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Hartmut Krauss
Geschichte der Subjektivität
Möglichkeitsbedingungen und Konstitutionsmerkmale 'praktisch-kritischer'
Subjektwerdung im historischen Prozeß
Einleitung: Zum Verhältnis von Geschichtstheorie und Ideologie
Der von den hegemonialen Mächten des globalisierten Kapitalismus
maßgeblich geprägte Zeitgeist artikuliert eine 'dynamische Endzeitstimmung', die im Kern
einem erscheinungsfixierten Doppelirrtum entspringt: Einerseits wird - übrigens im
Einklang mit den traditionalistischen Apologeten der postkommunistischen Restebewegung -
die Legende vom 'sozialistischen Charakter' der niedergegangenen stalinistisch
deformierten Übergangsgesellschaften in Ost- und Mitteleuropa kolportiert (vgl. AKM
1997). Auf diese weltanschaulich-politisch durchsichtige Weise wird es dann möglich, den
Zerfall des 'realen Sozialismus' zum unverrückbaren Ende der 'sozialistischen Illusion'
schlechthin umzumünzen. Auf der anderen Seite wird der Kapitalismus zum alternativlosen
und unüberbietbaren Höhepunkt der Menschheitsgeschichte stilisiert, als endgültige,
nicht mehr verbesserungsfähige und -bedürftige Vergesellschaftungsform humaner
Lebensreproduktion gesetzt, der eine permanente Selbstvervollkommungsdynamik - etwa in
Gestalt 'kreativer Zerstörung' (Romer 1997/Der Spiegel 33/97 S.76-79) - innewohne.
Systemkritisches Denken, Fühlen und Handeln, ja schon die Entwicklung einer
gesellschaftverändernden Perspektive erscheint in diesem (zeit-)geistigen Horizont als
irrational. Die Geschichte, so wird entweder explizit behauptet (Fukujama) oder implizit
angesonnen, sei an ihr Ende gekommen; Revolution wäre als wissenschaftlich-technische
Umwälzung ohnehin kontinuierliches Begleitmoment kapitalistischer Systemreproduktion - in
sozialer Form (Systemtransformation) könne es sie nicht mehr geben.
Die Tendenz zur Selbstverewigung sowie zur Ontologisierung der jeweils
herrschenden Verhältnisse ist ein Grundzug in allen Entwicklungsstufen der
antagonistischen 'Vorgeschichte der Menschheit' (Marx) gewesen. Ebenso die 'Verketzerung'
der praktisch-kritischen Kräfte des Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung
seitens der herrschenden Geschichtsschreibung in allen antagonistischen
Gesellschaftsformationen. Geschichtsauffassungen als wesentlicher Teilaspekt der
Selbstreflexion der widersprüchlich vergesellschafteten Menschen erweisen sich demnach
aus folgenden Gründen als besonders 'ideologielastig':
Zum einen ist die enge Verbindung von Geschichtsauffassung und
Interesse bzw. der Zusammenhang von sozialer Erkenntnis und Ideologie/Wertung in
Rechnung zu stellen. Während gerade das subjektiv-tätige Verhältnis des Menschen zur
Natur ihm die Notwendigkeit diktiert, objektiv an deren Erkenntnis heranzugehen, ist das
praktisch-tätige Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft von anderem Charakter. Hier
geht es um solche Erkenntnisse, die es ermöglichen, vorhandene gesellschaftliche
Zustände entweder zu rechtfertigen und zu stützen oder zu verurteilen und zu verändern.
Das bedeutet, daß hier die Erklärung durch ein Interesse determiniert ist, das so in der
Beziehung zur Natur nicht vorkommt.
Zum anderen ergibt sich als Spezifikum der Geschichts- und
Gesellschaftsbetrachtung das Vorhandensein 'eigensinniger' (noch dazu widersprüchlich
vergesellschafteter) Subjekte im Erkenntnisgegenstand selbst. Das bedeutet, daß der
geschichts- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisbeziehung - in mehr oder minder
reflektierter/expliziter Form - eine subjektwissenschaftliche Erklärungsdimension
inhärent ist. D.h. es existiert eine gegenstandsspezifische Anforderung, immer auch
Aussagen über die Beschaffenheit und Antriebsdynamik der konkret-historischen Akteure zu
treffen.
Als durchgängiges geschichtstheoretisches Kardinalproblem läßt
sich deshalb die begriffliche Durchdringung des Verhältnisses von objektiver
Determination (Gesetzmäßigkeit, Bestimmtheit) und subjektiver Autonomie
(Willensfreiheit, Selbstbestimmung) herausheben. Daraus leiten sich insbesondere
folgende fundamentalen Fragestellungen ab: Sind die antagonistisch vergesellschafteten
Menschen Spielball, Werkzeug oder gestaltendes Subjekt des Geschichtsprozesses? Ist die
Geschichte ein zufällig-chaotischer, teleologisch vorherbestimmter oder dialektisch
offener Prozeß? Läßt sich der historische Prozeß als zyklischer Kreislauf (stetige
Wiederkehr des wesensmäßig Gleichen), lineare Höherbewegung oder
multidimensional-widersprüchlicher Vorgang begreifen? Und in revolutionär-humanistischer
Perspektive ist es natürlich von herausragender Bedeutung, nach den konkret-historischen
Realisierungsversuchen und Handlungsmöglichkeiten zu fragen, wann, wo, unter welchen
objektiven und subjektiven Bedingungen und in welcher Form Menschen gemäß dem Marxschen
kategorischen Imperativ tätig geworden sind, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist" (MEW 1, S.385).
Eine herausragende Zäsur im Geschichtsdenken markiert der neuzeitliche
Übergang vom (zunächst polytheistischen, später monotheistisch-offenbarungsreligiösen)
Mythos zum Logos, d.h. zur rational-innerweltlichen Wirklichkeitsauffassung.
Die traditionelle bäuerlich-agrarische Produktions- und Lebensweise,
eingebettet in die natürlich-zirkuläre Wiederkehr der Jahreszeiten mit ihren
entsprechenden Tätigkeitsanforderungen strukturierte jahrhundertelang nachhaltig das Zeitbewußtsein
der Menschen. 'Zeit' wurde 'kreisförmig' und 'staganativ' als stete Wiederkehr des
Gleichen erlebt. Nicht Entwicklung und Veränderung, sondern eine zyklische Bewegung sich
wiederholender Muster bestimmte die subjektive Vorstellungswelt. Dieses zyklische
Zeitbewußtsein wurde durch die Verkündung der christlichen Lehre zumindest partiell
aufgebrochen, indem hier zum einen einmalig-irreversible Ereignisse mit hoher affektiver
Bedeutung (z.b. Kreuzigung und Auferstehung Jesu) dargelegt und umfassend sakralisiert
werden. Zum anderen wurden die Menschen in einen heilsgeschichtlichen Entwicklungskontext
mit den Stadien: Schöpfung - Zustand der Unschuld - Sündenfall - Verharren in der Sünde
- Gericht Gottes - Verdammnis oder Erlösung eingefaßt. Dabei ist das
kirchlich-religiöse Geschichtsbild streng deterministisch: Alles Geschehen
entspringt den Plänen Gottes; für den Zufall ist in der göttlichen Vorherbestimmung
kein Platz. Zwar wird der Mensch als Teil der Geschichte betrachtet, aber er ist
wesentlich passiv und fatalististisch bestimmt. "Er nimmt nicht tätig an ihrem
Verlauf Anteil und hat folglich keinen Einfluß auf ihre Ergebnisse. Er wird von höheren
Mächten zum unausweichlichen Ende gezogen" (Gurjewitsch 1987, S.244). Der Mensch ist
so wesensmäßig bestimmt als der Sklave Gottes. Nur durch Selbsverleugnung, ja
Selbsterniedrigung und Unterdrückung irdisch-kreatürlicher Leidenschaften wird der
individuelle Gläubige im Jenseits erlöst; "da die Erlösung und Vollendung des
Menschen erst in der anderen Welt möglich ist, ist eine freie Entwicklung der
Persönlichkeit ausgeschlossen. Die Willensfreiheit, die vom Christentum verkündet wird,
verwandelt sich in das Gebot, alles zu meiden, was der Rettung der Seele schaden
kann" (Gurjewitsch 1982, S.336). Von grundlegender Bedeutung ist hier, ausgehend vom
Streit zwischen Pelagius und Augustinus, die 'essentialistische' Theologie der Sünde:
Pelagius betont die menschliche Willens- und Handlungfreiheit bezüglich der Wahl zwischen
Gut und Böse und bezweifelt folgerichtig die absolute und universelle Gültigkeit der
Erbsünde. Das moralisch Verwerfliche (die 'Sünde') liegt nicht im Wesen des Menschen,
sondern kann durch 'freie Wahl' vermieden werden. Jeder Mensch wird ohne Sünde geboren.
