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Beiträge zur Politik  









Hartmut Krauss

Totalitarismus und Fundamentalismus im Spannungsfeld zwischen prämodernem Traditionalismus und kapitalistischer "Moderne" - Teil 1

Zum Dehumanisierungspotential und zur polykulturellen Verankerung (neo-)totalitärer Bewegungen.

Eine zentrale Problematik, die die gesellschaftswissenschaftliche und politische Diskussion dieses Jahrhunderts entscheidend bewegt und geprägt hat, liegt in der Frage nach dem Konnex zwischen der "modernen" bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftungsweise und dem Phänomen des Totalitarismus. Zugespitzt: Ist der Holocaust als einzigartig-unvergleichlicher Betriebsunfall, als mögliches Produkt oder als Paradigma der "Moderne" zu begreifen? Dabei geht es mir im folgenden nicht in erster Linie um die politikwissenschaftlich-strukturalistische Erfassung der Eigenschaftsmerkmale etablierter totalitärer Herrschaftssysteme (vgl.Borggräfe/Schmidt-Soltau 1995 und Lozek 1995), sondern um die subjektive Entstehungs- und Wesenslogik (neo-)totalitärer Bewegungen. Damit rücken folgende Fragen ins Blickfeld: Worin liegen die Mobilisierungs- und Rekrutierungsursachen totalitärer Bewegungen? Welche subjektiven (weltanschaulichen, kognitiven, mentalen, persönlichkeitsstrukturellen etc.) Anknüpfungspunkte ermöglichen eine totalitäre Bewegung mit Massenanhang? Wie erzeugt und reorganisiert das "totalitäre Regime" Massenloyalität? Welche Formen, Strukturen und Wirkungen der totalitären Subjektzurichtung sind feststellbar?

Kollision und Synthese "prämoderner" und "moderner" Herrschaftskultur

Hervorstechendes Merkmal des bürgerlichen Gegenwartsbewußtseins ist der affirmative "Moderne"-Begriff als geistiges Mittel der Selbstlegitimation (vgl. Hauck 1992, S.146ff.) Mit seiner Hilfe wird der innergesellschaftliche und globale Herrschafts- und Führungsanspruch des Bürgertums normativ befestigt: Die abendländisch-rationale, bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftungsform feiert sich als "überlegenes" Leitmodell der menschlichen Zivilisation mit universeller Gültigkeit. Als Plausibilitätsrahmen fungiert hier a) die ökonomische Ineffizienz und "Bewegungsstarre" traditonaler Gesellschaften sowie b) das klägliche Scheitern des "realsozialistischen" Versuchs eines (vordergründig) alternativen Gesellschaftmodells.

Als konstitutive Momente der "Moderne" werden zumeist folgende Tendenzen/Aspekte angeführt: Herauslösung der Menschen aus traditionellen (ständisch und lokal geprägten) Lebensformen, Gemeinschaften, Bindungen; Lösung von religiösen Weltbildern und Wertorientierungen; Säkularisierung/Rationalisierung der Lebensführung und Orientierungssysteme; Durchsetzung einer szientistisch-instrumentalistischen Weltsicht mit den korrelativen Prinzipien Machbarkeit, Effizienz, Leistung; stärkere Akzentuierung der Autonomie des Individuums gegenüber der Gemeinschaft sowie der Gattung gegenüber transzendentalen Ordnungsvorstellungen; die Konzeption des modernen Subjekts als gleichberechtigter Träger von Rechten mit universellem Geltungsanspruch.In kritischer Perspektive sind nun folgende grundlegenden Mängel des "Moderne"-Konzepts hervorzuheben:

1) Der Begriff der "Moderne" reflektiert auf "formationsabstrakte" (und damit unverständige) Weise einige qualitative Merkmale im Übergangsprozeß vom mittelalterlichen (europäischen) Feudalismus zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation, ohne diese mit den Marxschen Einsichten in die "kapitallogischen" Wesensgrundlagen der "postfeudalen" Gesellschaftsentwicklung zu vermitteln. Insofern ist er vom kritisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet kein erhellender (erkenntnisfördernder) Begriff, sondern eine kognitiv eher kontraproduktive, bezüglich des bereits erreichten Einsichtsniveaus regressive Kategorie.

2) Ausgeblendet bleibt der historisch-gesellschaftliche Tatbestand, daß sich der Übergang zur "Neuzeit" im wesentlichen als Prozeß der Modernisierung der antagonistischen Zivilisation vollzieht. Zwar wird die traditionale geburtsrechtlich-personalistische Form unmittelbarer Herrschaftsausübung überwunden; an ihrer Stelle tritt aber de facto eine rationalisierte/versachlichte Form vermittelter Herrschaftspraxis gestützt auf den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Die strukturelle Amoralität des Kapitalverwertungsprozesses samt seiner Agenten (vgl. Krauss 1996a) avanciert zum Brennpunkt der Moderne, die sukzessive alle Sphären und Dimensionen der "modernen" Gesellschaft durchdringt und paralysiert.

3) Ignoriert wird weiterhin die Selbsttransformation des Bürgertums als Subjekt des Modernisierungsprozesses. In dem Maße nämlich, wie im Prozeß der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise sich die Subsumtion des bürgerlichen Sinnhorizonts unter die Logik des Profits immer deutlicher offenbart, zerreißt auch der allgemeinmenschliche Schein der "präkapitalistischen" bürgerlichen Emanzipationsideologie. Im Rahmen seiner Metamorphose zur "herrschenden Bourgeoisie" enthumanisiert und entdemokratisiert sich folglich das Bürgertum. Es streift geistig-moralischen Ballast ab, der seine neu gewonnene Handlungsfähigkeit als ökonomisch, politisch und ideologisch herrschendes Subjekt - in Konfrontation mit der sich herausbildenden Arbeiterbewegung - nur behindern könnte. Die Verkleidung des bürgerlichen Interesses durch die allgemeinmenschliche Idee erweist sich zunehmend als dysfunktional; "Vernunft" und "Menschenrechte" büßen ihr Pathos ein und beginnen sich zu "entidealisieren". Der bourgeois triumphiert über den citoyen; der Wirtschaftsbürger avanciert zum "eigentlichen und wahren Menschen": "Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist...Das einzige Band, das sie (die Individuen,H.K.) zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person" (Marx 1988, S.366).

4) Verdrängt wird desweiteren die grundlegende Tendenz der kapitalistischen Selbstnegation der Moderne in Gestalt der strukturell notwendigen Durchbrechung des Universalismus. Ausdruck hierfür ist die Klassenspaltung in Kapitaleigentümer und doppelt freie Lohnabhängige und die damit gesetzte asymmetrisch-herrschaftförmige Ungleichverteilung von Realitätskontrolle. "Ohne die Durchbrechung von Universalismus und Gleichheitsprinzip, die in der Klassenspaltung liegt, könnte der Kapitalismus weder entstehen noch seine Dynamikvon Akkumulation und Revolutionierung der Produktivkräfte entfalten. Der Partikularismus in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit ist ein Geburtsfehler des Kapitalismus, eines seiner konstitutiven Merkmale von Anfang an, nicht eine späte, durch das Rückschlagen einer verselbständigten Ökonomie auf die Lebenswelt bedingte Deformation" (Hauck 1992, S.215).

5) Die rationalistische "Entzauberung der Welt" (Weber) in Form des Dominantwerdens eines utilitaristisch-zweckrationalen Denkund Handlungstyps ist faktisch begrenzt auf den individualistisch-einzelkapitalistischen Tätigkeitsrahmen. Bezogen auf den "Totalitätszusammenhang" des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses bleibt freilich der "mystische Nebelschleier" in Gestalt fetischisierender Bewußtseinsformen erhalten. In dem Maße nämlich, wie dem bürgerlichen Bewußtsein in seiner Unmittelbarkeitsfixierung die Ganzheitlichkeit des Marktgeschehens als fatalistisches Chaos bzw. chaotisches Schicksal erscheint, ist hiermit auch eine beständig sprudelnde Quelle für Irrationalismen, Mythen und Regressionen aller Art gegeben. Der im bürgerlichen Weltverhältnis verankerte "okzidentale Rationalitätsstyp" erweist sich demnach als entscheidend reduzierter bzw. "halbierter" Rationalismus.

Mit der historischen Durchsetzung und Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation samt ihrer tragenden ökonomischen, politischen, rechtlichen, geistig-moralischen etc. Strukturen und Regulative wird das grundlegende Prinzip der antagonistischen Zivilisation, nämlich die zwischenmenschliche Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaftausübung nicht nur nicht aus der Welt geschafft, sondern auf "systemfunktionale" Weise rationalisiert, effektiviert, modernisiert(1). Indem somit einerseits überlieferte Herrschaftsverhältnisse systematisch "umgebaut", partiell aufgehoben und partiell verschärft werden, andererseits traditionelle Sozialbeziehungen und institutionelle Gefüge zerbersten oder erodieren und die betroffenen Subjekte materiell (z.B: räumlich, existenziell, qualifikatorisch), und ideell (sinn- und orientierungsstrukturell) durcheinandergewirbelt werden, ruft das folgende Gegenkräfte auf den Plan:

1) das neuformierte Spektrum der subalternen Klassen, in deren widerständige Praxis zunächst noch vorkapitalistische bzw. "prämoderne" Orientierungen, Erlebnisweisen, Mentalitätsformen etc. eingehen;2) das Spektrum der tendenziell entprivilegierten und in ihrer ehemaligen ("angestammten") Vormachstellung bedrohten traditionellen Herrschaftsschichten.

Die "kapitalistische Moderne" sieht sich somit von Beginn an nicht nur mit den (progressiven) Ambitionen der Arbeiterbewegung konfrontiert, sondern ebenso mit einer reaktionär-antimodernistischen Protestbewegung, die ihren bedrohten bzw. abhandengekommenen "prämodernen" Privilegien nachtrauert. Bedeutsam ist nun, daß sich diese doppelte Stimulation gegenläufiger "Protestbewegungen" im globalen Entfaltungsprozeß der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftformation historisch ungleichzeitig vollzieht, d.h. stets dann und dort einsetzt, wo der kapitalistische Durchdringungsprozeß traditionaler bzw. "prämoderner" Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse in Gang kommt.

Als eine relevante Dimension in diesem Spektrum der komplex-dialektischen Bewegungs- und Interessendynamik der kapitalistischen Gesellschaftsformierung läßt sich die Kollision und Verknüpfung von "prämodern"/traditionalen und "modernen"/kapitalistischen Tätigkeitsformen, Handlungsstrategien, Institutionen, Einstellungen, Orientierungen etc. herauslösen. Diese eigentümliche antagonistische Synthese bildet m.E. die konstitutive Möglichkeitsbedingung totalitärer Bewegungen. Sie fungiert als der genetische Ort für diese spezifische Form der "sozialen Pathologien der Moderne" (Honneth 1994).

Zygmunt Baumann (1992) hat beispielsweise herausgearbeitet, daß der Holocaust, also die fabrikmäßig durchgeführte und bürokratisch organisierte Judenvernichtung der Nazis, in zentralen Elementen der "modernen Zivilisation" ihre notwendige Voraussetzung hat. So stützte sich der nazistische Massenmord sowohl auf die technischen Errungenschaften der Industriegesellschaft als auch auf die Effizienz der Bürokratie. "Das ist die erschütternste Lehre aus der Analyse des 'komplexen Phänomens Auschwitz', die Tatsache, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten...In keiner Phase kollidierte die 'Endlösung' mit dem rationalistischen Credo effizienter, optimaler Zielverwirklichung" (S.30f.). In geistig-motivationaler ("antriebsregulatorischer") Hinsicht allerdings beruht der "Verwaltungsmassenmord" (Arendt) wie generell der nazistische Vernichtungsterror auf einem radikalen Bruch mit der allgemeinmenschlich-aufklärerischen "Gründungsideologie" der "Moderne": An die Stelle der universalistisch-humanistischen Maxime, daß alle Menschen frei und gleich sind und unverletzbare Menschenrechte besitzen, tritt die partikularistisch-rassistische Maxime, daß bestimmte (z.B fremdrassige) Menschengruppen als dysfunktional zu definieren und für die Liquidierung freizugeben sind.

Martin Riesebrodt (1990), der die Bewegungen der amerikanischen Protestanten (1910-1928) und der iranischen Schiiten (1961-1979) vergleichend untersucht hat, gelangt zu der Einschätzung, daß der Fundamentalismus einen alternativen Entwurf darstellt, "der die technische Seite westlicher Moderne mit je nach Kultur recht unterschiedlich 'modernisierten' Versionen patriarchalischer Organisationsformen und Sozialmoral verbindet" (S.249). "Wenig Probleme bereitet dem Fundamentalismus wie auch vergleichbaren Bewegungen die Nutzung modernster Technologie und Technik. Zum einen sieht er darin die Chance, seinen Einfluß zu verbreitern; zum anderen werden sie hinsichtlich ihrer sozialstrukturellen Implikationen als ethisch 'neutral' angesehen" (ebenda, S.247).

Es handelt sich folglich bei der "totalitären Synthese" nicht um eine kontingente (zufällige) Legierung "prämoderner" und "moderner" Elemente, sondern um die Verknüpfung traditionaler partikularistischer Herrschaftsideologie und "moderner" Tätigkeitsmittel, Verfahren, Strategien. Konkret: Es geht um die subsumierende Indienstnahme bzw. Einverleibung "moderner" Hilfsmittel in einen antirationalistisch und partikularistisch gespeisten traditional-herrschaftideologischen Sinn- und Zielhorizont.

Die kapitalistische "Moderne" als struktureller Nährboden totalitärer Bewegungen

Bevor im folgenden die konstitutiven Triebkräfte und Anknüpfungsmomente für totalitäre Bewegungen innerhalb des bürgerlich-kapitalistischen Zivilisationsmodells skizziert werden, gilt es zunächst die Wesensmerkmale totalitärer Herrschaft zu umreißen.

Das zentrale Charakteristikum der totalitären Herrschaft als Ziel der totalitären Bewegung ist die terroristische Perfektionierung und Hypertrophierung der zwischenmenschlichen Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse. In diesem Sinne erscheint sie in Gestalt der Totalisierung, Systematisierung und exzessiven Radikalisierung des Repressiven, das den "übergreifenden" Wesenskern der antagonistischen Zivilisation bildet. "Terror bleibt grundsätzlich die Herrschaftsform totalitärer Regierungen, wenn seine psychologischen Ziele längst erreicht sind; das wirkliche Grauen setzt erst ein, wenn Terror eine vollkommen unterworfene Bevölkerung beherrscht. Wo immer Terror seine Perfektion erreicht hat, wie in den Konzentrationslagern, verschwindet Propaganda völlig" (Arendt 1995, S.549).

Das fundierende Legitimationsprinzip der totalitären Herrschaft/Bewegung ist die ideologische und "operative" (handelnd vollzogene) "Entmenschlichung" von spezifisch stigmatisierten Teilgruppen der Bevölkerung (Nicht- und Andersgläubige; Fremdrassige; Angehörige feindlicher Klassen, Nationen, Gemeinschaften etc.) unter Rückgriff auf entsprechend funktionale religiöse, rassistische, sozialdarwinistische, ethnizistische, nationalistische, patriarchalische etc. "Ausschließungsdiskurse". "Entmenschlichung" bezieht sich hierbei in verdoppelter Form a) auf die Opfer, denen der Status eines "vollwertigen" Menschen aberkannt wird sowie b) auf die Täter, die sich gegenüber den Opfern entsprechend "unmenschlich" verhalten können, ja müssen, da es sich beiihnen im "eigentlichen" Sinne nicht um Menschen handelt. Diese "doppelte Logik der Entmenschlichung" kennzeichnet in besonders radikaler Weise die totalitäre Negation der universalistisch-humanistischen Maxime, wonach die Menschen frei und gleich sind und unverletzbare Rechte besitzen. Demgegenüber setzt der totalitäre Diskurs den individuellen Menschen als apriorisch-fatalistisch stigmatisiertes Wesen: Der Mensch wird nicht nach seinen Taten und den zugrundeliegenden ethischen Motiven beurteilt, sondern nach seinen unbeeinflußbar-vorgegebenen Seinsqualitäten (Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht, kulturelle Herkunft etc.) abgestempelt.

Wesensgemäß strebt totalitäre Herrschaft zudem nach vollständiger Liqidierung einer kritisch-reflektierenden (infragestellenden, kontrollierenden und korrigierenden) Öffentlichkeit. Geistige Eigenständigkeit und Initiative sind für das totalitäre Regime, das auf "grenzenloser" Gefolgschaftstreue, Gehorsamshaltung und "Disziplin" beruht, nicht nur dysfunktional, sondern bedrohlich. So "muß vom Standpunkt totaler Herrschaft allein die Tatsache, daß menschliche Wesen denken können, einen Verdacht erregen, den kein noch so vorbildliches Verhalten je zerstreuen kann. Denn die Fähigkeit zu denken ist unauflöslich mit der Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, verknüpft." Schließlich "beherrschen gegenseitiges Mißtrauen und gegenseitige Verdächtigungen die Gesamtatmosphäre ganz unabhängig von den Spezialaufgaben der Geheimpolizei. Jeder ist gleichsam zum Polizeiagenten seines nächsten geworden" (ebenda, S.665).

Terroristische Perfektion der antagonistischen Herrschaftsorganisation vermittels ideologischer und operativer "Entmenschlichung" der Täter und Opfer sowie der Zerstörung der kognitiven und moralischen Subjektqualitäten in einer Gesamtatmosphäre wechselseitigen Mißtrauens - so lautet demnach die "Grundformel" totalitärer Herrschaft.

Woraus entspringt nun die "totalitäre Potenz" bzw. die strukturelle Möglichkeitsbedingung der Faschisierung des kapitalistischen Gesellschaftssystems? Insbesondere folgende Aspekte sind hier hervorzuheben:

1) Das grundlegende, die zwischenmenschliche Subjektivität nachhaltig prägende Regulativ der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise ist das Prinzip der Konkurrenz. Es bestimmt nicht nur a) das gewinnorientierte Verhältnis der Einzelkapitale untereinander, sondern ebenso b) das Verhältnis der lohnabhängigen Individuen als Arbeitsmarkt- und Arbeitsplatzkonkurrenten sowie c) das wechselseitige Negieren der Einzelwillen in Form des Aufeinanderprallens nichtharmonisierbarer Partialinteressen von Bevölkerungsgruppen, Verbänden, spezifischen Gemeinschaften etc. "Konkurrenzorientierung" als egoistisches Streben nach Vorteilswahrnahme auf Kosten und zu Lasten anderer bildet demnach die systemfunktionale Verhaltensausrichtung und psychische "Zentrierung" der kapitalistisch vergesellschafteten Individuen. Sie fungiert als zentrale Prämisse der utilitaristischen Rationalität, die der herrschaftskonformen Lebensführung zugrunde liegt. Wie Holzkamp gezeigt hat, kommt es aufgrund a) der gesellschaftlichen Dominanz des kapitalistischen Verwertungsstandpunktes sowie b) der auf Oberflächen-Erscheinungen fixierten ("anschauungsgebundenen") Wahrnehmungsweise der Lohnabhängigen zu einer "reaktiven" Übernahme des Kapitalstandpunkts seitens der "unmittelbaren Produzenten":Der einzelne Lohnabhängige "sieht hinsichtlich der 'Leistungsfähigkeit' sich selbst in seiner Beziehung zu anderen Arbeitern quasi mit den prüfenden, vergleichenden und potentiell verwerfenden Augen des Kapitalisten. Die höhere 'Leistungsfähigkeit' des anderen im Vergleich zur eigenen 'Leistungsfähigkeit' bedeutet stets eine mögliche Bedrohung der eigenen Existenzgrundlage" (Holzkamp 1973, S.243). Umgekehrt: Die (real oder vermeintlich) niedrigere Leistungsfähigkeit des anderen impliziert stets auch die Möglichkeit zur Verbesserung/Erweiterung der eigenen Position. Ostentative Bekundung von ständiger Leistungsbereitschaft; die Entwicklung eines "unbedingten" Durchsetzungs- und Selbstbehauptungswillens gegenüber aktuellen und potentiellen Konkurrenten; die Fähigkeit zu "abhebender" Selbstdarstellung und -stilisierung in Ausrichtung auf antizipierte kapitalfunktionale Anforderungsprofile etc. bündeln sich zu systemimmanent rationalen (erfolgreichen) Verhaltensstandards und präformieren so einen kapitalismusspezifischen Sozialcharakter. Diese konkurrenzvermittelte Subjektprägung der kapitalistisch vergesellschafteten Individuen ist wiederum mit drei folgenreichen Effekten verbunden: a) mit der Reduzierung, Erosion und Degenerierung zwischenmenschlicher Beziehungen und tradierter Gemeinschaftsformen; b) der Steigerung des gesellschaftlichen Aggressionspotentials und der Entsittlichung der sozialen Verkehrsformen sowie c) mit der wachsenden subjektiven Aufnahmebereitschaft bezüglich sozialdarwinistischer, rassistischer/ethnizistischer und chauvinistischer Deutungsmuster. Die Erfahrung und Ausübung sozialer Rücksichtslosigkeit läßt die Orientierung am "Recht des Stärkeren" als "natürlich", plausibel und "zweckrational" erscheinen.

2) Die konforme Akzeptanz und Einordnung in die hierarchisch organisierte "moderne" Konkurrenzgesellschaft sowie die Befolgung des versachlichten ("stummen") Zwangs der ökonomischen Verhältnisse beinhalten als wesentliches Moment die sozialisatorisch vermittelte Fähigkeit zur abstrakten Leistungsbereitschaft auf seiten der Lohnabhängigen. Letztinstanzlich ausschlaggebend ist hierfür die systemtypische Trennung des Produkts vom Produzenten und darin eingeschlossen der faktische Ausschluß der unmittelbaren Produzenten von realer Verfügungsgewalt über den (Re-)produktionsprozeß. Unter diesen strukturellen Bedingungen müssen die Lohnabhängigen die elementare "motivationale" Kompetenz zur Leistungserbringung bei gleichzeitiger Gleichgültig gegenüber dem Produkt bzw. dem "Unternehmensziel" entwickeln. Diese systemspezifisch erheischte Vergleichgültigung der Produzenten gegenüber dem Produkt erscheint als Kehrseite des kapitalistischen Primärinteresses an "abstrakter", mehrwertproduzierender Arbeit, deretwegen die Ware Arbeitskraft vom Kapitalisten gekauft und konsumiert worden ist. Mit dieser auf die Subjektivität der Lohnabhängigen bezogenen Anforderung der abstrakten Leistungsbereitschaft wird die kapitalismusspezifische "instrumentelle Vernunft" als profitlogischer Rationalitätstyp (und damit die strukturelle Amoralität des Kapitals) wirkungsvoll in die Tätigkeits- und Bewußtseinssphäre der Beherrschten übertragen und formiert dort entsprechendepsychische Dispositionen, Denkweisen, Einstellungen, Wertmaßstäbe etc. im Sinne von "Selbsthärte", fremdbestimmter Disziplin, Verachtung von Schwachen, Kranken und Behinderten, moralischer Desensibilisierung und einer entsittlichten technokratischen Mentalität. Unterschwellig wird damit der Boden bereitet für die subjektive Übernahme oder zumindest passive Duldung antihumaner Ausgrenzungsdiskurse gegenüber vorgeblichen "Leistungsverweigerern", "dysfunktionalen Elementen", "Volksschädlingen", "unnützen Essern" u.s.w.

