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Fortsetzung
Hartmut Krauss
Geschichte der Subjektivität
Möglichkeitsbedingungen und Konstitutionsmerkmale 'praktisch-kritischer'
Subjektwerdung im historischen Prozeß
Zur theoretischen Regression des epigonalen (Partei-)Marxismus
Im Gesamtwerk von Marx und Engels läßt sich demnach die Grundlegung
einer kritisch-materialistischen Geschichtstheorie verorten, die den historischen Prozeß
zugleich als dialektisch konstituiert (Arbeit; Klassenkampf/praktisch-kritische
Tätigkeit) und 'offen' (limitierter Möglichkeitsraum) betrachtet und in diesem Kontext
das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung angemessen
reflektierbar werden läßt. In der Nachfolge von Marx und Engels, ja noch zu Lebzeiten
von Engels, obsiegt innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung allerdings jene deterministische
Interpretation des 'Wissenschaftlichen Sozialismus', die das soeben skizzierte geschichts-
und subjekttheoretische Potential der Marx/Engelschen Theorie weitestgehend außer Acht
läßt und letztendlich verschüttet. D.h. gerade die retardierenden Momente im Werk von
Marx und Engels werden in der Perspektive parteistrategischer Nützlichkeitserwägungen
(Fundierung von 'Siegesgewißheit') selegiert, didaktisch systematisiert und zu einer
dominanten 'Marxismusversion' verfestigt. So wird im zeitgenössischen 'Vulgärmarxismus'
der II. Internationale Marx als 'umgestülpter' bzw. 'materialisierter' Hegel
präsentiert. D.h. die spekulative bzw. geschlossen-teleologische Figur der Hegelschen
Dialektik bleibt 'strukturell' erhalten und wird lediglich auf eine
materialistische/ökonomische Grundlage gestellt. "Wie Hegel sah auch Marx in der
Geschichte der Menschheit einen gesetzmäßigen, von menschlicher Willkür unabhängigen
Prozeß...Als Materialist aber erblickte er freilich diese Quelle nicht mehr in dem Geist,
sondern in eben derselben ökonomischen Entwicklung...Der moderne
dialektische Materialismus weiß noch viel besser als der Idealismus, daß die Menschen
ihre Geschichte unbewußt machen, da deren Gang durch die vom menschlichen Willen
unabhängige Entwicklung der materiellen Produktivkräfte bestimmt wird" (Plechanow
1971, S.283). Hier wird eindeutig hinter Marx' Hegelkritik zurückgefallen. Denn: "Hegels
Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der
sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter
oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte läßt er
eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der Menschheit
verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher dem wirklichen Menschen jenseitigen
Geistes der Menschheit" (MEW 2, S.89f.).
Auf diese Weise wird dem Geschichtsprozeß ein mechanistisch wirkendes
(teleologisches) Fortschrittsgesetz unterstellt, als dessen schließlicher
(prädestinierter) Vollstrecker das Proletariat fungiert. An die Stelle des sich
teleologisch entfaltenden Hegelschen Weltgeistes tritt ein technizistisch verkürzter
Produktivkraftfetischismus, der die Grundlage abgibt für einen fatalistischen
Fortschrittsoptimismus.
Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus wird in diesem Denkrahmen
'zusammenbruchstheoretisch' gedeutet. Auf politischer Ebene entspricht diesem
'entsubjektivierten' Marxismus dann ein revolutionärer Attentismus; d.h. eine
passiv-abwartende Haltung im Vertrauen auf den 'objektivistisch' garanierten Triumph des
historischen Fortschritts. (Max Weber nannte deshalb die Sozialdemokratie ironisch einen
Verein zur Herbeiführung einer ohnehin stattfindenden Sonnenfinsternis.)
"Die Intention gesellschaftsverändernder Praxis als das
Zentralproblem marxistisch ausgelegter Dialektik" (Seppmann 1993, S.152) wird so
zunehmend verschüttet. Für den traditionellen (Partei-)Marxismus stalinistischer
Prägung, der einer ganzen Reihe von 'kommunistischen Kadern' als richtungsweisende
Orientierungsgrundlage diente, ist dann ein mechanistischer Ökonomismus charakteristisch,
der die Entwicklung und Beschaffenheit des kollektiven wie individuellen Bewußtseins
linear aus den ökonomischen Verhältnissen ableitet. Dabei wird die Bewußtseins- und
Ideenentwicklung als zwangsläufiger passiver Reflex auf subjektunabhängig
sich vollziehende materielle Veränderungsprozesse behauptet. Im Rahmen dieses Diskurses,
der die komplizierte Dialektik zwischen Subjekt-Tätigkeit-Objekt ausklammert, "ist
es klar, daß die von unterdrückten Klassen vollzogenen revolutionären Umwälzungen eine
völlig natürliche und unvermeidliche Erscheinung darstellen" (Stalin 1979, S.257).
Als logische Konsequenz nun dieser impliziten Gleichsetzung von ökonomischer
'Klassenlage' und 'Klassenbewußtsein' bzw. dem 'Unvermeidlichkeitsdogma' der
proletarischen Revolution wird die wissenschaftliche Erfassung der menschlichen
Subjektivität in ihrer Eigengesetzlichkeit entweder verworfen, mißachtet oder ignoriert.
Das diese stalinismistypische Mißachtung der Eigenlogik des 'subjektiven Faktors' auch in
poststalinistischen Marxismusvarianten ungebrochen fortexistiert, hatte K.Holzkamp (1977,
S.52) am Beispiel des ehemaligen 'Projekts Klassenanalyse' demonstriert: "Der
individuelle Mensch erscheint hier also total als Produkt der objektiven
gesellschaftlichen Einflüsse, und seine Individualität wird darauf reduziert, daß er
quasi ein besonderer Schnittpunkt derartiger Einflüsse ist. Wenn man
demgemäß die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, denen ein Mensch auf seinem
gesellschaftlichen Standort ausgesetzt ist, nur spezifiziert genug erfaßt, so ist dies gleichbedeutend
mit der Erfassung seiner Individualität."
Die epigonale Verwandlung des historischen Materialismus in eine
ökonomistische Prädestinationslehre hat unterschiedliche politische Konsequenzen: Sie
fördert einerseits eine 'attentistische' Tendenz des Abwartens, der praktisch-politischen
Passivität im Vertrauen auf den 'gesetzmäßigen' Gang der Geschichte. Andererseits ist
aber auch eine Motivierung voluntaristischer Tendenzen möglich. Ist die Gesetzmäßigkeit
der Geschichte nämlich erst einmal erkannt und die Siegesgewißheit der 'proletarischen
Sache' bewiesen, dann muß die Welt nicht mehr mühselig interpretiert werden, sondern
dann kann man endlich 'losschlagen'. Dieser linksradikale Voluntarismus/Subjektivismus ist
zunächst nicht nur für Stalin allein charakteristisch, sondern generell innerhalb der
bolschewistischen Führungsgruppe virulent: "Ihre revolutionären Biographien, die
ganze Logik ihres früheren Kampfes, die Kampfatmosphäre nach dem Oktober veranlaßten
sie dazu, die in der berühmten Marxschen 11. These über Feuerbach enthaltene Idee zu
übertreiben" (Wodolasow 1990, S. 208).
Worin liegt der tiefere Grund für diese ambivalente Kombination aus
mechanistisch-fatalistischem Geschichtsverständnis und praktizistischem
Voluntarismus/Subjektivismus als geistiges Merkmal des Stalinsimus?
Im Rahmen seiner Entfaltung des 'allgemeinen Arbeitsbegriffs' hebt Marx
den schöpferisch-konstruktiven Charakter des menschlichen Bewußtseins als
regulatives Wesensmoment der Arbeitstätigkeit hervor. Was den schlechtesten Baumeister
von vornherein vor der besten Biene auszeichnet, ist die Fähigkeit zu ideeller
Produktantizipation: "Am Ende des Arbeitsprozesse kommt ein Resultat heraus, das beim
Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.
Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im
Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als
Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß" (Marx 1976a, S. 193).
Lenin notiert in seinem Konspekt zu Hegels 'Wissenschaft der Logik': "Das Bewußtsein
des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch"
(Lenin 1981a, S. 203). Der Widerspruch zwischen Sein und Sollen bzw. die subjektiv
erfahrene Bedürfnisresistenz und -widerständigkeit der objektiven Realität wirkt hier
als Triebkraft, "d.h., daß die Welt den Menschen nicht befriedigt und der Mensch
beschließt, sie durch sein Handeln zu verändern" (ebenda, S. 204). Demgegenüber
'kreiert' Stalin - mit Bezug auf die Volksmassen - das Gesetz vom
Zurückbleiben des Bewußtseins gegenüber dem Sein, indem er von
einer passiv-mechanistischen Widerspiegelungsauffassung ausgehend den Tätigkeitscharakter
des Bewußtseins, d.h. dessen aktive, antizipatorische, konstruktive 'Funktionsqualität'
ausblendet. "Es ergibt sich, daß der Entwicklung der ideellen Seite, der Entwicklung
des Bewußtseins, die Entwicklung der materiellen Seite, die Entwicklung der äußeren
Bedingungen vorausgeht: Zuerst verändern sich die äußeren Bedingungen, zuerst
verändert sich die materielle Seite, und dann verändert sich
dementsprechned das Bewußtsein, die ideelle Seite" (Stalin 1953, S. 274).