Demgegenüber beharrt Augustinus, dem sich später sowohl der mittelalterliche
Katholizizmus als auch die Theologie Martin Luthers anschließt, auf der Erbschuld des
Sündenfalls. In seiner Sicht wird die Erbsünde durch den Fortpflanzungsprozeß
übertragen und gehört als irreversibles Merkmal zur gattungsmäßigen Wesensausstattung
der Menschen. Aus dieser 'erbsündigen' Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit können sich
die Menschen aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Ihre Erlösung ist absolut abhängig
von der göttlichen Gnade.
Erst mit der Überwindung des theozentrischen Weltbildes im
Renaissancehumanismus wird das theologische Dogma vom 'erbsündigen', zur eigenen
Befreiung unfähigen, auf Gedeih und Verderb der göttlichen Erlösung ausgelieferten
Menschen aufgebrochen und damit die göttliche Determination der menschlichen
Subjektivität radikal in Frage gestellt. Hervorgekehrt wird nun die Schöpferkraft,
Selbstverantwortung und Würde des Menschen. Im Kern wird damit die Wiederaneignung der
auf Gott projizierten menschlichen Wesenskräfte postuliert; folgerichtig rückt der homo
faber in den Mittelpunkt des Weltgeschehens. Dieser geistig-revolutionäre Übergang
vom theozentrischen zum anthropozentrischen Weltbild wird exemplarisch deutlich in dem
Redeentwurf des Pico della Mirandola (1463-1494) mit der Überschrift 'De dignitate
hominis' (Über die Würde des Menschen). Der Autor läßt hier Gott folgendermaßen zu
den Menschen sprechen: "Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen
eingegrenzt, die ich gegeben habe. Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem
freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen. Ich habe dich in die
Weltmitte gestellt, damit du um so leichter alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt
ist. Ich habe dich nicht himmlich noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich
geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu
der von dir gewolten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen,
entarten; du kannst, wenn du es willst, in die Höhe, ins Göttliche wiedergeboren
werden" (zit.n. Sandvoss 1989, S.148). Der Renaissancehumanismus kann folglich
als 'Geburtsstunde' des modernen, d.h. sich selbst in seinen schöpferischen
Gestaltungsmöglichkeiten und -fähigkeiten reflektierenden, Subjekts betrachtet
werden.
Dieser qualitative Bruch impliziert einerseits die sich ausbreitende
Erkenntnis im neuzeitlichen Denken, daß sich der gesellschaftliche Zustand der Menschen
von deren natürlichen Zustand grundsätzlich unterscheidet, d.h. daß die
gesellschaftliche Konstitution ein menschliches Gattungsmerkmal sui generis darstellt.
Damit wurde gewissermaßen die menschliche Gesellschaft in ihrer eigengesetzlichen
Gewordenheit erst zu einem abgegrenzten Erkenntnisgegenstand. Allerdings blieb die
zeitgenössische Mathematik und Naturwissenschaft in Gestalt der klassischen Mechanik das
bestimmmende epistemische Maß der Wissenschaftlichkeit. Vor diesem Hintergrund kam man zu
der Überzeugung, daß eine Ausweitung der naturwissenschaftlichen (mechanischen)
Prinzipien auch auf andere (soziale) Erkenntnisgegenstände der 'Königsweg' des
Wissenschaftsfortschritts sei. Entsprechend erlangten folgende geistigen Merkmale die
Dominanz im zeitgenössischen philosophisch-weltanschaulichem Diskurs: a) die
metaphysische Denkweise (Engels) und b) der Mechanizismus. 'Wissenschaftlichkeit' war im
17. und 18. Jahrhundert folglich mit mechanischen Ansichten identisch: Die Welt ist eine
nach den Gesetzen der Mechanik wirkende Maschine; wobei das Subjekt aus der Natur als dem
modellsetzenden Erkenntnisgegenstand ausgeschlossen war.
Paradigmatisch wurde der erkenntnistheoretische Dualismus des Rene
Descartes: die Natur ist gemäß den Gesetzen der klassischen Mechanik rational
erklärbar; die Bewegung der menschlichen Seele hingegen obliegt der Metaphysik (Gott).
"Man kann den Dualismus von Descartes als eine Art Eingeständnis interpretieren,
daß es einerseits auf der Grundlage der Gesetze der Mechanik nicht möglich ist,
Bewußtsein und Verhalten des Mensch zu erklären, und daß man andererseits keinen Weg
sehen konnte, dieses Problem wissenschaftlich zu lösen" (Kelle, Kowalson 1984,
S.25). Dieses im cartesianischen Dualimus fixierte Erklärungsdilemma wurde zunächst
anhand der sensualistischen Konzeption John Lockes einer Lösung zugeführt. Nach seiner
Auffassung ist nämlich die Sinneserfahrung die Quelle allen Wissens. Aufgrund dieser
gnoseologischen Grundposition war es den Materialisten des 18. Jahrhunderts im Sinne eines
mechanischen Determinismus scheinbar möglich, den Menschen als materielles
Wesen mit Bewußtsein, Gefühlen und Willen in das allgemeine System der Natur
einzubeziehen und damit die Aufgabe der Ausdehnung des Ideals der Wissenschaftlichkeit auf
die Erkenntnis des Menschen zu 'lösen'. "In Wirklichkeit aber ging der Materialismus
des 18. Jahrhunderts bei der Lösung dieses Problems vom naturalistischen Reduktionismus
aus, das heißt von der Reduktion des Sozialen auf das Natürliche (bei
allen Unterschieden in der Behandlung, in den Akzenten usw., die es bei den einzelnen
Denkern gab)" (ebenda, S.26).
Die mechanisch-materialistische Erkenntnismethode, die auf dem
Ausschluß des Subjekts aus dem Erkenntnisgegenstand beharrte und eine
deterministisch-sensualistische Erklärung des Bewußtseins fundierte, konnte zu keiner
adäquaten Problemlösung gelangen und erstarrte letzlich in folgender Antinomie:
Einerseits wurde das Bewußtsein des Subjekts im Sinne eines mechanisch-sensualistischen
Determinismus abgeleitet; andererseits mußte als Träger des Bewußtseins das isolierte
(a-soziale) Individuum mit seinen Gefühlen und seinem Verstand herhalten, während die
soziale Realität wiederum aus dem Bewußtsein dieser isoliert/-a-sozialen Individuen
heraus erklärt wurde. Dieses Erklärungsdilemma führte in der Geschichtswissenschaft zum
Übergang auf Positionen des Idealismus.