3) Die systemangepaßte Existenzform des Sich-Einrichtens in der Fremdbestimmung und Abhängigkeit von den herrschenden Instanzen ist unentrinnbar verknüpft mit der Selbstauslieferung an die spontan-chaotischen bzw. unbegriffen-schicksalsförmigen Wechselfälle des Lebens in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Als zentrale kognitive Regulierungsform dieser Lebensweise, die das "Alltagsbewußtsein" der Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft grundlegend bestimmt, erweist sich die Fixierung auf die unmittelbaren (positionsspezifisch-ausschnitthaften) Lebensbedingungen und daraus hervorgehend das fraglose Sich-zu-recht-Finden in einer in ihren Wesenszügen und übergreifenden Zusammenhängen unbegriffenen Realität. Diese "Unmittelbarkeitsfixierung" manifestiert sich primär in der Ausblendung der realen gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz. Dennoch ist auch das angepaßte Individuum im Interesse der Wahrung bzw. Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit und psychischen Stabilität auf eine deutende Interpretation der gesellschaftlichen Zusammenhänge angewiesen (vgl. hierzu ausführlich Krauss 1996, S.) Da ihm aber keine adäquaten Bedeutungen (Begriffe, Theorien, wissenschaftliche Erklärungen) als kognitive Strukturierungsmittel zur Verfügung stehen bzw. entsprechende Zugangsmöglichkeiten objektiv und subjektiv versperrt sind, vermag es in seinem standortspezifischen "Suchraum" lediglich subjektiv-funktionale (die Widerspruchserfahrung "dämpfende") Bedeutungen anzueignen, in denen die gesellschaftliche Realität verzerrt, naturalistisch, pseudoharmonisch etc., folglich im Einklang mit den kapitalistischen Herrschaftssicherungsinteressen dargestellt ist. D.h. das durch gesellschaftliche Krisen- und Widerspruchserfahrungen psychisch labilisierte Individuum assimiliert aufgrund des prekären Verhältnisses von subjektiver Disposition und objektiver Bedeutungskonstellation reaktionär-repressive, irrationalistisch-fortschrittsfeindliche, die gesellschaftlichen Prozesse mystifizierende Ideologeme. Auf diese Weise kann es zwar die aus dem Widerspruchserleben hervorgehenden negativen Emotionen vorübergehend "ausschalten" bzw. abmildern und so die instabil gewordene (angepaßt-restriktive) Handlungsfähigkeit notdürftig wiederherstellen.

Andererseits gerät es aber aufgrund des nur imaginären (stereotypen) Charakters der Widerspruchslösung in den Strudel stets erneut aufbrechender Subjekt-Umwelt-Diskrepanzen, so daß a) die Verfestigung psychischer Abwehrsysteme und - in engem Zusammenhangdamit - b) der beständige "Hunger" nach objektiv-inadäquater "Bedeutungsnahrung" zur subjektiven Notwendigkeit wird. Hervorzuheben ist demnach die psychische Öffnung des labilisierten systemangepaßten Subjekts gegenüber der irrationalistischen "Untergründigkeit" der bürgerlich-kapitalistischen Denkformen sowie den offen irrationalistischen Ideologievarianten. Zwar handelt es sich hierbei um objektiv desorientierende Bedeutungen. In ihrer krisenspezifischen Funktionalität für das Subjekt sind sie aber dennoch "als gesellschaftlich vorgeformte Techniken der Angstbewältigung in der bürgerlichen Gesellschaft" (Holzkamp-Osterkamp 1978, S.94) zu betrachten.

4) Die instrumentalistische Zweckrationalität der kapitalistischen Moderne, die mit dem Fortbestand "prämodern"-irrationaler Bedeutungssysteme, Glaubensformen, Denkhaltungen etc. in dialektisch-funktionaler Weise verschränkt und sehr wohl kompatibel ist, manifestiert sich - neben der "Logik des Profits" - insbesondere in der Wesenslogik der modernen Bürokratie. Als hervorstechende Charakteristika der modernen Verwaltungstätigkeit lassen sich für den vorliegenden thematischen Kontext folgende Momente anführen:

a) Effizienzsicherung und -steigerung durch Professionalisierung, Systematisierung und Spezialisierung der Verwaltungspraxis; b) Ausdifferenzierung eines genau auf einander abgestimmten und geordneten Spektrums behördlicher Zuständigkeiten/Kompetenzen; c) Hierarchisierung der Tätigkeiten in einem festgefügten System der Über- und Unterordnung; d) Prinzipieller Formalismus der bürokratischen Problembearbeitung und Tätigkeitsvollzüge. "Der Formalismus besteht darin, daß ungeachtet der tatsächlichen Differenzierung des gesellschaftlichen Lebens, ja der darin maßgeblichen Herrschaftsverhältnisse das Recht sich so verhält, als ob es nur Gleichheit und nichts sonst als Gleichheit geben würde. Die personelle Verkörperung dieses formellen Rechts oder rechtlichen Formalismus ist die Bürokratie, der die Aufgabe zufällt, unter Anwendung des Rechtsformalismus auf alle Lebensgebiete diese zur Einheit des 'staatlichen' Lebens zusammenzufassen. Bürokratie ist daher personell durch Staatsbeamte verkörperter Formalismus" (Kofler 1986, S.29). Bedeutsam ist nun, daß aus der Wesenslogik der modernen Bürokratie eine spezifische Persönlichkeitsprägung seiner Funktionsträger resultiert: der Habitus des Bürokraten. Aus der tätigkeitsspezifischen Spezialisierung und Formalisierung der Aufgabenerfüllungergibt sich auf Seiten der ausführende Subjekte eine eigentümliche Gleichgültigkeit und Blindheit gegenüber dem menschlichen Leben in seinen vielfältigen qualitativen Bezügen und Besonderheiten. Zur "Professionalität" des Beamten gehört folglich wesensgemäß eine charakteristische Lebensfremdheit und ethisch-moralische Indifferenz bzw. De-Moralisierung. "Subjektiv mag der einzelne Bürokrat seine Arbeit als einen unentbehrlichen und d.h. heilsamen und moralisch gerechtfertigten Dienst an der Gesamtheit empfinden; aber die ihm vom Recht, dem er dient, aufgezwungene formalistische Grundhaltung erlaubt ihm nicht, die einzelnen Fälle mit den Mitteln des moralischen Urteils zu betrachten.

Er verhält sich notwendig transmoralisch und damit im letzten Effekt unmoralisch" (ebenda, S.35). Die individuelle Subjektivität des Beamten ist daher durch eine auf besondere Weise ausgeprägte Gespaltenheit zwischen "Privatmensch" (mit seinen "typischen" Bedürfnissen, Gefühlen, Sorgen, Hinwendungen, Emphatien etc.) und plichterfüllendem "Berufsmenschen" gekennzeichnet, die ihrerseits mit einem spezifischen "Regime" von psychischen Abwehrmechanismen in Form von Distanzierungen, Rationalisierungen, Entlastungen, Ausflüchten etc. korrespondiert. Wie wird nun aber seitens der "gespaltenen" bürokratischen Subjekte die anforderungslogisch erforderliche Abstraktion vom Individuell-Konkreten und Moralisch-Substanziellen bzw. der Zwang zum Formal-Allgemeinen verarbeitet? Zum einen durch eine kompensatorische Romantisierung, Ritualisierung und "gefühlige" Kultivierung der Privatsphäre. Kofler spricht hier exemplarisch von einem hemmungslosen "Sichhingeben an eine romantisch vergorene Lebensauffassung, die vielfach in einem gesteigerten Familiensinn und einer ins Pietistische gesteigerten Religiosität ihren Ausdruck findet wie bei der preußischen Bürokratie" (ebenda, S.36). Auf deranderen Seite generiert das bürokratische Subjekt - gewissermaßen als Surrogat für die funktional-notwendige "inhaltliche" De-Moralisierung - eine gruppenspezifische "Pflichtethik" bzw. einen "ständischen Ehren-Kodex", der auf zwei konstitutiven Prinzipien beruht: a) auf der "selbstlosen" Unterordnung unter die staatliche Autorität und seine "legitimen" Repräsentanten; b) auf der Ersetzung moralischer Verantwortung durch Disziplin und strikter Gehorsamshaltung: "Die Legitimierung allein durch Geist und Buchstaben der Regeln des Apparates und, verbunden damit, die Entmachtung der autoritativen Macht des Gewissens gelten als höchste Tugend" (Baumann 1992, S.36). Am Beispiel der Selbstrechtfertigungstrategie Eichmanns hat Hanna Arendt verdeutlicht, wie der Kantsche Imperativ aus der individuellen Autonomie herausgebrochen und der bürokratischen Funktions- und Reproduktionslogik adaptiert wird: "Handle so, als ob das Prinzip deines Handelns dem des Gesetzgebers oder der gesetzlichen Ordnung entspricht" (zit.n. Baumann 1992, S.224).

Die Aktualisierung der "totalitären Potenz" (Möglichkeit) der kapitalistischen Moderne ergibt sich nicht aus einem zwangsgesetzlich-automatisch wirkenden Mechanismus. Das bedeutet: Konkurrenzorientierung, abstrakte Leistungsbereitschaft, irrationalistische "Öffnung" des systemangepaßten Individuums sowie der Habitus des modernen Bürokraten sind als systemvermittelte Subjektprägungen wesentliche, aber noch nicht hinreichende Bedingungsfaktoren für die reale Durchsetzungsfähigkeit totalitärer Herrschaftssysteme. (Es handelt sich hierbei allerdings um zentrale, funktional "anschlußfähige" Präformierungen, die "subjektiv" die Reproduktion totalitärer Herrschaft gewährleisten.) Folglich müssen sich zusätzliche gesellschaftstrukturelle, institutionelle, geistig-kulturelle und sozialpsychische Konstitutionsmerkmale herausgebildet und "verdichtet" haben, damit innerhalb der "modernen" kapitalistischen Gesellschaft totalitäre Formierungsprozesse zum Durchbruch gelangen. Welche "erzeugenden" Konstituenten der totalitären Gesellschaftsformierung sind desweiteren in Rechnung zu stellen?

Erstens ist hier auf die Herausbildung einer extramodalen gesamtgesellschaftlichen Krise zu verweisen, die sowohl die herrschende Klasse als auch die (vielschichtig differenzierte) werktätige Masse erfaßt, mit gravierenden sozialen Erschütterungen einhergeht und die bislang gültigen und funktionsfähigen geistig-moralischen (weltanschaulichen, politischen, normativen etc.) Orientierungs- und Sinnsysteme paralysiert. Im einzelnen lassen sich folgende "Knotenpunkte" der Krisensituation unterscheiden:

a) qualitative Verschärfung der ökonomischen und sozialen Widersprüche des national-konkreten kapitalistischen Gesellschaftssystems verbunden mit einer einschneidenden Verschlechterung der Lebensituation der Bevölkerungsmehrheit;

b) Potenzierung und Ausweitung der spontanen Protestaktivitäten größer werdender Teile der Bevölkerung als Ausdruck und zugleich "verschärfendes" Moment der zugespitzten Widersprüche/sozialen Gegensätze (vertikale Hegemoniekrise);

c) infolge a) und b) kommt es zu einer Krise der politischen und ideologischen Machtausübung, die mit spezifischen Desintegrationsprozessen wie z.B. Fraktionierung und handlungs-strategischer Kohärenzeinbuße des kollektiven Herrschaftssubjekts verbunden ist (horizontale Hegemoniekrise).Im Gegensatz zu dogmatisch-voluntaristischen Aufassungen hat bereits Lenin festgestellt, daß nicht aus jeder gesamtgesellschaftlichen (potentiell revolutionären) Krisensituation eine Revolution hervorgeht, sondern nur aus einer solchen, in der zu den objektiven krisenhaften Lageverschlechterungen die subjektive Fähigkeit der progressiven Akteure zu revolutionären Massenaktionen hinzukommt, "genügend stark, um die alte Regierung zu stürzen (oder zu erschüttern), die niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche, 'zu Fall kommt', wenn man sie nicht 'zu Fall bringt' (Lenin 1984, S.207).

Im Anschluß daran hat nun Gramsci das Potential der herrschenden Klasse zur machtbehauptenden (reaktionären) Überwindung der Hegemoniekrise, also zur ganzheitlichen Reorganisierung ihrer Klassenherrschaft, reflektiert. Er schreibt: "Die Krise erzeugt unmittelbar gefährliche Situationen, weil die einzelnen Bevölkerungsschichten nicht gleichermaßen fähig sind, sich rasch zu orientieren und sich in gleichem Rhythmus zu reorganisieren. Die traditionelle Führungsklasse, die über ein zahlreiches, ausgebildetes Personal verfügt, wechselt Menschen und Programme und gewinnt so die Kontrolle zurück...Sie bringt vielleicht Opfer, liefert sich selbst durch demagogische Versprechungen einer ungewissen Zukunft aus, behält aber ihre Macht, verstärkt sie für den Augenblick und bedient sich ihrer, um den Gegner zu zerstören und dessen nicht sehr zahlreiches und gut ausgebildetes Führungspersonal zu zersplittern." (Gramsci 1967, S. 332.)

Die Etablierung eines totalitär-faschistischen Systems im Interesse der Rekonsolidierung der kapitalistischen Herrschaft wäre somit als "strategische Reaktion" auf eine gesamtnationale Krisensituation zu entschlüsseln, in der a) die progressiven (herrschaftsgefährdenden) Kräfte zwar stark, aber nicht so stark sind, um die herrschende Klasse zu Fall zu bringen, b) der konventionelle hegemoniale Apparat der Herrschenden (systemtragende Parteien, machtsichernde Institutuionen, Legitimationsideologien) weitgehend verschlissen ist und c) die Indienstnahme einer vorgängig entstandenen antimodernistisch-totalitären Protestbewegung zwecks reaktionärer Mobilisierung und Formierung der Volksmasse möglich ist (Massenbewegungsfaschismus). Allerdings ist auch der Fall denkbar, daß sich systemimmanent kein relevantes totalitär-faschistisches Bewegungspotential herausgebildet hat. Den Herrschenden bleibt dann nur die Möglichkeit zur Errichtung einer totalitären Diktatur mittels der Armee einschließlich weiterer repressiver Staatsorgane (Militärfaschismus).

Zweitens setzt die totalitär-faschistische Reorganisierung des kapitalistischen Gesellschaftssystems ein sowohl inhaltlich als auch funktional "anknüpfungsfähiges", differenziert ausgearbeitetes reaktionär-herrschaftsapologetisches Bedeutungsensemble in Gestalt von philosophisch-weltanschaulichen Entwürfen, politischen Theorien, populärer Literatur, Propagandamaterial etc. voraus. Von entscheidender Bedeutung ist hier folgende "geistesgeschichtliche" Umwälzung: Im Prozeß des Ablösung des "Kapitalismus der freien Konkurrenz" durch den "Monopolkapitalismus", der Etablierung des imperialistischen Kolonialismus, der sich verschärfenden zwischenimperialistischen ("Eroberungs"-)Konkurrenz sowie in Anbetracht der erstarkenden sozialistischen Arbeiterbewegung (Pariser Kommune 1870/71) wird der bürgerlich-revolutionäre Werte- und Menschenrechtshorizont zunehmend als "Zwangsjacke" und "Geißel" der Herrschenden erfahren. Als geistige Reaktion auf diesen "Orientierungswiderspruch" des Herrschaftssubjekts repräsentiert Nietzsches Philosophie den radikalsten und einflußreichsten Bruch mit den weltanschaulich-moralischen Traditionen, Werten und Idealen des antifeudalen Bürgertums der Aufstiegsphase. Den Brenn- und Zielpunkt bildet nun die emphatische Verteidigung sozialer Ungleichheit bzw. Glorifizierung antagonistischer Herrschaftsverhältnisse sowie die Konstruktion des neuen Herrenmenschen. Zudem findet eine fundamentale politisch-ideologische Reformierung der "herrschenden Gedanken" im Kontext der kolonialistischen Expansion, der damit verbundenen Zuspitzung der zwischenimperialistischen Widersprüche sowie der wachsenden "proletarischen Gefahr" statt:

Sozialdarwinistisches, rassistisches, antisozialistisches, chauvinistisches und militaristisches Ideengut besetzen und durchdringen zunehmend den bürgerlichen Offizialdiskurs. Diese reaktionär-bürgerlichen Theorien und Gedankenformen sind es, die schließlich - vor dem Hintergrund der mentalen Auswirkungen des 1.Weltkriegs - in der totalitär-faschistischen Ideologie systematisch synthetisiert und radikalisiert werden, indem man diese Ideologeme von ihren relativierenden liberalen, christlichen, parlamentarischen, formaldemokratischen Beimengungen "reinigt" und somit verabsolutiert bzw. hypertrophiert. Die totalitär-faschistische Ideologie repräsentiert auf diese Weise die militant-brutale Extremvariante der ("entskrupelnden") Legitimation zwischenmenschlicher Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse in der spät- bzw. monopolkapitalistischen Epoche der antagonistischen Zivilisation.

Drittens setzt die sich auf eine Massenbewegung stützende Variante der totalitär-faschistischen Gesellschaftsformierung eine spezifisch präformierte Subjektivität der gesellschaftlichen Individuen voraus, die zusätzlich zu den genannten systemstrukturellen Prägungen die "faschistische Anrufung des Subjekts" schon in der Entstehungs- und Durchsetzungsphase des totalitären Systems ermöglicht. Gemeint ist also eine psychisch-mentale Qualität der aktivistischen Mobilisiertheit bzw. Mobilisierbarkeit in Unterschied zu einer "bloß" funktionalen Subjektprägung im Sinne der passiv gehorsamen (pflichterfüllenden) Sytemintegration. Bedeutsamist in diesem Zusammenhang nun ein sozialpsychologisch wesentlicher Widerspruch der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise: Einerseits erzeugt - wie gesehen - die kapitalistische Reproduktionsdynamik permanent die Voraussetzungen "pro-totalitärer" Dispositionen, Einstellungen etc. Andererseits impliziert sie aber auch die beständige Bedrohung und Unterminierung wertkonservativer traditionalistischer Normengefüge, Wertordnungen und Verhaltensstandards z.B. in Gestalt warenästhetisch und konsumistisch gestützter "repressiver Entsublimierung" (Marcuse), der Auszehrung und Defunktionalisierung traditional-patriarchalischer Gemeinschaftsformen oder der fortlaufenden Generierung anomischer Subkulturen. Hinzu kommt die massenpsychologisch "nachhallende" Wirkungsmacht vor- und antiindustriell-reaktionärer Mentalitätsmomente (romantischer Antikapitalismus, aristokratischer Antiegalitarismus und Antiliberalismus, monarchistischer Patriotismus). Es stellt sich demnach das Problem der Legierung der "ungleichzeitig" wirkenden modernen (kapitalistischen) und traditionalen (vorindustriellen) Subjektprägungen im jeweiligen nationalgeschichtlichen Kontext. Im folgenden soll dieser Frage anhand der deutschen Entwicklung in die kapitalistische "Moderne" nachgegangen werden.

Deutschlands "gebückter" Gang in die kapitalistische "Moderne" und die reaktionäre Formierung des deutschen "Nationalcharakters"

Deutschlands Weg in die kapitalistische "Moderne" ist im Vergleich zu anderen großen europäischen Völkern durch spezifische Hemmnisse, Entwicklungsblockaden und Verzögerungen mit weitreichenden ökonomischen, politischen, geistig-kulturellen und mentalen Konsequenzen gekennzeichnet. "Allgemein gesprochen", so Lukács, (1989, S.239), "besteht das Schicksal, die Tragödie des deutschen Volkes darin, daß es in der modern-bürgerlichen Entwicklung zu spät gekommen ist."

Von elementarer Bedeutung für die nationalhistorische Entwicklung Deutschlands ist zunächst der Tatbestand, daß die Herausbildung einer durchsetzungsfähigen antifeudalistischen Bewegung mit einer bürgerlich-revolutionären Führung (Hegemonie) nicht stattgefunden hat. So endet die erste große Entscheidungsschlacht gegen das europäische Feudalsystem, der deutsche Bauernkrieg (1524/25), der den bürgerlichen Revolutionszyklus einleitet, mit einer folgenschweren Niederlage. Dieser negative Ausgang war entscheidend bedingt durch die objektive (sozialökonomischer Entwicklungsstand der Klassenbildung) und subjektive Unreife des Bürgertums, die insbesondere darin zum Ausdruck kam, daß die sich formierende Bourgeoisie ihrer Rolle als politischer Hegemon der antifeudalen Gesamtbewegung letztendlich nicht gerecht geworden ist.

"Das Bürgertum der großen und mittleren Städte war erschreckt durch die elementare Gewalt des einfachen Volkes und aus Angst davor geneigt, die Fürstenpartei zu unterstützen. Hinzu kommt, daß diese Kreise duch die Reformation größtenteils befriedigt waren und gerade die führenden Vertreter der entstehenden Handelsbourgeoisie im Bündnis mit den Feudalgewalten ein wichtiges Mittel zur Steigerung ihrer Profite sahen und deshalb der Volksbewegung in den Rücken fielen" (Laube u.a. 1982, S.300).

Die Auswirkungen dieser Auftaktniederlage im bürgerlichen Revolutionsprozeß waren für die zukünftige Entwicklung Deutschlands verheerend: Die territoriale Zersplitterung in zahllose von einander isolierte und fremde Hoheitsgebiete die, wie Engels hervorgehoben hat, bereits eine wesentliche Ursache des Mißlingens der Aufstandsbewegung war, verschärft und verfestigt sich noch. Während sich die meisten europäischen Völker am Beginn der Neuzeit als Nationen mit einem einheitlichen Territorium konstituieren, findet dieser Prozeß in Deutschland gerade nicht statt, sondern es wird ein direkt entgegengesetzter Weg eingeschlagen. Zudem bewirkte die Niederlage der revolutionären Kräfte einen Stillstand jener sozialen und politischen Tendenzen, die eine weitere frühkapitalistische "Zersetzung" der feudalen Verhältnisse ermöglicht hätten. Insbesondere wurde der Widerstand gegen die feudale Herrschaftsreorganisation und Ausbeutungsintensifikation fortan entscheidend geschwächt und die Entwicklungsmöglichkeit "verschüttet", "die kapitalistische Entwicklung...auf einem bäuerlichen Weg vorantreiben zu können, das heißt durch die Verwandlung bäuerlicher in kapitalistische Wirtschaften" (Vogler 1983, S.199f.). Als Nutznießer und eigentliche Gewinner aus der fehlgeschlagenen deutschen frühbürgerlichen Revolution gingen die Territorialfürsten hervor: "Sie gewannen nicht nur relativ, dadurch daß ihre Konkurrenten, die Geistlichkeit, der Adel, die Städte, geschwächt wurden; sie gewannen auch absolut, indem sie die spolia opima (Hauptbeute) von allen übrigen Ständen davontrugen. Die geistlichen Güter wurden zu ihrem Besten säkularisiert; ein Teil des Adels, halb oder ganz ruiniert, mußte sich nach und nach unter ihre Oberhoheit geben; die Brandschatzungsgelder der Städte und Bauernschaften flossen in ihren Fiskus, der oberdrein durch die Beseitigung so vieler städtischen Privilegien weit freieren Spielraum für seine beliebten Finanzoperationen gewann" (Engels 1976, S.411).

