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Beiträge zur Theorie  










Universalität und Politik

Referat in: Politica e storia in Cramsci, Protokolle des Internationalen Kongresses zur Gramsci-Forschung (Florenz, 9.-11. Dezember 1977), Bd. 1, Materialien, Rom, Editon Riuniti, 1977. Aus dem Italienischen übersetzt von Adria Lindt

1. In der Diskussion über das politische Vermächtnis Gramscis ist meines Erachtens eine vereinfachende und verkürzte Auffassung darüber aufgekommen, inwiefern eine Beziehung zwischen unserer Zeit und Gramsci besteht.

In den polemischen Auseinandersetzungen über die Politik der KPI ist oft - und nicht ohne Grund - darauf hingewiesen worden, daß viele politische Positionen der Partei Gramscis wohl kaum tatsächlich und direkt auf das politische Denken Gramscis zurückgeführt werden können (1). Dies trifft zu auf die Beziehung zwischen Arbeiterbewegung und politischer Demokratie, auf den Pluralismus der politischen Kräfte, auf die Konzeption des neuen Staates und auf viele Aspekte der Partei selbst. Meiner Meinung nach ist der Versuch, zwischen den heutigen politischen Positionen der KPI und den konkreten politischen Weisungen Gramscis eine vollständige oder auch nur annähernde Übereinstimmung zu entdecken, vergeblich und nicht durchführbar. Darüberhinaus ist dieser Versuch meiner Meinung nach nicht besonders sinnvoll.

Bedenkt man die tiefgreifenden Veränderungen, die unsere Epoche von der Zeit Gramscis trennen, so wäre eine derartige weitgehende oder gar totale Übereinstimmung in der Tat äußerst merkwürdig.

Aber muß man - wie so oft gefordert wird - darum nun schließen, zwischen der heutigen Politik und Gramsci sei wirklich überhaupt keine Beziehung möglich? Solch eine Schlußfolgerung ist, wie ich meine, nur die Umkehrung jener, die bis vor kurzem durch einen Historismus vertreten wurde, der die veränderten politisch-historischen Bedingungen als Anlaß zur Rechtfertigung aller theoretischen Unterschiede nahm. Wenn vorher ein schlechter Historismus empfahl, jegliches theoretische Erbe zu akzeptieren, soweit es die historisch veränderlichen, konkreten politischen Entscheidungen nicht beeinflusse, so ist meiner Meinung nach jener Historismus nicht weniger schlecht, der jegliches Erbe zurückweist, das nicht zu konk reten politischen Übereinstimmungen führt.

Für die eine wie für die andere Richtung hätte also die Theorie nur eine dienende Funktion für die praktische Politik. Mehr noch: die Theorie hätte an und für sich keine andere Dimension als die der Legitimation der bereits getroffenen politischen Entscheidung: in Form der bloßen feierlichen Dekoration, die das politische Programm mit Doktrinarismus garniert, oder in der ebenso doktrinären Form, in der die Theorie nur die Proklamation einer politischen Dokt rin wäre, die auf die historische Praxis anzuwenden ist.

Ich bestreite nicht, daß diese beiden Varianten der traditionellen historischen Vorstellung von der Beziehung zwischen Theorie und Praxis auf eine beträchtliche kulturelle Tradition zurückgreifen können. Ich bestreite auch nicht, daß sie - obwohl sie meiner Meinung nach auf jene Ideologie zurückgehen, die ich als die offizielle Ideologie des europäischen Historismus bezeichnen werde auch in der marxistischen Tradition fest verwurzelt sind.

Gerade deshalb scheint es mir jedoch gerechtfertigt, die Beziehung zwischen Theorie und Praxis kritisch zu überdenken. Dies kann nicht im Rahmen der traditionellen Hermeneutik geschehen, die sich insgesamt auf eines dieser beiden Parameter stützt: auf das Primat der Politik als intuitive Willensentscheidung und auf die Denunzierung jeder theoretischen, wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft und auch der Politik als reine, abstrakte Utopie, als Ablenkung und Flucht vor der politischen " Konkretheit".

Diese beiden Modelle der Interpretation sind alles andere als einander entgegengesetzt; vielmehr erscheinen sie komplementär.

2. Ich möchte dies kurz an zwei Beispielen beweisen, die scheinbar sehr weit auseinanderliegen: das erste betrifft die Beziehung zwischen Theorie und Praxis in der pragmatischen, auf unmittelbare Nützlichkeit gerichteten Konzeption des stalinischen Marxismus, das zweite Max Webers Konzeption der Idealtypen.