Während bei Marx, wie schon Lefébvre (1971, S.118) hervorgehoben hat,
"das Bewußtsein und die Erkenntnis mögliche Lösungen für wirkliche
Probleme suchen, wie die konkreten Widersprüche sie stellen", erscheint bei Stalin
'Bewußtsein' als passiver 'nacheilender' Reflex auf die Wirklichkeit. Wie aber ereignet
sich dann Geschichte als 'praktisch-kritische', eingreifend-verändernde Tätigkeit? Um
aus diesem Erklärungsdilemma herauszukommen, wird dem Gesetz vom Zurückbleiben des
Bewußtseins ein 'dogmatischer Subjektivismus' (Lefébvre) bzw. 'autoritärer
Voluntarismus' (Marcuse) zur Seite gestellt, wonach die (Partei-)Führer von diesem Gesetz
ausgenommen und dazu berufen sind, das 'nacheilende' (Massen-)Bewußtsein auf die 'Höhe
der Zeit' zu heben und auf die historischen Aufgaben 'auszurichten'. Dem
Führer-Voluntarismus entspricht so der 'prinzipielle' Objektstatus der Volksmassen.
"Es ist freilich ein wiederkehrendes Merkmal allen undialektischen, in starren
Gegensätzen sich bewegenden Denkens, daß die zunächst extrem einseitig besetzte
Position jäh und unvermittelt einer anderen weichen muß, welche durch eine neue
Einseitigkeit die erste zu korrigieren sucht" (Hofmann 1970, S. 80).
Im Rahmen des parteimarxistischen Geschichtsdiskurses wurde nicht
zuletzt die gesamte 'Geschichte der Klassenkämpfe' dem 'unvermeidlichen' Telos der
proletarischen Weltrevolution subsumiert, d.h. als a prori die proletarische
Befreiungsmission vorbereitende bzw. wegbahnende Vorgeschichte simplifiziert. Das
vielgestaltig, heterogen und in sich kompliziert gegliederte 'revolutionäre Sozialerbe'
wurde so voluntaristisch vereinseitigt und die Beweggründe der konkret-historisch
bestimmten praktisch-kritischen Akteure wurden weniger aus ihrer Zeit heraus begriffen als
vielmehr zu bloßen 'Vorläufern des neueren Sozialismus' (Kautsky) herabgestuft. Die
inadäquate Heroisierung der Volksmasse als 'wahrer Schöpfer' bzw. 'reales Subjekt der
Geschichte' fungierte daher als ein idelogisches Konstrukt, das weltanschauungsfunktional
dem proletarischen Messianismus untergeordnet blieb und die komplizierte Bewegungslogik
der praktisch-kritischen Subjektwerdung von Teilen der Beherrschten in unterschiedlichen
Geschichtsepochen begrifflich verstellte.
Konstitutionsmerkmale der praktisch-kritischen Subjektentwicklung
von Teilen der Beherrschten im historischen Prozeß
Von der vielfach akzentuierten Rolle der Volksmassen als exploitierte,
kommandierte und entfremdete Träger der klassenantagonistisch bestimmten materiellen
(Re)Produktion kann nicht unmittelbar (linear) auf deren 'revolutionäre',
'praktisch-kritische' Subjekthaftigkeit (Geschichtsmächtigkeit) 'kurz'geschlossen werden.
D.h. der Status des historischen Subjekts ist den beherrschten Klassen und Schichten nicht
per se inhärent - diesen also nicht 'einfach' sozialexistenziell 'mitgegeben' - sondern
muß als in den Widersprüchen der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit aufgehobene
Möglichkeitsbedingung (Herausforderung), also als 'aufgegeben', begriffen werden. Erst
indem die Volksmassen nicht nur als materielle Produzenten aktiv-tätig die Natur
verändern, sondern darüberhinaus progressiv-umgestaltend auf die vorgefundenen sozialen
Verhältnisse einwirken, formieren sie sich im konkret-historischen Prozeß zum Subjekt
'revolutionärer', 'praktisch-kritischer' Tätigkeit. Eben deshalb verbindet die Marxsche
Theorie die Analyse der objektiven Bedingungen "mit der entschiedensten Anerkennung
der Bedeutung der revolutionären Energie, der revolutionären Schaffenskraft, der
revolutionären Initiative der Massen und natürlich auch der einzelnen Personen,
Gruppen, Organisationen und Parteien, die es verstehen, Verbindungen mit den einen oder
anderen Klassen ausfindig zu machen und zu realisieren"(Lenin, Werke Bd.13, S.23).
Dabei ist natürlich der widersprüchliche, komplizierte und langwierige (mit
Rückschlägen und Stillständen verbundene) Charakter dieses Formierungsprozesses
hervorzuheben: Neben den Revolutionen als nichtalltäglich-außergewöhnlichen
Höhepunkten bzw. "Festtage(n) der Unterdrückten und Ausgebeuteten" (Lenin,
Werke Bd.9, S.103) kennt die Geschichte auch stagnative Perioden, "in denen große
Massen von Werktätigen zu einem stumpfen Dahinvegetieren verurteilt waren, in denen sie
geschunden und bei spontanem Aufbegehren erbarmungslos niedergedrückt wurden, in denen
tagtägliches Leid und Dulden sie nur recht dürftig auf künftige Klassenschlachten
vorbereiteten"(Autorenkollektiv 1979, S.551f.). Die historisch-materialistische
Rekonstruktion der geschichtlichen Subjektformierung der Volksmassen muß sich deshalb von
den Positionen eines apriorisch zuschreibenden 'Subjektismus' (subjekttheoretischer
'Triumphalismus') ebenso abgrenzen wie von dessen spiegelbildlicher Verkehrung: der
Leugnung, Entwichtigung und Verzerrung der sich bildenden 'praktisch-kritischen'
Subjektqualität der Beherrschten und Unterdrückten (subjekttheoretischer Skeptizismus).
In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf folgende Aspekte hinzuweisen:
1.) Das Abbild- und Orientierungsniveau der 'praktisch-kritisch'
tätigen Volksmassen muß jeweils in seiner konkret-historischen (formationsspezifischen)
Bestimmtheit untersucht und bewertet werden; d.h. im Hinblick auf die realhistorisch
gegebenen Möglichkeiten subjektiver (klassenspezifischer wie individueller)
Widerspruchsverarbeitung in Gestalt von aneigenbaren (standortspezifischen)
Reflexionsmitteln, Denkformen, Normen, kulturellen Symbolen etc. "Alles",
so Engels (MEW 21,S.298), "was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf
hindurch; aber welche Gestalt es in diesen Köpfen annimmt, hängt sehr von den Umständen
ab." Vor der "Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die
Gesellschaft" (MEW 19, S.226), d.h. unter den Bedingungen der spontan
antagonistischen Durchsetzungsform der gesellschaftlichen Entwicklung, bedeutet das, die widersprüchliche
Einheit von Spontaneität, Bewußtsein und Bewußtheit konkret in Rechnung zu stellen,
d.h. vom Standpunkt des 'inneren historischen Beobachters' aufzuschlüsseln: "Als
Gegensatz zur Bewußtheit ist die Spontanität nicht das völlig Unbewußte. Die Menschen
handeln immer bewußt und streben selbstgesteckte Ziele und gewollte Wirkungen an, die sie
oft auch erreichen. Unbewußt können dabei aber die weiterreichenden Folgewirkungen des
Handelns sein, und sie sind es im weitaus größten Teil der bisherigen Geschichte auch
fast durchweg gewesen ... Bewußtsein haben die Menschen immer, Bewußtheit ist ihnen
jedoch nur eigen, soweit sie die Objektivität richtig widerspiegeln" (Barthel 1976,
S. 269f.) Erst mit der Herausbildung einer systemtransformatorischen Bewegung im Kontext
der Aneignung, Diskussion und Multiplikation einer
gesellschaftskritisch-wissenschaftlichen Orientierungsgrundlage ('Wissenschaftlicher
Sozialismus') wird die Bewußtheit als auf historisch-gesellschaftlicher
Zusammenhangserkenntnis gegründete kognitive Qualität zum (möglichen) regulativen
Charakteristikum geschichtsbildender kollektiver Tätigkeit.
