoisie" und "bürgerlicher Staat'' sagen, treiben wir uns immer noch in den längst erstorbenen Vorstellungen des "Kommunistischen Manifestes" herum. Als hätte sich, was Marx damals als "Bour geoisie'' und "bürgerlichen Staat'' bezeichnete, nicht weiterentwickelt und inzwischen eine gänzlich neue Form angenommen.

Ich meine, daß wir erst dann wieder mit der Wirklichkeit in Berührung kommen, wenn wir das qualitativ veränderte Verhältnis von Kapital/Macht/Herrschaft/Eigentum begreifen.

Wir sagen: "Die Kapitalisten'', und meinen das Kapital. Wir sagen: "Die Mächtigen'', und meinen die Macht. Wir sagen: "Die Herrschenden'', und meinen die Herrschaft Und wir sagen auch: "Die Eigentümer", und meinen das nicht-uns(ge)hörend e Eigentum. Diese Sprechweise greift nicht mehr die Tatsachen, weil sich das Kapital immer weniger in einzelnen Individuen personifiziert, sondern selbst zur Person erklärt; weil es Macht, aber nicht mehr Mächtige gibt; weil Herrschaft nicht l&a uml;nger der Herrschenden bedarf; weil die Eigentümer verschwinden, aber das entfremdete Eigentum sich erhält.

Es ist dies "die Aufhebung des Privateigentums innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise'' (Marx, Kapital III, MEW Bd. 25, S. 452) - der extremste objektive Ausdruck der Entfremdung.

Entstehen konnte Kapital nur als Privateigentum an Produktionsmitteln. Bestehen kann es heute nur als entprivatisierte, subjekthafte Institution.

"Das Kapital ist keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht.'' Damit ist es in ,,Gegensatz zum Privatkapital'' (Marx) getreten. Der Souverän des Systems war und ist nicht der Privateigentümer, der Kapitalist als Person. Diese r war immer "in der Tat nur das personifizierte, mit eigenem Bewußtsein und Willen begabte Kapital."(Marx).

In seinen Anfängen existierte das Kapital weit gestreut, in kleinen Portionen auf viele Punkte verteilt, "und die Herren selbst leb(t)en nicht viel besser wie die Knechte'' (Marx). Solange es klein und schwach war, bedurfte es der Kuratel der priv aten Kapitalisten. Diese aber waren (und sind) nur Objekte des Kapitals, dem sie als Diener zu Willen sein müssen - bei Strafe des Untergangs: Akkumulation um der Akkumulation willen. Ein Kapitalist, der sich nicht bedingungslos den Gesetzen des Kapi tals unterwirft, hört auf, Kapitalist zu sein.

Durch Konzentration und Zentralisation kommt das Kapital zu sich selbst. Der Kapitalist als das Medium, in dem es sich personifiziert, verschwindet, sobald das Kapital sich selbst zur Person erklärt. Es bleibt Kapital und als solches entfremdete H errschft, jetzt als Herrschaft der Institution: Macht nicht mehr als persönliches Lehen, sondern als sich selbst webendes Geflecht anonymer Abhängigkeiten.

Das Kapital trennt sich vom Kapitalisten, indem sich zunächst Kapitalfunktion und Kapitaleigentum trennen, verwirklicht in der Aktiengesellschaft: "Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter frem den Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten'' (Marx, MEW Bd. 25, S. 452). Der Privatkapitalist wird zum Relikt: "Nicht die industriellen Kapitalisten, sondern die industriellen managers (sind) ,die Seele unseres Industriesystems ...'' (Marx). "Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Revenuen-Einstreichen, Kupon-Abschneiden und Spielen an der Börse. Hat die kapitalistische Produktionsweise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten und verweist sie, ganz wie die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung ...'' (Engels, Anti-Dühring, Berlin 1971, S. 259/60).

Kapital ohne Kapitalisten

Die gesellschaftliche Macht folgt der Funktion und nicht dem Eigentümer, der nicht nur überflüssig, sondern auch untauglich und unfähig wird, die Kapitalfunktionen wahrzunehmen. Große Unternehmen sind nicht mehr durch einz elne ,,Unternehmerpersönlichkeiten'', sondern allenfalls von Manager-Teams dirigierbar. Die heute den kapitalistischen Produktionsprozeß prägenden Unternehmensgrößen setzen einen institutionalisierten Willens - und Entscheidungs bildungsprozeß voraus, der prinzipiell anders strukturiert ist als die Machtwortkompetenz eines Eigentümers. Es ist das Kapital selbst - vornehmlich in Gestalt des Bankkapitals -, welches die Berufung auf den Eigentumstitel zur Durchsetzung eig enwilliger "Unternehmer'' - Entscheidungen negativ sanktioniert und so zum Verschwinden bringt.

Kann man bestreiten, daß z. B. General Electric, IBM und Siemens - Aktiengesellschaften mit jeweils Hunderttausenden von Aktionären - bedeutende gesellschaftliche Machtzentren sind? Sie sind zweifellos auch kapitalistische Unternehmen; es is t aber offensichtlich sinnlos geworden, die Macht in den Händen irgendwelcher Eigentümer zu suchen. Sie hat sich im "institutionellen Kapital" verselbständigt; sie betätigt sich durch die an sogenannten Sachzwängen orientierten ko llektiven Entscheidungen der Manager, die - vergleichbar den Mamelucken, einer aus Sklaven rekrutierten Bürokratie im alten Ägypten - aufgrund ihrer institutionellen Macht auch die Ausübung der politischen Macht im Staate an sich gerissen h aben, ohne jedoch damit auch persönliche Machthaber zu sein.