Indem zunächst David Hume und später Immanuel Kant nachwiesen, daß
erstens sich die allgemeinen Begriffe nicht aus der einfachen Summe der Sinneseindrücke
ableiten lassen und daraus zweitens folgt, daß Denken und sinnliche Erkenntnis zwei
qualitativ unterschiedliche geistige Fähigkeiten des Menschen sind, brachten sie die für
die Erkenntnistheorie von Locke und Condillac grundlegende 'gnoseologische Robinsonade'
zum Einsturz. Die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie zeigte vielmehr, daß
das Bewußtsein des Menschen aktiv, tätig und produktiv ist. Da man es nicht isoliert von
der Gesamtentwicklung der Kultur betrachten kann, läßt es sich von den Positionen des
mechanischen Materialismus nicht erklären.
Von Interesse ist in diesem Kontext die dualistische 'Versöhnung' von
Materialismus und Idealismus bei Kant Einerseits ist der Mensch - im Sinne des
Materialismus - als physisches Wesen in das System natürlicher Kausalbeziehungen
eingeschlossen und gehört somit der phänomenalen, sinnlich wahrnehmbaren, der Erkenntnis
zugängigen Welt an. Andererseits ist der Mensch - was der 'mechanische' Materialismus
negiert - durch die Freiheit des Willens und die moralische Verantwortung für seine
Handlungen ausgezeichnet und gehört somit als Vernunftswesen zur Welt der Noumena, in der
er frei ist und in der sich sein Wille bereits nicht mehr den physischen, sondern dem
sittlichen Gesetz, dem Gesetz der praktischen Vernunft unterordnet. Nicht zufällig
bekannte sich Kant aus 'sittlichen Überlegungen' sowohl zu Gott als auch zur
Unsterblichkeit der Seele. Besonders hervorhebenswert ist zudem das auch bei Kant
vorfindbare - in doppeltem Sinne 'fatale' - Erbe der Vorsehung in posttraditionalen
Geschichtskonzeptionen. So sah er "die Geschichte der Menschengattung im großen als
die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur" (zit.n. Berthold 1989, S.210), der
Geschichte als gesetzmäßigen Fortschrittsprozeß a priori verbürgt.
Zwei modellsetzende deterministische Geschichtskonzeptionen mit gegensätzlichen
Vorzeichen: Hegel; Horkheimer/Adorno
I. Hegels teleologisch-fortschrittsdeterministische Konzeption
der Weltgeschichte
Hegel wiederum, dessen Werk aufgrund seines 'systematisch'-dialektischen
Charakters gemeinhin als Gipfelpunkt der klassischen deutschen Philosophie gepriesen wird
(vgl. z.B. Berthold 1989, S.214)), deutet den Geschichtsprozeß explizit als durch die
göttliche Vorsehung konstituiert. So heißt es in der Einleitung seiner Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte: "Er war eine Zeitlang Mode, Gottes Weisheit in
Tieren, Pflanzen, einzelnen Schicksalen zu bewundern. Wenn zugegeben wird, daß die
Vorsehung sich in solchen Gegenständen und Stoffen offenbare, warum nicht in der
Weltgeschichte?...Unsere Erkenntnis geht darauf, die Einsicht zu gewinnen, daß das von
der ewigen Weisheit Bezweckte wie auf dem Boden der Natur so auf dem Boden des in der Welt
wirklichen und tätigen Geistes herausgekommen ist. Unsere Betrachtung ist insofern eine
Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes" (Hegel 1995, S.28). Unter dieser Prämisse ist
die dialektische Denkbewegung darauf konzentriert, das Übel in der Welt vermittels der
Versöhnung des denkenden Geistes mit dem Bösen zu begreifen. Gerade in der
Weltgeschichte sieht Hegel die größte Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkenntnis.
"Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in
welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet, durch das
Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils daß derselbe in ihr
verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm sich letztlich geltend gemacht
habe" (ebenda). Indem Hegel die Weltgeschichte als durch göttliche Vorsehung
bestimmt ansieht, konzipiert er sie folgerichtig als teleologischen, auf einen Endzweck
zusteuernden Prozeß. Und indem er die "zum Vorurteil gewordene Lehre, daß es
unmöglich sei, Gott zu erkennen", verwirft, und stattdessen betont, daß den
Menschen mit der Möglichkeit Gott zu erkennen auch die Pflicht dazu auferlegt sei, fällt
für ihn die Frage nach der Bestimmung der Vernunft mit der Frage zusammen, was der
Endzweck der Welt sei. So "kann von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die
Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist,
erarbeitet; und wie der Keim die ganze Natur des Baumes, den Geschmack, die Form der
Früchte in sich trägt, so enthalten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtualiter
die ganze Geschichte" (ebenda, S.31). Wenn Hegel folglich als Grundgedanken der
(Geschichts-)Philosophie hervorhebt, "daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es
also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei" (ebenda, S.20), so ist
damit das Zu-sich-selbst-Kommen des Planes der göttlichen Vorsehung im
erkennenden/reflektierenden Bewußtsein gemeint, bzw. das Innewerden des Endzwecks der
Weltgeschichte im Selbstbewußtsein des (Welt-)Geistes. "Dieser Endzweck ist das,
worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der
Erde und im Verlauf der langen Zeit gebracht worden" (ebenda, S.33). Als Substanz des
Geistes, die zugleich dessen stufenweise geschichtliche Höherbewegung verbürgt und
ausdrückt, setzt Hegel die Freiheit ein: "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im
Bewußtsein der Freiheit - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen
haben" (ebenda, S.32). Diese fortschrittsdeterministische Konstruktion
plausibilisiert Hegel anhand folgender Entwicklungsstufen des Freiheitsbewußtseins:
1) Auf der ersten Stufe, die durch die orientalische Welt repräsentiert
wurde, fehlt das Bewußtsein, "daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich
frei ist" (ebenda, S.31). Gewußt wurde nur, daß Einer frei ist, aber lediglich in
Gestalt des Despoten, so daß Freiheit ausschließlich in Form von Willkür existiert
habe.
2) Auf der zweiten Stufe, bei den Griechen und Römern, habe sich zwar
ein Bewußtsein der Freiheit herausgebildt, aber in einer für eine
Sklavenhaltergesellschaft eigentümlich beschränkten, d.h. auf nur einen Teil der
Menschheit reduzierten Weise.
3) Erst auf der dritten Stufe, bei den germanischen Nationen, ist im
Christentum zum Bewußtsein gekommen, "daß der Mensch als Mensch frei (ist), die
Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht" (ebenda, S.31). Die Umsetzung
dieses Prinzip in das weltliche Wesen erfolgte freilich in einem konfliktreichen und
langwierigen Bildungsprozeß, der schließlich in der Reformation, der Aufklärung und der
Französischen Revolution kulminierte.
Der Umstand, dem Hegel u.a. seinen theoretischen Ruhm verdankt, besteht
darin, daß er den als fortschrittsdeterministisch-teleologisch gefaßten
Geschichtsverlauf nicht als linear-kontinuierliches Geschehen reflektiert, sondern als
durch die Dialektik der menschlich-sozialen Lebenspraxis vermittelten Prozeß
begreift. Allerdings, und das ist hier besonders herauszustellen, werden die bedürfnis-
und interessengeleiteten Handlungen der Menschen (das gewaltige Schauspiel der
leidenschaftlichen Tätigkeit) als bloße Realisationsmittel der auf ihren
Endzweck hinstrebenden Geistentwicklung bemüht. "Diese unermeßliche Masse
von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes,
seinen Zweck zu vollbringen, ihn zum Bewußtsein zu erheben und zu verwirklichen; und
dieser ist nur, sich zu finden, zu sich selbst zu kommen und sich als Wirklichkeit
anzuschauen" (ebenda, S.40). Was seitens der 'leidenschaftlichen' Subjekte
(Individuen, Klassen, Völkerschaften etc.) als Widerspruch/Diskrepanz zwischen
Handlungsabsicht und Tätigkeitsresultat erlebt wird, erscheint aus der Perspektive der
teleologischen Geistentfaltung als 'List der Vernunft'. "Das ist die List der
Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das,
durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die
Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikuläre ist
meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und
preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus
sich, sondern aus den Leidenschaften"(ebenda, S.49). Menschliche Subjektivität ist
für Hegel demnach bloßes Material, worin das Vernünftige zu seiner Existenz kommt.