2.) Die konkrete Gestalt der 'praktisch-kritischen'
(gesellschaftsverändernden) Tätigkeit der Volksmassen im historischen Prozeß erschöpft
sich nicht in akuten Zuspitzungen, Revolutionen, Aufständen etc., also in den
Kulminationspunkten, sondern kristallisiert sich gleichfalls in 'ruhigeren' vorbereitenden
Aktivitäten, latenten Protestformen, Perioden der allmählichen 'Konstruktion'
'praktisch-kritischer' Tätigkeitsmomente (z.B. der Erarbeitung und Ausbreitung
subversiver ideologischer Deutungssysteme als herrschaftsparalysierende 'Gärungsmittel'
etc.), in die wechselnde Teile der Beherrschten unmittelbar einbezogen sind. Aus der
Perspektive der Analyse der Klassenkampfentwicklung in den antiken
Gesellschaftsformationen stellt z.B. Jähne (1986, S.11) folgendes fest: "Volks- und
Sklavenkriege waren in vorfeudaler Zeit lediglich Gipfelpunkte des Klassenkampfes und sind
mit dessen anderen, weniger augenscheinlichen, dafür stetigen und alltäglichen Formen in
eine Reihe zu stellen. In der Gesamtheit seiner niederen und höheren Formen ist der
Klassenkampf der unterdrückten und ausgebeuteten Volksschichten eine durch die Geschichte
der Klassengesellschaften fortlaufende kontinuierliche Erscheinung." Die
Rekonstruktion der 'praktisch-kritischen' Subjektwerdung von Teilen der Volksmassen muß
deshalb folgende unterschiedlich beschaffenen Erkenntnisbarrieren in Rechnung stellen: Zum
einen den Tatbestand, daß die der jeweils herrschenden Klasse aggregierte 'offizielle'
Geschichtsschreibung (klassen)naturwüchsig dazu neigt, den Widerstand und die
emanzipatorischen Bestrebungen der Unterdrückten zu tabuisieren, zu perhorressieren und
zu marginalisieren, d.h. als historische Anomalie 'aufzubereiten', um so die 'Spuren der
Besiegten' (vgl. Haasis 1984) zu verwischen. Zum anderen wirkt aber auch die in Mode
gekommene Überhöhung der Alltagskultur und -geschichte 'von unten' gerade deshalb
konterproduktiv, weil sie nicht zwischen vorwärtstreibenden Momenten, Keimformen,
Ansätzen 'praktisch-kritischer' Tätigkeitsentwicklung einerseits (Evolution einer
Widerstands- und Gegenkultur) und jenen alltagskulturellen Lebensformen zu differenzieren
weiß, in denen sich die Beherrschten in ihrer entsubjektivierten Bestimmtheit durch die
herrschenden Verhältnisse reproduzieren, d.h. als beherrschte Individuen
be(s)tätigen. (Zur Kontroverse um die Alltagsgeschichte vgl. z.B. Prüggemier, Kocka
1985.) Demgegenüber ist folgendes systematisch zu berücksichtigen: In dem Maße wie seit
der Auflösung der urgesellschaftlichen Lebensformen "die ganze Geschichte eine
Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist"(MEW 21, S.3), die ausgebeuteten und
beherrschten Gesellschaftsmitglieder in je formations- und phasenspezifischer Qualität
und Intensität 'praktisch-kritisch' auf die (vor)gegebenen sozialen Verhältnisse
einwirken und sich auf diese Weise tätigkeitsspezifisch vergegenständlichen, wird die
Aneignung, Modifizierung und Ausgestaltung des so geschaffenen 'revolutionären
Sozialerbes' zu einem konstitutiven Moment des widersprüchlichen Entwicklungsprozesses
der Menschheit insgesamt wie der einzelnen Persönlichkeit. Folgende wesentlichen
Konstitutionsformen im Prozeß der Selbstbewegung von Teilen der Volksmassen zum
'praktisch-kritischen' Tätigkeitssubjekt sind hier besonders hervorzuheben:
1.) Wie MARX in dem berühmt gewordenen Vorwort zu seiner Arbeit: 'Zur
Kritik der Politischen Ökonomie' herausstellt, sind es die "juristischen,
politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen,
worin sich die Menschen dieses Konflikts (d.h. der ökonomisch verwurzelten sozialen
Antagonismen, H. K.) bewußt werden und ihn ausfechten"(MEW13, S. 9). Die
antagonistisch vergesellschafteten Menschen generieren demnach im Prozeß ihrer
ganzheitlichen Lebensbewältigung eine komplex strukturierte
klassentypisch-standortspezifische (interessendeterminierte) Bewußtseinsform als ideelles
'Werkzeug' (bzw. 'Mechanismus') zur Verarbeitung der erfahrenen gesellschaftlichen
Widersprüche mit dem funktionalen Effekt der tätigkeitsbezogenen Orientierung,
Mobilisierung und Identitätsbildung der gesellschaftlichen (Klassen-)Individuen. Die
regulative Wirksamkeit dieser integrierten 'ideologischen Formen' basiert dabei primär
auf der Interfunktionalität von kognitiven (interpretativen) und moralischen
(wertend-normativen) Komponenten im Rahmen eines konkret-historischen ideologischen
Systems: Vermittels der ('systemimmanenten') 'Übersetzung' von
Wirklichkeitsinterpretationen in explizite Wirklichkeitsbewertung und Handlungsanleitung
(Normierung) wird die .Mobilisierungs- und Wirkungsfähigkeit (bzw. 'hegemoniale
Kapazität') einer Ideologie entscheidend 'verstärkt' bzw. überhaupt erst hergestellt,
während andererseits die moralischen Systemkomponenten der Ideologie durch die
kognitiv-interpretativen Bestandteile (Aussagen) erst ihre legitimierende bzw.
'absichernde' Grundlage erhalten. Dieses funktionale Ergänzungsverhältnis von
Wirklichkeitsinterpretation/-bewertung/Handlungsnormierung trägt entscheidend zur
qualitativen Potenzierung der subjektiven Orientierungsrelevanz einer Ideologie bei,
'konkretisiert' deren Bedeutsamkeit als Folie subjektiver Widerspruchsverarbeitung. In
Anlehnung an Gramsci (1967,S.147) läßt sich folglich die Erarbeitung/ Aneignung einer
Ideologie (Weltanschauung) als integraler Bestandteil der gesellschaftlichen
Handlungsfähigkeit eines kollektiven (wie individuellen) Subjekts bestimmen: "...so
sind die meisten Menschen Philosophen, weil sie praktisch handeln und in ihrem praktischen
Handeln (in den Leitlinien ihres Verhaltens) implizit eine Weltanschauung, eine
Philosophie enthalten ist. Die Geschichte der Philosophie ... ist die Geschichte
ideologischer Versuche und Initiativen einer bestimmten Klasse von Personen, um die
Weltanschauungen jeder Epoche zu verändern, zu korrigieren und zu vervollkommnen und
folglich die entsprechenden, diesbezüglichen Verhaltensnormen oder das praktische Handeln
insgesamt zu ändern." Die historische Subjektformierung der Volksmassen beinhaltet
demgemäß als wesentliche (notwendige) Voraussetzung die zumindest partielle
Durchbrechung der ideologisch-weltanschaulichen Deutungs- und Normierungsmacht der
herrschenden Klasse und damit die Schöpfung einer tendenziell 'historisch-organischen
Ideologie' (Gramsci) als zentrales Orientierungssystem der 'praktisch-kritischen'
Tätigkeit. Bezüglich der regulativen 'Leistungsfähigkeit' dieser
'praktisch-kritischen' Bewußtseinsform und deren Produktion sind folgende Momente
anzuführen:
a) Der Prozeß der 'Katharsis' (vgl. Gramsci 1967,S.164) enthält als
grundlegende (massen)psychologisch wirksame Dimension die (ideologiekritische)
Selbstreinigung von inadäquaten Bedeutungen als ideellen Stabilisatoren 'im Sinne' der
herrschenden Gedankenform, die Zurückweisung der Legitimationsformeln und
Verhaltenszumutungen der Herrschenden, die Durchbrechung des Scheins der
Allgemeingültigkeit der herrschenden Ideologie etc. Auf diese Weise wird insbesondere die
Antriebsstruktur der Beherrschten grundlegend umgewandelt: Verändernde Tatkraft tritt
allmählich an die Stelle 'knechtseliger' Passivität und verdrängt sukzessive die
fatalistische Akzeptanz gegenüber der bislang 'naturalistisch' mißdeuteten
gesellschaftlichen Realität. Lenk (1978, S.40), der diesen Vorgang konkret-historisch
für die Krise der Feudalgesellschaft am Vorabend der deutschen frühbürgerlichen
Revolution beschrieben hat, stellt verallgemeinernd fest: "Durch Anklage und
enthüllende Kritik wurde der Anspruch der Feudalherren, Hüter und Bewahrter von Ordnung,
Gerechtigkeit und Frieden, von Moral und Kultur zu sein, allmählich zerstört. Die im
gesellschaftlichen Bewußtsein dieser Zeit verfestigten Vorstellungen und Meinungen, daß
die bestehende Standeshierarchie mit ihren Unterordnungsungs-und
Knechtschaftsverhältnissen gleichsam naturgegeben und unveränderlich sei, gerieten ins
Wanken. Aus dem Komplex von ethischen, religiösen und anderen ideologischen
Begründungen, die diese Meinungen und Vorstellungen und damit das Feudalsystem stützten,
brach ein Argument nach dem anderen heraus."
b) Die ideologische Selbstreinigung als zentrales Moment
'praktisch-kritischer' Selbstveränderung steht in organischer Wechselbeziehung zum Prozeß
der (Re-) Konstruktion: Multiplikation und Rezeption interessenadäquater Bedeutungen,
also der Schöpfung einer 'praktisch-kritischen' Ideologie und deren 'Durchsetzung' als
tätigkeitsrelevantes Regulierungssystem. Gestützt auf dieses neu geschaffene
Bedeutungssystem reflektiert das sich formierende Subjekt seine kritische Intention,
'klärt' die Ziele und Aufgaben der 'Bewegung' und erzeugt so die kognitiv-normativen
Voraussetzungen für die geistig-kritische Durchdringung und praktisch-eingreifende
'Lösung' der gesellschaftlichen Widersprüche in Abhängigkeit vom konkret-historischen
Entwicklungsniveau. Hierbei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: Die
Erarbeitung der 'praktisch-kritischen Ideologieform' ist der spezifische Beitrag der
'organischen Intellektuellen', die sich der als historisches Subjekt formierenden
Volksmasse assoziieren oder - was aus Gründen der klassenantagonistischen Privilegierung
der 'Kopfarbeit' seltener der Fall ist - sich direkt aus ihr rekrutieren. Allerdings ist
die Verbreitung der Ideologie auf den verschiedensten 'Kommunikationsebenen' Sache der
Volksmassen selbst bzw. deren organisiert wirkenden bewußtesten Kräfte. "Eine neue
Kultur schaffen bedeutet nicht allein, individuell 'neuartige' Entdeckungen zu machen, es
bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verarbeiten, sie
sozusagen zu 'vergesellschaften', sie lebenswichtigen Handlungen als Element der
Koordinierung und geistig-moralischer Ordnung zugrunde zu legen" (Gramsci 1967,
S.131). Neben der kritischen Demontage der herrschenden Ideologie ist die schöpferische
(Re)Konstruktion adäquater (klassenorientierender) Bedeutungen wesensmäßig gebunden an
die Aufarbeitung 'praktisch-kritisch' nutzbarer Ideenbestände als Teilaspekt des
revolutionären Sozialerbes; bezieht also die bewußte Anknüpfung an progressive
Denktraditionen und deren zeitgemäße Weiterentwicklung (dialektische Negation) mit ein.