Für die zukünftige geistig-moralische Entwicklung Deutschlands folgenreich war die Einleitung exzessiver terroristischer Strafmaßnahmenseitens der konterrevolutionären Feudalgewalten, die ihre nächste Aufgabe nun darin sahen, den Widerstand der Volksmassen vollständig zu brechen und die Möglichkeit zukünftiger Aufstände von der Dimension des Bauernkrieges auszumerzen. Die konterrevolutionäre Tätigkeit der Feudalgewalten war in diesem Sinne systematisch daraf gerichtet, die im revolutionären Prozeß erzeugte Widerstandskultur der Aufständischen zu zerstören und die Möglichkeit der Tradierung der angesammelten Kampferfahrung - also den Vorgang revolutionärer Gedächtnisbildung - im Keim zu ersticken. Im historischen Gedächtnis der nachfolgenden Generationen triumphierte somit Luthers Obrigkeits- und Gehorsamslehre gegenüber Müntzer "volksreformatorischer" Lehre von der gottgefälligen Rebellion des "gemeinen Mannes". Herbert Marcuse (1962, S.24) hat diese "deutsche Lektion" für die Bewußtseinsentwicklung folgendermaßen charakterisiert:

"Schon seit der deutschen Reformation hatten sich die Massen an die Tatsache gewöhnt, daß für sie die Freiheit ein 'innerer'' Wert war, vereinbar mit jeder Form von Knechtschaft, daß gebührender Gehorsam gegenüber der bestehenden Autorität eine Voraussetzung für ewiges Seelenheil war...Luther begründete die christliche Freiheit als einen unabhängig von jeglichen äußeren Bedingungen zu verwirklichenden inneren Wert...Der Mensch lernte es,...'in sich', nicht in der Außenwelt die Verwirklichung seines Lebens zu suchen".

Zwar hatte die Reformation den Einfluß der römisch-katholischen Kirche auf große Teile Deutschlands entscheidend zurückgedrängt. Aber aufgrund der territorialfürstlichen Vormachtstellung gesellte sich nun zu der sozialökonomischen und politisch-rechtlichen Zersplitterung Deutschlands noch die konfessionelle Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten. Darüber hinaus bildete sich innerhalb des deutschen Protestantismus der Gegensatz zwischen Lutheranern und Calvinisten heraus. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 mußte der mit dem Papst verbündete Kaiser Karl V. den Landesfürsten und freien Städten schließlich das Recht zugestehen, die Religion ihrer Untertanen eigenmächtig zu bestimmen. Damit war nun die religiös-kirchliche Grundlage des "Heiligen Römischen Reichs" faktisch suspendiert und der Grundstein für den Ausbau der weltlichen Territorialstaaten gelegt. Prinzipiell nicht an nationaler Einheit, sondern an territorialem Machterhalt und -zuwachs orientiert, gingen die deutschen Fürsten unterschiedlichste Bündnisse mit ausländischen Mächten ein und übertrugen auf diese Weise deren Konflikte auf Deutschland. Damit war aber eine wesentliche Bedingung dafür gegeben, daß in Europa ein Krieg mit dreißigjähriger Dauer ausbrechen und sich vornehmlich auf deutschem Boden abspielen konnte.

Die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) waren für Deutschland katastrophal und vertieften den Entwicklungsrückstand auf gravierende Weise: Die Bevölkerung schrumpfte um ein Drittel; die landwirtschaftliche Produktion sank rapide; die Kapitalverluste in den Städten waren verheerend. Zudem gingen die Fürsten gestärkt aus dem Krieg hervor: Sie hatten nach jahrhundertelangem Kampf ihre Souveränität gegenüber dem Kaiser errungen und waren jetzt völlig unabhängig geworden. Damit kommt es also erneut zu einer qualitativen Verfestigung der Zersplitterung Deutschlands. Im Rahmen dieser Zersplitterung findet allerdings eine Zentralisation der landesherrlichen Macht statt, die als deformierter (territorial beschränkter) und verspäteter Absolutismus bezeichnet werden kann. Einerseits setzte sich nämlich der Absolutismus in Deutschland zu einem Zeitpunkt durch, "als in England der Absolutismus bereits gestürzt, in Frankreich zumindest seine fortschrittliche Phase vorüber war, d.h. die Phase, in der er die Entfaltung der kapitalistischen Elemente, der Bourgeoisie, innerhalb der Feudalordnung, noch förderte" (Mottek 1971, S.256).

Andererseits ist entscheidend, "daß der Absolutismus in Deutschland nicht die Regierungsform eines Nationalstaates war. Die deutschen Fürsten standen nicht an der Spitze von Nationen, sondern an der Spitze eines durch Krieg und Heirat zusammengescharrten Häufleins von Untertanen. Ihrer Regierung, ihrer Autorität fehlte deshalb der nationale Charakter. Die einzige Ideologie, auf die sie sich stützen konnten, war die des Gehorsams gegenüber den Herren, genüber der staatlichen Autorität. Deshalb wurde der Geist, oder richtiger Ungeist, des blinden Gehorsams in Deutschland so stark verbreitet" (ebenda).

Von zentraler Bedeutung für die reaktionär-autoritäre Entwicklungsdominante in der deutschen Geschichte der Neuzeit ist die Herausbildung und Festigung der Hegemonie Preußens. Es sind insbesondere folgende Faktoren, die den preußischen Absolutismus in seiner qualitativen Besonderheit kennzeichen:

1) Während in England die Leibeigenschaft bereits am Ende des 14. Jahrhunderts faktisch beseitigt wurde und in den Aufstandsgebieten des deutschen Bauenkrieges eine "Versteinerung" der Grundherrschaft, also keine noch weitergehende Verschlechterung der bäuerlichen Existenzweise einsetzt, kommt es in den ostelbischen Gebieten zur sog. "zweiten Leibeigenschaft", die bis ins 19. Jahrhundert in verschiedenen Formen fortdauert. Die Basis der Agrarproduktion stellen grundherrliche Güter dar, "in denen gelegte, in die Leibeigenschaft gezwungene Bauern den Boden bearbeiten und Frondienste auf dem Gutsland zu leisten haben" (Streisand 1972, S.77). Auf diesen Gütern "monopolisierten die Junker den Getreidehandel, was zur Folge hatte, daß ein eigentliches Handelsbürgertum nicht entstehen konnte und die Städte, insbesondere im preußischen Staat, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nach einem Wort Franz Mehrings halb Domänen, halb Garnisonen blieben" (ebenda).

2) Wie Kofler (1992, S.144) hervorhebt, "ist die Herrschaft des preußischen Adels total. Der königliche Absolutismus ist kein Hindernis; im Gegenteil, er wird zum vornehmsten Machtmittel im Dienste der Ausgestaltung des Staates zu einem junkerlich-feudalen Gebilde. Politisch siegt der Absolutismus über die Adelsanrchie, sozial aber der Adel über den Absolutismus."

3) Ein zentrales Wesensmerkmal des preußischen Absolutismus ist sein betont militaristischer Charakter. Ausdrucksformen dieses preußischen Militarismus sind z.B. der Unterhalt eines überproportional großen Heeres; daraus resultierend extrem hohe Militärausgaben; ein "wildes" Zwangsrekrutieren unter den Landesuntertanen; eine besondere staatliche Pflege und Abhebung des adeligen Offiziersstandes von der Masse der Soldaten; das Eindringen militärischer Normen in die zivile Verwaltung sowie ein ausgeprägter militärischer Drill: "In der Armee wurde die Beziehung zwischen befehlender und prügelnder Gutsobrigkeit und widerstrebend gehorchenden feudal-untertänigen Bauern als Gegensatz zwischen Offizierskorps und Mannschaften reproduziert" (Autorengruppe: Deutsche Geschichte Bd.3, S.396). Seinem Wesen nach ist der preußische Militarismus als reaktionäre (gesellschaftsstrategische) Anpassungsform an den gesellschaftlichen Wandel im Übergangsprozeß vom Feudalsystem zur sich allmählich entfaltenden bürgerlich-kapitalistischen (Re-)Produktionsweise zu entschlüsseln - noch verschärft durch das Motiv einer ambitionierten Großmachtpolitik vor dem Hintergrund begrenzter innergesellschaftlicher Ressourcen.

In ihrem reaktionär-militaristischen Beharrungsvermögen bildet die preußische Hegemonie die perfekte Konservierungsform der deutschen Rückschrittlichkeit und Zurückgebliebenheit nicht nur auf ökonomischem und politischem Gebiet, sondern auch in geistig-kultureller und mentaler Hinsicht. Ihre normierende Wirkungsmacht besteht darin, "daß es der noch ungebrochenen mittelalterlich-barbarischen Urwüchsigkeit des peußischen Adels gelingt, mit seinem unverderbt feudalen Klassenbewußtsein und seiner seit der Entwicklung Preußens vom äußerlich modernen Absolutismus disziplinierten militärischen Roheit die ganze Gesellschaft zu durchdringen, ohne von dieser Gesellschaft selbst ummodelliert zu werden" (Kofler 1992, S.144). Von besonderem Interesse ist im vorliegenden Kontext der mit der preußischen Hegemonie korrespondierende "Subjekteffekt" bzw. die geistig-moralische "Verpreußung" der deutschen Menschen in ihrer jeweiligen klassenspezifischen Lebensposition.

Betrachten wir zunächst die bornierte Entwicklung des deutschen Bürgertums: Aufgrund der territorialen Zersplitterung sowie der weitgehend ungebrochenen Stabilität der feudalen Strukturen ist es in seinen ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten zunächst noch entscheidend eingeschränkt. Hinzu kommt das Fehlen erfolgreicher revolutionärer Kampferfahrung und einer sich darauf gründenden Traditionsbildung. In Anbetracht der Übermacht feudalabsolutistischer Ideologien und Werte assimiliert die Masse des deutschen Bürgertums angesichts dieser normativen Kraft des Faktischen adeligeDenkhaltungen und Kulturelemente und generiert auf diese Weise einen den rückständigen Lebensbedingungen angepaßten Habitus, in dem sich folgende Konstituenten vereinen: eine servile Untertänigkeit gepaart mit einer glorifizierenden Überhöhung von Unterordnungsbereitschaft, Disziplin und Gehorsam als Elementartugenden; die Stilisierung von (Selbst-)Härte als Wert- und Ehrbegriff; die Paradigmatisierung militärischer Ordnungprinzipien ("stramme Haltung") sowie die Neigung zu feudal-romantischer Sentimentalität. "Das konservative Denken", so Kofler (1992, S.168), "und die Achtung vor der 'Kraft' und 'Umsicht' der staatlichen Ordnung Preußens, von der der deutsche Spießer nur Äußerlichkeiten zu Gesicht bekam, waren dem Deutschen gleichsam 'angeboren'."

Diese bürgerliche Habitusentwicklung wird auch durch die letztlich gescheiterte Revolution von 1848 nicht aufgebrochen, sondern eher noch bestärkt. Insbesondere die Furcht vor dem erwachenden Proletariat wirkt hier als verfestigender Faktor. Durch das radikale Eingreifen der demokratischen Kleinbürger, Arbeiter, Studenten und teilweise auch Bauern aufgeschreckt und durch seine "Untertanen-Sozialisation" entsprechend prädisponiert, paktiert das Bürgertum mit der feudalen Konterrevolution und schließt einen Klassenkompromiß mit dem Adel. Dieses Scheitern der 48er Revolutuion ist nun mit drei wesentlichen Konsequenzen verbunden: Zum einen ist damit die Möglichkeit der nationalen Einigung Deutschlands auf revolutionär-demokratischem Wege verspielt. Sie wird im historischen Verlauf von nun an "von oben", d.h. gestützt auf die preußische Militärmacht, anvisiert und umgesetzt. Nicht zuletzt deshalb "erfolgt in Deutschland eine viel raschere und intensivere Beeinflussung der Massen durch chauvinistische Propaganda als in anderen Ländern" (Lukács 1989, S.248). Zum anderen wird die Gestaltung der verspätet, aber stürmisch einsetzenden kapitalistischen Entwicklung in Deutschland unter der politisch-staatlichen Kontrolle der preußischen Monarchie vollzogen. Diese sieht sich gezwungen, "in die Unterstützung der kapitalistischen Entwicklung aktiv und führend einzugreifen (Ausbau des 'Zollvereins' unter preußischer Führung als erste ökonomische Grundlage der nationalen Vereinigung). Damit ist aber zugleich in weiten kapitalistischen Kreisen von vornherein eine Abhängigkeit vom preußischen Staat gegeben, ein ununterbrochenes Paktieren mit der halbfeudalen Bürokratie, die Perspektive der Möglichkeit, die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie in friedlicher Vereinbarung mit der preußischen Monarchie durchzusetzen" (ebenda, S.250f). Drittens verlangtdie Niederlage von 1848 eine grundlegende geistig-moralische Kehrtwende. "Die entscheidende ideologische Signatur dieser Wendung ist das weltanschauliche Hinübergehen vieler bedeutender Schriftsteller von Feuerbach zu Schopenhauer, d.h. von der Bekämpfung der deutschen Zurückgebliebenheit, vom Versuch ihrer Überwindung zu ihrer Apologetik und Glorifizierung" (ebenda, S.287). Schopenhauers Philosophie läßt sich als elaborierter und sublimierter Ausdruck der postrevolutionären Sinnsuche einer zutiefst frustrierten und desorientierten Bourgeoisie dechiffrieren. Der klassisch-humanistische Fortschrittsoptimismus mit seinem pathetischen Glauben an die abstrakte Vernunft wird von Schopenhauer ins direkte Gegenteil verkehrt.

Insbesondere wird die Erkennbarkeit geschichtlich-sozialer Zusammenhänge sowie die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Realität bestritten und damit ein pessimistischer Verzicht auf politisch-praktische Wirklichkeitsgestaltung nahegelegt. Bekämpft wird der "ruchlose Optimismus" der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Demgegenüber wird die Möglichkeit des Fortschritts radikal bestritten; zu aller Zeit walte dasselbe: der absolut freie, unbändige, unvernünftige Wille. Diese pessimistisch-irrationalistische Weltauffassung vermag einem Bürgertum Trost zu spenden, das soeben seine Hoffnung auf eine interessenadäquate Realitätsveränderung - nicht zuletzt aufgrund eigener Schwächen, Fehler und mangelnder Courage - begraben mußte und sich anschickte, der "profanen" Öffentlichkeit den Rücken zu kehren und sich ins spießerhafte Privatleben zurückzuziehen. "Wenn also in dieser Zeit ein Philosoph bekannt wurde, der in geistreich-bissiger Weise ein jedes Handeln als zwecklos und sinnlos verurteilte, der das spießerhafte Sichzurückziehen in sich...aus der Ewigkeitsperspektive der Philosophie gesehen...als Gipfel der menschlichen Erhabenheit pries, so mußte eine solche Predigt in breiten Kreisen der bürgerlichen Intelligenz und weit darüber hinaus im Bürgertum und Kleinbürgertum ein begeistertes Echo finden" (ebenda, S.291).

Die "preisgebende" Einwilligung in eine "Burgfriedenpolitik" mit dem Adel, mit der die deutsche Boureoisie ihren politischen Subjektstatus - trotz partieller Konfliktbereitschaft weitgehend verspielt, ermöglicht schließlich die Installierung einer "bonapartistischen Monarchie" (Engels) mit Otto v. Bismarck als zentraler Figur. Leitlinie seiner Politik ist die weitestmögliche Rettung der adeligen Vormachtstellung im Zeichen einer stürmischen bzw. "komprimierten" Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise im noch zerplitterten Deutschland. "Rücksichtslos im Vorgehen gegen alle Bestrebungen der Liberalen, maßgeblichen Einfluß auf die Regierung zu gewinnen, bereitete er doch zugleich das entscheidende Zugeständnis an die Bourgeoisie vor, das unabdingbar geworden war, die national-staatliche Einigung" (Streisand 1972, S.204f). Von herrausragender Bedeutung ist nun, daß in der Ära der "bonapartistischen Monarchie" ein enormer Entwicklungsschub stattfindet, der Deutschland in die Stellung einer Großmacht katapultiert und im zeitgenössischem Bewußtsein der "Eisen- und Blut" - Politik Bismarcks gutgeschrieben wird. Verknüpft ist dieser Entwicklungsprung mit der kriegerischen Einigung Deutschlands "von oben" unter preußischer Führung. "Mitten im ungerecht gewordenen Krieg gegen die französische Republik, auf französischem Boden und ohne Beteiligung des deutschen Volkes wurde am 18. Januar 1871 in Versailles das deutsche Kaiserreich proklamiert" (ebenda, S.223f.). So ist der deutsche "junkerlich-bürgerliche Imperialismus" (Lenin) bereits um die Jahrhundertwende voll ausgebildet: Ökonomisch und militärisch überaus stark, aber zur Aufteilung der Welt zu spät gekommen.

Der rapide Aufstieg Deutschlands von einem zersplitterten, ökonomisch und politisch zurückgebliebenem Land zu einer "von oben" auf kriegerische Weise vereinten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Großmacht hatte nachhaltige Auswirkungen auf die zeitgenössische Bewußtseinsbildung und Verhaltensprägung. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei der Umstand, daß dieser Aufstiegsprozeß unter Führung eines von adeligen Oberschichten beherrschten Militärstaates zustande gekommen und mit einer Reihe von militärischen Siegen - über Österreich, Dänemark und Frankreich - verknüpft war.

Entsprechend groß war der allgemeine Prestigegewinn des gesellschaftlich dominanten Kriegs- und Beamtenadels und stärkte dessen Stellung als normensetzender (hegemonialer) Kraft. Der zeitgenössische Erlebnishorizont war ausgefüllt mit einem triumphalistischen Hochgefühl der plötzlich und unerwartet eingetretenen Stärke nach der jahrelangen deprimierenden Erfahrung von Tiefe, Schwäche und Zurückgebliebenheit. Hinzu kam die aufwertende Erfahrung militärischer Durchsetzungsmacht als "Königsweg" zur Erlangung nationaler Stärke; womit die preußisch-militaristische Tradition einen zusätzlichen Legitimationsschub erhielt. Im Bewußtsein der Menschen verfestigte sich die "regulative" Idee, daß im menschlichen Zusammenleben gewaltgestützte Stärke etwas grundsätzlich Gutes und Schwäche etwas Schlechtes bzw. Negatives sei. Die daraus hervorgehende, weithin akzeptierte Dominanz des Militärischen und die Vorrangstellung kriegerischer Werte korrepondierte andererseits mit einer verächtlichen Desavouierung zwischenmenschlicher Moral in Form von Rücksichtnahme, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft für andere etc. In dem Maße, wie die friedliche Einigung Deutschlands unter bürgerlicher Führung gescheitert war und realhistorisch unter der Leitung des preußischen Militäradels auf kriegerische Weise erfolgte, dominierten in der "Offizialkultur" des wilhelminish-imperialistischen Deutschlands "prämoderne" (aristokratisch geprägte) Bedeutungen (Werte, Normen, Ideologien, Verhaltensstile etc.). Geistig-kulturell führte somit die kriegerische Einigung Deutschlands von 1871 zu einer "Kapitulation weiter Kreise des Bürgertums vor dem Adel" (Elias 1994, S.23).

"Eine eigentümliche Spielart des Bürgertums trat auf die Szene: bürgerliche Menschen, die die Lebenshaltung und die Normen des Militäradels zu den ihren machten. Damit verbunden war eine klare Distanzierung von den Idealen der deutschen Klassik" (ebenda). Die subjektive Übernahme von Adelsmodellen in den Habitus des wilhelminischen Bürgertums in Gestalt eines verbürgerlichten Kriegerethos offenbart sich zum einen in der alltäglichen "Haltungspflege" und Idealisierung von militärischen Tugendenwie "Härte", "Unerbittlichkeit", "eiserner Wille" sowie der entsprechenden Stigmatisierung von moralischen Einstellungen und Gefühlen als "falsche Sentimentalität", "Gefühlsduselei", minderwertige "Weichheit" etc. "Entsprechend dem Umschlag von der staatlichen Schwäche zur staatlichen Stärke schlägt so auch der humanistisch-moralisch-zivilisatorische Kanon in einen Gegenkanon mit starken anti-humanistischen, anti-moralischen und anti-zivilisatorischen Tendenzen um" (ebenda, S.273).

In weltanschaulich-philosophischer Hinsicht repräsentiert Friedrich Nietzsche (1844-1900) in zugespitzter Form die tendenzielle geistige Militarisierung und Enthumanisierung der wilhelminischen Bourgeoisie. Ist Schoppenhauers Irrationalismus und Agnostizismus noch als defensiv-elitärer Ausdruck einer zeitgebundenen bürgerlich-intellektuellen Ohnmachtsreflexion anzusehen, so vollzieht Nietzsche philosophisch den Übergang zur geistig-weltanschaulichen Legitimation des enthemmten Herrenmenschen als "Krone" der antagonistischen Zivilisation. Im Prozeß des Ablösung des "Kapitalismus der freien Konkurrenz" durch den "Monopolkapitalismus", der Etablierung des imperialistischen Kolonialismus, der sich verschärfenden zwischenimperialistischen ("Eroberungs"-)Konkurrenz sowie in Anbetracht der erstarkenden sozialistischen Arbeiterbewegung (Pariser Kommune 1870/71) wird der bürgerlich-revolutionäre Werte- und Menschenrechtshorizont zunehmend als "Zwangsjacke" und "Geißel" der Herrschenden erfahren. Als geistige Reaktion auf diesen "Orientierungswiderspruch" des Herrschaftssubjekts repräsentiert Nietzsches Philosophie den radikalsten und einflußreichsten Bruch mit den weltanschaulich-moralischen Traditionen, Werten und Idealen des antifeudalen Bürgertums der Aufstiegsphase.

Den Brenn- und Zielpunkt bildet die emphatische Verteidigung sozialer Ungleichheit bzw. antagonistischer Herrschaftsverhältnisse sowie die Konstruktion des neuen Herrenmenschen. Schon frühzeitig, im Kontext seiner Studuien zur Antike, formuliert er sein Credo, "daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre" (Nietzsche 1966, Bd.3, S.278). Das Elend der mühsam lebenden Menschen müsse noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen. Die Menschheit wird demnach von Natur aus als unabänderlich in zwei qualitativ grundverschiedene Typen geteilt angesehen: die edle und vornehme Herrenkaste und die niedrige, pöbelhafte Kaste der Herden-menschen, der "Viel-zu-Vielen", "Mißratenen" etc. Diese letzendlich biologistisch bedingte Spaltung der Menschheit in "Herren" und "Herde" erfordert "naturnotwendig" die Konstituierung einer antagonistischen Zivilisation: Hierarchische Strukturen mit entsprechender Rang- und Kastenordnung; Besitz, Reichtum und Macht für die Herrschenden; Unterdrük kung, Sklaverei, Ausbeutung, Not und Mühsal für die Masse der "pöbelhaften" Menschen. Worauf es Nietzsche ankommt,ist die "mitleidsmoralische" Entskrupelung der Diktatur der "Herrenmenschen":

"Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, daß sie sich nicht als Funktion (sei es des Königstums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt - daß sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muß eben sein, daß die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen da sein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag..." (Nietzsche 1966, Band 2, S.728). Nietzsches radikal-antihumanistisches Konzept der Katharsis zielt folglich ab auf die "Umwertung aller Werte", auf die Entschlackung der antagonistischen Zivilisation von der herrschafts- und ausbeutungsbehindernden "Herdenmoral", auf eine Haltung des "Jenseits von Gut und Böse". Auf diese Weise soll - nach dem Tod Gottes - der neue "Übermensch" herangezüchtet werden. Als stilistisches Mittel dient hier die einfach-negatorische Ästhetisierung des Inhumanen, Grausamen, Barbarischen, Falschen etc.