Zum einen ist die Hegelsche Dialektik damit wesensmäßig denaturiert
durch die ihr zugrundeliegende idealistische Verabsolutierung der kognitiven Kompetenzen
der gesellschaftlich-historisch verbundenen Menschheit (Lostrennung des Denkens vom
Subjekt). Das Grundlegende dieser Verkehrung besteht darin, daß die menschlichen
geistigen Kräfte und Fähigkeiten in ein autonomes Wesen verwandelt, d.h. im Kern:
vergöttlicht werden. Jede Vergötterung mündet aber "immer und unausweichlich in
einen Verrat an der Dialektik, der blind ist gegenüber den realen Widersprüchen, die
gerade den 'Springquell' der weiteren Entwicklung ausmachen; den 'Motor' der Bewegung, die
über die Grenzen des vorhandenen status quo hinausführt" (Il'enkov 1994, S.133).
Zum anderen ist gerade das Geschichtlich-Dialektische bei Hegel das in
seiner Entwicklungsrichtung schon (fortschrittsdeterministisch) vorbestimmte
unselbständige Bewegungsprinzip eines teleologisch geschlossenen Prozesses. (Lostrennung
der zwecksetzenden Tätigkeit vom Subjekt). Die Menschen werden lediglich als
leidenschaftliche Werkzeuge der Geschichte zugelassen. Damit wird die Geschichte zu einem
Subjekt sui generis bzw. zu einem selbstgenügsamen Geschehen überhöht. Aufgrund aber
dieser idealistisch-geschichtsteleologischen 'Doppeleinkapselung', welche die Dialektik
innerhalb der Hegelschen Philosophie erleidet, ist es mit einer bloßen 'materialistischen
Umstülpung' nicht getan, um die Möglichkeit und Realisierungsweise der Verarbeitung
objektiv bestimmter (gesellschaftlich-historisch produzierter) Widersprüche durch
lebendige Subjekte angemessen zu rekonstruieren.
II. Horkheimer/Adornos teleologisch-verfallsdeterministische
Geschichtsphilosophie
Unter dem Eindruck der traumatisierenden Doppelerfahrung von Faschismus
und Stalinismus gelangten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer berühmten
'Dialektik der Aufklärung' zu einer radikalen Umkehrung des von Hegel entworfenen
fortschrittsdeterministischen Geschichtsbildes. Ihre Leitfrage, die bereits eine Diagnose
impliziert, lautet: Warum versinkt die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen
Zustand einzutreten, in eine neue Barbarei?
Den Erklärungsgrund für die damit aufgeworfene Gattungsproblematik
sehen sie in der multiphänomenalen Selbstzerstörung der Aufklärung, so -
exemplarisch - in der Gleichzeitigkeit von naturwissenschaftlich-technischem
Wissensfortschritt und wachsendem Zerfall theoretischer Bildung; den Metamorphosen von
Kritik in Affirmation sowie im spätkapitalistischem Totalitarismus der Konsensproduktion.
"In der Meinung, ohne strikte Beschränkung auf Tatsachenfeststellung und
Wahrscheinlichkeitsrechnung bliebe der erkennende Geist allzu empfänglich für
Scharlatanerie und Aberglauben, präpariert es (das Erziehungssystem, H.K.) den
verdorrenden Boden für die gierige Aufnahme von Scharlatanerie und Aberglauben"
(S.2).
Die petitio principii der Autoren liegt in der These von der elementaren
Ambivalenz der Aufklärung, wonach das aufklärende Denken zwar einerseits mit dem
gesellschaftlichen Freiheitsstreben unabtrennbar verbunden ist, aber andererseits - als
kognitives Substrat des aufstrebenden Bürgertums in seiner Eigenschaft als neues
HERRSCHAFTSSUBJEKT - schon den Keim zu jenem Rückschritt enthält, der heute überall
sich ereignet. "Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht
in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal" (S.3).
Die der kapitalistischen Systemreproduktion eingeschriebene permanente
Produktivitätssteigerung, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt
herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und seinen Sachwaltern eine
unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. "Der Einzelne wird
gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annuliert...Während der Einzelne vor dem
Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt. Im
ungerechten Zustand steigt die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten
Gütermenge. Die materiell ansehnliche und sozial klägliche Hebung des Lebensstandards
der Unteren spiegelt sich in der gleißnerischen Verbreitung des Geistes...Die Flut
präziser Information und gestriegelten Amüsements witzigt und verdummt die Menschen
zugleich" (S.4). Unter diesen Bedingungen werden die Glücksgüter selbst zu
Elementen des Unglücks.
Die aktuelle (spätkapitalistische) Misere der menschlichen
Lebensbewältigung sehen Horkheimer/Adorno als durch die 'moderne' Form der
Naturbeherrschung fatalistisch vorbestimmt an. Bacon, 'der Vater der experimentellen
Wissenschaft' (Voltaire), verortet die Überlegenheit des Menschen im Wissen, wobei
Technik als Wesen dieses Wissens gilt. Der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll
über die Natur gebieten. Diese Einstellung bezeichnen Horkheimer/Adorno als patriarchal.
Das patriarchal-gebieterische Wissen "zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf
das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital...Was
die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen
vollends zu beherrschen" (S.8). Indem Macht und Erkenntnis synonym sind, wird die aus
Wahrheit und Einsicht entspringende Befriedigung entwichtigt und negativ besetzt;
stattdessen, so Bacon (und Luther) komme es auf 'wirksame Verfahren' zwecks
utilitaristischer Lebensverbesserung an. "Es soll kein Geheimnis geben, aber auch
nicht den Wunsch seiner Offenbarung". Die Entzauberung der Welt wäre demnach nicht
nur die Ausrottung der Götter, sondern die Austreibung wahrheitsorientierter, 'aufs
Ganze' zielender Erkenntnisinteressen. Oder: "Auf dem Weg zur neuzeitlichen
Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die
Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit" (S.9). Konstituiert wird somit
eine szientistisch reduzierte Form von 'Wissenschaftlichkeit', die den Wahrheitsanspruch
der Universalien als Aberglaube verfolgt und in der Autorität der allgemeinen Begriffe
noch die Furcht vor den Dämonen zu erblicken meint, durch deren Abbilder die Menschen im
magischen Ritual die Natur zu beeinflussen suchten. Was dem Maß von Berechenbarkeit und
Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung (besser: der
positivistisch-utilitaristischen Wissens- und Denkform) für verdächtig.
"Aufklärung ist totalitär" (S.10 ).
Die moderne, durch die Aufklärung konstituierte Form der
Naturbeherrschung und Wissensreproduktion gilt Horkheimer/Adorno aber letztlich doch nur
als Kulminationspunkt eines die Menschheitsgeschichte von Beginn an bestimmenden Verhängnisses,
daß der gattungsspezifischen Lebensbewältigung in Gestalt gesellschaftlicher Arbeit
unentrinnbar anhaftet. So enthält bereits der Mythos, der schließlich der
Aufklärung zum Opfer fällt, selbst schon das Rational-Herrschaftliche als
übergreifendes Kernmoment. "Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen:
damit aber darstellen, festhalten, erklären...Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird
die Welt dem Menschen untertan. Darin stimmen jüdische Schöpfungsgeschichte und
olympische Religion überein" (S.11). Und: "Vor den Göttern besteht nur, wer
sich ohne Rest unterwirft. Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung
der Macht als des Prinzips aller Beziehungen...Als Gebieter über Natur gleichen sich der
schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in
der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando" (S.12).