Exemplarisch kann hier auf Thomas Müntzer verwiesen werden, der nicht nur gegenüber
Luther in scharfer Form den Subjektcharakter des 'gemeinen Mannes' klargestellt hat,
sondern in seiner Funktion als führender (konzeptiver) Ideologe der deutschen
frühbürgerlichen Revolution tradiertes häretisches Gedankenmaterial kritisch
verarbeitete und sich bewußt auf revolutionäre Vorläufer (z.B. Hussitenbewegung) bezog:
"Während... Luther sich mit der Ablaßfrage und dadurch mit der römischen Kurie
herumschlug, zog sich Müntzer in die Ruhe der Studierstube im Kloster Beuditz zurück; er
verarbeitete also eine ganz andere Überlieferung, drang bewußt zu anderen Quellen vor.
Nicht Occamismus, Augustinismus, sondern alttestamentliches Prophetentum, Taboritentum und
mittelalterliche Mystik, ketzerische Ideen des Mittelalters und humanistische Literatur
sowie die Veröffentlichungen der frühen Reformationsbewegung - neben Luther vor allem
Karlstadt - bestimmten ihn, wobei die Aneignung und Auseinandersetzung unter aktiven
Vorzeichen und ohne Neigung zu quietistischer Gottschau und Selbstbespiegelung
erfolgte" (Steinmetz 1975, S.676f.).
2.) Die geschichtliche Subjektwerdung der Volksmassen manifestiert sich
in prägnanter Weise in der Erzeugung und Ausgestaltung eines komplexen Ensembles
'praktisch-kritischer' Tätigkeitsformen und -zusammenhänge, die als
historisch-spezifische Realisierungsweisen gesellschaftsverändernder Aktivitäten in
Erscheinung treten. In Abhängigkeit vom real-historisch erreichten Grad der
Widerspruchsverschärfung, dem damit verbundenen Kräfteverhältnis zwischen den sich
bekämpfenden Klassen und der Konstitution des tradierten (aneigenbaren) revolutionären
Sozialerbes ist hiermit auf die historisch-empirisch konkrete Palette 'niederer' und
'höherer' Verwirklichungen der drei Grundformen des Klassenkampfes verwiesen:
Zurückhaltung der Arbeitsleistung, Verweigerung der Abgabe des Mehrprodukts, Streiks,
punktuelle spontane Rebellionen, geheime Verschwörungen, Sektenbildung, Propagierung
herrschaftsfeindlicher Ideen, Aufstände, bewaffnete Erhebungen und Befreiungskriege etc.
Im Rahmen dieser 'praktisch-kritischen' Tätigkeitsprozesse 'evolvieren' zielspezifische
Anforderungsstrukturen, die gemessen am jeweils gegebenen historisch-gesellschaftlichen
Möglichkeitsraum subjektiv mehr oder minder adäquat realisiert werden können. Gerade in
der quantitativ wie qualitativ differierenden 'Ausfüllung' der konkret-historischen
Anforderungsstrukturen, der Aneignung unterschiedlicher 'praktisch-kritischer'
Tätigkeitsprofile offenbart sich die historische Subjekthaftigkeit der beherrschten
Klassen und Schichten. Exemplarisch läßt sich die hier nur andeutungsweise skizzierbare
Dialektik von Anforderungs- und Fähigkeitsevolution anhand des deutschen Bauernkrieges
(als dem Höhepunkt der deutschen frühbürgerlichen Revolution) nachvollziehen: Wenn auch
der Heroismus der kämpfenden Bauern beeindruckend ist, so sind doch neben den
ausschlaggebenden objektiven (ökonomischen und politisch-sozialen) Ursachen auch
subjektive Gründe für die Niederlage anzuführen:
a) Mangel an militärisch-strategischen Kompetenzen: Fixierung auf eine
vorwiegend defensive Kampfweise trotz partieller waffentechnischer Ebenbürtigkeit und
zahlenmäßiger Überlegenheit, geringe Widerstandskraft gegenüber den Geschützen und
der Reiterei des Gegners; ungenügende strategische Koordination und Organisation etc.
b) Mangel an politisch-ideologischen Kompetenzen: Verzicht auf
politisch-strategische Abstimmung zwischen den Aufstandszentren infolge einer dominanten
lokalbornierten Denk- und Handlungsweise; psychisch-moralische Defizite in der
Verhandlungsführung mit dem verschlagenen, wortbrüchigen und brutalen Gegner;
ungenügendes Vorhandensein weltanschaulich-programmatischer Artikulationsfähigkeiten
etc. (vgl. z.B. MEW 7, S.378 f., 381f., 390; Steinmetz 1979,S.132f.; Lenk 1983,S.23ff.;
Vogler 1983,S.197ff.).
3.) Als zentraler Kohäsions- und Vermittlungsfaktor der sich historisch
entwickelnden dialektischen Einheit von revolutionärem Subjekt,
gesellschaftsverändernder Tätigkeit und 'praktisch-kritischem' Bewußtsein ist die Entstehung
formationsspezifischer Organisations und Vereinigungsformen hervorzuheben, vermittels
derer die Volksmassen ihrer erkämpften Subjektqualität Ausdruck verleihen, ihre
interessenspezifischen Tätigkeitsziele in Angriff nehmen und sich mit dem
herrschaftsbehauptenden (Klassen-)Gegner auf den verschiedenen Kampfebenen konfrontieren.
D.h. die geschichtlich entstandenen Organisations- und Vereinigungsformen der beherrschten
Klassen sind notwendige, durch die multiinstrumentale Machtausübung der Herrschenden
funktional (mit)bestimmte Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen und damit
wesentliche Konstitutionsformen ihrer historischen Subjekthaftigkeit. "In einer
Gesellschaft, die auf der Klassenteilung beruht, wird der Kampf zwischen den feindlichen
Klassen auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung unvermeidlich zum politischen Kampf.
Der vollendete, stärkste und klarste Ausdruck des politischen Kampfes der Klassen ist der
Kampf der Parteien" (Lenin, Werke Bd. 10, S. 65). Dabei ist folgendes zu
berücksichtigen:
1.) 'Parteien' als moderne, mit der Entstehung der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihren spezifischen Antagonismen sich
bildende Typen von Klassenorganisationen haben ihre konkret-historischen Vorläufer in
Sekten, Geheimbünden, Verschwörungszirkeln etc. als epochenspezifische Assoziationen der
zumeist bewußtesten und kampfbereiten Kräfte der Volksmassen.
2.) Die politischen Organisations- und Vereinigungsformen als
'Kernstück des subjektiven Faktors' der 'praktisch-kritischen' Tätigkeit wirken als
'Schaltzentrum' der Kampfhandlungen und damit häufig als 'Schöpfer' weiterer,
insbesondere militärischer Organisationsformen.
3.) Der widersprüchliche und komplizierte Charakter der Herausbildung
'praktisch-kritischer' Organisationsformen spiegelt sich realgeschichtlich oftmals in den
politisch-ideologisch induzierten Fraktionskämpfen zwischen den beteiligten Kräften;
vornehmlich als Auseinandersetzung zwischen der gemäßigt-versöhnlerischen und der
radikal-vorwärtstreibenden Fraktion. (Zur Rolle der 'äußersten Linken' beim Übergang
vom Feudalismus zum Kapitalismus vgl. Kossok, Markov 1979,S.29ff.)