Es ist eine Herrschaft eigener Art, die wir mit dem Schlagwort vom .."Staat als geschäftsfürendem Ausschuß der Kapitalistenklasse" ganz und gar verfehlen.

Die Kapitalinteressen und die "Klasseninteressen" der Manager sind nicht mehr unmittelbar identisch, und der Staat- wenn er es je war - ist nicht länger ein "Instrument in den Händen der herrschend Klasse'', sondern selbst mehr und mehr der " wirkliche Gesamtkapitalist'' (Engels). In dieser Identität mit dem Kapital ist der Staat die verselbständigte Macht des Kapitals. Der Bourgeois stürzte vom Thron; es thront das Kapital.

Bei fortschreitender Entmachtung der Personen kann Macht und Geltung nur noch aus der Stellung innerhalb machtvoller Institutionen abgeleitet, nur noch durch Identifikation mit der Institution genossen werden.

Im Privatkapitalisten waren Macht des Geldes und persönliche Macht eins. Er wußte die Entfremdung als ,,seine eigene Macht" (Marx). Jedoch: der im Geld existierende Widerspruch von gesellschaftlicher und persönlicher Macht treibt beide Momente auseinander. Im institutionellen Kapitalismus stehen sie sich als Macht der Institution und institutionelle Macht der ihr einverleibten Funktionäre gegenüber. Die Institution ist ihnen eine fremde Macht. Sie sind Teil eines enormen Firme nimages, ohne eigene Identität zu haben'' (H. Reymonds: Die Macht der Institution kann als solch nicht mehr,,besessen'' werden).

Die integrative Macht (Staat) existiert nur durch die Vergegenständlichung in Institutionen, die gegenüber allen besonderen Interessen das allgemeine Interesse repräsentieren. Das Allgemeine - das gemeinschaftliche Interesse - ist so die besondere Funktion des Staates; der Staat ist widersprüchliche Einheit von Allgemeinem und Besonderem. Man wird - die Hegelsche Logik vergessend - hier einwenden, daß diese Auffassung vom Staate als der besonderen Existenz des Allgemeinen sich über dessen .."Klassencharakter'' hinwegsetze. Dieser Einwand ist unbegründet. Er beruht auf einem Mißverständnis.

Zwar werden "Marxisten" - und erst recht die "Marxisten-Leninisten" - diesen Einwand mit zahlreichen Zitaten der "Klassiker'' bekräftigen wollen. Was aber nur auf ihre scholastische Denkweise - die eigentlich Gedankenlosigkeit ist - schließe n läßt und nicht darauf, daß sie recht hätten. Ihnen ist nämlich der Widerspruch in den Marxschen Auffassungen vom Staate nicht bewußt.

Arbeiterklasse braucht Kapitalismus

"Jede neue Klasse'', schreiben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie, "die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen. d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen" (MEW Bd. 3, S. 47; Hervorhebung von mir. H. M.)

Daß das besondere Interesse der Bourgeoisie das allgemeine sei, gilt hier als ideologischer Schein, pfäffisches Betrugsmanöver- nicht Wirklichkeit. Und klingt es nicht plausibel, daß das Profitinteresse der Bourgeoisie (des Kapita ls) nicht das allgemeine sei, sondern nur das besondere der Produktionsmitteleigentümer und daher den Interessen des Proletariats entgegengesetzt ?

Doch indem Marx hier am Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem festhält, bleibt er im metaphysischen Denken befangen. Er nimmt in der Staatsfrage und in seiner Ideologiekritik letztlich den Standpunkt des "gesunden Menschenverstandes" ein, f&uum l;r den "ein Ding . . . ebensowenig es selbst und ein anderes sein (kann)'', der aber "ganz wunderbare Abenteuer (erlebt), sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt'' (Engels).

Wie Marx an andrer Stelle nachweist, ist auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der menschlichen Produktivkräfte das kapitalistische Privateigentum und damit die Herrschaft der Bourgeoisie die geschichtlich notwendige Verkehrsform, in der allein d ie bestimmte Gesellschaft existieren und sich weiterentwickeln kann. Dann aber ist das besondere Interesse der Kapitalisten zugleich auch das allgemeine Interesse. Folgerichtig bezeichnet Marx die Kapitalisten als "Trustees" (Treuhänder) der bür gerlichen Gesellschaft" (MEW Bd. 25, S. 276).

"Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht. Nur soweit steckt seine eigene transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktio nsweise. Aber soweit sind nicht Gebrauchswert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung sein treibendes Motiv. Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, dahe r zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkrähe und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist'' (Kapital I, Berlin 1969; S. 618).

Lohnarbeit ist entfremdete Arbeit. Arbeit für andere aber zugleich ist sie auch Arbeit für das Proletariat selber, in dem Sinne nämlich, daß die Produzenten durch ihre Arbeit für das Kapital auch für sich selbst die Bedin gungen ihrer Befreiung - der Negation des Kapitals - hervorbringen. Die Arbeiterklasse muß also den Kapitalismus - ihre eigene Sklaverei - bejahen.

Das Interesse an der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Akkumulation des Mehrwerts ist zwar das besondere Interesse der Kapitalisten, zugleich aber auch das Interesse der Arbeiterklasse - also ein allgemeines. Und die Staatsmacht die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft'' (Marx. Kapital 1. S. 779) verwirklicht dieses allgemeine Interesse, wenn sie - notfalls mit Gewalt - die gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechterhält - solange, aber auch nur solange die kapitalistische Produktionsweise noch die geschichtlich notwendige ist.

(Zweiter Teil im nächsten Heft).

Fortsetzung Teil 2


 




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