Die unerschütterliche Zuversicht auf die Möglichkeit der
Weltbeherrschung, die sich erst im szientistischen Weltverhältnis der Aufklärung
vollendet, ist bereits der Zauberei inhärent. Freilich verfolgt letztere ihr Ziel durch
Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt. "Die Mythologie selbst hat
(folglich) den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit
unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der
vernichtenden Kritik verfällt, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja
der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind...Wie die Mythen schon Aufklärung
vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in
Mythologie" (S.14).
An den Wendestellen der westlichen Zivilisation wurde die Furcht vor der
unerfaßten, drohenden Natur zum animistischen Aberglauben herabgesetzt und die
Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck gemacht. "Die
Menschen", so Horkheimer/Adorno, "hatten immer zu wählen zwischen ihrer
Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst. Mit der Ausbreitung der
bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der
kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen
Barbarei heranreift" (S.32).
Die Handlungsweise des Odysseus zwecks Bemächtigung des Sirenengesanges
gilt den Autoren als Metapher für die fatale Korrespondenz von äußerer und innerer
Naturbeherrung bzw. für den Preis der Selbstdeformation, den die Menschheit als
Subjekt der Naturbeherrschung zu entrichten hat: "Furchtbares hat die Menschheit
sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter
des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die
Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war
die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung
gepaart" (S.33).
Während Hegel, als 'system'-philosophischer Ideologe der (gerade) zur
(Staats-)Macht gelangten Bourgeoisie, die Weltgeschichte als vernunftsdeterminierten
Prozeß der 'notwendigen' Höherbewegung begreift, insistieren Horkheimer/Adorno auf der
Divergenz von sich historisch steigernder Naturbeherrschung und anthropologischer
Regression, "denn die Dauer der Herrschaft bedingt bei technischer Erleichterung des
Daseins die Fixierung des Instinkts durch stärkere Unterdrückung. Die Phantasie
verkümmert" (S.35). So involviert Anpassung an die Macht des Fortschritts den
Fortschritt der Macht; der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame
Regression. Der Teleologie der Vernunft wird somit konterkariert als Teleologie
der (Selbst-)Destruktion der zur Naturbeherrschung verdammten Menschheit. Als
Knotenpunkt dieses pessimistisch geschlossenen Geschichtsbildes erweist sich die fatale Dreieinigkeit
von Naturbeherrschung, Selbstunterdrückung und zwischenmenschlicher Herrschaft,
wobei die Naturbeherrschung via gesellschaftliche Arbeit 'an sich' und nicht die
antagonistische Form der menschlich-sozialen Lebensreproduktion als erzeugendes Substrat
des gattungsgeschichtlichen Verfallsprozesses erscheint. Die Abwendung vom Hegelschen
Fortschrittsdeterminismus vertiert bei Horkheimer/Adorno so im Kern zu einer
Säkularisierung der augustinischen Geschichtskonstruktion: Die Ausbildung der Fähigkeit
zu bewußt-zweckmäßiger, werkzeugvermittelter, kooperativ-kommunikativer,
naturverändernder Arbeit als die evolutionär hervorgebrachte Lösung des Widerspruchs
zwischen vergesellschafteten Menschen und außermenschlicher Natur wird
abstrakt-monokausal zur unentrinnbaren 'Erbsünde' uminterpretiert. Geschichte ist damit
nur noch als auswegloses Verhängnis beschreibbar; die Entstehung und Tradierung einer
'Zweiten Kultur' widerständig-gesellschaftverändernder Theorie und Paxis gerät in
diesem 'arbeitsdefätistischen' Horizont zu einer unbedeutenden/vernachlässigenswerten
Marginalie. Herr und Knecht werden durch das mit dem Zwang zur Naturbeherrschung gesetzte
Auseinandertreten von Arbeit und Genuß gleichermaßen 'gebeutelt' angesehen: "Der
Knecht bleibt unterjocht an Leib und Seele, der Herr regrediert" (S.35). Infolge der
Einbuße von sinnlich-konkreter Unmittelbarkeit im Tätigkeitsvollzug sowie der
formallogischen Verarmung der erfahrungsabgetrennten intellektuellen Funktion degeneriert
der auf Organisation und Verwaltung beschränkte Geist der Herrschenden. Von der den
antagonistischen Vergesellschaftungsbedingungen geschuldeten geistig-moralischen Unreife
der Beherrschten lebt wiederum die Überreife der Gesellschaft. Zwar ist die
Entfremdung das übergreifende Allgemeine der 'modern'-antagonistisch vergesellschafteten
Menschen, aber innerhalb der Systemreproduktion wähnen sich die Herrschenden als
'Ingenieure der Weltgeschichte', während die Beherrschten im Sinne verabsolutierter
Unmittelbarkeit ein fatalistisches Verhältnis zur Welt einnehmen und pflegen. "Das
Elend als Gegensatz von Macht und Ohnmacht wächst ins Ungemessene zusammen mit der
Kapazität, alles Elend dauerhaft abzuschaffen. Undurchdringlich für jeden Einzelnen ist
der Wald von Cliquen und Institutionen, die von den obersten Kommandohöhen der Wirtschaft
bis zu den letzten professionellen Rackets für die grenzenlose Fortdauer des Status
sorgen" (S.38).
Indem Horkheimer/Adorno das nachhaltige Erlebnis des Faschismus
geschichtstheoretisch dahingehend überdehnen, daß die Nazibarbarei als offenbar
gewordenes Telos einer a prori als Verhängnis feststehenden Zivilisationsgeschichte des
Verfalls und der Entartung erscheint, unterlaufen ihnen zwei fundamentale Fehler:
1) Sie fehlinterpretieren den Faschismus als lineare Emanation eines
sich steigernden rationalistischen Weltverhältnisses bzw. als Ausgeburt der
'instrumentellen Vernunft' schlechthin. Dabei entgeht ihnen aber der Aspekt der
'kulturellen Moderne' als Wesensprinzip der Aufklärung und damit deren schreiende
Gegensätzlichkeit zum Faschismus. D.h.: Die 'Dialektik der Aufklärung' ist blind
gegenüber der eigentümlichen Synthese von instrumenteller Vernunft und Zerstörung der
kritischen Vernuft (Irrationalismus) als hervorstechendes Charaktermerkmal nicht nur des
Faschismus, sondern sämtlicher 'moderner' Totalitarismen (vgl. Krauss 1996/97).
2) Die Verabsolutierung ihrer defätistischen Sicht auf
gesellschaftliche Arbeit/Naturbeherrschung hat die vollständige kategorial-reflexive
Ausblendung praktisch-kritischer Tätigkeit als geschichtlich omnipräsente Alternative
zur Konsequenz. Damit bleibt zum einen - wie bei Hegel - der Charakter der Geschichte als
offener Prozeß, der immer auch als Reihung 'verspielter Möglichkeiten' zu dechiffrieren
ist, unbegriffen. Zum anderen wird damit die Entsubjektivierung der Beherrschten
befestigt. "Der Einfluß des geschichtsphilosophischen Grundmotivs auf die
gesellschaftstheoretische Argumentation der Dialektik der Aufklärung ist so stark,
daß Adorno und Horkheimer nicht umhin können, die sozial unterdrückten Subjekte in
Entsprechung zur beherrschten Natur als passiv-intentionslose Opfer gezielter
Herrschaftstechniken zu begreifen; die Verfügungsprozeduren prägen sich, so scheint es,
den Individuen ein, ohne auf Versuche sozialen Widerstandes und kultureller Gegenwehr zu
stoßen" (Honneth 1994, S.68).
Geschichtstheoretische Perspektiven im Werk von Marx und Engels
Entgegen der bis vor kurzem dominierenden Auslegungsvariante, nach der
die 'klassische' Theorie von Marx und Engels eine homogene, in sich geschlossene,
ein-deutige Ganzheit darstelle, ist vielmehr deren Status als offenes, unvollständiges,
partiell Irrtümer und Aussagewidersprüche aufweisendes, entwicklungsbedürftiges System
von wissenschaftlichen Erklärungen, Begriffen und methodischen Regulativen zu betonen.