Im Hinblick auf den deutschen Bauernkrieg zeigte sich die schöpferische
Rolle der Volksmassen nicht zuletzt in der Bildung spezifischer Kampforganisationen. Zum
einen ist hier auf die 'christlichen Vereinigungen' hinzuweisen, die als Gemeinschaften
Gleichgesinnter zur Durchsetzung der bäuerlichen Ziele im Kampf gegen die feudalen
Mächte gegründet wurden und auf dem Höhepunkt des Kampfes ihre Funktion als Keimform
revolutionärer Neuordnung und Machtausübung erfüllten. (Zu Müntzers Bestimmung der
'christlichen Vereinigung' vgl. Smirin 1952,S.278ff.) Zum anderen "bildeten sich mit
Ausbruch des Aufstandes die Haufen als militärische Organisationsform nach dem Vorbild
der Schweizer und der Landsknechte... Auch wenn die Bauern auf ältere Traditionen
des Gemeindelebens und des revolutionären Kampfes zurückgriffen, so schufen sie doch
Neues, das Gestalt annahm in einer Vielfalt von Artikeln und Ordnungen - Landes- und
Bundesordnungen, Feld und Kriegsordnungen, Predigtordnungen -, die in überzeugender Weise
von der Schöpferkraft des Volkes Zeugnis ablegen. Von besonderer Bedeutung war, daß es
gelang, die aktive Mitwirkung der Bauern am politischen Leben der Haufen durch Diskussion
und Entscheidung aller Fragen im Ring zu gewährleisten" (Steinmetz 1979,S.1 29 )
4.) Die als Prozeß kollektiver Widerspruchsverarbeitung gekennzeichnete
historische Subjektwerdung der Volksmassen impliziert im organischen Zusammenhang mit der
Produktion 'praktisch-kritischer' Ideologie, Tätigkeits- und Organisationsformen die
Herausbildung spezifischer Individvalitätsformen als individuumzentrierte Systeme zu
entwickelnder Fähigkeiten' in ihrer Bedeutung als 'praktisch-kritische'
Tätigkeitsvoraussetzungen. Bezüglich ihrer objektiven Beschaffenheit sind diese
'praktisch-kritischen' Individualitätsformen zu bestimmen als im Rahmen der
klassenkämpferischen Tätigkeitsorganisation positionsspezifisch ausdifferenzierte
Anforderungsstrukturen, die subjektiv (d.h. durch konkrete Individuen) realisiert werden
müssen, sofern die progressiv gesellschaftsverändernde Gesamttätigkeit dauerhaft
reproduziert und nach Möglichkeit optimiert werden soll. Im Unterschied zum
klassenantagonistisch bestimmten materiellen (Re) Produktionsprozeß, in dessen Rahmen die
positionsbezogenen Individualitätsformen per ökonomischem und/oder außerökonomischem
Zwang formationsspezifisch vorgegeben sind und nur bei Strafe der individuellen
Existenzgefährdung desavouiert werden können, sind die 'praktisch-kritischen'
Individualitätsformen als individuumzentrierte Besonderungen der
gesellschaftsverändernden Gesamttätigkeit den Einzelnen in 'radikalisierter' Weise
'aufgegeben': "Persönlichkeitsentwicklung bedeutet nicht bloß einen individuellen
Nachvollzug vorgegebener Bedingungen, sondern vor allem Aneignung der Möglichkeiten, der
Erfordernisse dieser Verhältnisse, also ein produktives Verhältnis zu ihnen"(Röhr.
1979, S. 143). Erst vermittels der aktiven Aneignung der (konkret-historisch möglichen)
'praktisch-kritischen' Tätigkeitskompetenzen, die sowohl kognitive als auch
emotional-motivationale, willentliche, handlungsstrukturelle etc. Funktionsaspekte
umfassen, versetzen sich folglich die beherrschten individuellen Subjekte in die Lage,
gegenüber den sich permanent verändernden gesellschaftlichen Ereignisströmen
progressive Handlungsfähigkeit zu wahren, aktiv in die Geschehnisse einzugreifen, ihre
revolutionäre Zielperspektive durch die jeweiligen möglicherweise widrigen
Ereigniskonstellationen, Kräfteverhältnisse etc. aufrecht zu erhalten und die je
situationsspezifische Behauptungsstrategie und -taktik der Herrschenden angemessen zu
berücksichtigen etc. Als konkret-historisches Beispiel für die subjektive Realisierung
einer 'praktisch-kritischen' Individualitätsform ist auf die 'propagandierenden' Kader
der 'Müntzers Partei' im deutschen Bauernkrieg zu verweisen, zu denen Engels folgendes
ausführt: "Durch die Verfolgungen von jedem festen Wohnsitz ausgeschlossen,
streife(n) sie über ganz Deutschland und verkündete(n) überall die neue Lehre, in der
Mün(t)zer ihnen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche klargemacht hatte. Unzählige
wurden gefoltert, verbrannt und sonst hingerichtet, aber der Mut und die Ausdauer dieser
Emissäre war unerschütterlich, und der Erfolg ihrer Tätigkeit, bei der schnell
wachsenden Aufregung des Volkes, war unermeßlich. Daher fand Mün(t)zer bei seiner Flucht
aus Thüringen den Boden überall vorbereitet, er mochte sich hinwenden, wohin er
wollte" (MEW7, S. 3575). Nach Steinmetz (1979, S.130) hat die Forschung ca. 90
Führungskader allein aus dem Thüringischen Aufstand namentlich ermitteln können und bei
über 70 von ihnen die soziale Herkunft belegt.
5.) In dem Maße, wie sich Teile der beherrschten und ausgebeuteten
Volksmassen im Kampf gegen die unterdrückenden Gewalten als historisches Subjekt
konstituieren und in diesem widerspruchsvermittelten Prozeß entsprechende
'praktisch-kritische' Tätigkeits-, Bewußtseins-, Organisations- und
Individualitätsformen produzieren, schaffen sie das Unterpfand eines sich historisch
kumulierenden Bedeutungsensembles, das als tradierbare 'Zweite Kultur' die Dignität eines
progressiv-revolutionären Sozialerbes erlangt. In inhaltlicher Hinsicht umfaßt diese
geschichtlich evolvierende 'praktisch-kritische' Kulturform eine komplex
strukturierte Totalität multiphänomenaler Bedeutungen: Bücher, Flugschriften, Pläne,
Programme, Bilder, Lieder, literarische Werke, Kampfsymbole, Rituale, Normen etc. als
besondere Vergegenständlichungen in ihrer Funktion als Mittel kognitiv-weltanschaulicher
Orientierung, emotional-motivationaler Mobilisierung, willentlicher Stabilisierung und
handlungsbezogener Identitätsbildung der beherrschten Individuen im Rahmen ihrer
gesellschaftsverändernden Tätigkeit. Neben den bereits skizzierten 'fundierenden'
Momenten impliziert die im historischen Entwicklungsprozeß der Klassengesellschaft sich
bildende 'Zweite Kultur' folglich eine 'Ästhetik des Widerstands' als unveräußerliche
Dimension der Kulturgeschichte der Menschheit. "Die Formen Zweiter Kultur sind also
als eine historische Vielfalt von Gestalten und Gestaltungen des Widerstands zu
interpretieren. Trotz dieser Vielfalt läßt sich logisch und historisch von einer
Stufenfolge solcher Formen sprechen..., beginnend mit Formen der alltagspraktischen
Bestätigung der Humanität unter Bedingungen der Repression über eine Vielfalt von
vorwissenschaftlichen Widerstandsformen (häufig religiöser und religiös-künstlerischer
Art) bis hin zu (unbewußten und bewußten) ästhetischen Gestaltungen des Widerstands, zu
den rationalen und wissenschaftlichen Ideologien des Demokratismus und Sozialismus. Diese
Stufen sind als Stufenfolge eines Lernprozesses rekonstruierbar, der zwar angeleitet, doch
nie von oben 'diktiert' werden kann. Zweite Kultur ist stets ein Prozeß ' von unten nach
oben ', der dem der Ersten Kultur ... diametral entgegengesetzt ist" (Metscher
1982,S.126). Im vorliegenden thematischen Kontext ist an dieser Stelle vor allem auf die
elementare subjektbezogene Funktionalität der 'Zweiten Kultur' hinzuweisen: Als polymodal
strukturierte Ganzheit historisch produzierter Bedeutungen wirkt sie in ihrer jeweiligen
konkret-historischen Gestalt als integrales Medium und 'Nährboden' für die progressive
Verarbeitung der erlittenen gesellschaftlichen Widersprüche durch die Angehörigen der
beherrschten Klassen und Schichten. Ihre Aneignung kann demgemäß nur gegen den
multiinstrumentalen Widerstand der hegemonialen und repressiven Gewalten der Träger
'Erster Kultur' (herrschaftslegitimierende Ideologie/Moral etc.; staatlicher
Gewaltapparat; Herrschaftsästhetik etc.) erkämpft werden, so daß sie zugleich als
Voraussetzung, Streitobjekt und Resultat des Kampfes der Volksmassen begriffen werden
muß.
'Praktisch-kritische' Tätigkeit kann somit zusammenfassend bestimmt
werden als sich historisch veränderndes Bewegungssubstrat der Subjektformierung der
Volksmassen: Sie ist als ideologisch-weltanschaulich regulierte, in kollektiv-kooperativen
Formen vollzogene, polymodal strukturierte, anforderungsspezifische, durch
(Bedeutungs)Momente 'Zweiter Kultur' konstituierte Tätigkeit wesentlicher (inhärenter)
Bestandteil menschlicher Lebensbewältigung im Verlauf der bisherigen antagonistischen
Zivilisationsgeschichte.