Der Idee des Fortschritts wird die "ewige Wiederkehr des Gleichen" entgegengehalten; die Menschheitsgeschichte gilt ihm als "wirrer Kehrrichthaufen"; das Bestreben nach einer sozialen und moralischen Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse wird durch die Liebe zum Schicksal ("amor fati") konterkariert; nicht Gnade, Weisheit, Weitblick, Gerechtigkeit, sondern Stärke, Gewalt, Rücksichtslosigkeit, Verbrechen werden als Tugenden der neuen Herrenrasse proklamiert. "Es kommt in der Weltgeschichte auf die großen Verbrecher an, eingerechnet jene vielen, welche eines großen Verbrechens fähig waren, aber es nicht taten" (zit.n. Naake 1989, S.90). "Prachtvoll" ist für Nietzsche "die nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie", "ekelhaft" hingegen der Anblick der mißratenen, verkrümmten, vergifteten Herdenmenschen. Dem neuen Herrenmenschen wird die "Unschuld des Raubtiergewissens" und "völlige Unverantwortlichkeit" zugebilligt; seine Richtlinien lauten "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt! und "gefährlich leben!". Radikal verworfen bzw. vollständig "pragmatisiert" wird auch die Idee der Wahrheit.

"Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil...Die Frage ist, wie weit es lebensfördernd, lebenserhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile...uns die unentbehrlichsten sind" (Nietzsche 1980, Bd.4, S.569).

Die legitimatorische Grundlage für seine Grundintention, die antagonistische Zivilisation radikal zu perfektionieren, sieht Nietzsche im "Willen zur Macht" als dem universellen und konstanten Lebensprinzip. "Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung" (ebenda, S.729). Von diesem Standpunkt aus kritisiert er die zeitgenössische bürgerliche Herrschaftkultur als verweichlicht, dekadent, unfähig zur Überwindung/Auslöschung der "Herdenmoral" etc. Die Ideen der Aufklärung, die Menschenrechte, der bürgerliche Humanismus der Aufstiegsphase, die "liberalen Institutionen" seiner Zeit (Parlamentarismus, allgemeines Wahlrecht, bürgerlicher Repräsentativstaat, politische Parteien, Massenpresse etc.) werden von ihm haßerfüllt als Fesseln der Herausbildung des neuen Herrenmenschentums verurteilt. Durch diese "modernen" Prinzipien und Regularien sieht er den "Willen zur Macht" unterminiert und die Gefahr der Erhebung und des Triumphs der "Herdentiere" (der pöbelhaften Masse) heraufbeschworen. Aus der Perspektive des aristokratischen Reaktionärs, der die Vornehmheit des "Geblütsadels" und dessen paternalistische Herrschaftsausübung verehrt, wird die kapitalistische Form des Reichtums und der Ausbeutung negativ bewertet.

"Den Fabrikanten und Großunternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Masse. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt, daß der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimiert - durch die vornehme Form!" (Nietzsche 1966, Band 2, S.65f.)

Eine zweite wesentliche Fessel des neuen Herrenmenschen erblickt Nietzsche in der christlich geprägten abendländischen Moral. Indem das Christentum die Schwachen, Niedrigen, Erbärmlichen und Kranken anrufe und die Gleichheit der Seelen verkünde, stimuliere es Neid- und Rachegefühle und erkläre der Herrenrasse den Krieg. Mit dieser "Seelengleichheitslüge" eigne sich das Christentum als "Herdentier-Religion", die den "modernen Sklavenaufstand" in Gestalt der Französischen Revolution, der Demokratie, des Sozialismus und Anarchismus erst ermöglicht habe. Christliche Werte wie Nächstenliebe, Mitleid, Güte, Selbstlosigkeit, Askese, innerer Friede etc. sind für Nietzsche widernatürliche Verleugnungen des Lebens, die eine perverse Umkehrung von "gut" und böse" ausdrückten. Die Starken, Gewaltätigen, Rücksichtslosen (die "blonden Bestien") würden herabgesetzt und die Schwachen, Niederen, Mißratenen erhöht. Als Verkörperung der "Sklavenmoral" sei das Christentum "unsterblicher Schandfleck der Menschheit", ein großer Fluch, ein "Aufstand gegen alles Am-Boden-Kriechende gegen das, was Höhe hat".

In Form der Verschmelzung von biologistischer Apologetik der antagonistischen Zivilisation und antichristlichem Irrationalismus liefert Nietzsches Philosophie das spätbürgerliche Gegenbild zur allgemeinmenschlich auftretenden Aufklärung, die in der "heroischen Phase" der "aufsteigenden" antifeudalen Bourgeoisie als weltanschauliches Leitkonzept fungierte. Damit wird aber auch die Subjektkonstruktion auf nachhaltige und widersprüchliche Weise tangiert: Das bürgerliche Subjekt erfährt einen intensiven "Feinschliff" als Herrschaftsträger, ohne freilich seine der "Kapitallogik" geschuldeten - und von Nietzsche weitgehend verkannten Wesensmerkmale preiszugeben.

Auch die deutsche Arbeiterklasse unterliegt in mehrdimensionaler Hinsicht den Einflüssen der "prämodern"-aristokratisch dominierten Offizialkultur des "wilhelminischen Imperialismus":

1) Den primären Infektionskanal der - zumindest ansatzweisen geistig-moralischen "Verpreußung" des deutschen Proletariats bildet die nach militärischen Vorbildern strukturierte Gestaltung der kapitalistischen Arbeitsverhältnisse mit einer entsprechenden betrieblichen Sozialisation der lohnabhängigen Arbeitskräfte. "Die Organisation der Großbetriebe war autoritär-militaristisch, Vorarbeiter und Meister fungierten als Unteroffizier und Feldwebel, Ingenieur und Betriebsführer waren die Offiziere, die Direktoren bildeten den Generalstab, und der Generaldirektor beherrschte das Ganze, ähnlich wie der oberste Kriegsherr die Armee" (Siemsen 1937, S.66).

2) Auch die politisch-organisatorische (Selbst-)Erziehung des Proletariats erfolgt unter den deformierenden Vorzeichen einer "preußischen" Beeinflussung. Das gilt schon für die Praxis des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unter der quasi-bonapartistischen Führung Ferdinand Lassalles. Wie Lukács (1989, S.256) vermutet, ist Lassalles persönliche und politische Annäherung an Bismarck keineswegs als zufällige Verirrung anzusehen, sondern vielmehr als "die notwendige logische Folge seiner ganzen philosophischen und politischen Position. Lassalle übernahm völlig ohne Kritik von Hegel den Gedanken des Primats des Staats vor der Wirtschaft und wandte ihn mechanisch auf die Befreiungsbewegung des Proletariats an. Damit lehnte er all jene Formen der Arbeiterbewegung ab, die durch Selbsttätigkeit des Proletaiats zu einem Kampf um demokratische Ellenbogenfreiheit, zu einem demokratischen Zusammenstoß mit dem preußischen bonapartisch-bürokratischen Staat hätten führen können. Die Arbeiter sollten auch ökonomisch ihre Befreiung vom preußischen Staat, vom Staat Bismarcks erwarten." Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, der relativen Prosperität und der vorübergehendenstaatlichen Nachgiebigkeit gegenüber der Arbeiterbewegung wächst mit der Ausbreitung des Reformismus auch die Illusion des "frischfrommfröhlichen 'Hineinwachsens' der alten Sauerei in die 'sozialistische Gesellschaft'"(Engels). Kofler (1992,S.187) bringt die auffällige Neigung der deutschen Arbeiterbewegung zur mechanistischen Interpretation der Marxschen Lehre mit der "deutschen Treue" zur staatlichen Bürokratie bzw. mit deren "Überschätzung des Bürokratischen und Organisatorischen auf Kosten der kritischen Beweglichkeit der Urteilskraft" in Verbindung. So erklärt sich die subjektive Attraktivität der mechanistischen Geschichtsinterpretation daraus, "daß...sie teilweise von tätiger, demokratischer Verantwortung freispricht und den bürokratischen Automatismus, den 'naturgesetzlichen' und vom Wollen unabhängigen Gang der Geschichte rechtfertigt" (ebenda).

3) Während sich der Richtungsstreit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zunehmend verschärfte und die reformistische Strömung ihren Einfluß sukzessive erweiterte, intensivierten die imperialisische Machteliten ihre Maßnahmen zur Beeinflussung der Volksmassen im Sinne ihrer expansionistisch-militaristischen Ziele. So kam es zur Gründung antisozialistisch-chauvinistischer Propagandagesellschaften wie dem "Alldeutschen Verband", dem "Reichsverband gegen die Sozialdemokratie" dem "Deutschen Flottenverein", dem "Kyffhäuserbund" u.a. Aufgrund dieser internen und externen Einflüsse stand die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse während der gesamten Vorkriegsperiode unter herrschaftideologischem Einfluß. "Die nationalistische Propaganda der letzten Jahre und ihre Steigerung zur akuten Kriegshysterie nach dem Attentat von Sarajewo wirkten sich jetzt in einem militaristischen Taumel aus, der offensichtlich auch große Teile der sozialdemokratisch organisierten oder orientierten Arbeiter erfaßte. Hier wurde ein weiteres Mal der Anpassungsdruck der nichtsozialistischen Massen auch auf die Arbeiterbewegung deutlich" (v. Freyberg u.a. 1975, S.52f.).

4) Unter den gesamtgesellschaftlich wirksamen Bedingungen der geistig-kulturellen Hegemonie aristokratisch-militaristisch geprägter Orientierungen, Werte und Normen sowie der deformierenden Erfahrungen der kapitalistischen "Betriebssozialisation" erwies sich auch die proletarische Familie als (Re-)Produktionsstätte autoritärer (herrschaftskonformer und -funktionaler) Subjektivitätsmerkmale. "Die Familiie besorgt, als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen, die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert, und gibt ihnen zum großen Teil die unerläßliche Fähigkeit zu dem spezifisch autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung weitgehend abhängt" (Horkheimer 1977, S.206).

Nach der Periode des triumphalistischen Aufstiegs Deutschlands zur vereinigten Großmacht und der mit euphorisch-chauvinistischem Geist durchtränkten Vorkriegsphase, bedeutet die militärische Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg und der daraus resultierende Zusammenbruch des wilhelminischen Herrschaftssystems ein nationales Trauma - nicht nur für die in ihrer Dominanzposition erschütterten imperialistischen Eliten, sondern auch für jene Bevölkerungskreise, die von der nationalistischen Hochstimmung seit 1871 überwältigt worden waren. Auf sie wirkt der erneute "Absturz" der Nation in die Rolle des Verlierers, des Geschlagenen und Bezwungenen wie eine persönliche Erniedrigung und Demütigung. Vor diesem traumatisierenden Erlebnishintergrund wird die "Weimarer Republik", die konkret-politisch als Kompromißgebilde zwecks Eindämmung der drohenden proletarischen Revolution zustande gekommen war, von vielen innerlich als von den Siegermächten und "Novemberverbrechern" aufgenötigter "Fremdkörper" angesehen. Diese innerliche Distanzierung seitens großer Bevölkerungsgruppen, die weder eine demokratische Erziehung erhalten noch entsprechende Traditionen ausgebildet hatten, wird noch dadurch vertieft, daß "die Weimarer Demokratie gezwungen war, die tiefste nationale Erniedrigung, die Deutschland seit der Napoleonischen Zeit erlebt hat, den imperialistischen Frieden von Versailles durchzuführen und ins Leben zu setzen. Vor den demokratisch nicht erzogenen Volksmassen war also die Weimarer Republik das Vollzugsorgan dieser nationalen Erniedrigung im Gegensatz zu den Zeiten der nationalen Größe und Expansion, die mit den Namen Friedrich II. von Preußen, mit Blücher, mit Bismarck und Moltke, also mit monarchistisch-undemokratischen Erinnerungen verbunden waren" (Lukács 1989, S.264f.).

In einer analytischen Perspektive lassen sich folgende ereignisgeschichtlich-mentale Konstitutionsfaktoren herausheben, die das reaktionäre Bedeutungsensemble in der Weimarer Republik fundiert und "gespeist" haben:

1) Die militärische Niederlage im 1. Weltkrieg als zugleich deprimierendes und traumatisches, aber auch zu sentimentaler Romantisierung, Mystifizierung und Ästhetisierung Anlaß gebendes "Schlüsselerlebnis": So entsteht eine kriegsverherrlichende Literatur, die darauf abzielt, den Krieg gefühlsmäßig - trotz seiner Schrecken und Grausamkeiten - als subjektiv sinnerfüllendes, bejahenswertes Ereignis "aufzubereiten". Der profane zwischenstaatlich-kriegerische Machtkampf, darin eingeschlossen die militärische Verdinglichung/Instrumentalisierung lebendiger Menschen zu bloßem "Kanonenfutter" bzw. "strategischem Material", "wird dadurch in ein positives Licht gerückt, daß man seinen abstoßenden Charakter, ohne ihn zu übergehen, in ein feingesponnenes Netz nobler und verschönernder Empfindungen einhüllt. Der Horror der Leichen, der zerfetzten Leiber, der in Schmerzen Sterbenden wird abgetönt durch Erzählungen von der kriegerischen Kühnheit, dem beispielhaften Mut des Offiziers und der Loyalität der getreuen Mannschaft...So kommt eine Glorifizierung desGrauenhaften, eine Romantisierung der Gewalttat zustande, die im Verein mit Hinweisen auf den mythischen Urgrund des Krieges das Barbarische vergoldet" (Elias 1994, S.275f.).

2) Die nachtrauernde Beschwörung der "alten Größe" und des untergegangenen Wertekanons ihrer ehemaligen Garanten (aristokratisch-militaristische Herrschaftsträger): So heißt es beispielsweise in den Grundsätzen der Deutschnationalen Volkspartei von 1920: "Das Kaisertum hat uns auf den Gipfel staatlicher Macht geführt. Das deutsche Volk hat seine Kraft glänzend bewährt. Durch feindliche Übermacht und eigene Schuld ist es jäh zusammengebrochen. Darin ruht die erschütternde Tragik seines Geschicks...Letzten Endes wurde die Revolutuion die große Verbrecherin, die Sittlichkeit, Staatsordnung und Wirtschaft zertrümmerte und uns der Verachtung der Welt preisgab" (Kühnl 1975, S.52).

3) Die Perhorreszierung des "Versailler Diktatfriedens" und seiner "erfüllungspolitischen Handlanger: So heißt es in der Berliner Stahlhelm-Botschaft vom 8.Mai 1927: "Der Stahlhelm sagt den Kampf am jeder Weichlichkeit und Feigheit, die das Ehrbewußtsein des deutschen Volkes durch Verzicht auf Wehrrecht und Wehrwillen schwächen und zerstören wollen. Der Stahlhelm erklärt, daß er den durch das Versailler Friedens-Diktat und dessen spätere Ergänzungen geschaffenen Zustand nicht anerkennt" (ebenda, S.54).

4) Die "antibolschewistische" Verarbeitung des Schocks der Oktoberrevolution sowie des "Novemberaufstands" und die "aktivistische Mobilisierung" angesichts der "Roten Gefahr": So kam es während und nach der Novemberrevolution zwecks Niederschlagung und Eindämmung der Arbeiterbewegung zur Gründung einer Fülle von paramilitärischen Verbänden und Geheimbünden wie z.B. der "Antibolschewistischen Liga" und den Freikorps, die sich aus entlassenen Offizieren und Soldaten der kaiserlichen Armee rekrutierten und auch vor Terror und Mord nicht zurückschreckten. Als massenwirksame ideologische Verarbeitungsresultate sind z.B. der reaktionär-romantische Antikapitalismus sowie die Inszenierung der "national-sozialistischen" Bewegung als (prophylaktische) "Revolution von rechts" anzusehen. "Der marxistische Sozialismus" so Goebbels am 22.4..1931, "hat die Klassen gegeneinander gehetzt und damit das organische Gefüge des Volkes aufgeweicht. Der nationalistische Sozialismus dagegen schließt die Klassen zusammen und schmiedet damit das Volk zu einer unlösbaren Blutseinheit aneinander" (zit.n. Hörster-Phillips 1981, S.112).

5) Die sozialdemagogische Verzerrung und Fehlattribuierung der kapitalistischen Systemwidersprüche: Schon der Gründerkrach von 1873, der größere Teile des Kleinbürgertums und der kleineren und mittleren Bourgeoisie ruiniert hatte, riefden Antisemitismus als Integrationsideologie der Konservativen auf den Plan. Vermittels der Unterscheidung von "raffendem und schaffendem Kapital" sowie der Stigmatisierung der "Roten und Goldenen Internationale" als "Feinde des Mittelstandes" wurde das Kleinbürgertum politisch-ideologisch für die Unterstützung des junkerlich-bürgerlichen bzw. schwerindustriell-agrarischen Bündnisses gewonnen. Den kleinbürgerlichen Kräften mit ihrer schichtenspezifisch ambivalenten Bewußtseinslage kam dieser antisemitische Diskurs insofern entgegen, "als diese in dem Feindbild des internationalen, jüdischen Börsenkapitals die für sie so bedrohliche kapitalistische Entwicklung bekämpfen, in der Unterstützung des schaffenden und nationalen Kapitals gegen den 'Umsturz' hingegen den eigenen Besitz an Produktionsmitteln...verteidigen konnten" (Heimel 1977, S.194).

Massenwirksamkeit und dehumanisierende Potenz der faschistischen Ideologie

Es sind insbesondere drei zentrale Bedingungsfaktoren gewesen, die in ihrer komplementären Wirkung die massenhafte Akzeptanz und Durchsetzungsfähigkeit der totalitär-faschistischen Bewegung in Deutschland ermöglicht haben: 1) die im vorangegangenen Abschnitt skizzierte autoritär-militaristische (antidemokratische) Entwicklungsdominante in der deutschen Geschichte der Neuzeit, die sich sowohl in einem breit gefächerten reaktionären Bedeutungsensemble objektiviert als auch in Gestalt nationalspezifisch geprägter und klassenspezifisch gebrochener psychisch-mentaler Dispositionen (Haltungen, Überzeugungen, normative Orientierungen etc.) subjektiviert hat; 2) die krisenhaften Desintegrationsprozesse im "zwischenkriegskapitalistischen" deutschen Gesellschaftssystem sowie 3) die gezielte Förderung und Unterstützung der "nationalsozialistischen" Bewegung durch die maßgeblichen Kräfte des deutschen Großkapitals im Interesse der Rekonsolidierung der erschütterten kapitalistischen Herrschaft (vgl. hierzu exemplarisch: Czichon 1967; Sohn-Rethel 1973, Ruge 1980 sowie die entsprechenden Dokumente in Kühnl 1975 und Hörster-Phillips 1981).

Hinzu kommt freilich eine mehrschichtige Synthese - und Transformationsleistung als funktional-qualitative Besonderheit der faschistischen Ideologie. Zum einen ist, wie Lukács (1989, S.325) bemerkt, in inhaltlicher Hinsicht "die faschistische Ideologie selbst nichts weiter als die eklektische Zusammenfassung und die demagogische Ausnützung der im Laufe von Jahrzehnten herausgebildeten reaktionären Ideologien, eine demagogische 'Synthese' ihrer verschiedenen, groben wie feinen Spielarten." Die eigentliche "schöpferische" Leistung der Nazis besteht aber in der wirkungsoptimierenden selektiven Radikalisierung ("Steigerung") und Popularisierung des vorgefundenen reaktionären Bedeutungsensembles sowie in der Verknüpfung von reaktionär-antihumanistischer Hochkultur (Schopenhauer, Nietzsche, Spengler etc.) und antidemokratisch-militaristischer Massenkultur. Zudem "arbeitet" die faschistische Bewegung "glaubwürdig", d.h. weithin wahrnehmbar, an der operativ-praktischen Umsetzung der propagierten Ideologeme: die Nazis redeten nicht nur von der prinzipiellen Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen, Rassen und Völker, sondern quälten, folterten und mordeten auch schonvor 1933. Der Übermensch, so Lukács, saß nicht nur im Kaffeehaus und führte dort verworrene Gespräche ohne praktische Konsequenzen, sondern demonstrierte als peitschenschwingender SS-Mann im KZ den Unterschied zwischen höherer und niederer Rasse. Kurzum: die faschistische Bewegung organisiert und vollstreckt den Übergang antihumanistischer Ideen in eine barbarische Praxis.

Desweiteren vollziehen die Nazis eine diskursiv-propagandistische Verknüpfung von aktueller Realitätsund Krisenerfahrung, sozialisatorisch wirksamer "prämoderner" Subjektprägung und radikalisierter Herrschaftsideologie mit der Rassentheorie als Focus bzw. "Integrator" des faschistischen Bedeutungssystems. So gelingt vermittels des antisemitischen Rassismus ja nicht nur die Erzeugung massenhafter Akzeptanz des Holocaust, sondern sowohl die regressive Kanalisierung spontan-antikapitalistischer Gefühle, Instinkte, Einstellungen etc. als auch die assoziative Stigmatisierung ("Verjudung") aller Feindgruppen: "jüdisch-bolschwistische Verschwörung"; "jüdisch-marxistisch infizierte Arbeiterbewegung"; "jüdisch unterwanderte Demokratie" u.s.w. Hinzu kommt die Verbindung des Rassendiskurses mit der Legitimation rasseninterner Ungleichheit. "Wer dem 'Rassengedanken' anhängt, muß auch die bessere Rasse innerhalb seiner Rasse, nämlich die Hierarchie der herrschenden Klasse und der Machtelite anerkennen" (Projekt Ideologie-Theorie 1980, S.64). Im rassistisch fundierten faschistischen Mythos wird auf diese Weise "die Überwindung des Kapitalismus mit der Liqidierung des Klassenkampfes, mit der Ausrottung der revolutionären Arbeiterbewegung identifiziert. Der faschistische Mythos utilisiert hier die antikapitalistische Sehnsucht der Massen...um alle revolutionären Organisationen, alle revolutionären Institutionen, die den Massen in Wirklichkeit zu diesem Ziele verhelfen könnten, zu vernichten. Und verknüpft zugleich die demagogisch versprochene Erfüllung dieser tief in den Massen lebendigen Sehnsucht mit dem Wunsch nach nationaler Größe, nach nationaler Befreiung von der nationalen Erniedrigung" (Lukács 1989, S.348).

Eine weitere hervorzuhebende Syntheseleistung der Naziideologie ist die Verbindung von "prämodernem" Irrationalismus, Pseudowissenschaftlichkeit, Streben nach technischer Perfektion und Bürokratismus. So reaktiviert und instrumentalisiert der rassistische Diskurs der Nazis die vielschichtigen Ängste "prämodern"-traditionalistisch sozialisierter Menschen vor den Herausforderungen, Verunsicherungen und "Zumutungen" der kapitalistischen "Moderne", indem er die daraus hervorgehenden negativen Affekte auf die jüdische Rasse als verantwortlicher "Erzverderber" projiziert und damit "aktivistisch" verarbeitbar macht.