Diese Eigenschaft ist aber nicht als Makel zu werten, sondern als Ausdruck des
multidiskursiven Rezeptions- und Reflexionsreichtums der 'Klassiker' im Prozeß ihrer
Werkentwicklung.
Im Lichte der hier interessierenden Fragestellung nach der
Beschaffenheit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses im bisherigen Geschichtsverlauf findet
man bei Marx und Engels 'anknüpfungsfähiges' Material für drei geschichttheoretisch
relevante Perspektiven:
A. Das Proletariat als Substitut des
"Weltgeistes"
Ein wesentlicher aussagewidersprüchlicher Brennpunkt im Werk von Marx
und Engels, der weiterführende Klärungsprozesse nachgerade provoziert und einen
'schismatischen' Grundstein gelegt hat für gegenläufige 'Marxismen', ist das Problem
der revolutionären Subjektwerdung. Einerseits läßt sich an verschiedenen
'prominenten' Stellen bei Marx und Engels eine durch die Hegel-Rezeption beeinflußte
teleologisch-deterministische Reflexionsdimension nicht verleugnen. So wird das
'revolutionäre Proletariat' z.B. in der 'heiligen Familie' zunächst philosophisch im
Kontext einer spekulativ-dialektischen Denkfigur deduziert. Demnach fällt die
'Verworfenheit' der proletarischen Lebenslage mit der 'Empörung über diese
Verworfenheit' unvermittelt zusammen; "durch den Widerspruch zwischen ihrer
menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation" (MEW 2, S.37) sehen Marx und
Engels die Proletarier unmittelbar zu dieser Empörung getrieben. Das als dialektisches
Bewegungsresultat des Privateigentums erzeugte Proletariat wird bestimmt als "das
seines geistigen und physischen Elends bewußte Elend, die ihrer Entmenschung bewußte und
darum sich selbst aufhebende Entmenschung" (ebenda). Revolutionäres Bewußtsein,
revolutionärer Wille und revolutionäre Handlungsbereitschaft werden gefaßt als
naturwüchsig-unselbständiges Teilmoment der entmenschlichten Lebenssituation des
Proletariats, das zwangsläufig zur Geltung gelangt. Später dann wird das 'revolutionäre
Proletariat' ökonomisch abgeleitet. So heißt es im 'Manifest der Kommunistischen Partei'
von 1848: "Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser
Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die
Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der
großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst
hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor
allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich
unvermeidlich" (MEW 4, S.473f.). Dieses 'objektivistisch' begründete
'Unvermeidlichkeitsdenken' als Garant für einen 'unerschütterlichen'
klassenkämpferischen Optimismus ist bei Engels noch 1885 (MEW 21, S.223) ungebrochen
gegenwärtig: "Heute muß man das gesamte deutsche Proletariat unter Ausnahmegesetze
stellen, um nur den Prozeß seiner Entwicklung zum vollen Bewußtsein seiner Lage als
unterdrückte Klasse um ein geringes zu verlangsamen...der einfache, sich von selbst
verstehende Zusammenhang gleichgesinnter Klassengenossen reicht hin, um ohne alle
Statuten, Behörden, Beschlüsse und sonstige greifbare Formen das gesamte Deutsche Reich
zu erschüttern. Bismarck ist Schiedsrichter in Europa, draußen, jenseits der Grenze;
aber drinnen wächst täglich drohender jene Athletengestalt des deutschen Proletariats
empor, die Marx schon 1844 vorhersah".
B. Das Kapital als "automatisches Subjekt"
Die Annahme einer zwangsläufig vorwärtsschreitenden revolutionären
Bewußtwerdung/Radikalisierung des Proletariats infolge sich verschärfender
Ausbeutungserfahrungen und der zunehmenden betrieblichen 'Zusammenballung' der Lohnarbeit
etc. steht in einem unvermittelten Aussagewiderspruch zu den im Marxschen 'Kapital'
entschlüsselten Mystifikationen der gesellschaftlichen Verhältnisse. In Gestalt dieser
Mystifikationen ist nämlich gerade das Moment der sinnlichen Evidenz getilgt und das
Wesen des antagonistischen Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital weitgehend
'entsinnlicht'; die Agenten des kapitalistischen Reproduktionsprozesses bleiben im
unmittelbaren Vollzug ihrer gesonderten Tätigkeiten in verkehrten Bewußtseinsformen
befangen, in denen sowohl der Wesenszusammenhang der kapitalismusspezifischen
Ausbeutung/Mehrwertabpressung z.B. in Gestalt des Lohnfetischs, als auch der
gesellschaftliche Charakter der unabhängig voneinander betriebenen privaten
Produktionstätigkeiten unerkannt bleibt bzw., so Marx (1976, S.86), die
"phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt"
(Warenfetischismus). Indem nun der gesamtgesellschaftliche Reproduktionszusammenhang in
seiner Wesensstruktur für die beteiligten (unmittelbar tätigen) Gesellschaftsmitglieder
unerkannt bleibt und sich hinter ihrem Rücken vermittels der 'selbstregulativen'
Marktgesetze quasi naturwüchsig von selbst herstellt, werden die reproduktionsnotwendigen
Praxisformen von den 'gesellschaftlichen Individuen' realisiert, ohne daß ihnen der
selbst vollzogene gesellschaftliche Bewegungsprozeß bewußt wäre. "Indem sie ihre
verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre
verschiednen Arbeiten einander gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es" (ebenda
S.88).
Zwar ist also das Kapital als sich selbst verwertender Wert keine
subjektunabhängige Entität, "sondern hat die gegenständliche, durch Willen und
Bewußtsein vermittelte Tätigkeit der lebendigen Subjekte zur notwendigen Bedingung"
(Kuhne 1996, S.137), aber es herrscht den unter seinen 'Bewegungszwängen' agierenden
Produktionsagenten eine unhintergehbar-strikte Handlungslogik auf, die in speziellen
Aktivitätsmatrizen bzw. 'Charaktermasken' eine verfestigte Gestalt annimmt. Der
kapitalistische (Re-)Produktionsprozeß erhält auf diese Weise einen autonomen
'Bewegungsstatus' gegenüber den individuellen Zwecksetzungen der in ihrer
'Unmittelbarkeit' verstrickten Subjekte. "Als Kapital steht die objektivierte
Subjektivität der Gattung in einem antagonistischen Verhältnis zur Subjektivität der
Einzelnen. Die kapitalistsche Form ihrer Vergesellschaftung schließt eine gemeinsame
gesellschaftliche Zwecksetzung und Kontrolle der Produktion durch sie aus. Die Einzelnen
sind als Vereinzelte dem allgemeinen Zweck der Produktion von akkumulierbaren Mehrwert
unterworfen...Der als Kapitalist fungierende Kapitaleigentümer muß sein Kapital
verwerten, der Arbeiter seine Arbeitskraft verkaufen. Weil und insofern sie Funktionäre
ihres Eigentums sind, ist die Freiheit ihrer Willkür heteronom bestimmt" (ebenda,
S.138f.).