Zur aktuellen Problemkonstellation praktisch-kritischer
Subjektformierung
Der 'globale' Kapitalismus, der sich angesichts des
'realsozialistischen' Verfallsprozesses noch so triumphierend gebärdet hatte, ist längst
wieder durch die breite und tief wirkende Palette seiner immanent unauslöschlichen
Widerspruchspotentiale und Krisenprozesse eingeholt worden. Die ökologische Zerstörung
schreitet trotz pseudoeinsichtiger Absichtserklärungen von supranationalen Institutionen,
Gremien und Konferenzen voran; die globale und nationale Verteilungsungerechtigkeit
verschärft sich; an Stelle einer neuen Weltordnung des Friedens, der partnerschaftlichen
Harmonie und Zivilität entstehen und verfestigen sich zunehmend Zonen der Verelendung und
Barbarisierung; in den entwickelten kapitalistischen Ländern grassieren chronische
Massenarbeitslosigkeit, soziale Erosion und kultureller Verfall. Immer auffälliger tritt
die grundlegende Konzeptions- und Ratlosigkeit der systemtragenden Kräfte einschließlich
der 'politischen Klasse' zu Tage. Der 'postistische' Zeitgeist (Postmoderne,
Postfordismus, Postkeynesianismus etc.) sowie die Wiederbelebung überkommener Ideologien
(Neoliberalismus, Neokonservatismus) komplettieren diese herrschende Orientierungskrise.
Zwar verfügt das spätbürgerliche Herrschaftssubjekt noch über ein abgestuftes System
von gesellschaftlichen Regulierungsinstrumentarien, aber es ist längst nicht mehr in der
Lage, die systemproduzierten Widersprüche adäquat zu verarbeiten und dementsprechend
eine 'störungsfreie' Systemreproduktion im menschlichen Allgemeininteresse zu
ermöglichen.
"Das aus seiner traditionellen Rolle als Dirigent der produktiven
Kooperation verdrängte Kapital", so Negri/Hardt (1997, S.174), "tendiert dazu,
die Form eines räuberischen Apparats anzunehmen. Die produktive gesellschaftliche Arbeit
bewegt sich historisch darauf hin, von jeder Form des direkten kapitalistischen Kommandos
unabhängig zu werden - und damit auch deutlicher unabhängig von der indirekten Form des
kapitalistischen Kommandos über die Arbeit, die die staatliche Normativität
repräsentiert." Andererseits kann aber nicht ernsthaft behauptet werden, daß ein
neues, seiner Form nach produktives, immaterielles und kooperatives Fortschrittsubjekt
bereits reflexive Konturen angenommen hätte und in einem linear-unaufhaltsamen
Wachstumspozeß begriffen sei. Vielmehr gilt es heute den die gesellschaftliche Realität
wesensmäßig kennzeichnenden Fortschrittswiderspruch ins analytische Zentrum zu
rücken; d.h. die sich zunehmend offenbarende Diskrepanz zwischen der objektiv-real
gegebenen Entwicklungsnotwendigkeit der Systemtransformation einerseits und der aktuell
inadäquaten Konstitition des 'subjektiven Faktors' andererseits. Kritisch ins Visier zu
nehmen sind in diesem Sinne insbesondere die aktuellen Blockierungsfaktoren und
-mechanismen praktisch-kritischer Subjektwerdungsprozesse:
In Erinnerung zu rufen ist zunächst die Paralysierung
subversiv-widerständiger Potenzen und Ressourcen durch die spätkapitalistische
Massenkultur in ihren konsumistischen, 'warenästhetischen' und massenmedialen Formen
(vgl. Krauss 1997). So hat sich nach 1945 als entscheidende Waffe im 'Kalten Krieg' eine
gigantische Maschine der Erzeugung und Verbreitung von 'Pseudo-Sinn' herausgebildet, die
in neototalitärer Weise die gesellschaftlichen (Markt-)Individuen sinnlich, kognitiv und
weltanschaulich recht weitgehend und tiefgreifend als 'eindimensionale Menschen' (Marcuse)
standardisiert hat. Zementiert wurde auf diese Weise der systemstabilisierende Tausch
zwischen Lohnarbeit und Kapital: entfremdete Arbeit und weitgehender Ausschluß von
politischer Realtitätskontrolle gegen Integration in die wohlfahrtsstaatlich gestützte
'Konsumgesellschaft'.
Der schmähliche Niedergangsprozeß des 'Realsozialismus' hat u.a. eine
nachhaltige Demolierung des progressiv-emanzipatorischen Bedeutungssystems als
Wirkungsresultat hinterlassen. Aufgrund der legitimatorischen Einverleibung von
entstellten Versatzstücken der Theorien von Marx, Engels, Lenin u.a. in den
Herrschaftsdiskurs der 'realsozialistischen' Machteliten ist es nämlich sukzessive zu
einer verheerenden Identifizierung von 'Stalinismus' ( Form 'realsozialistischer'
Machtpräsentation) und Marxismus (als kritisch-emanzipatorische Wissenschaft) im
Massenbewußtsein gekommen, was sich fortdauernd als zentrale geistig-moralische Blockade
einer sich erneuernden antikapitalitischen Bewegung auswirkt. Indem die Begriffe und
Aussagen des 'wissenschaftlichen Sozialismus' sowie die Vergegenständlichungen der
proletarischen Ästhetik des Widerstands im pervertierten stalinistischen Sinnsystem als
reflexive Mittel kritischer Wirklichkeitsaneigung und -verarbeitung heillos außer Kraft
gesetzt waren und nur noch als 'Lieferanten' legitimationsideologischer
Beschwörungsformeln und Rituale bzw. apologetisches Zeichen- und Sprachmaterial
fungierten, ist die Überzeugungskraft des Marxismus als zugleich kritische Wissenschaft
und 'organische Ideologie' (Gramsci) bis auf weiteres entscheidend erschöpft. Umgekehrt
erfährt durch diese elementare Beschädigung des fortschrittlich-humanistischen
Bedeutungssystems wiederum die Wirkungsmacht des 'repressiven Menschenbildes' eine
massenrelevante Steigerung. In Anlehnung an Kofler läßt sich das 'repressive
Menschenbild' als tradiertes System von herrschaftskonformen/fatalistischen Einstellungen,
Orientierungen, Wertungen, Lebensregeln etc. im Bewußtsein von Angehörigen
unterdrückter Klassen bestimmen, die im Zustand blockierter emanzipatorischer
Perspektiven ihre Herrschaftanpassung vermittels dieser Ideologeme rationalisieren.
"Dieser Bewußtseinsmodus 'fundiert' die Generalisierung und 'Ontologisierung' der
Unterdrückungserfahrungen vieler Generationen und repräsentiert eine der Wurzeln des
resignativen Gegenwartsbewußtseins" (Seppmann 1996, S.38).
Der globalen Ungleichverteilung von Reichtum und humanen
Lebensmöglichkeiten ist zugleich eine disproportionale Verteilung von progressiven
bzw. praktisch-kritischen Verarbeitungsressourcen bezüglich erfahrener gesellschaftlicher
Widersprüche einerseits (Bildung, Zugang zu Informationsquellen, kommunikative
Voraussetzungen und Kompetenzen) und materieller Krisenbetroffenheit (soziale
Verelendung, Fluchtbewegungen, regionale Kriege etc.) andererseits eingeschrieben.
Dort nämlich, wo soziale Verelendungsprozesse grassieren, fehlen die geistig-moralischen
Voraussetzungen und Anknüpfungsmöglichkeiten für eine progressive
Widerspruchsverarbeitung weitestgehend; dort wiederum, wo die subjektiven Prämissen und
Zugriffsmöglichkeiten auf ädäquate Bedeutungssysteme und Wissensspeicher durchaus
vorhanden sind, fehlt oftmals die materielle Schärfe, Eindeutigkeit und
Unausweichlichkeit konkret-unmittelbarer Krisenerfahrung. Hier überwiegen vielerlei 'gute
Gründe' bzw. subjektiv relevante Handlungsprämmissen, sich für eine im Prinzip
systemkonform-utilitaristischen Lebensführung und -einstellung zu entscheiden.
Die weitgehende Beschädigung des progressiv-humanistischen
Bedeutungssystems und damit der faktische Ausfall einer massenrelevanten alternativen
Widerstands- und Protestkultur hat in Verbindung mit der globalen Durchschlagskraft der
konsumistischen Massenkultur (durch die allein der 'postsozialistische Kapitalismus' sich
noch als hegemoniefähig behaupten kann) fatale Konsequenzen für die Subjektentwicklung
der Beherrschten. So äußert sich die 'Sperrigkeit' der subalternen Individuen gegenüber
den Zumutungen und Widernissen der spätkapitalistischen Moderne heute nicht mehr in
spontan-widerständigen herschaftskritischen Protestaktionen, sondern vielmehr in
vielfältigen regressiv-soziopathischen Formen des unbedingten 'Haben-Wollens' und
'Haben-Müssens' von affirmativen Statusymbolen. Die gleichzeitige Anreizung durch und
Ausschließung von der konsumistischen Massenkultur führt dazu, daß die unhinterfragt
übernommenen 'herrschenden' Leitbilder einer gelungenen Lebensführung mit illegitimen
(gesellschaftlich geächteten) Mitteln/Handlungsstrategien zu realisieren versucht werden.
Auf diese Weise entstehen anomische Subkulturen und Gemeinschaftsformen mit entsprechenden
Bedeutungssystemen, in denen unterschiedlichste Variationen 'abweichenden' Verhaltens
eingeübt, reproduziert und modifiziert werden (Drogenszene, Bandenkriminalität,
gewalttätige Gangs etc.). Wir haben es folglich mit einer aktuell sich verstärkenden
Ausbreitung regressiver Widerspruchsverarbeitung zu tun.