Weder die eine noch die andere Konzeption kann die Dimension einer authentischen Gesellschafts- und Politikwissenschaft erreichen, oder sie kann diese nur verbal proklamieren, ohne eine effektive begriffliche Differenzierung zu leisten, die man wirklich wissenschaftlich nennen kann. Bei Stalin (und in jener stalinschen Version des Marxismus, die auch Lukács beeinflußte, und die sogar bei Sartre und Althusser noch weiterlebt) wird der Theorie kein spezifischer, autonomer wissenschaftlicher Raum zugestanden, so daß niemals sie diejenige ist, die die Politik begründet, sondern im Gegenteil sie durch die Politik begründet wird(2).

Wenn man über die so oft wiederholte Formel der "Einheit von Theorie und Praxis" nachdenkt, wird man sehen, daß sie niemals etwas anderes bedeutet hat, als eine ständige Ermahnung der Theorie, nicht von der politischen Praxis abzuweichen und dort ihre Nahrung zu suchen. Wenn die Anspielung auf Althusser gewagt scheinen mag, so erlaube man mir daran zu erinnern, daß die Definition der Philosophie und der Theorie im allgemeinen als theoretische Praxis seine Definition ist(3).

Auf dieser Linie der Interpretation liegen zwei miteinander verbundene fatale Schlußfolgerungen: die Theorie ist durch die Politik vorgezeichnet und beherrscht; denn die Politik ist der Kampf der Klassen und daher wird die Philosophie oder Theorie immer auf die am Kampf beteiligten Klassen zurückgeführt und sie scheint so im Zeitalter der Moderne gespalten in eine bürgerliche Philosophie und eine Arbeiterphilosophie(4). In dieser doppelten Schlußfolgerung wurzelt die Negation jeder wissenschaftlichen Dimension der Theorie und daher auch die Ausschließung der theoretischen, wissenschaftlichen Begründbarkeit der Politik.

Ich möchte betonen, daß ich mit der Kritik dieser Position keineswegs die historische Wechselbeziehung ausklammern möchte, die aus der modernen Philosophie großenteils eine Philosophie der Bourgeoisie macht: bürgerlich ist sozusagen der historischesoziale Bezug der Kategorien, ein Bezug, dessen Erkenntnis die komplizierte Aufgabe des modernen Denkens ist.

Das Problem liegt woanders. Es geht darum nicht zu glauben, eine Philosophie könne aus dem einfachen Grunde, daß ihre bedeutendsten Vertreter soziologisch gesehen der bürgerlichen Klasse angehören, als bürgerlich bezeichnet werden, oder aufgrund der Tatsache, daß sie intellektuelle Betrachtungsweisen bewußt und ausschließlich "im Interesse der Bourgeoisie" erarbeiten(5).

Wenn wir diese beiden weitverbreiteten Konzeptionen des "Klassen-"charakters der Theorie zurückweisen, werden wir den Zugang zu einem ganz neuen Problem eröffnen. Man kann es folgenderweise zusammenfassen: in jeder Epoche reiht jede Klasse sich selbst in die geistige Tradition ein, indem sie die großen Probleme des Lebens und der Welt auf der Ebene der Erkenntnis aufgreift, und im modernen Zeitalter wiederholt die Bourgeoisie diese Bemühung und gelangt dabei zu einer sehr un gewöhnlichen und problematischen Konstruktion.

Es gelingt ihr nämlich eine Form der Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen, die in Bezug auf die physische, natürliche Welt exakt, weil methodologisch unanfechtbar ist; doch sie unterläßt es ganz oder scheitert zumindest darin - eine Wissenschaft von der Geschichte zu begründen, die die gleichen Merkmale methodologischer Unanfechtbarkeit aufweist.

Der "Klassencharakter" der Bourgeoisie hindert sie also überhaupt nicht an der Entwicklung einer exakten Naturwissenschaft, was eben als Beweis der Möglichkeit betrachtet wird, daß auch die Bourgeoisie in Bezug auf die Theorie zu wissenschaftlich gültigen Ergebnissen gelangen kann(6).