"Die Beseitigung der Juden und die Ablehnung der neuen Ordnung waren fortan gleichbedeutend. Diese Tatsache deutet auf einen vormodernen Charakter des Rassismus hin, da er sozusagen eine natürliche Affinität zu antimodernen Strömungen besaß und sich ihnen anpaßte" (Baumann 1992, S.76).

Die zugleich irrationale und dennoch multifunktional äußerst wirksame rassistische Feindbildkonstruktion - untrennbar verflochten mit der "einladenden" Selbstdeutung als Avantgarde der "auserwählten" arisch-germanischen (Herren-)Rasse - wird nun aber gleichzeitig unter Rückgriff auf biologistische Paradigmen und Argumentationsmuster (rassische Zuchtwahl und Auslese) legitimiert, verfeinert und systematisiert. In diesem Sinne läßt sich der Maßnahmekanon von den Nürnberger Rassegesetzen, über die sog. "Euthanasie" bis hin zur massenweisen Vernichtung "schädlichen" und "artfremden" Lebens als "angewandte", d.h. gesetzlich bestimmte, bürokratisch organisierte und technisch perfekt vollzogene "Biologie" interpretieren. "Die Entdek kung des jüdischen Virus ist eine der größten Revolutionen der Weltgeschichte. Der Kampf, in dem wir heute stehen, ist von ähnlicher Art wie der von Pasteur und Koch im letzten Jahrhundert. Es gibt unzählige Krankheiten, die vom jüdischen Virus verursacht sind...Wir werden unsere Gesundheit nur wiederherstellen, wenn die Juden beseitigt werden" (so Hitler 1942 zu Himmler; zit.n. ebenda, S.86).

In strategisch-instrumenteller Hinsicht wäre der faschistische Rassismus demnach als Produkt der "Moderne" zu bestimmen. Seiner Intentionalität nach ist er freilich durch und durch "prämodern" gespeist: Er ist konzentriert auf die Formierung des "treu ergebenen", "kriegerisch-kämpferischen" Nazi-Subjekts, die vorgestellt wurde "als züchterische Korrektur des modernen Menschen, der seine Triebe verkümmern ließ" (Zapata Galindo 1995, S.117). Es ist demnach gerade diese mentalitätsstrukturelle Verknüpfung von ("prämoderner") autoritär-militaristischer Wert- und Normorientierung einerseits und ("modern"-industrialistischer) Geprägtheit durch die kapitalistischen Leistungsstandards wie kalkulatorische Rationalität, Effizienzdenken und "technische Machbarkeit", die die Hervorbringung faschistischer Subjektivität ermöglicht hat. "Erst die Kombination aus wilhelminischer Härteprägung und technoider Funktionsprägung bringt Menschen hervor, die Härte, Indifferenz gegenüber anderen und logistische Rationalität zugleich besitzen, Männer (und Frauen, H.K.) der Praxis, die die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager organisieren konnten" (Welzer 1993, S.365).

Im Unterschied zur stalinistisch beeinflußten KPD, die in ihrem ökonomistisch-rationalistischen Erwartungshorizont aus der objektiven Krisenentwicklung auf eine "zwangsläufige" subjektive Linkswendung der werktätigen Massen "kurzgeschlossen" hatte ohne die z.B. von W. Reich konstatierte "Schere" zwischen ökonomischem Sein und Bewußtsein angemessen zur Kenntnis zu nehmen -, erweist sich das massenpropagandistische Kalkül der Nazis als realitätsnäher und erfolgreicher. Ziel der nazistischen Propaganda ist die psychische "Einbindung" der Massen in eine autoritär-hierarchisch ("führerstaatlich") organisierte und gewaltgestützte antihumanistische Praxis mit den Kernpunkten: Liquidierung der inneren Opposition; Vorbereitung und Durchführung eines brutalen revanchistisch-imperialistischen Raub- und Eroberungskrieges; Vernichtung der jüdischen Rasse. In diametraler Negation des Aufklärungsdiskurses (Höherbewegung des geistig-moralischen Niveaus der Volksmassen) geht es den Nazis (ob mit oder ohne durchgängigen Bezug, ist hier nebenrangig) um die praktisch-organisatorische Umsetzung von Nietzsches Apologie der antihumanen Instinkte und seiner Aufforderung zur "Teilnahme am Bösen". Konkret: es geht um die Nobilitierung der barbarischen und bestialischen Instinkte als Voraussetzung eines guten Gewissens bei der praktischen Partizipation an der Ausbeutung, Unterdrückung und Physilierung fremder Länder, Völkerschaften, Rassen etc. In diesem Sinne erweist sich ein prinzipienloser propagandistischer Utilitarismus als probates Werkzeug, um das Falsche, Beschränkte, Rückständige, moralisch Defiziente, Selbstsüchtige etc. in der konkret-historisch bestimmten menschlichen Subjektivität anzusprechen, "herauszukitzeln" zu beweihräuchern und mit einem "werteschwanger"-sentimentalen (Schicksals-)Jargon zu vernetzen. "Jede Propaganda", so Hitler in "Mein Kampf", "hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll...Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist und je mehr sie ausschließlich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durchschlagender der Erfolg" (zit.n. Kühnl 1975, S.111). "Es ist nicht der Sinn einer Propaganda", so Goebbels, "geistreich zu sein. Ihre Aufgabe ist, zum Erfolge zu führen" (zit.n. Hörster-Phillips 1981, S.235).

Ziel der Nazi-Presse "ist nicht, zu informieren, objektive Tatbestände zu vermitteln, sondern anzuspornen, anzufeuern, anzutreiben...Sie betreibt vorsätzlich und bewußt seine (des Lesers, H.K.) politische Beeinflussung. Sein ganzes Denken und Empfinden soll mit ihren Mitteln in eine bestimmte weltanschauliche Richtung hineingezwungen werden" (ebenda, S.234).

Das Rückständige und Bornierte läßt sich massenhaft aber nur in dem Maße aus den Menschen "herauskitzeln" und "anfeuern", indem gleichzeitig an die "besten Gefühle der Massen" angeknüpft und appelliert wird: das Grausame, Niederträchtige, Gemeine etc. muß mit dem Schönen, Edlen, Aufrichtigen etc. "geschmückt" und "verziert" werden. So wird z.B. die emotionale Sehnsucht nach sozialer Harmonie auf eine Weise mit der objektiven klassenwidersprüchlichen Realität konfrontiert,daß der Klassenkampf nicht als gesellschaftsstrukturell verursacht erscheint, sondern als Ergebnis einer voluntaristischen Verschwörung von "marxistischen Klassenkämpfern" hingestellt wird. So heißt es in Hitlers Rede am 1.Mai 1933: "Eine Lehre, die unser Volk ergriffen hatte, versuchte, den Tag der erwachenden Natur, des sichtbaren Frühlingseinzugs zu verwandeln in einen Tag des Hasses, des Bruderkampfes, des Zwistes und des Leides. Jahrzehnte sind über die deutschen Lande hinweggegangen, und immer mehr schien dieser Tag die Trennung und Zerrissenheit unseres Volkes dokumentieren zu sollen. Es kam aber endlich auch die Zeit der Besinnung, nachdem das tiefste Leid unser Volk ergriffen hatte, eine Zeit des Insichkehrens und des neuen Sichzusammenfindens deutscher Menschen" (zit. n. Projekt Ideologie-Theorie 1980, S.134). Auf diese Weise werden a) der 1. Mai als "Kampftag der Arbeiterklasse" ideologisch-moralisch delegitimiert und ins Zwielicht gerückt, b) der 1. Mai als "naturromantischer" Tag der nationalen Eintracht reinstalliert und c) die Akteure des Klassenkampf-Diskurses als "nationale Verräter" und "Volksfeinde" entlarvt und zum Abschuß freigegeben. Die destruktiv-aggressiven Energien, Antriebe, Affekte auf die enttarnten "Volksfeinde" zu richten und an ihnen "abzureagieren" dient - ohne daß es noch explizit erwähnt werden müßte - der Sache des deutschen Volkes.

Die nationale Demagogie der Nazis wiederum, die u.a. zur Vorbereitung des imperialistischen Raubkrieges diente, "knüpft an die verständlche Empörung der deutschen Volksmassen über den Versailler Frieden und seine erniedrigenden Folgen an." Sie suggeriert, "daß im Gegensatz zu den anderen Parteien, die das deutsche Volk an seine Feinde verrieten und verkauften, sie, die Faschisten, die einzigen seien, die die alte nationale Größe wiederherstellen und die Versailler Schmach rächen würden" (Lukács 1989, S.338).

Schon früh hatte Hitler sein radikal-antimarxistisches Grundbekenntnis abgelegt, das zum attraktiven Angelpunkt für das "antiparlamentarische" Großkapital wurde und die NSDAP als terroristische Kampfreserve zwecks Eindämmung und Vernichtung der Arbeiterbewegung geeignet erscheinen ließ: "Die Bolschewisierung Deutschlands jedoch bedeutet die Vernichtung der gesamten christlich-abendländischen Kultur überhaupt. In der voraussehenden Erkenntnis dieser Katastrophe...wurde...am 5. Januar 1919 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gegründet. Ihr Ziel heißt ganz kurz: Vernichtung und Ausrottung der marxistischen Weltanschauung" (zit. n. Hörster-Phillips 1981, S.27).

Als "Vordenker" einer prophylaktischen Konterrevolution lautete Hitlers Leitfrage, wie die bestehende Gesellschaftsordnung gegen eine drohende sozialistische Revolutionierung gesichert werden kann. Damit war eine wesentliche, aber noch nicht funktional hinreichende Bedingung für die mehrheitliche monopolkapitalistische Unterstützung der Nazis erfüllt. Erst in dem Maße, wie die NSDAP unter den Bedingungen dergroßen Krise von 1929-1932 ihre reale Effizienz bei der "antibolschewistischen" Reorganisierung einer (kapital-)herrschaftskonformen Massenbasis demonstrierte, auch größere Teile von Lohnabhängigen für sich gewinnen konnte und ihren "linken Flügel" (Strasser-Gruppe) ausgrenzte, festigte sich das Bündnis von NSDAP und herrschender Klasse. Zentrales "Instrument" der nazistischen Massenpolitik war zum einen die symbolisch-diskursive Beraubung der Arbeiterbewegung sowie der pervertierte Einbau marxistisch-kommunistischer Begriffe, Kampfund Organisationsformen in das faschistische Bedeutungssystem. Wie W.Münzenberg beschrieb, "kopierte man skrupellos Einrichtungen der Sowjetunion und Werbemethoden wie organisatorische Einrichtungen der KPD, sobald man sah, daß sie eine große Anziehungskraft für die Massen besaßen, dabei handelte es sich für die Hitlerpropaganda immer nur um die bloße Übernahme der Form, während man den Inhalt frech fälschte" (zit. n. Hörster-Philipps 1981, S.235).

Die nazistische Bewegung gerierte sich folglich als Gegen-Bolschewismus. Zudem hat Elias (1989, S.292) auf das Übergewicht der nazistischen "Sturmabteilungen" gegenüber den sozialdemokratischen und kommunistischen Wehrverbänden hingewiesen. Einerseits waren deren Gelder "zum Ankauf von Waffen, Uniformen und anderen Ausrüstungsgegenständen ...minimal im Vergleich zu den Geldmitteln der Gegenseite...Die gegnerischen Verbände, vor allem Hitlers Sturmabteilungen, hatten einen weit höheren Prozentsatz vollbeschäftigter Söldner. Sie konnten sich Arbeitslose heranholen, konnten sie einexerzieren und ideologisch indoktrinieren." Andereseits litten die "proletarischen Kampfverbände" unter einem Mangel an militärisch geschulten Führungskräften und Organisatoren.

Der "Faschismus an der Macht" konstituiert ein praktisch-barbarisches, durch Indienstnahme "moderner" Hilfsmittel und Verfahren perfektioniertes System der sklavischen Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung ideologisch stigmatisierter Menschengruppen. Dabei bildet die rassistische Begründung der qualitativen Ungleichheit von Menschen und Völkern den legitimatorischen Kern mit der entscheidenden Konsequenz, "daß den Untermenschen gegenüber jede moralische Hemmung, jedes sittliche Gebot aufhört, daß ihnen gegenüber alles erlaubt ist" (Lukács 1989, S.369). Damit ist ein wesentliches Wirkungsmoment der massenhaften sittlichen Verrohung und moralischen Zersetzung des deutuschen Volkes bezeichnet, das den Nazis erlaubte, "große Massen an ihren Untaten mitschuldig zu machen, sie durch Propaganda, Druck, Terror, Angst vor Denunziation etc. in die Mitarbeit an der Barbarisierung hineinzuziehen" (ebenda). Es sind aber weitere strukturelle Momente der De-Moralisierung sowie Organisierung von Mittäterschaft im System der entfesselten totalitär-faschistischen Barbarei zu reflektieren, auf die Baumann (1992) aufmerksam gemacht hat. Der genetische bzw. (re-)produktive Ort der Moralbildung ist für ihn nicht das makrosoziale System, sondern der unmittelbare zwischenmenschliche Lebensraum, der elementar gekennzeichnet ist durch die inter-subjektiv wahrnehmbare/erlebbare "Gegenwart des Anderen".

In Anlehnung an Levianas sieht er aus der "Gegenwartdes Anderen" organisch eine das Subjekt konstituierende Verpflichtung zu Verantwortungsübernahme hervorgehen: "Das Antlitz (des Anderen, H.K.) befiehlt und verfügt über mich. Seine Bedeutung ist die der Aufforderung" (S.197). "Verantwortung" wäre demnach die konstitutive Form der Subjektivität. D.h.: Verantwortlichwerden wird hier als der primäre und grundlegende Modus der Subjektwerdung beschrieben. Danach "stellt Moral die primäre Struktur der intersubjektiven Beziehungen dar, und zwar in ihrer ursprünglichen, von nicht-moralischen Faktoren wie Interesse, Kalkül, der rationalen Suche nach Lösungen oder dem Nachgeben gegenüber Zwang) unberührten Form. Die Substanz von Moral ist die Pflicht (nicht zu verwechseln mit Obligation) gegenüber dem Anderen, die nicht am Interesse orientiert ist" (S.198). In diesem Modell entsteht Verantwortung, als Grundprinzip der moralischen Verhaltens, aus der Nähe des Anderen. Die Zerstörung dieser Nähe durch gewaltsame Absonderung sowie soziale Distanzschaffung und daraus hervorgehend die (symbolisch-praktische) Verwandlung des Mitmenschen ("Anderen") in den Fremden wäre demnach umgekehrt als paralysierender Modus moralischer Dispositionen zu begreifen.

"Verantwortung verschwindet, sobald Nähe nicht mehr besteht, und kann sogar durch Ressentiments ersetzt werden, wenn der Mitmensch in den Fremden transformiert wird. Der Prozeß dieser Transformation ist die soziale Absonderung. Ohne sie hätten nicht Tausende zu Mördern und Millionen zu stummen Zeugen des Verbrechens werden können. Und die technologisch-bürokratischen Errungenschaften der modernen, rationalen Gesellschaft ermöglichten diese Absonderung" (S.198f.).

Die Strategie der sozialen Ausgrenzung/Absonderung des zugleich ideologisch/rassistisch stigmatisierten "Anderen" wird noch fatal ergänzt durch die von den Nazis wirkungsvoll genutzte "moderne" Möglichkeit der bürokratischen und technologischen Distanzschaffung zwischen Handelnden und Resultat. Wie anhand der Milgram-Experimente gezeigt werden konnte, steigt die subjektive Bereitschaft zu gewalttätigen/grausamen Handlungen, je größer die (sinnliche) Distanz zum mutmaßlichen Opfer empfunden wird. Auf diese sachlich-technische Ausschließung von sinnlich konkreter "Unmittelbarkeit" läßt sich die Ausschaltung des "animalischen Mitleids" (Hanna Arendt), das jeder normale Mensch angesichts physischerLeiden empfindet, gründen. Ein in seiner brutalen Banalität erschütterndes Beispiel mag diesen Zusammenhang illustrieren: "So wurden etwa jeden Tag in einem Lager mehrere hundert russische Kriegsgefangene erschossen, aber das Gemetzel geschah, indem durch Löcher in der Wand in einen Raum hineingeschossen wurde, so daß niemand der Beteiligten die Opfer zu sehen bekam" (Arendt 1995, S.695f.). Die technologische Mediatisierung des Handelns (hier: Tötens), die sich eindrucksvoll in der modernen Kriegsführungstechnik manifestiert, wird darüber hinaus noch komplettiert, durch die Entkoppelung von Rationalität und Moral, wie sie der hierarchisch-arbeitsteilig zergliederten bürokratischen Tätigkeit wesensmäßig inhärent ist.

Die funktional-arbeitsteilige Differenzierung innerhalb der Bürokratie schafft nämlich einerseits die nötige (de-moralisierende) Distanz der (partialisiert) Handelnden zum Resultat, während die befehls- und anweisungshierarchische Struktur andererseits die Verschleierung und Desartikulation von Verantwortung bedingt. "Kollektive Grausamkeit wird wesentlich erleichtert, wenn sich Verantwortung nicht mehr dingfest machen läßt, obwohl doch jeder Mittäter überzeugt ist, nur 'seine Pflicht' zu tun...; suspendierte, nicht festzumachende Verantwortung ist die Vorraussetzung, daß Menschen sich willig oder mit Enthusiasmus an moralisch bedenklichen oder kriminellen Taten beteiligen, zu denen sie normalerweise nicht fähig wären. Suspendierte Verantwortung bedeutet in der Praxis, daß moralische Autorität außer Kraft gesetzt wird, ohne je offen in Frage gestellt worden zu sein" (Baumann 1992, S.178).

Die praktische Wirkungsmacht des totalitär-faschistischen Systems in Gestalt der Nazi-Herrschaft bestand demnach in der Fähigkeit, die De-Moralisierung der Menschen nicht nur ideologisch- propandistisch "auszurichten" und zu legitimieren, sondern auch über technologisch und bürokratisch mediatisierte Handlungsketten "perfekt" zu organisieren. Damit wurde eine radikal enthumanisierte antagonistische Gesellschaftsordnung geschaffen, in der in extremster Form systemische Rationalität und allgemeinmenschliche Moral auseinanderstrebten. Es ist aber nicht die "Moderne an sich", die diese "Logik des Bösen" quasi-teleologisch aus sich herausgetrieben hat, sondern es bedurfte gravierender aktiv-subjekthafter Eingriffe und Veränderungen als unabdingbare Prämissen, nämlich a) der "Schleifung" bzw. Deformierung der menschlichen Vernunftsfähigkeit zur "instrumentellen Vernunft" im profitlogischen Rationalitätskalkül des neuen, systemischen Handlungszwängen folgenden kapitalistischen (Herrschafts-)Subjekts sowie b) der systematischen Abtrennung modern-neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit, Rationalität, Erkenntnisfähigkeit etc. von ihrer gleichürsprünglichen aufklärerisch-universalistischen Humanitäts-und Moralbindung. Erst diese "synergetische" Zerstörung der Vernunft hat die Nazi-Barbarei ermöglicht.

Klerofaschistische Kollaboration und religiöser Fundamentalismus als totalitärer Traditionalismus

Die politisch-ideologische Entwicklung in diesem Jahrhundert hat gezeigt, daß die Herausbildung wirkungsmächtiger und durchsetzungsfähiger totalitär-faschistischer Bewegungen im Schoße der kapitalistischen Gesellschaftsformation an spezifische strukturelle "Antriebsfaktoren" gebunden war. Für Deutschland bespielsweise erwies sich die relative Stärke und Beharrungskraft feudal-monarchistischer Herrschaftskultur, die damit "organisch" verknüpfte Schwäche bürgerlich-demokratischer Bewegungen sowie der verzögerte nationalstaatliche Konstituierungsprozeß als Nährboden für den Aufstieg der "national-sozialistischen" Revolution von rechts. Während z.B. in England der Adel sukzessive verbürgerlichte, in Holland städtebürgerliche Patrizier als hegemoniale Kräfte fungierten und in Frankreich eine tiefgreifende antifeudalistische Katharsis sämtliche Bevölkerungsschichten erfaßte und durchdrang, kam es in Deutschland umgekehrt zur geistig-moralischen Aristokratisierung großer Teile der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums bis hinein in proletarische Schichten.

Auch in Japan erfolgte der kapitalistische Modernisierungsprozeß vor dem geschichtlichen Hintergrund einer unterentwickelten bürgerlich-demokratischen Bewegungskultur unter der Führung einer anpassunsfähigen Adelskaste mit dem Tenno als Integrationsfigur. Dieser erließ 1889 eine halbparlamentarische Verfassung nach preußischem Vorbild, nach der die ganze Macht bei der kaiserlichen Exekutive lag.

In Italien war der langwierige Entstehungsprozeß des einheitlichen bürgerlichen Nationalstaates ebenfalls gekennzeichnet durch eine unzureichende Massenverankerung bzw. durch das Fehlen einer breiten bürgerlich-demokratischen Bewegung. Insofern läßt sich das Risorgimento mit Gramsci als "passive Revolution" bzw. Revolution "von oben" begreifen. Aufgrund des reaktionären Bündnisses zwischen der liberalen Industriebourgeoisie Norditaliens und den feudalen süditalienischen Landbesitzern, die sich angesichts der militärischen Erfolge der kleinbürgerlich-revolutionären Kräfte unter Führung Garibaldis zusammengeschlossen hatten, wurde eine durchgreifende Agrarreform im südlichen Teil des neu entstehenden Königreichs Italien verhindert. Das Risorgimento blieb so letztlich unvollendet und die sozialökonomische Rückständigkeit des Südens gegenüber dem Norden wurde für die Zukunft zementiert; ein Problem, das bis heute die italienische Gesellschaft belastet.

Als zentrale geistig-moralische Machtreserve bzw. Legitimationsgrundlage "prämoderner" (vorkapitalistischer) Herrschaftsverhältnisse sind die Religionen samt ihrem institutionellen Apparat zu begreifen. Sie fungieren gewissermaßen als spirituelles Kraftzentrum antimodernistisch-traditionalistischer Herrschaftskultur und liefern das "initiale" Bedeutungsmaterial für unterschiedlichste radikale Zuspitzungen in Form multikulturell wirksamer Fundamentalismen. Insbesondere die konstitutive (ab-wertende) Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft der (Recht-)Gläubigen ("Wir"), Häretikern/Andersgläubigen und Nichtgläubigen sowie die darin - zumindest latent - eingeschlossene Deutung von Nicht-und Andersgläubigkeit als moralische Unterlegenheit/Minderwertigkeit macht die religiösen Ideologieformen und Diskurse prinzipiell anfällig für die ideelle Induzierung, Verfestigung und "Komplettierung" zwischenmenschlicher Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse. Darüberhinaus hat z.B. die Historie des abendländischen Christentums, die sich als "Kriminalgeschichte" (Deschner) schreiben läßt, in Gestalt des Kreuzugsgedankens, der Inquisition sowie dem autoritär-hierarchischen Apparat der römisch-katholischen Kirche ein "prämodern"-totalitäres Sozialerbe überliefert, an das die Faschisten bewußt anknüpften. Sowohl Hitler als auch Himmler bezogen sich positiv auf die Ordenstratition als Paradigma der Nazibewegung: "So sind wir angetreten und marschieren nach unabänderlichen Gesetzen als ein nationalsozialistischer soldatischer Orden nordisch bestimmter Männer und als geschworene Gemeinschaft ihrer Sippen den Weg in eine ferne Zukunft" (zit. n. Grigulevic 1980, S.4). Und mit Berechtigung kann Rolf Hochhut in seinem Drama "Der Stellvertreter" den SS-Arzt zum Priester sagen lassen: "Wir sind die Dominikaner des technischen Zeitalters...Ein Kulturkreis, der um die Seele seiner Jugend mit einer Kirche wirbt, auf deren Konto die Herren Inquisitoren fallen, endet folgerichtig, wenn er zu seiner Leichenfeier die Fackeln aus unseren Menschenöfen holt...Erst die Kirche hat gezeigt, daß man die Menschen verheizen kann wie Koks. Allein in Spanien habt ihr ohne Krematorien dreihundertfünfzigtausend Menschen eingeäschert, fast alle lebendig" (ebenda, S.4f.).