C. Die vergesellschafteten Menschen als natur-, gesellschafts- und
sich selbst verändernde Tätigkeitssubjekte
Die kapitalismustypische Verkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in
Form der Subjektivierung des Kapitals und der Verobjektivierung der gesellschaftlichen
Individuen wird in der Marxschen Theorie nicht einfach gedanklich rekonstruiert, sondern
in kritisch-revolutionärer Absicht analysiert. D.h: Die fetischförmige
Unmittelbarkeit/Dinghaftigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse wird als aufzuhebende
Totalität begriffen. Im Unterschied zum Strukturmarxismus, der die
Subjekt-Objekt-Verkehrung reontologisiert, ist das Gesamtwerk von Marx und Engels duch die
Verbindung der Kapitalanalyse mit einem tätigkeitstheoretischen Aussage- und
Reflexionsstrang ausgezeichnet. Den Kerngedanken bildet hier die 'Selbsterzeugung der
Menschen' durch gesellschaftliche Arbeit und gesellschaftsverändernde Praxis. Während in
der idealistischen Tradition 'menschliche Tätigkeit' auf 'geistige Tätigkeit' reduziert
und vom materiellen Lebensprozeß abgelöst wird, verkennt der 'anschauende' Materialismus
den aktiven Charakter der materiellen Lebenspraxis der Menschen und gelangt
lediglich zu einer Auffassung der menschlichen Subjektivität als bloßer Reflex bzw.
Produkt der äußeren Umstände. Marx akzentuiert demgenüber in seiner
kritisch-dialektischen Synthese den eingreifenden, umgestaltenden,
wirklichkeitsverändernden, gegenständlichen Status der menschlichen Lebenstätigkeit.
Wirklichkeitsveränderung und Selbstveränderung werden als tätig vermittelte Einheit
begriffen: "Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen
Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden
werden" (MEW 3, S.534). In der selben 'heiligen Familie', in der Marx und Engels
einerseits ein deterministisches Modell der 'revolutionären Subjektwerdung' formulieren,
finden sich andererseits vorwärtsweisende Einsichten für den Aufbau einer
materialistisch-dialektischen Geschichts- und Subjekttheorie. So wird gegen die
idealistische Teleologie als Basisprinzip der hegelianischen Geschichtsphilosophie
folgendermaßen argumentiert: "Die Wahrheit ist für Herrn Bauer wie für Hegel ein Automaton,
das sich selbst beweist. Der Mensch hat ihr zu folgen. Wie bei Hegel ist das
Resultat der wirklichen Entwickelung nichts anderes als die bewiesene, d.h. zum Bewußtsein
gebrachte Wahrheit...Die Geschichte wird daher, wie die Wahrheit, zu einer aparten
Person, einem metaphysischem Subjekt, dessen bloße Träger die wirklichen menschlichen
Individuen sind" (MEW 2, S.83). Marx' und Engels' Kontraposition lautet: "Die
Geschichte tut nichts, sie 'besitzt keinen ungeheuren Reichtum', sie
'kämpft keine Kämpfe'! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche,
lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht die 'Geschichte',
die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre
- Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine
Zwecke verfolgenden Menschen" (ebenda, S.98)
Während Hegel die Weltgeschichte als dialektischen
Selbstfindungsprozeß des verobjektivierten Geistes rekapituliert und darin den 'Endzweck
der Welt' erblickt, sieht Marx im Menschen als sozial verbundenem, tätigen Naturwesen die
Substanz der Geschichte. Als Teil der Natur bzw. 'lebendige Naturwesen' sind die
Menschen einerseits mit natürlichen Lebenskräften in Form von Anlagen, Fähigkeiten,
Trieben ausgerüstet und insofern zur aktiven Naturaneignung auf spezifische Weise
prädisponiert. Indem aber die Gegenstände ihrer Triebe/Bedürfnisse außer ihnen als von
ihnen unabhängige und überwiegend auch nur virtuelle Gegenstände (zu bearbeitende
'Gegenstandsvoraussetzungen') existieren, sind die Menschen - wie alle Organismen -
'leidende', 'bedingte' und 'beschränkte' Wesen, die ihren bedürfnisgespeisten
Widerspruch zur äußeren Natur aktiv-tätig lösen müssen. Die dialektische Konstitution
der menschlichen Lebensreproduktion ist folglich fundiert durch die Erfahrung/Antizipation
von Leiden/Mangelzuständen als Antriebsquelle aktiver Widerspruchsverarbeitung. Insofern
erschlüsselt sich die Geschichte als 'die wahre Naturgeschichte des Menschen'.
Arbeit als spezifisch-menschliche Lösungsform des Widerspruchs zur
äußeren Natur ist nicht nur (a) ein objektiv-gegenständlicher Prozeß, sondern zugleich
(b) ein bewußt-zweckmäßiger (werkzeugvermittelter) und (c) ein
kooperativ-kommunikativer Vorgang. "Also ist der gesellschaftliche Charakter
der allgemeine Charakter der ganzen Bewegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen
als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert" (MEW
Ergänzungsband, S.537). Als strukturelles Wesensmerkmal der menschlichen Naturaneignung
in Gestalt gesellschaftlicher Arbeit ist somit deren Doppelcharakter hervorzuheben: Zum
einen ist Arbeit - zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form
betrachtet - "ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch
seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontolliert" (MEW 23, S.192). Als System
'künstlicher Mittler' dieses produktiven Stoffwechselprozesses fungieren die
Arbeitswerkzeuge (Arbeitsmittel): Diese "sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung
der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der Verhältnisse, worin gearbeitet
wird" (ebenda, S.195). Damit ist zum anderen darauf hingewiesen, daß die Menschen,
indem sie materielle Güter produzieren, gleichzeitig ihre eigenen gesellschaftlichen
Verhältnisse produzieren: "In der Produktion wirken die Menschen nicht allein auf
die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte
Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren,
treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser
gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur,
findet die Produktion statt" (MEW 6, S.407).
Die gesellschaftliche Vermitteltheit menschlicher Lebensreproduktion
manifestiert sich nun aber nicht nur als aktual-synchroner, sondern zugleich als
tradiert-diachroner Zusammenhang. Damit ist der Fokus der materialistisch-dialektischen
Geschichtsaufassung von Marx und Engels als Reflexion des Verhältnisses von
objektiver Bestimmtheit (Determination) und subjektiver (Selbst-)Bestimmung (Autonomie)
erreicht:
Die gesellschaftlich vermittelten Menschen machen ihre Geschichte
selbst, aber stets nicht unter frei gewählten Umständen, sondern unter konkret
vorgefundenen, von den vorangegangenen Generationen überlieferten Umständen. D.h.: Die
materialistisch-dialektische Geschichtsauffassung zeigt, "daß die Geschichte nicht
damit endigt, sich ins 'Selbstbewußtsein' als 'Geist vom Geist' aufzulösen, sondern daß
in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein
historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich
vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von
Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation
modifiziert wird, ihr aber auch andererseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und
ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt - daß also die Umstände
ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen. Diese Summe von
Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede
Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die
Philosophen als 'Substanz' und 'Wesen des Menschen' vorgestellt, was sie apotheotisiert
und bekämpft haben" (MEW 3, S.38).