Die zukünftige Rekonstruktion einer tendenziell hegemoniefähigen
subversiven Massenkultur wird angesichts dieser Problemkonstellation entscheidend davon
abhängen, ob es gelingt, eine durchgreifende Idiosynkrasie gegenüber der herrschenden
spätkapitalistischen Reproduktions- und Lebensweise zu erzeugen. "In der
anbrechenden Kälte der neuen Weltordnung", so ist Johannes Agnoli (1996, S.226)
beizupflichten, "müßte sich die subversive Theorie ihre geschichtliche Aufgabe aufs
Neue aneignen, die darin besteht, immer dann das ganz Andere zu vergegenwärtigen, wenn
die Aktualität der Revolution bis auf weiteres suspendiert worden ist. Dann ist die Zeit
nicht so sehr der subversiven Aktion als der subversiven Theorie."
© Hartmut Krauss, Osnabrück 1997
Anmerkungen
1) Kants Dualismus wurde später in der neukantianischen
Gegenüberstellung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften fortgesetzt.
2) Im Unterschied zur Materie ist der Geist eben das, "in sich den
Mittelpunkt zu haben..."(S.30).
3) Individuen sind für Hegel nur relevant als vereinzelt herausragende
'Geschäftsführer des Weltgeistes'. Aber: "Ein welthistorisches Individuum hat nicht
die Nüchternheit, dies und jenes zu wollen, viel Rücksichten zu nehmen, sondern es
gehört ganz rücksichtslos dem einen Zwecke an." So muß solche große
Gestalt "manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem
Wege" (ebenda, S.49).
4) Die 'Schließung'/Finalisierung des Geschichtsprozesses und damit
gleichzeitig die Stillegung der Dialektik erfüllt sich für Hegel in der Herausbildung
des 'modernen' Staates als idealer Ausdruck und Garant des 'Gemeinwohls' der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. In Form der Vereinigung des subjektiven
(leidenschaftlichen) und des vernünftigen Willens verkörpert der Staat das 'sittliche
Ganze'. Er ist die Wirklichkeit, "worin das Individuum seine Freiheit hat und
genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist" (Hegel
1995, S.55). Das Wahre ist für Hegel "die Einheit des allgemeinen und subjektiven
Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den Gesetzen, in allgemeinen und
vernünftigen Bestimmungen. Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden
vorhanden. Er ist so der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin
die Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt"
(ebenda, S.57).
5) Eickelpasch (1991, S.49) hat zutreffend darauf hingewiesen, daß sich
diese negativistische Umpolung der Geschichtsphilosophie treffend in Adornos berühmter
Aussage artikuliert: "Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität,
sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe" (Adorno 1982, S.312).
6) Vgl hierzu auch Heinrich 1996.
7) Dem Lohnfetisch liegt der wesensverkehrende Oberflächenschein
zugrunde, "als ob ihm (dem Arbeiter, H.K.) sein Produkt gezahlt werde und nicht seine
Arbeitskraft" (Marx 1976, S.582). D.h. das Ausbeutungsverhältnis erscheint in der
mystifizierten Form des 'gerechten' Tauschs.
8) Sorg (1976, S.46) hat prägnant den Doppelcharakter des
Warenfetischismus hervorgehoben: "Er ist in Einheit eine reale ökonomische
Beziehung zwischen Menschen, eine gesellschaftliche Form der materiellen Tätigkeit,
die zugleich notwendig mit einer bestimmten Bewußtseinsform, einer 'objektiven
Denkform' verbunden ist". Als Denkform ist er eine verehrte Vorstellung. "Die
Verkehrtheit rührt daher, daß diese Denkform die Erscheinungsweise der realen
ökonomischen Beziehungen spontan, unmittelbar widerspiegelt, eine Erscheinungsweise, die
das Wesen, den wirklichen Zusammenhang, gerade verhüllt, die Verhältnisse auf den Kopf
stellt."
9) Zur Kritik des Strukturmarxismus vgl. z.B Schmidt 1971b, Tomberg 1978
und Seppmann 1995.
10) "Noch das Kapital", so ist mit Alfred Schmidt
(1971, S.74) angesichts strukturalistischer Interpretationen entschieden hervorzuheben,
"enthält trotz (und infolge) seiner objektiv gerichteten Methode den
gesamtmarxistisch tragenden Gedanken, es komme darauf an, die bestehenden Strukturen als
geworden und werdend transparent zu machen, mit - praktischer - Subjektivität zu
vermitteln."
11) Auf weitere tätigkeitstheoretische bzw. subjektwissenschaftlich
relevante Implikationen des Werkes von Marx und Engels wie z.B. die Bestimmung des
'menschlichen Wesens'; den allgemeinen Arbeitsbegriff; Marx' Bedürfniskonzept u.a. kann
hier nicht näher eingegeangen werden. Vgl. Krauss 1996, S.66ff.
12) "Der Mensch als ein gegenständlich sinnliches Wesen ist daher
ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches
Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende
Wesenskraft des Menschen" (MEW-Ergänzungsband, S.579).
13) Wenn Habermas (1969, S.287) feststellt: "Wo Dialektik im
strengen Sinne historisch (weil ihrem historischen Gegenstand angemessen) sein will, muß
sie sich Kontingenz gefallen lassen", so eröffnet gerade die kategoriale
Verknüpfung des 'limitierten Möglichkeitsraumes' mit der 'subjektiven
Widerspruchsverarbeitung' diesen Ausweg der Befreiung des materialistisch-dialektischen
Geschichtsdenkens vom Ballast der Prädestination, der 'Zwangläufigkeitsmechanik' und der
verkappten Teleologie. (Zur 'subjektiven Widerspruchsverabeitung' vgl. ausführlich Krauss
1996).
14) In einfacher Negation des subjektivistischen Herrschaftsbegriffs, in
dessen Rahmen die herrschenden Kapitalisten als bewußtes (gestaltungssouvränes)
Willenssubjekt des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses vorgestellt werden,
gelangt Robert Kurz (vgl. Krisis 13, S.17-94) in Anlehnung an die Marxsche Kritik der
kapitalismustypischen Fetischformen sowie mit Schützenhilfe von Luhmann, Althusser u.a.
zur Auffassung der 'subjektlosen Herrschaft'. Der für die gesamte antagonistische
'Vorgeschichte der Menschheit' kennzeichnende - und mit der Durchsetzung der
kapitalistischen Gesellschaftsformation auf die Spitze getriebene - Tatbestand, daß die
vergesellschafteten Menschen nicht als souvränes Gestaltungs- und Steuerungssubjekt ihres
gemeinschaftlichen Lebensprozesses fungieren, sondern vermittels der wechselseitigen
Durchkreuzung ihrer unmittelbar bewußten Tätigkeitsziele im Resultat eine unbeherrschte
Vergesellschaftungslogik mit bewußtseinsentzogenen Steuerungsregeln hervorbringen, wird
in dieser Sichtweise dahingehend hypertrophiert, daß herrschaftliche und subalterne
Subjektivität im Rahmen der 'allgemeinen Entfremdung' als irrelevantes Nichts
ausgeschieden bzw. mindestens als krudes Etwas entwichtigt werden. Ausgeblendet bleiben
damit aber zwei transformationsstrategisch relevante Grundaspekte:
1) Die bewußt-willentlich regulierte Behauptung (Ausbau und
Verteidigung) von strukturellen Herrschaftspositionen seitens der privilegierten
Positionsinhaber, die sich nicht nur im Rahmen der allgemeinen Entfremdung wohlfühlen,
sondern den zur Entfremdung führenden antagonistischen Vergesellschaftungszusammenhang
auf multiple Weise schützen. D.h. die Nichtexistenz eines omnipotenten Regulators des
gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozesses dementiert keinesfalls die Existenz
eines aktiv beharrenden, effektiv organisierten, multiinstrumentell ausgerüsteten und
strategisch reflektierten Herrschaftssubjekts. (Nur angesichts dieser 'Entsorgung'
herrschaftlicher Subjektivität lassen sich übrigens jedwede strategischen Ansätze
außerhalb der Krisis-Gruppe als 'politizistisch' abwehren und die Ilusion der
Implementierung durchsetzungsfähiger 'wertfreier' Inseln im Schoße des Kapitalismus
gedeihen).
2) Die Möglichkeit der Herausbildung eines Transformationssubjekts 'a
posteriori', d.h. die Genese einer Aufhebungsbewegung der antagonistischen Zivilisation
angesichts der multidimensionalen Verstrickungen der Subalternen in die 'Logik der
Wertvergesellschaftung'. Mit der eliminatorischen Gleichsetzung des apriorischen
(unbewußt konstituierten) Subjekts mit dem Subjekt schlechthin (S.93) verstellt Kurz die
Möglichkeit einer subjektwissenschaftlichen Rekonstruktionsperspektive, so daß letztlich
auch der Ruf nach einer Theorie des bürgerlichen Subjekts im Kontext des Krisis-Ansatzes
hilflos erscheint bzw. inkompatibel ist (vgl. Krisis 19, S.147).
15) "Ungeschichtliches Denken bestünde, so gesehen, in der
Unfähigkeit, das Bestehende im Hinblick auf künftige Beherrschbarkeit durch solidarisch
handelnde Individuen zu untersuchen" (Schmidt 1971a, S.132).