Wenn wir - wie oben geschehen - ausschließen, daß das Versagen der Bourgeoisie in der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft einfach durch einen "Utilitarismus" der bürgerlichen Kultur bedingt sei (und wieso sollte die Bourgeoisie Interesse allein an einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur haben und nicht auch an einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Geschichte?), muß man folgern, daß die bürgerliche Kultur sehr wohl danach strebt, eine Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft zu begründen, und daß sie diesbezüglich mit realen Problemen und realen Schwierigkeiten in der begrifflichen Ausarbeitung konfrontiert ist. Nicht zufällig ist das gesamte Werk von Marx, der die grun dlegenden Voraussetzungen für eine einheitliche Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft entwirft, eine intensive, kritische Auseinandersetzung (jedoch kritisch im umfassenden Sinne des Wortes) mit den Exponenten der modernen bürgerlichen Kultur: Smith, Ricardo, Hegel, Kant und Feuerbach. Wenn Marx' Lösungen sich auch radikal von denen der klassischen bürgerlichen Denker unterscheiden (und dies geschieht nicht immer und auch nicht hundertprozentig), so nimmt er tatsächlich die von diesen Denkern erarbeiteten Fragen wieder auf und setzt sich mit ihnen auseinander. Marx' Neuerung ist eine methodologische Neuerung, der es an impliziten und manchmal expliziten Verweisungen auf die anderen Denker nicht fehlt. Es scheint mir auch nicht richtig, wenn man Marx' Neuerung dadurch beschreibt, daß man behauptet, sie bestehe im Bekenntnis zum "Standpunkt der Arbeiterklasse". Denn meines Erachtens ist es vielmehr so, daß ihm die Darstellung der neuen Theorie des Sozialism us durch eine umfassendere Kritik an der Theorie und auch an der Praxis der modernen Gesellschaft gelingt. Im übrigen ist die Abgrenzung eines wissenschaftlichen Sozialismus zu jeder anderen sozialistisch-utopischen "Doktrin" gerade durch die Anerkennung der Existenz objektiver Gesetze der Gesellschaft und der Geschichte möglich, und erst deren Erkenntnis kann Anweisungen zur Transformation in Richtung auf den Sozialismus legitimieren.

Unter diesem Blickwinkel muß man feststellen, daß bei Marx die Kritik an der spekulativen Methode der traditionellen Philosophie der Formulierung der politischen Perspektive eines wissenschaftlichen Sozialismus - zumindest logisch, wenn nicht auch chronologisch - vorausgeht, und daß es Marx gerade durch eine neue, in ihrer Grundstruktur umrissenen, Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft möglich wird, daraus eine politische Theorie abzuleiten, die als wissenschaftlicher Sozialismus bezeichnet werden kann.

Im Gegensatz zu der Meinung, die durch die Tradition des stalinischen Marxismus vertreten wurde, war der wissenschaftliche Sozialismus nicht die Anwendung eines historischen Materialismus auf die moderne Gesellschaft - eines historischen Materialismus, der so verstanden selbst nur die simple Anwendung eines enzyklopädischen dialektischen Materialismus war. Der wissenschaftliche Sozialismus war in Wahrheit die richtungsweisende politische Schlußfolgerung aus einer historisch-kritischen Analyse der modernen Gesellschaft: es war eine Politik, hinter der eine begründete wissenschaftliche Forschung stand.

Das Beispiel Webers dient einem anderen Zweck. Es soll zeigen, daß die revolutionäre Bedeutung von Marx in der Skizzierung der Grundlagen für eine wissenschaftliche Darstellbarkeit der historisch-sozialen Kategorien liegt; also in der Postulierung der "Idealtypen", von denen Weber später spricht, als eine nicht nur ideale Typologie, sondern eine, die selbst Ausdruck einer Typologie realer historisch-sozialer Organismen ist und gegliedert wird.

Aus der Perspektive Webers findet die Darstellung der historisch-sozialen Kategorie niemals objektive Entsprechungen, an denen sie sich erproben. Denn Weber glaubt nicht, die moderne bürgerliche Kultur sei Ausdruck des realen sozialen Organismus, den wir Kapitalismus nennen, sondern im Gegenteil, wir würden durch die Anwendung des Idealtypus den Tatsachen und Ereignissen des modernen Zeitalters - die an und für sich zusammenhanglose Individualitäten, ohne irgendeine historisch- objektive Gesetzmäßigkeit bleiben - einen ordnenden und schöpferischen Sinn zuschreiben.

Für Weber gibt es also keine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, sondern eine Kultur, die sie erschafft und ordnet (7).

Die historische Gegenüberstellung findet also niemals zwischen sozialen Organismen, sondern zwischen Kulturen statt.