Antimodernistisch-traditionalistische Weltanschauung, ideologische Kompetenz und totalitäre Binnenstruktur gewährleisten die relativ reibungs- und nahtlose Integration insbesondere der katholischen Kirche in das faschistische System. Hinzu kommt der konvergente "Anti-Bolschewismus" und militante Konservatismus als geistiges Bindemittel der klerofaschistischen Kollaboration, die sich auf markante Weise in den Lateranverträgen (zwischen Vatikan und italienischem Faschismus) sowie im Reichskonkordat (zwischen Vatikan und deutschem Faschismus) manifestiert hat. Worauf basiert nun die wechselseitige Wertschätzung/Instrumentalisierung von katholischer Kirche und Faschismus?

1) Hitler anerkennt sehr wohl die hegemoniale Kompetenz der katholischen Kirche als Instanz der massenhaften Erzeugung von Herrschaftsakzeptanz und untertäniger Subjektivität vermittels Desartikulation von Klassenwidersprüchen und moralistisch-asketischer Indoktrination. Ihm geht es um das legitimatorische Arrangement mit den Kirchen bei gleichzeitiger Ausschaltung des politischen Klerikalismus, sprich: derZentrumspartei. Entsprechend schließt er die antikirchlichen Kräfte aus der Nazibewegung aus und erklärt in einer Rede vom 27.10.1928 in Passau: "In unseren Reihen dulden wir keinen, der die Gedanken des Christentums verletzt, der einem anders gesinnten Widerstand entgegenträgt, ihn bekämpft oder sich als Erbfeind des Christentums provoziert. Diese unsere Bewegung ist tatsächlich christlich. Wir sind erfüllt von dem Wunsch, daß Katholiken und Protestanten sich einander finden mögen in der tiefsten Not unseres Volkes. Wir werden jeden Versuch unterbinden, den religiösen Gedanken in unserer Bewegung zur Diskussion zu setzen" (zit. n. Deschner 1982, S.361f.). Im "Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich" (Reichskonkordat) vom 20. Juli 1933 bekunden der Vatikan und die Nazis ihre Absicht, die "bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und zu fördern" (zit. n. Kühnl 1975, S.220). Das Nazi-Regime "gewährleistet die Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion" (ebenda) sowie die ungehinderte Veröffentlichung kirchlicher Anweisungen, Verordnungen, Hirtenbriefe etc. Desweiteren wird der katholische Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an allen Schulen bestätigt. Im Gegenzug verpflichtet sich die Kirche darauf, an allen Sonn- und Feiertagen im Anschluß an den Hauptgottesdienst für das Wohlergehen Nazi-Deutschlands zu beten und die Bischöfe einen Treueeid auf das Dritte Reich schwören zu lassen. Strategisch bedeutsam für die Nazis ist der "Entpolitisierungsartikel", d.h. das parteipolitische Betätigungsverbot für Geistliche und Ordensleute und damit die faktische Suspendierung des politischen Katholizismus.

2) Gegenüber den liberal-laizistischen Tendenzen sowie der anwachsenden "sozialistischen Gefahr" bedeutet die Installierung eines totalitär-faschistischen Systems eine umfassende Restauration der kirchlich-religösen Machtstellung. Am Beispiel des italienischen Faschismus führt Deschner (1982, S.329) u.a. folgende Fakten an: "In Schulen und Gerichthöfen wieder Kruzifixe; in den Volksschulen, zur 'Grundlage und Krönung' der Lehrtätigkeit, wieder katholischer Religionsunterricht; die katholischen Schulen den öffentlichen Schulen wieder gleichgestellt; durch Regierungsdekret anstelle von Kant Texte des Augustinus und Thomas von Aquin gesetzt;...beschlagnahmte Kirchen und Klöster freigegeben;...die staatlichen Subventionen für kirchliche Bauten erhöht; die staatlichen Zuschüsse an den Klerus erhöht...Durch eine klerusfreundliche Maßnahme nach der anderen wurde die laizistische Gesetzgebung der liberalen Ära liquidiert und die Macht des Katholizismus enorm gestärkt." Kein Wunder, daß Pius XI. sich entzückt über Mussolini im August 1923 äußerte: "Für Italien hat Gott einen solchen Mann erweckt...er allein hat erfaßt, was sein Land benötigt, um es aus der Anarchie zu befreien, in die ein impotenter Parlamentarismus und drei Kriegsjahre es geworfen hatten. Sie sehen, daß er die Nation mit sich fortgerissen hat" (ebenda, S.328). Und der "Osservatore Romano" vom 2.12. 1925 urteilte klarsichtig: "Das faschistische Regime hat zweifellos gerechte Reformen eingeführt, ein Verdienst, das um so stärker hervortritt, wenn man es einerseits dem Agnostizismus des liberalen Staates..., andererseits dem antiklerikalen Sektierertume der demokratisch-freimaurerischen Regierungen gegenüberstellt. Der Faschismus jedoch anerkennt die soziale Bedeutung der Religion und der Kirche als einer für die Regierung des Volkes selbst nützlichen Kraft...Das muß man ehrlich anerkennen und das schuldige Verdienst Mussolinizuschreiben, indem man dem Wunsche Ausdruck gibt, daß er auf der gleichen Linie fortfahre zum Besten unseres Landes" (ebenda, S.341).

Das faschistische System läßt sich - gemäß der vorangegangenen analytischen Skizze - als kulturhistorisch-spezifisch geprägte ("westlich-abendländische") Verarbeitungsform der Kollision von kapitalistischer "Moderne" und "prämodernem" Traditionalismus innerhalb des entwickelten und durch multiple Krisenprozesse erschütterten Kapitalismus begreifen. Seine funktionale Qualität besteht in der "totalitären" Reorganisation der labilisierten systemspezifischen Herrschaftsverhältnisse vermittels der hegemonialen Instrumentalisierung "prämoderner" Kulturelemente. In diesem restaurativen Kontext gelingt nicht nur die institutionelle Effektivierung/Radikalisierung der antagonistischen Zivilisation auf bürgerlich-kapitalistischer Entwicklungsstufe, sondern ebenso die antihumanistische Rekonstruktion der krisendeformierten und mentalitätsgeschichtlich vorgeprägten Subjektivität der Beherrschten im Sinne der systemischen Restabilisierung.

Im Vergleich dazu läßt sich der islamische Fundamentalismus als eine "orientale" Verarbeitungsform der exogen ("von außen") induzierten kapitalistisch-"modernistischen" Zersetzung "prämodern"-traditionalistischer Herrschaftsverhältnisse im Spektrum stationärer, agrarisch-händlerisch geprägter Gesellschaften mit ihren besonderen Sozialmilieus, Bedeutungssystemen, Kulturmustern und Mentalitätsformen entschlüsseln. Wir hätten es demnach, so meine Hypothese, mit der kulturspezifischen Variante einer reaktionär-extremistischen Verteidigung/Wiederherstellung traditionell konstituierter Herrschafts-und Lebensformen mit ihren besonderen Abhängigkeiten, Unterordnungen, Privilegien etc. zu tun.

Den historisch-politischen Hintergrund für die Entstehung breit gefächerter Re-Islamisierungsbewegungen in den arabischen Ländern bildet der neuzeitliche Zerfall des muslimischen Superioritätsgefühls, d.h. die identitätsbedrohende Erfahrung, daß die islamisch-arabische Kulturregion ihre ehemalige Dominanzposition im Weltmaßstab eingebüßt hat. Während der mittelalterlichen Glanzperiode schien nämlich die islamische Selbstbespiegelung, die beste von Gott "erschaffene Gemeinschaft unter der Menschheit" zu sein (Tibi 1992, S.155), ihre Entsprechung in der Wirklichkeit zu finden. Das galt nicht nur für die geistig-kulturelle Blüte im 8. bis 12. Jahrhundert (vgl. Wöhler z.B. Wöhler 1990, S.29-57), sondern auch für die militärisch gestützte Machtstellung des osmanischen Imperiums, das der von 1520 bis 1566 regierende Suleiman II. Kanuni ("der Prächtige") auf den Zenit seiner Größe und Herrlichkeit führte. Seit der Niederlage der osmanisch-türkischen Armeen, die mit den Verträgen von Karlowitz (1699) und Passorowitz (1718) besiegelt wurde, setzte dann allerdings ein schmerzlicher Wahrnehmungsprozeß ein, in dessen Spannweite nicht die eigene, sondern die fremde ("westlich-abendländische") Kultur in Gestalt von "moderner" (Waffen-)Technik und Wissenschaft, kriegerisch-kolonialistischer Durchsetzungs- und Behauptungsfähigkeit, ökonomische Potenz etc. als überlegen und übermächtig erfahren wurde und wird. In neuerer Zeit ist diese durch die Realität erzwungene "Verkehrung" des arabisch-islamischen Überlegenheitsgefühls in eine selbstwertverletzende Unterlegenheitserfahrung insbesondere durch die arabischeNiederlage im israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg 1967 eher noch vertieft worden.

Durch diese traumatische Zäsur wurden zentrale Visionen zerstört bzw. demaskiert, die bis dato als hegemoniale Leitkonzepte fungiert hatten; so die Ideale der arabischen Einheit, des arabischen Sozialismus, der Befreiung Palästinas sowie der selbsttragenden ökonomischen Entwicklung. Als Reaktion auf die damit hervorgerufene "Glaubwürdigkeitskrise" und zwecks Wahrung ihrer angeschlagenen Machtpositionen sahen sich eine Reihe der diskreditierten arabischen Regime zu Installierung, Förderung und "Steuerung" islamistischer Bewegungen veranlaßt. So war eine der unmittelbar sichtbarsten Folgen des verlorenen Krieges, wie Al-Azm (1992, S.246f.) feststellt, "das allzu konvenierende Erwachen von Religiosität auf seiten der arabischen Herrscher. Noch während die arabischen Armeen im Feld standen, wurde mir das enorme Ausmaß dessen, was passiert war, klar: als nämlich jede amtliche arabische Radiostation sich subito islamisierte, indem rund um die Uhr Frömmigkeit und Unterwerfung unter den Willen Allahs gepredigt wurde." Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Tatsache, daß der Westen - insbesondere in Gestalt der us-amerikanischen Finanzierung und Ausrüstung der fundamentalistischen afghanischen Moudjahidin - wesentlich zur Förderung des islamisch-fundamentalistischen Terrorismus beigetragen hat.

So haben sich in Peshwar (Pakistan) nicht nur afghanische Moudjahidin, sondern auch "islamische Fundamentalisten aus anderen Ländern als Freiwillige...ausbilden lassen. Man schätzt die Zahl der Araber unter ihnen auf 8000 bis 12000; sie stammen u.a. aus Algerien, Ägypten und dem früher palästinensischen Teil Jordaniens und führen heute, nach der Rückkehr in ihre Ursprungsländer, dort entsprechende Terroraktionen durch" (Tibi 1993, S.4).

Im vorliegenden Kontext ist es von besonderem Interesse, die spezifische Signatur der "Modere"-Rezeption im fundamentalistisch radikalisierten Diskurs des Islamismus genauer zu betrachten. Dabei springt als hervorstechender Charakterzug folgender Aspekt ins Auge: Die Überlegenheitserfahrung der "westlich-abendländischen" Kultur führt im orthodox-islamischen Bewußtseinshorizont nicht zu einer pauschal-eindimensionalen Negation, sondern zu einer selektiv-gespaltenen Bewertung der kapitalistischen "Moderne": Akzeptiert und adaptiert wird die wissenschaftlich-technische Modernität in Form von Waffen, Transport- und Kommunikationsmitteln, Produktions- und Informationstechnologie etc. als "nützliche" Machtinstrumente. Abgelehnt und "verdammt" werden hingegen die geistig-kulturellen Umwälzungen im Mensch-Welt-Verhältnis in Gestalt der Säkularisierung, der Überwindung des theozentrischen Weltbildes durch die anthropozentrische Weltsicht und der daraus hervorgehenden Selbstbewußtwerdung des Menschen als "freies" Gattungssubjekt und Individuum. D.h.: Der Islamismus behauptet sich als geistig-moralische Abwehr der rationalen "Entzauberung der Welt", die letztlich auf eine Erschütterung der traditionalen "Priesterherrschaft" samt ihrer patriarchalisch-klientelistischen Gefolgschaft hinausläuft. "Die Entzauberung der Welt soll rückgängig gemacht werden, um den Weg für den Glauben an die Autorität von Verkündung und Überlieferung und somit das sichere, einer Reflexion nicht mehr untergeordnete absolute Wissen zurückzuerobern" (Tibi 1992, S.158f.). "Entwestlichung des Wissens" bedeutet in diesem gegenaufklärerischen Code des Islamismus Ausmerzung von Kritik, Zweifel und reflektierender Be- und Hinterfragung von Autorität. Es kann deshalb auch nicht verwundern, daß die kapitalistische Selbstnegation der "Moderne" in Form von Profitlogik, Rekonstruktion klasenherrschaftlicher Beziehungsmuster und Neugestaltung von Entfremdung keine oder nur eine oberflächlich verzerrte Berücksichtigung findet.

Eine paradigmatische Umsetzung der selektiv-gespaltenen "Moderne"- Rezeption des Islamismus bietet das gesellschaftliche Beispiel Saudi-Arabiens. Hier verbindet sich importierter Luxus, modernste Technik und Kommunikation "mit absolutistischer Herrschaft beduinisch-feudalistischer Couleur, eine Partizipation der Bevölkerung ist nicht vorgesehen. Der Islam als Herrschaftsinstrument fördert religiöse Lesarten, die dogmatisch, intolerant und fremdenfeindlich sind; sie liefern den ideologisch-legitimatorischen Überbau repressiver Herrschaft. Autonomes Denken ist ebenso tabu wie ein 'humanistischer Katechismus', der Güte, und Toleranz lehrt...Der fundamentalistische Diskurs erscheint als ideales Ventil, um die Gläubigen von der mittelalterlichen, historisch obsoleten Oligarchie und ihrem obszönen Besitzdenken abzulenken" (Lüders 1992, S.136f.).

Der islamische Traditionalismus ist weder mit dem Fundamentalismus gleichzusetzen, noch entwickelt er sich zwangsläufig in eine fundamentalistische Richtung. Er beinhaltet nämlich, als spezifische Differenz, eine eher passiv-fatalistische Erwartungshaltung sowie einen ausgeprägten politischen Quietismus. Demgenüber erfordert fundamentalistische Transformation des islamischen Traditionalismus eine systematische Radikalisierung des überlieferten Bedeutungssystems sowieeine sich darauf gründende aktivistische Mobilisierung der traditionalistischen präformierten (milieutypischen) Anhängerschaft. Riesebrodt sieht die strenggläubigen Muslime mit einer komplexen gesellschaftlichen Anomie-Konstellation konfrontiert, die vier widersprüchliche Erfahrungsebenen aufweist und subjektiv als psychisch wirksame Orientierungskrise erlebt wird: "Anomie wird einmal erfahren als Zusammenbruch von gesellschaftlicher Ordnung, also als Chaos, zum anderen als gesellschaftliche Ungerechtigkeit, im Sinne einer (planvollen) Benachteiligung des traditionalistischen Milieus, zum dritten als Legitimationsverlust des Staates aufgrund seiner Unfähigkeit, Ordnung und Gerechtigkeit zu garantieren, und schließlich als Überfremdung von Staat und Gesellschaft" (Riesebrodt 1990, S.239).

Im Sinne des Konzepts der subjektiven Widerspruchverarbeitung (vgl. Krauss 1996) wäre demnach die fundamentalistische Ideologie als gesellschaftlich vorgeprägte Variante einer regressiv-aktivistischen Krisenbewältigung kulturspezifisch sozialisierter Individuen aufzufassen. Während demgenüber im traditionalistischen (Vertröstungs-)Diskurs die gesellschaftliche Krisenerfahrung "eher passiv hingenommen und auf den Messias und das Millenium gewartet wird, politisiert der Fundamentalismus das Theodizee-Problem" (ebenda, S.241). Die messianische Erwartung wird hier mit dem Postulat verknüpft, die satanischen Mächte zu bekämpfen. D.h. der orthodoxe Traditionalismus wird in einen militant-aktivistischen Anti-Modernismus (im Sinne der o.g. "selektiven Gespaltenheit") transformiert. "Erst in dieser Umdeutung des Theodizee-Problems vom quietistischen Warten auf Messias und Millenium in einen aktiven Kampf für die gerechte Ordnung und gegen die satanischen Mächte formiert sich der Fundamentalismus" (ebenda).

Die soziale ("interessenpolitische") Funktionalität der fundamentalistischen Ideologie tritt offen zu tage, wenn man die klassen- und geschlechterstrukturellen Auswirkungen der exogenen Modernisierung auf das "prämodern"-traditionale Sozialgefüge der islamisch-arabischen Gesellschaftsordnungen reflektiert. Der "von oben" seitens des Schah-Regimes im Iran oktroyierte "peripher-kapitalistische" Modernisierungsprozeß bedeutete beispielsweise eine nachhaltige Deprivilegierung des traditionellen Basarmilieus sowie einen damit untrennbar verknüpften Prestigeverlust seiner (binnenhierarchisch gegliederten) sozialen Träger: Groß- und Kleinhändler, Krämer, Handwerker, angestellte Gesellen und Verkäufer, Arbeiter und Lastenträger. "Die Vorbildlichkeit der Lebensführung des Basars, der traditionell als Hort der Frömmigkeit gilt, wird von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung nicht mehr anerkannt, demonstrativ mißachtet oder gar lächerlich gemacht. Alkoholkonsum, Glückspiel, Theater und Kinos, eine gewandelte Sexualmoral sowie ein abgrundtiefer Bruch mit traditionalistischen Vorstellungen über die gesellschaftliche Stellung der Frau demonstrieren dem Basarmilieu den Verlust seiner kulturellen Leitbildfunktion und Vorbildlichkeit" (ebenda, S.203f).

Die erodierende bzw. marginalisierende Wirkung des Modernisierungsprozesses auf das traditionalistische Milieu manifestiert sich z.B. in der Entwertung religiöser und der Aufwertung säkularer Ausbildung als aufstiegsrelevanter Ressource , was nicht nur soziale Differenzierungsprozesse stimuliert, sondern zugleich intergenerative Divergenzen und Konflikte auslöst. "Teile der jüngeren Generation suchen ihre berufliche Laufbahn außerhalb des Basars und viele von ihnen haben mit seinen traditionalistischen Wertvorstellungen gebrochen. Eine zentrale Erfahrungder Kleinhändler und Handwerker besteht somit im Generationenkonflikt" (ebenda, S.189). Ein weiterer zentraler Ausdruck des Modernisierungsprozesses, der die traditionalistischen Ordnungsvorstellungen intensiv erschüttert, ist die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. "In Algerien waren 1985 insgesamt 326.000 Frauen (ca. 8% der erwerbsfähigen weiblichen Bevölkerung) berufstätig, ca. 4 Mio. Frauen zwischen 16 und 64 Jahren waren dagegen nicht berufstätig. Von den berufstätigen Frauen waren 36,8% im Bildungsbereich, 20,3% im sonstigen öffentlichen Sektor engagiert. 50.000 waren als Hausangestellte tätig und 19.000 nahmen höhere Funktionen wahr...Dies verschärft die Konkurrenzangst gerade auch unter gebildeten Männern und ihre Anfälligkeit für den konservativen und islamistischen Geschlechterdiskurs" (Kreile 1992, S.21).

Die "Aufweichung" des traditionalistischen Geschlechterdiskurses, in dem die Rolle der Frau als untergeordnete Ehegattin und Mutter zum gottgewollten Dogma erhoben wird, ruft aufgrund seiner Zentralität im islamistischen Ordnungsmodell besonders aktiven und repressiven Widerstand hervor. "In diesem Punkt", so Riesebrodt (1990, S.211), "wird besonders deutlich, daß Fundamentalismus ganz wesentlich die Verteidigung einer patriarchalischen Ordnung und Sozialmoral darstellt."

In dem Maße, wie der Modernisierungsprozeß eine Defunktionalisierung religiöser Bildung und Rechtsprechung bedeutet, erschüttert er die soziale Stellung und die Zukunftsperspektive insbesondere der mittleren und niederen Geistlichkeit sowie des theologischen Nachwuchses. D.h. die Frustration von Aufstiegerwartungen und -ansprüchen verschärft den Radikalisierungsprozeß und sichert der fundamentalistischen Bewegung eine sprudelnde Rekrutierungsquelle.

Ökonomischer Bedeutungs- und sozialmoralischer Prestigeverlust der Basaris, Defunktionalisierung religiöser Bildung und Statuseinbuße ihrer geistlichen Träger sowie eine generelle Verunsicherung des traditionalen islamistischen Patriarchalismus sind demnach die wesentlichen Mobilisierungsursachen wohl nicht nur des iranisch-schiitischen Fundamentalismus. Zudem kann sich die Verbreitung der fundamentalistischen Ideologie auf die auch innerhalb der unteren Klassen und Schichten tief verwurzelte traditionelle Religiosität stützen und erweist sich in diesem sozialen Kontext als subjektiv bedeutsame Erklärungsfolie für zahlreiche gesellschaftliche Mißstände. "Auf engstem Raum hausende Slumbewohner, die unter Wassermangel leiden; Arbeiter, denen die Unpersönlichkeit moderner Arbeitsorganisation fremd ist; subalterne Angestellte, die der Arroganz von Vorgesetzten ausgesetzt sind; Studenten, deren Aufstiegshoffnungen und Idealismus in schlechtbezahlten, untergeordneten Positionen enden; junge Männer, die Probleme mit dem Wandel der Frauenrolle und Sexualmoral wie auch dem späten Heiratsalter haben; Frauen, die die sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder überfüllten Hörsälen leid sind; sie alle können in der fundamentalistischen Ideologie eine Artikulation ihrer Frustrationen finden" (Riesebrodt 1993, S.14f).