16) Zutreffend hat bereits A.Schmidt (1971b, S.203) darauf hingewiesen,
daß der "Begriff der Praxis, wie die Feuerbachthesen von 1845 ihn erreichen,...der
gerade theoretisch wichtigste Marxsche Begriff (ist). Auf ihn ist immer wieder
zurückzukommen, will man sich Klarheit darüber verschaffen, was bei Marx Materialismus
heißt und mit welchem Recht dieser dialektisch genannt zu werden verdient. Im Gegensatz
zu allen sowjetmarxistischen Darlegungen ist der authentische Marxismus kein
naturalisierter Hegelianismus, der sich darin erschöpft, ein ontologisches Substrat, den
Geist, durch ein anderes, die Materie, einfach zu ersetzen."
17) Als geschichtstheoretische Substanz des epigonalen
(Partei-)Marxismus erweist sich die spezifische Verknüpfung der Hegelschen
Fortschrittsteleologie mit der zeitgenössischen industrialistischen Fortschritts- und
Technikgläubigkeit.
18) Vgl. hierzu Kuczynski 1984.
19) Mironow (1986, S.537ff.) unterscheidet drei historische Typen des
Massenbewußtseins als qualitative Niveaustufen menschlicher Bewußtseinstätigkeit:
"das mythologische, magische oder archaische Bewußtsein, das für die Urgesellschaft
typisch ist, das traditionalistische oder religiöse Bewußtsein, das in den
vorkapitalistischen Agrikulturgesellschaften auftritt, und das urbanistische oder
rationale Bewußtsein, das in der bürgerlichen Industriegesellschaft entsteht, doch erst
im Sozialismus zur vollständigen Entwicklung gelangt" (S.539). Nach dieser
Einteilung weist jeder `Bewußtseinstyp`eine spezifische Ausprägung in den Dimensionen
Widerspiegelungsform; Subjekt-Objekt-Differenzierung; Zielgerichtetheit; Selbstbewußtsein
auf.
20) Gurjewitsch (1982, S.9) umreißt die geschichtswissenschaftliche
Perspektive des ìnneren Beobachters`folgendermaßen: "Die menschliche Gesellschaft
befindet sich in einer ständigen Bewegung, Veränderung und Entwicklung, und in
verschiedenen Epochen sowie unterschiedlichen Kulturen erfassen und erkennen die Menschen
die Welt auf ihre Art. Auf eigene Art teilen sie die Eindrücke und Erkenntnisse ein und
konstruieren ihr eigenes, historisch bedingtes Weltbild. Und wenn wir die Vergangenheit,
`wie es eigentlich gewesen`, begreifen wollen, dann müssen wir danach streben, an sie mit
den ihr adäquaten Kriterien heranzugehen, sie immanent zu studieren, ihre eigene innere
Sturktur zu erschließen, und uns davor hüten, ihr unsere modernen Auffassungen und
Einschätzungen aufzuzwingen".
21) Freilich gilt: "Solange ... die tatsächlichen Subjekte des
Geschichtsprozesses und der geschichtlichen Kämpfe, die Klassen, zwar existierten, als
solche aber nicht erkannt waren, mußten deren Einsicht in ihren eigenen Charakter, ihr
Selbstverständnis und Selbstbewußtsein ebenso wie die Einsicht in den Charakter der
Gesamtheit aller übrigen sozialen Beziehungen widersprüchliche, verzerrte Formen
annehmen"(Marxistisch-leninistische Philosophie 1979, S.647).
22) Entsprechend den drei Grundformen des Klassenkampfes (ökonomische,
politische und ideologische Form) lassen sich drei elementare (eng verflochtene)
Zieldimensionen unterscheiden: 1.) Der Kampf um die Art der Erzeugung und die Aufteilung
des Mehrprodukts; 2.) Der Kampf um die politische Macht und 3.) Der Kampf um die
geistig-moralische (ideologische) Hegemonie.
23) "Die wirkliche Erziehung der Massen", so schreibt
Lenin(Werke Bd.23, S.249), "kann niemals getrennt vom und außerhalb vom
selbständigen politischen und besonders revolutionären Kampf ... geschehen. erst der
Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse ..., erweitert ihren Horizont, steigert ihre
Fähigkeit, klärt ihren Verstand auf, stählt ihren Willen."
24) "Die Fähigkeiten qualifizieren die Persönlichkeit als Subjekt
der Tätigkeit"(Rubinstein 1977, S.793).
25) Gramsci, der den 'handelnden Politiker' als 'Schöpfer' und
'Anreger' definiert, thematisiert gleichfalls den 'unmittelbarkeitstranszendierenden'
Charakter der Ausfüllung einer 'praktisch-kritischen' Individualitätsform: "Den
Willen darauf zu richten, ein neues Gleichgewicht der bestehenden und handelnden Kräfte
zu schaffen, indem man sich auf die fortschrittlich gehaltene Kraft stützt, sie
unterstützt, damit sie triumphiert, heißt immer, sich innerhalb der vorhandenen
Wirklichkeit zu bewegen, aber, um sie zu beherrschen und zu überwinden (oder dazu
beizutragen). Das 'Sein sollen' ist folglich Konkretheit, ja sogar die einzig realistische
und geschichtliche Interpretation der Wirklichkeit, die einzig wirkliche Geschichte und
Philosophie, die einzige Politik"(Gramsci 1967, S.321).
26) "Hat der Begriff der Zweiten Kultur im politischen Widerstand
der beherrschten Klassen seinen tragenden Kern, erfaßt er jedoch alle Erscheinungen des
kulturell-ideologischen Lebens. Er faßt sie von der sie tragenden politischen Seite her.
Der Kern Zweiter Kultur ist also politisch, 'politisch' allerdings in einem sehr weiten,
vielschichtigen Sinn. Bedingung Zweiter Kultur ist die Existenz einer Masse der
Ausgebeuteten, Geknechteten, Beherrschten, nicht als passives Objekt, sondern als aktiver
Träger: als SUBJEKT (Hervorh. vom Verfasser), des Kulturprozesses"(Metscher 1982,
S.100).
27) "Kultur ist ein Mittel zur Produktion der Individuen als
historisch sich verändernde gesellschaftliche Individuen. Sie umfaßt alle diejenigen
Verhältnisse, in denen sich die Individuen vergesellschaften, in denen sie ihr Leben
äußern, sich und ihre Nachkommen reproduzieren. Diese Mittel zur Produktion und
Reproduktion der Individuen als gesellschaftliche werden als objektive Kultur bezeichnet.
Zur Kultur zählen selbstverständlich auchdie subjektiven Resultate des
Vergesellschaftungsprozeses in 'Gestalt der ausgeübten Verhaltensweisen'. Sie machen die
subjektive Kultur aus"(Dölling 1986, S.40).
28) Nach der brutalen Niederschlagung des deutschen Bauernkrieges durch
die konterrevolutionären Feudalgewalten setzten die Herrschenden sofort alles daran, den
revolutionären Erfahrungsbildungs-, Verarbeitungs- und Tradierungsprozeß
(Bewegungsprozeß der Zweiten Kultur) auf Seiten der Volksmassen zu unterbinden. Die
militärische Unterwerfung sollte so durch die geistig-symbolische 'Entwaffnung'
komplettiert und damit die Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft der Volksmassen
wiederhergestellt werden (Prozeß der repressiven 'Entsubjektivierung' der Volksmassen).
Während die 'Empörer' in Lied, Predigt und Flugschrift verteufelt wurden, feierten die
Mächtigen und ihre Vasallen ihren blutig errungenen Sieg. "Die Texte zielten darauf
ab, den Erfolg der Herren als gerechte Sache dazustellen und die Aufständischen zur
Aufgabe des Widerstandes zu ermahnen"(Vogler 1983, S.221). Während denen verziehen
wurde, die sich schuldig bekannten und Gehorsam gelobten, konzentrierte sich der
verleumderische Haß insbesondere auf die Führer der Aufstandes (vor allem auf Müntzer)
und richtete sich u.a. gegen jene, die den Standpunkt der Aufständischen künstlerisch
artikulierten: Jörg Ratgeb zahlte mit dem Tod, Matthias Grünewald mußte fliehen,
Tilmann Riemenschneider ließ der Rat seiner Heimatstadt Würzburg die Hände
verstümmeln. Doch der 'praktisch-kritische' Gedächtnisbildungsprozeß der Volksmassen
konnte weder gänzlich unterdrückt noch korrumpeirt werden: "Luther erzählte 1531
bei Tisch, der Pfad zu dem aufgespießten Haupt Müntzers sei so festgetreten, daß er
einer öffentlichen Straße gleiche, und wenn der Mühlhäuser Rate dagegen nichts
unternehme, sei zu befürchten, daß Müntzer 'wie ein Heiliger verehrt'
werde"(ebenda, S.225).
29) "Wenn die Individuen - und das macht sogar ihr Glück aus - mit
den Gütern und Dienstleistungen zufrieden sind, die ihnen von der Verwaltung
heruntergereicht werden, warum sollten sie auf anderen Einrichtungen um einer anderen
Produktion anderer Güter und Dienstleistungen willen bestehen? Und wenn die Individuen
derart präformiert sind, daß zu den befriedigenderen Gütern auch Gedanken, Gefühle und
Wünsche gehören, warum sollten sie selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen?
Zwar mögen die angebotenen materiellen und geistigen Waren schlecht, verschwenderisch,
Schund sein - aber Geist und Erkenntnis sind keine durchschlagenden Argumente gegen die
Befriedigung von Bedürfnissen"(Marcuse 1970, S. 70).
Der Vortrag wurde auf der Konferenz des Arbeitskreises kritischer Marxistinnen und Marxisten (AKM) am 25.10.1997
gehalten.
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