Daher ist die historische Gegenüberstellung letztendlich eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Politikformen, die als kulturelle Synthesen, oder besser als Strukturen des Willens aufgefaßt werden. So wird bei Weber die traditionelle idealistische Konzeption der Politik als eine bloße Sache der Entscheidung, als eine Angelegenheit von Leidenschaften* theoretisch systematisiert.

Und wenn wir den verschiedenen politischen Tendenzen einen Namen geben, der nicht ihre Ableitung von einer kritisch-wissenschaftlichen Perspektive und ihre Verknüpfung mit der Funktionsweise der sozio-ökonomischen Organismen bezeichnet, sondern hauptsächlich die ethisch-kulturelle Orientierung, so verstehen wir, wie es möglich ist von der bürgerlichen Kultur zu reden, wenn man alle realen Bezüge aus ihr entfernt und den Akzent auf ausschließlich ethisch-politische Eleme nte, und sogar auf irrationale Schemata gesetzt hat.

Zu bedenken ist, wodurch diese kulturanalytische und überdies "kulturologische" Betrachtungsweise sich von jener eines bestimmten Marxismus unterscheidet, der im Stalinismus seine Vollendung findet.

Auch in diesem Marxismus ist die Rede von den "zwei Kulturen", die einander nicht aufgrund kritisch-wissenschaftlicher Parameter gegenübergestellt werden, sondern oft aufgrund von deutlich irrationalen Kriterien, die durch rein politische Entscheidungen bestimmt sind, also ausschließlich durch das subjektive Bewußtsein.

Man denke an die Begriffe "sozialistische Kultur", "Klasseninstinkt", "Arbeiterwissenschaft", "Arbeiterbewußtsein", Begriffe, mit denen sich wohlgemerkt auch bedeutende Denker wie Lukács auseinandergesetzt haben.

3. Gegenüber dieser geistigen Tradition stellt das Werk Gramscis ein wichtiges kritisches Reagenz dar. Es genügt, hier an seinen Entwurf einer Theorie der Kultur zu denken, in der Alltagsbewußtsein, aufgeklärter Alltagsverstand und kritische Philosophie mit wichtigen Nuancierungen voneinander abgesetzt sind; in der die Folklore beispielsweise - die zwar hinsichtlich der Möglichkeit einer kritischen Funktion einen eigenen positiven Wert gewinnt hinsichtlich der systematischen Bild ung dennoch weiterhin als eine subalterne kulturelle Formation beurteilt wird. Natürlich werden durch dieses kulturelle Schema Gramscis die kritisch-rationalen wissenschaftlichen Elemente stark privilegiert, während die zuvor genannten Begriffe, die im "italienischen Marxismus" soviel Raum eingenommen hatten, überprüft und negativ beurteilt werden(8).

Ich möchte hier nicht leugnen, daß auch in Gramscis kritisch-rationalem Entwurf einige widersprüchliche Aspekte vorhanden sind. Es genügt ein Hinweis auf die zweideutige Position, die das Denken Gramscis insgesamt gegenüber der Wissenschaft einnimmt(9).

Im großen und ganzen jedoch scheint es so, als habe der in den Gefängnisheften formulierte Kulturbegriff entschieden mit dem in den zwanziger und dreißiger Jahren gängigen Marxismus gebrochen und auch die alten Verbindungen mit Bergson, Sorel und Croce korrigiert. Wie dem auch sei - auch wenn dieser Bruch nicht vollständig wäre und die bisher erwähnten Fragen bei Gramsci nur angedeutet und nicht direkt ausgesprochen würden, so ist es meiner Meinung nach we sentlich, daß sie wiederaufgenommen, entwickelt und wieder in den traditionellen Marxismus eingebracht werden. Denn dadurch würde der kritische Hinweis erhellt, den man aus dem Vergleich zwischen der "kulturologischen" Fragestellung d es italienisch-deutschen Historismus und der "ökonomistischen" Fragestellung einer gewissen marxistischen Tradition, zwischen dem Interesse an der historisch-nationalen Besonderheit und dem Interesse an der logisch-systematischen Modellkons truktion historisch-sozialer Idealtypen herauslesen kann(10). Gerade durch diesen Vergleich entdeckt Gramsci die kritische Dimension wieder, die es schon dem jungen Marx gestattete, eine Vermittlung zwischen der idealistisch-spekulativen und der vulgärmaterialistischen Tradition herzustellen.