Hervorzuheben ist nun, daß diese überlieferten/vorgefundenen
Produktionsbedingungen, Sozialstrukturen, Institutionen und Denkformen/Ideologien, die
ihrerseits eine spezifische Entwicklungslogik ('Gesetzmäßigkeit') aufweisen, zwar
einerseits den determinierenden Tätigkeitsrahmen setzen, aus dem man nicht
voluntaristisch herausspringen kann, aber andererseits den konkret-historischen Akteuren
durchaus einen Möglichkeitsraum für alternative Entscheidungs- und Handlungsprozesse
offen lassen. Aufgrund dieser konstitutiven subjektgebundenen Alternativität ist die
Geschichte prinzipiell nicht als linear-deterministisches, sondern als relativ offenes
Geschehen zu begreifen. "'Offenheit' pointiert die Nicht-Eindeutigkeit, die
Nicht-Zwangsläufigkeit von Entwicklung und die Unmöglichkeit ihrer Vorausschau im
Besonderen und Einzelnen" (Stiehler 1997, S.18). "Teleologie" ist damit
nicht mehr als vom Subjekt abgetrennte prozeßimmanente Zwecksetzung- und erfüllung zu
hypostasieren, sondern als von den gesellschaftlichen Individuen vollzogene 'bewußte
Setzungsweise', die bestimmte subjektiv induzierte 'Kausalreihen' in Bewegung zu
setzen vermag. "Wenn...in früheren Philosophien die teleologische Setzung nicht als
eine derartige Besonderheit des gesellschaftlichen Seins erkannt wurde, mußte einerseits
ein transzendentes Subjekt, andererseits eine besondere Beschaffenheit der teleologisch
wirkenden Zusammenhänge ausgeklügelt werden, um Natur und Gesellschaft
Entwicklungstendenzen teleologischer Art zusprechen zu können" (Lukács 1995, S.35)
Geschichliche Praxis lebendiger, raum- und zeitspezifisch positionierter Menschen ist
folglich bewußte Tätigkeit in einem limitierten Aktionsfeld; wobei die Richtung der im
begrenzten Möglichkeitsraum gewählten Handlungsoption wiederum vom Verarbeitungsresultat
der subjektiv erfahrenen Lebenswidersprüche abhängt. Subjektive
Widerspruchsverarbeitung in einem konkret-historisch bestimmten Möglichkeitsraum
kann demnach als das adäquate materialistisch-dialektische Bewegungs- und
Reflexionsprinzip des historischen Prozesses herausgehoben werden. Dabei ist zu betonen,
daß nach Marx die "soziale Geschichte der Menschen...stets nur die Geschichte ihrer
individuellen Entwicklung (ist), ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht" (MEW 27,
S.453). Und indem Marx und Engels in der 'Deutschen Ideologie' hervorheben, daß die
Proletarier den Staat stürzen müssen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen, dann ist
hier ein 'starker' Topos gewählt worden, der zum einen die progressive Möglichkeit der
subjektivden Widerspruchsverarbeitung beschreibt und zugleich die Verschlungenheit von
Individualgeschichte und antagonistischer Vergesellschaftungsgeschichte widerspiegelt.
Die Fähigkeit zu aktiv-tätiger Widerspruchsverarbeitung, deren
paradigmatische Grundform die gesellschaftliche Arbeit darstellt, besitzt ihr
gattungsspezifisches Fundament im menschlichen Vermögen a) objektive Zusammenhänge
annähernd tätigkeitsadäquat zu kognizieren und b) aufgrund dieser
"Sachkenntnis" und im Bewußtsein der eigenen Bedürftigkeit (selbstbezügliche
Relationierung/Auswertung der "Sachkenntnis") sich "frei" zu
entscheiden. Kategorial ist diese spezifische Verflechtung von
Erkenntnisfähigkeit/Selbstbewußtsein/Entscheidungsfreiheit als "Vernunft"
fixiert worden: "Vernunft ist das Allgemeine, das die Natur des Menschen als einer
Naturmacht wesentlich kennzeichnet".(Tomberg 1978, S.49). Im Lichte der dialektisch
strukturierten Daseinsweise der gesellschaftlich-menschlichen Naturwesen ließe sich
'Vernunft' näher bestimmen als gattungsspezifische Potenz, widersprüchliche
Lebenssituationen (Problemkonstellationen) vermittels konkret-historisch vorgefundener
Ressourcen interessenadäquat zu lösen. Hierbei ist allerdings die gegensätzliche
Realisierungsweise (Formgebung) der Vernunft in den antagonistischen
Gesellschaftsformationen in Abhängigkeit von (Klassen-)Standort, Interessenlage und
Perspektive zu reflektieren. Zu insistieren ist folglich auf der Unterscheidung zwischen
(herrschafts-)instrumenteller (konservativer/repressiver) Vernunft und kritischer
(subversiver/progressiver) Vernunft sowie auf deren prinzipiellen Veränderlichkeit.
Demnach hat, wie Eichhorn/Küttler (1989, S.40) zu recht
betonen, die Vernunft "keine außerweltlichen und
übergeschichtlichen Quellen. Ihre Wurzeln liegen in der realen Geschichte selbst, in der
widerspruchsvollen, im Entstehen und Vergehen konkreter Lebensformen und Stufen sich
vollziehenden Höherentwicklung der Menschheit." In Wahrheit ist Vernunft deshalb
immer die, so Marx, "gemeine Vernunft der in den verschiedenen Jahrhunderten
auftretenden und handelnden Menschen" (MEW 4, S.136). Und nur in dieser
subjektgebunden, auf konkret-historische Problemkonstellatonen ausgerichteten und
konfligierenden Modalität kann davon gesprochen werden, "daß Vernunft in der
Geschichte sei" (Hegel).
Zwar sind also die konkret-gesellschaftlichen Menschen de facto die
bewegende Wirkkraft des historischen Prozesses. Aber sie agieren nicht im Sinne eines
homogenen, souvrän und planvoll Ziele setzenden und realisierenden Subjekts. Ein
hervorstechendes Merkmal des bisherigen Verlaufs der Menschheitsgeschichte ist nämlich
folgende eigentümliche Divergenz: Einerseits ist eine kognitive Höherentwicklung der
Gattung in Form der Akkumulation von Erfahrungs- und Wissensbeständen
insbesondere im Hinblick auf die äußere und innere Natur feststellbar
(Werkzeugentwicklung/Technik/Naturwissenschaften: Agronomie, Physik, Biologie, Genetik;
Medizin, Neurologie etc.). Andererseits ist aber der überschaubare Geschichtsverlauf als evolutionäre
Modifikation antagonistischer Gesellschaftsformen mit ihren jeweils spezifischen
zwischenmenschlichen Herrschafts-, Knechtschafts-, Unterdrückungs- und
Konkurrenzverhältnissen zu begreifen. Aufgrund dieser antagonistischen Struktur und der
damit gesetzten relativen 'Zerrissenheit' der vergesellschafteten Menschen kommt es zu
einer 'gesetzmäßigen' Kollision der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen, so
daß die bisherige Geschichte durch Bewußtlosigkeit bezüglich des Prozeßresultats
der gesellschaftlich-menschlichen Gesamtaktivität gekennzeichnet ist. Nach
Marx, der die durchlaufenen antagonistischen Vergesellschaftungstufen einschließlich des
Kapitalismus als "Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" betrachtet, kann
der gesellschaftliche Lebensprozeß erst dann seinen mystischen Nebelschleier abwerfen,
sobald er "als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter
planmäßiger Kontrolle steht" (MEW 23, S.94) und die alltäglichen
Lebensverhältnisse "durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur
darstellen" (ebenda). Voraussetzung hierfür ist folglich die Aufhebung der
antagonistischen Zivilisation.
Durch diese Inkongruenz von sich steigernder Naturbeherrschung
(kognitive Höherentwicklung) und verharrender bewußtlos-chaotischer Bewegung des
gesamtgesellschaftlichen Prozesses (geistig-moralische Stagnation) als Signum der
antagonistischen Zivilisation erhält auch der sog. 'Fortschritt' seine janusköpfige
Gestalt:
"Solange die Herrschaft über Natur erkauft ist durch die über
Menschen, solange wird aller Fortschritt antagonistisch sein und 'jenem scheußlichen
heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagner trinken
wollte'" (Schmidt 1971, S.129)
Wenn aber aufgrund der bisherigen Nichtüberwindung der antagonistischen
Zivilisation - und damit als Ausdruck der Beharrungskraft herschaftlicher Subjekte - im
"weltgesellschaftlichen" Maßstab die relative geistig-moralische Stagnation
dominiert, so ist damit doch keinesfalls subversiv-widerständige Kreativität im Kontext
der Evolution kritischer Vernunft und praktisch-kritischer Bewegungen ausgeschlossen. Denn
im Zustand der Blockierung der "menschlichen Gesellschaft" (Marx) bleibt immer
noch die Möglichkeit der "einsichtigen Imagination"., die sich insbesondere in
den progressiven Werken der "Zweiten Kultur" vergegenständlicht (vgl. Tomberg
1978).
Fortsetzung


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