Was den fundamentalistischen Diskurs in den Augen der gläubigen Massen darüber hinaus attraktiv erscheinen läßt, ist die Umdeutung von Leidens- und Unterdrückungserfahrung bzw. die Restriktion subjektiver Entwicklungsinteressen in eine göttlich bestimmte Bewährungsprobe, die im Falle des individuellen Bestehens Aussicht auf soziale Anerkennung und göttliche Zuneigung verheißt. Auf diese Weise läßt sich irdisch erfahrene Not in Verbindung mit der Unterwerfung unter die religiös-ethischen Gesetze, also vermittels eines normativ einwandfreien Lebensstils, psychomoralisch und symbolisch in eine Tugend transformieren. D.h.: Die subjektive Übernahme islamistischer/fundamentalistischer Deutungsmuster ermöglicht eine "positive" Sinngebung im Rahmen restriktiver Lebensbedingungen. Entsprechend äußert sich eine islamistische Studentin: "Ich bin nicht gezwungen zu arbeiten. Im islamischen System werde ich nicht diffamiert, weil ich nicht arbeite, ich werde im Gegenteil höher bewertet" (zit. n. Kreile 1992, S.22).

Welche inhaltlichen Wesenszüge und Konstitutionsmerkmale kennzeichnen nun die fundamentalistische Ideologie?

Bezugnehmend auf den schiitischen Fundamentalismus unterscheidet Riesebrodt zwischen einer heilsgeschichtlichen und einer gesellschaftskritischen Dimension, die eine enge diskursive Verbindung aufweisen. So wird die aktuell konstatierte Krisensituation im heilsgeschichtlichen Horizont als dekadente Gegenwart gegenüber der idealen Ordnung der Vergangenheit sowie der eschatologisch-messianisch erwarteten Zukunft in ein sowohl wertendes als auch explikatives Verhältnis gesetzt. Die spezifisch-fundamentalistische Interpretationsleistung besteht nun darin, die Erlösung aus der aktuellen Not- und Verfallssituation im Sinne der Wiederherstellung der "idealen Ordnung" nicht einfach passiv zu ersehnen, sondern aktiv in Angriff zu nehmen und den Einzelnen darauf zu verpflichten.

Vor dem Hintergrund dieser zweidimensionalen Struktur lassen sich folgende fünf Grundmuster des islamisch-fundamentalistischen Denkens hervorheben:

1) Die gesellschaftliche Krisenrealität wird im Sinne eines extremen moralistischen Dualismus gedeutet, der obendrein mythologisch personalisiert wird. Die gesellschaftliche Krise und sozialen Antagonismen bezüglich Macht, Einkommen, Vorrechte und Prestige werden als Ausdruck von Struktuproblemen geleugnet und stattdessen als Kampf zwischen "Gut" und "Böse", zwischen Gott und Satan, Satan und Islam etc. interpretiert. "Es gibt auch kein Mittelding zwischen Gut und Böse, sondern lediglich diese beiden Pole. Wer nicht für den (fundamentalistischen) Islam Partei ergreift, wird als Gegner angesehen, als Verräter gebrandmarkt" (Riesebrodt 1990, S.170).

2) Das "Böse" und Satanische wird grundsätzlich als das "Fremde" externalisiert. D.h. die Krisen- bzw. Verfallsursache wird "xenophobisch" nach außen verlagert und fremden Mächten, Einflüssen, und Machenschaften zugeschrieben, "die sich zum teil einheimischer Helfershelfer bedienten. Die Fremdeinflüsse werden nicht etwa als Interessenpolitik westlicher oder östlicher Staaten oder der einheimischen Oberschicht und aufsteigenden Mittelschicht verstanden, sondern als ein dämonischer Anschlag auf den Islam mit dem Ziel seiner Vernichtung" (ebenda).

3) Die "satanische" Personalisierung und fremdenfeindliche Externalisierung der gesellschaftlichen Verfallsursache impliziert bereits die Selbstdeutung des Fundamentalismus als gottgewollter, frommer und rechtgläubiger Bewegung, die sich auf die internen religiösen und kulturellen Wurzeln stützt. Diese "nativistische" Rückbesinnung auf die islamische Kulturtradition in einer rigide-absolutistischen Auslegung begründet den Avantgardeanspruch der Fundamentalisten als Repräsentanten des göttlichen Prinzips gegenüber den fremden/satanischen Mächten.

4) Der islamisch-fundamentalistische Diskurs enthält ein ausgeprägtes Verschwörungsdenken, das sich bis zum Verschwörungswahn steigern kann und insbesondere antijüdische Züge trägt. Nach Ansicht des ägyptischen Fundamentalisten Sheik Sha'rawi, der lange Zeit in Saudi-Arabien gelebt hat, ist die vermeintliche "jüdische Troika" Darwin-Marx-Freud für die Misere der arabischen Gesellschaften verantwortlich (vgl. Lüders 1992, S.136). Auch Khomeinis Verschwörungtheorie weist einen markanten Antisemitismus auf (vgl. Riesebrodt 1990, S.171). Die Verschwörungsthese dient aber insbesondere auch der Stigmatisierung und Ausgrenzung innenpolitischer Gegner als "antiislamische Agenten", die das Geschäft der "internationalen Verschwörung der Modernisten gegen den Islam" unterstützten. So wird z.B. der 1930 in Syrien geborene Dichter Adonis, der als herausragender zeitgenössischer Dichter der arabischen Welt gilt, in einem fundamentalistischen Pamphlet als "der größte Satan der Moderne" gebrandmarkt. Der Vorwurf lautet: Adonis "scharte Gefährten um sich und verfaßte Dichtung 'gegen das kulturelle Erbe'. Glaubensabfall, Hetze und die Verspottung des Islam sei Anliegen Adonis', ferner predige er 'sexuelles Abweichlertum'. Adonis und seine Kumpane besorgen das Geschäft des Westens, indem sie versuchen, die Tradition zugunsten neuer Sichtweisen zu relativieren" (Lüders 1992, S.133f.).

5) Von zentraler Bedeutung für die fundamentalistische Weltanschauung ist ein rigider normativer Geschlechterdiskurs, der die Rolle von Mann und Frau naturalistisch kanonisiert. Auf ihre "natürliche" Bestimmung als Ehefrau, Hausfrau und Mutter zurückverwiesen, wird die Muslimin aus dem öffentlichen Raum weitgehend ausgegrenzt. Weibliche außerhäusliche (Lohn-)Arbeit in Büros, Fabriken, Schulen etc. wird nur in Ausnahmefällen und unter der Bedingung strikter geschlechtlicher Segregation für zulässig erklärt. Der Rechtfertigungsgrund für die rigide Geschlechtertrennung liegt in derangeblichen Gefährdung des Mannes durch die weibliche Sexualität, die ihn verwirre, kontraproduktiv aufreize und von der Erfüllung religiöser Pflichten bzw. generell von einem gottgefälligen Lebensstil abhalte. Während z.B Fatima Mernissi diesen Geschlechterdiskurs als "kulturspezifisch" verharmlost, sieht Riesebrodt (1990, S.172) darin "den typischen Eva-Mythos patriarchalisch geprägter Gesellschaften, demzufolge die Frau die mit nahezu magischen Kräften ausgestattete potentielle Verführerin des Mannes zur Sünde ist." Die Verschmelzung von antiemanzipatorischen, verschwörungstheoretischen und moralistisch-personalistischen Ideologemen im fundamentalistischen Diskurs wird deutlich in einer von der algerischen Frauenrechtlerin Chafia Djemanes geschilderten Hetzkampagne der FIS vor den Kommunalwahlen im Sommer 1990, als den "unislamischen" Frauen die Verantwortung für die gesellschaftlichen Mißstände zugeschrieben wurden: "Frauen sind schuld an der Arbeitslosigkeit, sie nehmen den Männern die Arbeitsplätze weg; Frauen sind schuld an der Verschlechterung des Bildungssystems, weil sie die Mehrzahl des Lehrkörpers stellen; Frauen sind schuld an der Zunahme der Kriminalität, weil sie nicht in der Lage sind, die Kinder richtig zu erziehen; Frauen sind am moralischen Zerfall des Landes schuld" (zit. n. Kreile 1992, S.21).

Als soziale Bewegung, die auf die regressive Perfektionierung und Radikalisierung eines kulturspezifischen Herrschaftssystems ausgerichtet ist, weist der islamische Fundamentalismus ausgeprägt totalitäre Zuge auf. Hervorstechend ist hier zunächst sein absolutistischer, d.h. transhistorische sowie transkulturelle Gültigkeit fordernder Geltungsanspruch. So besagt die Ende der 30er Jahre formulierte Doktrin der "Muslimbrüder" folgendes: "Der Islam ist ein vollständig auf sich selbst beruhendes, totales System, das auf dem Koran und der Sunna (dem Vorbild des Propheten Muhammad) basiert und zu jeder Zeit und an jedem Ort anwendbar ist" (Heine 1992, S.27).

Die Im Koran niedergelegte göttliche Offenbarung mit ihren kanonisierten Gesetzesvorschriften und Regeln fundiert somit einen universalen religiös-gesetzesethischen Monismus, der kulturellen, politischen und weltanschaulich-moralischen Pluralismus sowie Gewaltenteilung grundsätzlich ausschließt. Es wird explizit der Anspruch erhoben, "daß prinzipiell alle Beziehungen zwischen den Menschen auf koranischer Grundlage geregelt werden könnten" (Riesebrodt 1990, S.173). Gemäß diesem absoluten Geltungsanspruch wird als gesellschaftlich-politisches Ordnungsziel in Gestalt der "Islamischen Republik" eine "theokratische" Herrschaft des göttlichen Gesetzes anvisiert, das als allgemeinverbindliche Richtschnur dienen soll. Die islamischen Grundsätze werden somit zur exklusiven Strukturierungs- und Regulierungsgrundlage sämtlicher Gesellschaftsbereiche erhoben, der sich die vergesellschafteten Individuen ausnahmslos zu unterwerfen haben. Zwar existiert z.B. im Iran keinezentralistische Einheitspartei und es finden Wahlen und Volksbefragungen statt, aber hierbei handelt es sich um eine formale und untergeordnete Staffage im Rahmen der elitären Herrschaft der islamischen Rechtsgelehrten. "Da sie allein legitime Stellvertreter des verborgenen Imam seien und nur sie über das Wissen zur Interpretation des göttlichen Gesetzes verfügten, könnten auch nur sie entscheiden, welche weltlichen Gesetzesvorhaben mit dem göttlichen Gesetz vereinbar sind und welche Kandidaten für politische Ämter zugelassen werden dürfen. Insofern kann man hier...von einem hierokratisch kontrollierten Republikanismus mit plebiszitären Elementen (sprechen)" (ebenda, S.173f.). Kennzeichnend für den islamischen Fundamentalismus generell dürfte folgende Einstellung sein, die Faath/Mattes (1992, S.285) für die algerische FIS nachgewiesen haben: "Volkssouveränität" wird durch "Gottessouveränität" ersetzt.

Der fundamentalistischen Propaganda kommt der Umstand entgegen, daß es in der arabisch-islamischen Welt keine der "westlich-abendländischen" Säkularisierung und Aufklärung analoge Zäsur in der kulturhistorischen Entwicklung gegeben hat. Entsprechend verharrt hier der Subjektdiskurs weithin im Gehäuse des mittelalterlichen Welt- und Selbstverständnisses der (gläubigen) Menschen. Kernaspekt dieser "prämodernen" Subjektauffassung ist der kategoriale und reflexive Verzicht auf die Wahrnehmung einer eigenständigen, von Gott/Allah unabhängigen Gestaltungs- und Deutungsfähigkeit gegenüber der äußeren Welt und dem eigenen Selbst. Lebenssinn und Gestaltungsmacht erfährt der indivuduelle Mensch nur in Bezug auf und vermittelt über Gott sowie als Mitglied der islamischen Glaubensgemeinschaft, der umma. Der "Eigenwert" des Individuums ist dem Kollektiv/umma grundsätzlich untergeordnet und zweitrangig.

"Der Koran", so der islamische Jurist Cherif al-Bassiouni, "hebt die Pflichten, nicht die Rechte hervor; er insistiert darauf, daß individuelle Obligationen zu erfüllen sind, ehe das Individuum Rechte für sich selbst in Anspruch nehmen kann...Im Gegensatz zu den westlich orientierten...Aufassungen von einer Trennung zwischen Individuum und Staat lassen islamische Konzepte solche Unterscheidungen nicht zu...Deshalb besteht kein zwingender Bedarf, individuelle Rechte als eine Gegenposition zum Staat zu konzipieren" (zit. n. Tibi 1992, S.147). Die Konzeption der Menschenrechte wird vor diesem geistig-kulturellen Hintergrund im fundamentalistischen Diskurs zurückgewiesen und , wie von Khomeini, als "Werk Satans und der Zionisten" radikal desavouiert. Demgenüber wird das gläubige Individuum als Werkzeug Gottes gesehen, dem eigener Wille und Einsicht in das Weltgeschehen nur in dem Maße gegeben sind, wie es die ewige Gültigkeit der göttlichen Offenbarung im Koran anerkennt.

Allerdings ist in der fundamentalistischen Subjektauffassung der Einzelne nicht lediglich fatalistisch bestimmt, sondern es wird ihm die (zweckfunktionale) Möglichkeit aktivistischer Selbstaufwertung eingeräumt: in Form der Märtyrerrolle als opferbereiter Kämpfer im "Heiligen Krieg". So wird den palästinensischen Selbstmordattentätern das Paradies, die posthume Bewunderung ihrer Glaubensgenossen sowie finanzielle Unterstützung ihrer Angehörigen versprochen. "Dem einzelnen Muslim wird hierdurch der direkte Zugriff auf eine als absolut verstandene Geschichte gewährt, der es ihm ermöglicht, sich selbst als handelndes Subjekt, als Vollstrecker des historischen Willens Gottes zu begreifen" (Schulze 1992, S.116).

Die totalitäre Qualität des islamischen Fundamentalismus tritt nicht nur als physischer Terrorismus gegenüber diskursiv stigmatisierten äußeren Feinden, sondern auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene in Gestalt eines repressiv-patriarchalischen Moralismus ("ethischer" Terrorismus) in Erscheinung. Im Zentrum steht hier der Kampf gegen die vielfältigen Erscheinungsformen der "Veröffentlichung" weiblcher Sexualität in Form von "moderner" Kleidung, Koedukation, Schwimmbädern, Sportveranstaltungen, Theater, Kino, Discotheken, kurzum: gegen sämtliche Tendenzen der Aufhebung von Geschlechtertrennung. In das Visier der Fundamentalisten gerät somit das gesamte Spektum der "modernen" ("satanischen") Freizeitkultur samt ihrer kapitalismustypischen warenästhetischen Überspitzungen (der weibliche und männliche Körper als Werbeträger) und sittlichen Verwerfungen (Pornographie, Prostitution, Drogen). In Abhebung von dieser als anomisch erlebten, in ihren Übertreibungen propagandistisch verabsolutierten und als "Macht des Bösen" verteufelten "modernen" Freizeitgestaltung wird der religiös-islamische Lebensstil mit seinen integralen Ritualen (Gebete, Wallfahrten zu Heiligengräbern, Pilgerreisen, Fastenzeiten etc.) als "einzig wahre" Alternative gepriesen und - wo machtpolitisch möglich als absolute Norm oktroyiert. Die algerische FIS zum Beispiel beansprucht in ihrem Parteiprogramm eine "Politik der absoluten Wahrheit" in Gottes Auftrag umzusetzen. Als zentrale Sektoren zur Förderung der islamischen Moral werden von ihr die "Entmodernisierung" des Frauenverhaltens, die Schule, die Massenmedien und der kulturelle Bereich angesehen. In der Praxis bedeutet dieses fundamentalistische Credo Salz-Säure-Anschläge gegen nichtverschleierte Studentinnen, öffentliche Hinrichtungen Andersdenkender und die Ermordung von ausländischen Personen, Intellektuellen, Frauenrechtlerinnen, Journalisten und Künstlern. Laut Presseberichten sind 1995 in Algerien 605 Frauen und Mädchen bei Terroranschlägen ums Leben gekommen.

Während im totalitär-faschistischen Diskurs das "marxistische Klassenkampf-Denken" vom Standpunkt einer rassistisch und nationalistisch gestützten "völkischen" Harmonielehre verteufelt wird, desartikuliert der totalitär-fundamentalistische Diskurs das "moderne" Klassen- und Konfliktdenken im Sinne einer religiösen Integrationsdogmatik. In diesem Schema werden antagonistische Interessenwidersprüche von kapitalistischen Privateigentümern und Lohnarbeitern bzw. zwischen Arm und Reich geleugnet bzw. auf der Grundlage einer patriarchalisch-paternalistischen Wohltätigkeits- und Brüderlichkeitsideologie entwichtigt. An die Stelle gesellschaftsstrukturell verankerter Interessenwidersprüche undkonflikte tritt der Gegensatz zwischen Gläubigen und Ungläubigen bzw. zwischen denen, die die göttlichen Gebote beachten und jenen, die sie mißachten. "Die modernen Großbetriebe und die Gewerkschaften, big business und big labor, wie die moderne staatliche Bürokratie werden als religiös-moralisch verwerflich angesehen. Das ökonomische Ideal des Fundamentalismus ist der personalistisch-patriarchalisch organisierte Kleinbetrieb als Grundbaustein einer religiös-moralisch regulierten Wirtschaft" (Riesebrodt 1990, S.218).

Weit davon entfernt, die kapitalistischen Triebkräfte des "westlichen" Expansionismus zu durchschauen und die Mechanismen der postkolonialen Überfremdung zu reflektieren, verharrt der islamische Fundamentalismus in einer rückwärtsgewandten, irrationalen und undifferenzierten "Moderne"-Kritik. Sein totalitär-anmaßendes Credo und seine terroristische Praxis demaskieren ihn darüber hinaus als eine antihumanistisch-herrschaftsverteidigende Kraft, die nicht hinter dem Rauchvorhang kulturrelativistischer Verharmlosungsideologien verschanzt werden kann. Der Tatbestand, daß prokapitalistisch-"westliche" Politiker und Meinungsmacher aus Versatzstücken fundamentalistischer Umtriebe ein pauschales (weil strategisch funktionales) "Feindbild Islam" konstruieren, sollte im Umkehrschluß nicht dazu verführen, den "Feind des Feindes" schönfärberisch zu exkulpieren und in seiner reaktionären Wesensart zu verkennen. Richtungsweisend scheint mir die Aufforderung progressiver arabischer Intellektueller zu sein, die Dekonstruktion der vorgegebenen "prämodern"-traditionalistischen Herrschaftsstrukturen vermittels einer an die Wurzel gehenden Säkularisierung einzuleiten. Ohne eineeinschneidende Säkularisierung - das hat die jüngere Geschichte der islamisch-arabischen Gesellschaften gezeigt -, verlaufen "von oben", d.h. staatsbürokratisch implementierte "Modernisierungsprogramme" (siehe z.B. Algerien und Ägypten) im Sande. Not-wendig ist eine "arabische Katharsis", wie sie Adonis (1992, S.205) umrissen hat:

"Das Gebot der Stunde ist der radikale Wandel der Mentalitäten, damit die offenbarte Religion ihre Funktion als ein alles beherrschender Bezugsrahmen verliert und ersetzt wird von Erfahrbarkeit und Vernunft. So wird sich die Wahrnehmung der Welt verändern und die Trennung von Kultur und Macht möglich. Und der Mensch wird das Recht haben, nachzudenken und frei zu reden, ohne jede Einmischung seitens der Macht. Wenn dieser Zustand erreicht ist , dann wird es in der arabischen Gesellschaft wirkliche Demokratie geben, eine wahrhaft demokratische Kultur."



© Hartmut Krauss, Osnabrück 1996





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* 1. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckige Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt" (MEW 4, S.464f.).

* "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckige Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt" (MEW 4, S.464f.).

* Dieser Bruch wird von den Nazis nicht initiiert, sondern lediglich "zugespitzt" bzw. "überboten". Als Faktum der bürgerlichen "Ideengeschichte" liegt er längst vor. Maßgebliche Wegbereiter und Vollstrecker in diesem Prozeß der geistig-weltanschaulichen Enthumanisierung des Bürgertums sind die thermidorianische Bourgeoisie, die Romantik (vgl. Tönnies 1995, S.18-25), insbesondere Nietzsches Philosophie der Entfesselung des Herrenmenschen (vgl. Krauss 1996), die imperialistischen Ideologien des Rassismus und Chauvinismus sowie speziell in Deutschland die geistige Assimilierung der aristoratisch-monarchistischen Reaktion durch die wilhelminische Bourgeoisie.

* "Nur wer leistungsbereit und durchsetzungsfähig ist, kann 'seine' Chance im gesellschaftlichen Positionskampf wahren. Durch die soziale Prägekraft der Leistungsorientierung konstituiert sich zwangsläufig eine gesteigerte Bereitschaft zur Identifikation mit den herrschenden Lebensverhältnissen. Nach Emnid-Daten aus dem Jahre 1995 befürworten fast zwei Drittel der Westdeutschen (67 Prozent) ein Gesellschaftssystem, 'in dem der Einzelne die Chance hat, es weiter zu bringen als die meisten, aber auch das Risiko hat, hinter den meisten zurückzubleiben'" (Seppmann 1995, S.20).

* "So sind etwa Denkweisen mit Personalisierungen von Ursachen, oberflächlich analogisierenden Wenn-Dann-Verknüpfungen, magischen Vorstellungen und Bewältigungspraktiken, wie für die 'Primitiven' charakteristisch, auch in der bürgerlichen Gesellschaft weit verbreitet, und zwar nicht nur in religiösen Erscheinungen, sondern im täglichen Leben, wobei Phämomene wie Glauben an Hexen und Zauberei, Horoskope, Wunderheilungen durch magische Kraftträger etc. nur Zuspitzungen viel allgemeinerer kognitiver Verarbeitungsweisen darstellen. Auch die Naturalisierung der gesellschaftlich bedingten Beschaffenheiten und Unterschiede von Menschen, die Umdeutung von gesellschaftlichen Verhältnissen in Naturverhältnisse, wie wir sie als kennzeichnend für Denkweisen der antiken Klassengesellschaften dargestellt haben, sind in der bürgerlichen Gesellschaft immer noch quasi der Normalfall der sozialen Kognition" (Holzkamp-Osterkamp 1977, S.303).

* Ein aktuelles Beispiel mag die abstrakt-formalistische, im Kern amoralische "Einstellung" bürokratischer Funktionsträger verdeutlichen: Die Vorsitzende der Ausländerkommission des niedersächsischen Landtags, Hulle Hartwig (SPD), schilderte anläßlich der Übergabe eines Tätigkeitsberichts das Schicksal "einer aus Bosnien geflüchteten Frau, die vergewaltigt und derart mißhandelt worden war, daß sie keine Zähne mehr hat. Deutsche Behörden hätten der Frau die Finanzierung eines Gebisses verweigert und ihr statt dessen einen Pürierstab gegeben, damit sie ihre Speisen zermahlen könne. In einem anderen Fall hätten deutsche Bürger Geld für eine Prothese eines beinamputierten Flüchtlings gesammelt. Behörden verweigerten allerdings das Geld für eine Operation am Beinstumpf, die notwendig ist, um überhaupt eine Prothese anpassen zu können. In beiden Fällen hätten sich die Sachbearbeiter im Rahmen der Gesetze bewegt, aber unmenschlich gehandelt, sagte Hartwig." Aufschlußreich ist in diesem Kontext auch folgende Reaktion: "Nach Angaben von CDU-Fraktionssprecher Michael Rauscher verurteilte die Union...die 'Assoziationen mit der finsteren Nazivergangenheit', von denen Hartwig in Zusammenhang mit der Ayslpolitik gesprochen hatte." (Neue Osnabrücker Zeitung vom 31.1.1996, S.7) Hier kommt eine systemapologetische Grundeinstellung zum Ausdruck, die den nazistischen Faschismus als "außergewöhnlichen Zivilisationsbruch" bzw. "Betriebsunfall der Geschichte" mystifiziert, indem sie den genetisch-strukturellen Zusammenhang zur kapitalistischen Moderne bestreitet und damit blind macht für die Wahrnehmung sich reaktivierender "totalitärer" Wirkungsfaktoren in der Gegenwart.