4. Die Rekonstruktion einer Theorie der Kultur kann von der Klassenanalyse der Gesellschaft wichtige Anregungen erhalten, speziell hinsichtlich dreier Themen, die Gramsci besonders ausgeführt hat: die Theorie der Hegemonie, die sicherlich die bekannteste ist; das Verhältnis zwischen Kultur und Politik; und die Theorie, die ich die historische Theorie der menschlichen Universalisierung nennen möchte.

Zum ersten Thema ist sehr viel gesagt worden. Ich möchte dem nur hinzufügen, daß die Theorie der Hegemonie sich bei Gramsci in eine Konzeption der Geschichte und der Politik einfügt, die sehr viel fruchtbarer als die traditionellerweise in der Geschichte der Arbeiterbewegung vertretene Konzeption ist. Denn gerade die Vorstellung der Hegemonie, d. h. die Vorstellung der Notwendigkeit, eine allgemeine Führung der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, gewährt der Politik Gramscis einen wissenschaftlichen und kulturellen Hintergrund, der dem aktivistischen Primat der Politik und auch der Reduktion der Politik auf bloßen Willen, Leidenschaft, Eigennützigkeit oder gar Instinkt ein Ende setzt.

Gerade weil ein entwickelter politischer Organismus es verstehen muß, mit der gesamten Gesellschaft in Verbindung zu stehen, darf er seine Politik nicht mehr nur an den traditionellen subjektiven Faktoren ausrichten und auch nicht nur an den objektiven Teilfaktoren (ökonomisch-korporative Interessen), sondern an einem Problemhorizont, der die gesamte Gesellschaft miteinbezieht, und der daher ihr grundlegendes historisch-objektives Terrain enthüllt (ein Terrain, das durch eindeutig-wissenschaftliche Forschungen "meßbar" und gleichzeitig als "Experimentierfeld" zur Verifikation geeignet ist).

Hieraus ergibt sich die neue Verknüpfung zwischen Politik und Kultur, die durch Gramsci entdeckt wird: die Unmöglichkeit und sogar extreme Schädlichkeit nicht nur der Trennung, sondern auch der Identifizierung von Politik und Kultur und auch der politischen Führung der Kultur und der "Parteilichkeit" der Wissenschaft. Gerade die Tatsache, daß Gramsci die Politik "bereicherte, indem er sie auf die nicht nur das zufällige Tagesgeschehen umfassende Konzeption einer "Politik als Geschichte" orientiert, zeigt die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Politik auf, die ausgehend von den Interessen und vom zufälligen Tagesgeschehen dennoch dahin kommen muß, das Problem der allgemeinen, universellen und langfristigen Führung anzugehen.

Auf dieser Ebene bringt Gramsci das marxsche Leitthema der wissenschaftlichen Erkennbarkeit der Geschichte wieder ein, wenn man die Geschichte als Folge von Ereignissen auffaßt, die im Rahmen von Tendenzen und Institutionen - die in der Funktionsweise spezifischer sozialer Organismen ihren Ursprung haben eine "Gesetzmäßigkeit" enthält. Hier taucht der schon traditionelle Einwand der angeblichen Unmöglichkeit einer "wertfreien Wissenschaft" auf. Eine derartige Infragestellung beinhaltet jedoch zunächst gerade die Negation jeder "gesetzmäßigen" Strukturierung der verschiedenen Gesellschaftsformationen und damit auch der großen Zeitabschnitte der Geschichte; sie entsteht daher notwendigerweise auf dem Terrain einer idealistischen Konzeption der Geschichte (und der Politik). Es ist auch leicht einzusehen, daß die Behauptung der Unmöglichkeit einer wertfreien Wissenschaft oder der Notwendigkeit einer "Parteilichkeit& quot; der Wissenschaft und der Kultur im allgemeinen - eine Behauptung, die auch in der Tradition der sozialistischen Theorie so häufig anzutreffen ist - bezeichnenderweise mit dem Anspruch des historischen Materialismus, eine wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung hervorzubringen, kollidiert; sie orientiert sich eher am Anspruch der "verstehenden Soziologie", die sich als eine von der Feststellung historischer Gesetzmäßigkeit unabhängige und stattdessen nur auf "Wertentscheidungen" und "Kulturentscheidungen" gegründete Erkenntnismethode ausgibt. Auf diesem Weg kommt der historische Materialismus in Wirklichkeit auf die bescheidensten Zielsetzungen der Wissenssoziologi e und der Sozialpsychologie herunter.

5. Die wichtigste Fragestellung jedoch, die man dem Werk Gramscis entnehmen kann, ist vielleicht die dritte: jene Fragestellung, die eine Beziehung zwischen Aktivitäten und Forderungen der Klasse und der Führung der Gesellschaft herstellt, indem sie ein Verhältnis historischer Vermittlung der Nation und auch ein Verhältnis der Universalisierung umreißt.

Diese beiden Verhältnisse hatten in der Geschichte des Marxismus traditionell niemals eine besondere Entwicklung erfahren.

Die Aufhebung des Nationalstaates war in der marxistischen Tradition zu unbestimmt einfach als Absterben des Staates, das an die Verwirklichung eines hohen ökonomischen Produktionsniveaus gebunden ist, formuliert worden, während die "nation ale Frage" nur unter dem Aspekt des "Selbstbestimmungsrechts der Völker" gestellt wurde; d. h. unter einem theoretischen Nebenaspekt, der die Vollendung des Prozesses der weltweiten Ausbreitung des Nationalstaates voraussetzte, den die Bourgeoisie in den entwickelten Ländern eingeleitet hatte.

Vom historischen Standpunkt gesehen handelte es sich dabei gewiß um einen in der Tradition der Vielvölkerstaaten und vor allem des russischen und des österreich-ungarischen Reiches besonders relevanten theoretischen Aspekt; aber die Frage der Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Nation erreichte keinesfalls ein kulturelles Niveau von allgemeiner Bedeutung oder gar die Ebene der Metapolitik(11).

Sogar das Problem der Nationalsprache blieb, nebenbei bemerkt, lange sekundär; es tritt sehr viel später bei Stalin in Erscheinung, während Gramsci es bereits frühzeitig und sehr differenziert sah.

Insgesamt kann man feststellen, daß Gramsci die Ebene, auf der der Kampf der Klassen und der Nationalstaat sich treffen, aus einer viel umfassenderen Perspektive enthüllt, und vor allem auf einer Ebene, auf der die Nation als ein Phänomen nicht nur ökonomischer oder politischer, sondern auch kultureller Formierung gewertet wird.

Er erkennt nämlich, daß der Kampf der Klassen, wenn er sich in einer "nicht erstarrten"* Gesellschaft entwickelt, zum Kampf für die Formierung historischer Blöcke mit einer politischen und kulturellen Führung wird, die im Staat ein Niveau institutioneller Strukturierung erreichen, das durch einige wesentliche Faktoren bestimmt wird. Erstens vollzieht sich die in der modernen zivilen bürgerlichen Gesellschaft ausgedrückte Notwendigkeit der Regelung eines eigens tändigen oder politischen Bereichs - einer Sphäre, die den gesamtgesellschaftlichen Mechanismus mit dem doppelten Band der Macht und des Konsens zusammenhält - innerhalb von Formen, die durch die Fähigkeit der herrschenden Klasse zur Assimilation, Variation, Weiterentwicklung und Verbreitung eines kulturellen Erbes gestaltet werden; so wird dies Erbe zur ersten Ebene nationaler "Universalisierung" der Klasse, und es ergänzt dann auch die zweite Ebene der "Universalisierung" des Klassenstaats (der bürgerlichen Nation) im Rahmen der allgemeinen Geschichte aller modernen Staaten.

Zweitens besteht kein Zweifel daran, daß der Herrschaftsdruck, den die herrschende Klasse im modernen Nationalstaat ausübt, in diesem Rahmen eine direkte Proportionalität zu Faktoren aufweist, die nicht mehr ausschließlich ökonomisch (Größe und Reichtum des Binnenmarktes) und auch nicht ausschließlich "synchron" (die von der zur Zeit herrschenden Klasse ausgedrückte Kultur) sind. In Wirklichkeit enthalten diese Faktoren auch politische und kulturelle, sowie historische Elemente, d. h. Elemente, die mit dem, was Lenin das "nationale Erbe" nannte, in Verbindung stehen.

Diese Faktoren sind die Grundlage für das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Klassen - und das heißt für das historische Verhältnis zwischen herrschenden und subalternen Klassen und für die Gestaltung des herrschenden historischen Blocks. Schon Lenin hatte bekanntlich das Thema des "Kräfteverhältnisses" ins Zentrum der revolutionären Aktion und der Politik gerückt. Dennoch blieb dieses Verhältnis immer noch einem aussch ließlich politischen Bezugsrahmen verhaftet, und darin spielte vor allem die taktische Fähigkeit der politischen Parteien (besonders der revolutionären Arbeiterpartei) und der Aspekt der Gewaltausübung eine bedeutende Rolle. Gramsci dagegen beginnt mit der Untersuchung (und der Darstellung) der strategischen Fähigkeit als einer Fähigkeit, kulturelle Triebkraft der Parteien, der Klassen und des Staates zu werden(12). Man muß jedoch betonen, daß die Original ität dieses Werkes nur erfaßt werden kann, wenn man es von allen noch vorhandenen Spuren eines Kulturinstrumentalismus befreit: Parteien, Klassen und Staaten werden nur dann Fortschritte machen, wenn sie langfristig "treibende Kraft" sein können; langfristig erhält die Instrumentalisierung der Kultur keinen Spielraum und sie führt zu nichts.