* Auf eine weitere "bonarpartistische" Lösung hat Gramsci (1967, S.333) aufmerksam gemacht: "Findet die Krise nicht diese organische Lösung, sondern gipfelt in der Berufung eines charismatischen Führers, so zeigt sich damit ein statisches Gleichgewicht an (dessen Faktoren disparat sein können, worin aber die Unreife der progressiven Kräfte überwiegt); keine Gruppe, weder die konservative noch die progressive, hat die Macht zum Sieg und auch die konservative Gruppe hat einen Herrn nötig." Vgl. auch Thalheimer 1930 in Kühnl (Hg.) 1974, S.14-29.

* Zu Nietzsches "Philosophie des entfesselten Herrenmenschen" vgl. meine Skizze in Krauss 1996. Zur Bedeutung Nietzsches für die Nazi-Philosophie vgl. Zapata Galindo 1995. . Ein Beispiel hierfür ist der "Alldeutsche Verband" (1891-1939), das ideologische "Führungszentrum der reaktionärsten und aggressivsten Gruppen des deutschen Monopolkapitals" (Petzhold 1983, S.11).

* In personaler Form tritt dieser Unterschied im Kontrast zwischen dem "fanatischen Bewegungsaktivisten" und dem "unterwerfungsbereiten Mitläufer" in Erscheinung. Für das "Funktionieren" des totalitären Systems sind beide "Typen" unentbehrlich.

* Dieser Widerspruch basiert auf einer gegensätzlichen Anforderung an die menschliche Subjektivität: Einerseits erfordert der kapitalistische Arbeits-und Verwertungsprozeß die psychischen Eigenschaftsmerkmale des "entsagenden", disziplinierten, "selbstbeherrschten" Asketen; anderseits provoziert und modelliert das an der Mehrwertrealisierung seiner Produkte interessierte Kapital in der Zirkulationssphäre den konsumistisch-libertären Hedonisten. "Die Reichweite gesellschaftlich statthafter und wünschenswerter Befriedigung nimmt erheblich zu; aber auf dem Wege dieser Befriedigung wird das Lustprinzip reduziert - seiner Ansprüche beraubt, die mit der bestehenden Gesellschaft unvereinbar sind. Derart angepaßt, erzeugt Lust Unterwerfung" (Marcuse 1970, S.95).

* Die Erhebung der deutschen Bauern ist mit der vorangehenden städtebürgerlichen Reformationsbewegung organisch verbunden, wird durch diese ideologisch und politisch vorbereitet, wobei dem Prozeß der Herausbildung der revolutionären "Volksreformation" Thomas Müntzers eine entscheidende Rolle zukommt. Insofern bildet der deutsche Bauernkrieg den Abschluß und Höhepunkt eines gesamtrevolutionären Prozesses, der m.E. zutreffend als "deutsche frühbürgerliche Revolution" bestimmt worden ist. Vgl. exemplarisch: Laube u.a. 1982.

* Im Römerbrief 13 des Paulus, Vers 1 und 2 findet Luther die Legitimationsquelle für seine Gehorsamslehre: "1. Jedermann sei unthertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. 2. Wer sich nun wider die Obrigkeit setzet, der widerstrebet Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urtheil empfangen."

* "Durch den Krieg verwüstet, einer Zentralgewalt faktisch beraubt, von Fürsten beherrscht, deren politische Interessen und deren Konfession auseinandergingen und die nur durch das Interesse zusammengehalten wurden, die Volksmassen nach Kräften auszuplündern, war Deutschland für 'zweihundert Jahre aus der Reihe der politisch tätigen Nationen Europas gestrichen'" (Streisand 1972, S.88).

* "Im Herzogtum Preußen lagen im Jahre 1683 noch etwa 45 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche brach, in Bayern um 1700 etwa ein Drittel, und in Schleswig und Holstein waren zum gleichen Zeitpunkt ein Drittel bis die Hälfte der Bauernwirtschaften nicht besetzt" (Autorengruppe: Deutsche Geschichte Bd. 3, S.331).

* "Bürgertum und Kleinbürgertum sind von den Höfen ökonomisch viel abhängiger als sonst in Westeuropa, und es bildet sich darum bei ihnen ein Servilismus, Kleinlichkeit, Niedrigkeit und Miserabilität, aus, desgleichen man sonst im damaligen Europa kaum finden kann" (Lukács 1989, S.241).

* Kofler (1992, S.169) spricht hier zutreffend von "Duckmäuserei verbunden mit Neigung zur 'heldischen' Haltung".

* "Das spontane Wachsen der kapitalistischen Produktion konnten die feudalen Überreste auch in Deutschland nur verlangsamen, nicht verhindern...Aber diese spontane Entwicklung des Kapitalismus entsteht in Deutschland nicht in der Manufakturperiode wie in England oder Frankreich, sondern im Zeitalter des wirklich modernen Kapitalismus" (Lukács 1989, S.250).

* "Die jährlichen Zuwachsraten in der Industrie betragen in den siebziger Jahren 4,1% und in den achtziger Jahren 6,4%. Die deutsche Industrie überholt bis 1914 sowohl die französische als auch die englische und nimmt schließlich den zweiten Platz in der Welt hinter den USA ein. Mit einer Bevölkerung von 66,9 Mio im Jahre 1913 steht Deutschland nach Rußland (169,4, davon 136,2 in Europa) auf dem zweiten Platz in Europa" (Kossok 1986, S.387).

* Selbstredend gilt Nietzsches Haß insbesondere der erstarkenden zeitgenössischen Arbeiterbewegung: "Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben - die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren..." (Nietzsche 1966, Bd.2, S.1228). Die "modernen Ideen" haben nach Nietzsche eine "Verzärtelung" heraufbeschworen, da durch sie überhaupt erst eine Empfindsamkeit für soziale Not und Unterdrückung bewirkt worden sei. "Der Sozialismus - als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, d.h. der Oberflächlichen, Neidischen und Dreiviertels-Schauspieler - ist in der Tat die Schlußfolgerung der 'modernen Ideen'..." (Nietzsche 1966, Bd.3, S.469f.). Allerdings sieht Nietzsche in den Großfinanziers wobei er vor allem an reiche Juden dachte - die stabilste konservative Macht seiner Zeit. (Vgl. Naake 1989, S.89.) . Das wesentliche (epochenspezifische) Charakteristikum des deutschen Imperialismus ist die gleichzeitige Wirksamkeit und Verflechtung einer monopolkapitalistischen dominierten "modernen" Ökonomie (mit den ihr innewohnenden expansiven Tendenzen) und einer aristokratisch-militaristisch konstituierten ("prämodernen") Staatsmacht und Herrschaftskultur. Die daraus hervorgehende reaktionäre "Synergie" bildet den allgemeinen nationalspezifischen Nährboden für die Generierung einer durchsetzungsfähigen totalitär-faschistischen Bewegung.

* "In der allgemeinen Atmosphäre der Dekadenz und der 'Verpreußung' stand das Proletariat zu isoliert da, um der schleichenden Krankheit der deutschen Gesellschaft, dem aus der undemokratischen Geschichte Deutschlands geborenen disziplinären Devotismus, völlig zu entgehen" (Kofler 1992, S.176).

* Die Aufschwungphase zwischen 1896 und 1913 basierte auf einer fatalen Verschränkung von miltaristisch-expansionistischen Zielen, ökonomischen Interessen und politischen Auswirkungen. So ermöglichte der seit Ende der 90er Jahre in Angriff genommene Flottenbau eine langfristig abgesicherte profitable Kapitalanlage für das schwerindustrielle Monopolkapital. Gleichzeitig wurde damit ein erfolgversprechendes miltitärisches Instrumentarium zu kriegerischen Durchsetzung imperialistischer Machtinteressen geschaffen. Dieser aufrüstungspolitisch gestüzte Aufschwung wiederum fundierte die Konsolidierung und Verbreiterung reformistischer Strömungen.

* Die feigsten, widerstandsunfähigsten Menschen werden unerbittlich, sobald sie die absolute elterliche Autorität geltend machen können. Der Mißbrauch derselben ist gleichsam ein roher Ersatz für die viele Unterwürfigkeit und Abhängigkeit, denen sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft mit oder wider Willen unterwerfen" (Marx, zit.n. Horkheimer 1977, S.228).

* So beschreibt Ernst Jünger die triumphierende Rückkehr in die eigenen Schützengräben: "Unser Aufzug, bei dem sich das Winseln der Gefangenen mit unserem Jubeln und Lachen vermischte, hatte etwas Urkriegerisches und Barbarisches" (zit.n. Elias 19994, S.275).

* Eine Reihe führender Nazi-Funktionäre wie z.B. der spätere Kommandant von Auschwitz, Rudolf Heß oder Martin Bormann begannen ihre Karriere als Fememörder in den Freikorps und militärischen Geheimbünden. In seinem autobiographischen Bericht schreibt Höß: "Die Angehörigen dieser Freikorps setzten sich zusammen aus Offizieren und Soldaten, die, aus dem Weltkrieg zurückgekommen, den Anschluß an das bürgerliche Leben nicht mehr finden konnten, aus Abenteurern,...,aus Arbeitslosen...und aus jungen begeisterten Freiwilligen...Sie waren alle, ausnahmslos, auf die Person des Führers ihres Freikorps eingeschworen" (zit.n. Hörster-Philipps 1981, S.42).

* Auschwitz "war auch eine sachlich-nüchterne Ausweitung des modernen Fabriksystems. Statt Güter zu produzieren, wurden hier aus dem Rohstoff Mensch Leichen produziert, die man in Einheiten pro Tag säuberlich in Schaubildern von festhalten konnte...Über das weitverzweigte europäische Eisenbahnnetz wurde der neuartige Rohstoff herangeschafft wie normales Frachtgut. In den Gaskammern starben die Opfer im Blausäuregas der weltweit führenden Chemieindustrie. Ingenieure entwarfen die Krematorien; die Bürokratie arbeitete mit einem Elan und einer Effizienz, um die rückständige Länder sie hätten beneiden können" (Feingold; zit.n. Welzer 1993, S.364).

* "Wenn man einen Sozialcharakter der ersten Drittels dieses Jahrhunderts zu konzipieren versucht, dann muß man sich vergegenwärtigen, welche Rolle die jeweils neuesten Errungenschaften der Technik, der Autorennen, der Atlantiküberquerungen, die Hochhäuser und Brückenkonstruktionen, Geschwindigkeit, Stromlinie, technische Eleganz und Effizienz in den Wir-Idealen der Industriegesellschaften spielen - die Weltausstellungen führten die größten Ingenieurleistungen der Nationen vor und die Helden der zwanziger und dreißiger Jahre hießen eben nicht nur v. Richthofen, sondern Lindbergh, Rosemeyer und Carraciola" (Welzer 1993, S.364f.).

* Schon ein kritisch-marxistischer Zeitzeuge hatte erkannt, "daß sich die politischen Fehler der KPD im wesentlichen zurückführen lassen auf mechanischen Ökonomismus, d.h. die Aufassung, daß sich die ökonomischen Verhältnisse direkt und mechanisch in Ideologie umsetzen. Dieser mechanische Ökonomismus verbindet sich aber stets mit einem romantischen Psychologismus, d.h. dem auf Selbsttäuschung beruhenden Hineintragen und Hineinsehen der Gedanken, Gefühle und Wünsche der Vorhut in die Beurteilung der Massenstimmung" (Teschitz 1970, S.203).

* Einen Tag nach Hitlers zitierter Rede, am 2.Mai 1933, wurden die Gewerkschaftshäuser von SA und SS besetzt und zerstört, die Gewerschaftsfunktionäre verhaftet, das Gewerkschaftsvermögen eingezogen und die Gewerkschaften verboten.

* "Er ist Anwärter auf den Status des obersten Organisators des kapitalistischen Widerstands gegen die sozialistische Revolution" (Projekt Ideologie-Theorie 1980, S.60).

* Daraus ergeben sich an die Wurzel gehende moraltheoretische Schlußfolgerungen: (1) Die menschliche Fähigkeit, Gut und Böse unterscheiden zu können wird nicht kausal durch die Gesellschaft induziert, sondern von Baumann direkt beim Individuum verankert: Sie gehört "zur Ausstattung des Menschen wie seine biologische Konstitution, seine Triebe und physiologischen Bedürfnisse" (S.193). (2) Die Gesellschaft erzeugt nicht, sondern konditioniert die individuelle moralische Grundkompetenz: "Der Sozialisationsprozeß dient der Manipulation der moralischen Fähigkeit - nicht ihrer Erzeugung" (ebenda). (3) Implementiert ist damit eine konstitutive moralische Resitenzfähigkeit des Individuums: "Menschliches Verhalten kann, selbst wenn es von der betreffenden Gruppe - ja von allen gesellschaftlichen Gruppen - verurteilt wird, zutiefst moralisch sein; umgekehrt kann gesellschaftlich erwünschtes Verhalten, selbst wenn darüber Konsens herrscht, unmoralisch sein" (192).

* Überhaupt läßt sich gemäß der hier skizzierten Konzeption der ethische Grundwiderspruch der kapitalistischen "Moderne" als gleichbleibendes "moralisches Sehvermögen" bei zunehmender Reichweite der transsensualen menschlichen Handlungsfolgen fassen.

* Die Konstruktion moderner Distanzwaffen suspendiert den Kampf "Mann gegen Mann" bzw. das "Töten mit bloßen Händen" und potenziert damit zugleich die moralische Enthemmung. "Philipp Caputo nennt das moderne Kriegsethos eine 'Sache von Entfernung und Technologie. Wer mit modernen Waffen auf große Entfernung tötet, braucht sich nichts vorzuwerfen" (zit. n. Baumann 1992, S.208).

* Im Gegensatz zum Aufklärungsdiskurs spekuliert der faschistisch synthetisierte und popularisierte "Diskurs des Bösen" auf die in der dialektischen Natur des Menschen angelegte negative (aufklärungsresistente) Potentialität: "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leistung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen" (Kant 1968, S.35)

* "Stadtebürgerliche Patrizier als modellsetzende Schichten begründen eine merklich andere Tradition des Verhaltens und der Wertungen als ein herrschender Militäradel mit bürgerlichen Spitzengruppen, die sich an ihm ausrichten" (Elias 1989, S.19). So war in Holland die politische Kultur wesentlich durch Verhandlungen und Kompromisse geprägt und "ging von der Stadt auf den Staat über. In Deutschland hingegen überwucherten auf verschiedenen Ebenen militärische Modelle des Befehlens und Gehorchens die städtischen Modelle des Verhandelns und Überredens" (ebenda).

* Das Risorgimento ist jener Zeitabschnitt der italienischen Geschichte, in dem in einem langwierigen Prozeß infolge mehrerer Revolutionen (1820/21, 1831, 1848/49, 1859/60) der Übergang von der spätfeudalen zur bürgerlichen Gesellschaft erfolgte. Dieser gesellschaftsstrukturelle Übergangsprozeß war zugleich unlöslich verkünpft mit a) der Befreiung Italiens von der österreichischen Fremdherrschaft; b) der Überwindung des Papsttums als weltlicher Herrschaft und c) der Etablierung eines einheitlichen Nationalstaates. Grundlegendes Charakteristikum des Risorgimento ist folglich die enge Durchdringung und Wechselwirkung von sozialer und nationaler Frage, während im zeitgenössischen Bewußtsein der soziale Aspekt weitgehend ausgeblendet und der nationale tendenziell verabsolutiert wurde.

* "Der Große Rat des Faschismus (Gran Consiglio) war...eine offensichtliche Nachahmung des sogenannten Heiligen Kollegiums, der italienische Faschismus überhaupt...nach dem Muster der Katholischen Aktion aufgebaut, von Pius XI. 1922 gegründet, auch die Nachfolge des Duce ähnlich geregelt wie die des Papstes" (Deschner 1982, S.327).

* Der Pro-Faschismus der evangelischen Kirche soll hier nicht veschwiegen werden: Die mit einer halben Million Mitgliedern größte evangelische Massenorganisation, der "Evangelische Bund zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen", war schon 1924 ins faschistische Lager übergelaufen. In der Predigt des evangelischen Bischofs Dibelius bei der Eröffnung des Reichstags am 21.3. 1933 wird in entlarvender Deutlichkeit die obrigkeitsfromme Tradition des lutherischen Protestantismus als Legitimationsfolie für das Bekenntnis zum Naziregime bemüht: "Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, daß die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rüchsichtslos schaltet" (zit. n. Kühnl 1975, S.222). Die vollständige Angleichung der evangelischen Kirche an das faschistische System kommt z.B. im Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten zum Ausdruck. Darin heißt es: "Wer nicht arischer Abstammung oder mit einer Person nicht arischer Abstammung verheiratet ist, darf nicht als Geistlicher oder Beamter der allgemeinen kirchlichen Verwaltung berufen werden...Geistliche oder Beamte arischer Abstammung, die mit einer Person nichtarischer Abstammung die Ehe eingehen, sind zu entlassen. Wer als Person nichtarischer Abstammung zu gelten hat, bestimmt sich nach den Vorschriften der Reichsgesetze... Geistliche oder Beamte, die nach ihrer bisherigen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat und die Deutsche Evangelische Kirche eintreten, können in den Ruhestand versetzt werden" (ebenda, S.223).

* Am 5. Juni 1967 brach der Krieg an der israelisch-ägyptischen Grenze sowie an den israelischen Grenzen zu Jordanien, Syrien und dem Irak aus. Algerien, Jemen, Sudan und Kuwait erklärten Israel den Krieg. Die Israelis errangen die Luftherrschaft, besetzten den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel bis zum Suezkanal, den jordanischen Teil Jerusalems, das westliche Jordanien bis zum Jordan und drangen über die syrische Grenze vor.

* "Nach dem Krieg zeigte sich deutlicher als je zuvor, daß die selbsternannten Begründer, Verteidiger und Förderer des arabischen Sozialismus in realiter das Wachstum und die Entwicklung einer entstellten und parasitären Form des Kapitalismus vorantrieben" (Al-Azm 1992, S.248).

* Mit bezug auf Algerien stellt Leggewie (1992, S.1085) fest: "Nichts einzuwenden haben die Islamisten gegen die technologische Modernität und eine liberale Wirtschaft westlichen Musters; zum FIS-Anhang zählen viele Händler, kleine und mittlere Unternehmer und Angehörige der technisch-naturwissenschaftlichen Intelligenz."

* Der orthodox-religiöse Traditionalismus wird sowohl "von links" - vom islamischen Modernismus - als auch "von rechts" vom Fundamentalismus kritisiert. Der Modernismus sieht in ihm "Stagnation und Aberglauben und will einen Islam wiederherstellen, in dem Vernunft und Offenbarung versöhnt sind. Der Fundamentalismus steht Orthodoxie und Volksfrömmigkeit zwar auch ablehnend gegenüber, kritisiert an beiden aber vornehmlich ihren politischen Quietismus und ihre politische Laxheit" (Riesebrodt 1993, S.12).

* So fixiert Sayid al-Qutb, einer der Haupttheoretiker des islamischen Fundamentalismus: "Das Familiensystem und die Stellung zwischen den Geschlechtern bestimmen den Charakter einer Gesellschaft und zeigen, ob sie rückständig oder zivilisiert, unwissend oder islamisch ist" (zit. n. Kreile 1992, S.23).

* Mit dem Bedeutungsverlust religiöser Bildung "verliert die religiöse Laufbahn ihre Funktion, begabten jungen Leuten aus kleinen Verhältnissen den sozialen Aufstieg zu ermöglichen" (Riesebrodt 1992, S.186).

* "Der fundamentalistische Nativismus beruht jedoch allein auf religiösen Kriterien. Er enthält keinerlei Einschränkungen durch Kategorien, wie Klasse, Volk, ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit oder Rasse. Insofern unterscheidet er sich von säkularen rechtsradikalen Ideologien" (Riesebrodt 1990, S.170).

* Dort, wo die algerische FIS (Front Islamique du Salut) die Mehrheit in den Gemeindeparlamenten errungen hatte, "wurde auf eine strikte Trennung der Geschlechter in den Behörden und Schulen, aber auch am Strand geachtet. Beobachter erstaunte auch die Einrichtung eines 'islamischen' Marktes in einem Armenviertel in Algier, bei dem vor den Verkaufsständen Gitter aufgestellt wurden, die die weiblichen und männlichen Kunden voneinander trennen sollten" (Heine 1993, S.29).

* Die "Muslimbrüderschaft" war 1928 von dem Grundschullehrer Hasan al-Banna (1906-1949) in Ägypten gegründet worden. Sie strebte die Etablierung eines islamischen Staates an und bekämpfte die angebliche Säkularisierung der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens.

* Da nur die gelehrten islamischen Geistlichen zur angemessenen Interpretation und Weiterentwicklung der Scharia in der Lage seien, könnten auch nur sie die Herrschaft des göttlichen Gesetztes garantieren. "Dabei kommt es weniger darauf an, ob sie die Regierungsämter selbst bekleiden oder nicht. Wichtig ist allein, daß sie die Kontrolle darüber besitzen" (Riesebrodt 1990, S.166).

* Ich teile nachdrücklich die Auffassung von Fuad Zakariya (1992, S.240), "daß das, was man gemeinhin als Mittelalter bezeichnet, weitaus mehr ist als ein bestimmtes historisches Moment einer uns fremden Zivilisation. Es ist ein Geisteszustand, eben eine Mentalität, die sich in zahlreichen Gesellschaften findet, einschließlich der der heutigen islamischen. Wer sein Denken ausschließlich auf heilige Texte stützt, auf die Aussprüche frommer Vorfahren, und darin absolute Wahrheit vermutet, der offenbart eine mittelalterliche Mentalität, auch wenn die Gesellschaft als Ganzes an der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht. Diese Mentalität zu überwinden ist eine Aufgabe, die sich weder historisch noch geselllschaftlich überlebt, sondern, unter veränderten Vorzeichen, immer wieder neu anzugehen ist."

* In der somalischen Hauptstadt Mogadischu hat ein islamisches Gericht eine Gruppe von dreißig MusikerInnen, TänzerInnen und SängerInnen öffentlich auspeitschen lassen. "Jedes Mitglied der Künstlergruppe erhielt 20 Peitschenhiebe, weil das Ensemble sein Programm nicht von islamischen Zensoren hatte genehmigen lassen. Der Moslemführer Sharif Sheik Muhyadin sagte..., die Gruppe habe obzöne Tänze dargeboten. Dies sei ein Verstoß gegen das islamische Recht" (Neue Osnabrücker Zeitung vom 12. Januar 1996, S.8).


Fortsetzung Teil 2








 

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