Daraus folgt auch bei dieser Vorgehensweise, daß die authentische und grundlegende Neuerung Gramscis - der Aspekt, den man weiterentwickeln muß - in der Wiedereinführung der Autonomie im Rahmen einer neuen Vision der Konvergenz von Kultur und Politik sowie in der Darstellung auch der Politik als Objekt kritisch-wissenschaftlicher Erkenntnis liegt.

Wenn dies wahr ist, so begreift man auch, daß die Rolle der Arbeiterbewegung in den einzelnen Ländern sozusagen durch die historisch-kulturelle Umwelt, in der sie jeweils operiert, geformt wird und das heißt durch die historisch-strategische Aufgabe, die ihr mit den spezifischen intellektuellen Komponenten der Klassenherrschaft, mit dem historisch-kulturellen Niveau des Staates vorgegeben wird.

So ist das Interesse Gramcsis an der Geschichte, an der Tradition der italienischen Gesellschaft und an ihrer Kultur zu erklären; doch so ist vor allem die Beachtung zu erklären, die der Beziehung zwischen den Ebenen der kulturell-ideellen Universalisierung und den Ebenen der politisch-korporativen Führung geschenkt wird.

Wie mir scheint, zeigt das Studium des Einmündens der nationalen Geschichte in den Faschismus für Gramsci zwei sehr originale Fragestellungen auf: a) wie und warum geht die universalistische und äußerst vielfältige italienische Kultur auf der Ebene des Staates mit einer äußerst beschränkten und einseitigen politischen Führung einher? b) wie und warum gelingt es nicht einmal einer im ökonomischen und politischen Bereich sehr universellen Klasse dem Proletariat - sich mit den Traditionen einer so universellen Kultur wie der italienischen zu verbinden, und warum isoliert sie sich im "Arbeiterkorporativismus", im Ökonomismus und Maximalismus und "verliert" dabei den Staat, d. h. die Fähigkeit die gesamte Gesellschaft der Nation zu führen?

Eine Antwort auf diese beiden Fragen Gramscis ist anscheinend seine Analyse der Grenzen der Aktionspartei im Risorgimento und auch seine Analyse der "Abstraktheit", die im Kosmopolitismus und im Universalismus der italienischen Kultur und der italienischen Intellektuellen liegt; eine Antwort darauf ist aber auch die heftige Kritik der Beschränktheit des Kampfes der Arbeiter, seiner kulturellen Armut und seiner mangelnden nationalen Reichweite.

Aus diesen Analysen ergibt sich im wesentlichen die Feststellung einer Diskrepanz zwischen der universalistischen Kultur der Italiener und der Politik des bürgerlichen Staates. Diese Diskrepanz ist sicherlich der Grund für die politische Unfruchtbarkeit oder "Abstraktheit" der italienischen Kultur. Die Politik des bürgerlichen Staates jedoch ist aufgrund dieser Diskrepanz ohne jede Öffnung zum Volk und ohne historische Reichweite, und tendiert somit stark zur Anwendung von Zwang und zur gewaltsamen Unterdrückung. Aus den selben Gründen scheint Gramsci der Arbeiterbewegung die umfassende Operation einer Weiterentwicklung der kulturellen Tradition vorzuschlagen, die so beschaffen sein muß, daß sie die italienische Bourgeoisie in der Führung des nationalen Staates ablösen kann. Diese Operation ist nur dann möglich, wenn es der Arbeiterklasse gelingt, ihren Korporativismus zu überwinden, und damit ihre eigenen Interessen nicht nur als Terrain der Befreiung der Klasse zur Geltung bringt, sondern auch als Leitlinie zur Vereinheitlichung und Führung der Interessen eines gesamten historischen Blocks.

6. Aus den Gedanken Gramscis über die Beziehung zwischen der Kultur und den subalternen Klassen kann man, wenn man sie durch die weiteren Gedanken über die Geschichte Italiens und die Funktion, die die Kultur darin gehabt hat, ergänzt, die grundlegenden Elemente einer allgemeinen Theorie der Kultur ableiten und das heißt einer allgemeinen Theorie der historisch determinierten Beziehung zwischen ökonomisch-korporativen Interessen (oder Klasseninteressen im engeren Sinne) und den intellektuellen Projektionen, in denen die Intellektuellen einer Klasse historisch nach ihrer eigenen Universalisierung streben.

Der Entwurf einer derartigen allgemeinen Theorie der Kultur ist nicht nur ein Versuch, in der Nachfolge Gramscis eine historisch-materialistische Anthropologie zu skizzieren, obgleich dies angesichts des Mangels anthropologischer Ausführungen im traditionellen Marxismus von großer Bedeutung wäre. Er ist die Lösung eines politisch äußerst relevanten Problems, des Problems der systematischen Verknüpfung von Politik und Kultur.

Ausgehend von den hier angeführten Gedanken Gramscis ist eine synthetische Erfassung jener Theorie der Kultur möglich, auf die ich bei Gramscis Problem der Abstufung von Alltagsbewußtsein, aufgeklärtem Alltagsverstand und kritischer Philosophie hingewiesen habe. Es handelt sich jedoch um eine Abstufung, die weiterer Spezifizierungen bedarf; in den Gefängnisheften sind dazu implizit wichtige Aspekte angegeben, die bisher nicht weiterentwickelt wurden. Bei einer differenzierten Interpretation kann der Begriff der kritischen Philosophie das sogenannte Klassenbewußtsein in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen als korporatives Bewußtsein, als politisches Bewußtsein und als politisches Bewußtsein der Hegemonie beinhalten, in dem bereits die grundlegenden Merkmale einer kritischen Philosophie im eigentlichen Sinne zur Wirkung kommen.

Man muß auch annehmen, daß die in der marxistischen Tradition überlieferte Verbindung von politischem Bewußtsein und kritischer Philosophie, die aufgefaßt wurde als ein Prozeß der überwiegend deduktiven Übertragung der "ideologischen" Aspekte auf die Politik, in der kritischen Reflexion Gramscis beachtlichen Widerspruch hervorgerufen hat. Eben dies veranlaßte ihn zu dem Versuch, auf induktivem Wege - durch genau festgelegte historische Untersuchungen, vor allem der italienischen Geschichte - zu Verallgemeinerungen zu kommen, für die es in der marxistischen Tradition keine bedeutenden Vorbilder gibt.

Ich denke dabei an jenen - bisher kaum jemals analysierten und deshalb problemreichen - theoretischen Ansatz, der sich zu der synthetischen Formel "Universalität + Politik" verdichtet; in dieser Formel faßt Gramsci das Programm einer Revolution zusammen, die wirklich dazu fähig ist, die Widersprüche der italienischen Geschichte aufzuheben.

Im Grunde genommen verurteilt Gramsci nicht so sehr und auch nicht nur (dies wird häufiger betont) eine Spaltung zwischen Kultur und Volk, zwischen Intellektuellen und Politik, als vielmehr die kompakte und fest verankerte Präsenz einer nicht-politischen (nicht-nationalen) Kultur und einer Politik, die unfähig ist, sich nicht-korporative Perspektiven zu geben, d. h. Perspektiven, die sich mit einer historisch-universellen Problematik verbinden können.

Dieser theoretische Ausgangspunkt stellt eine spezifische Bestimmung dar, wenn Gramsci wiederholt darauf hinweist, daß Italien eine Revolution braucht, die die intellektuelle-universelle Kraft der Renaissance hat und das Volk (oder die Politik) erfassen kann wie die Reformation.

Bei genauem Nachdenken scheint es also so, daß Gramsci den nicht-populären Charakter der Renaissance und der italienischen Kultur im allgemeinen ebenso kritisiert wie die bezeichnende kulturelle Armut einer politischen Reform, die noch auf religiösen Begründungen beruhte. Doch vor allem scheint er dem zuzustimmen, daß eine moderne Revolution des Volkes nicht ohne universelle intellektuelle -weltgeschichtliche* - Perspektive sein kann, da ja eine authentische intellektuelle Universalisierung nicht umhin kann, politisch das Volk mit einzubeziehen (was historisch nur auf der Gestalt einer Nation als Staat basieren konnte).

Während aber die zweite Passage über die Trennung von Kultur und Politik, die sicherlich eher auffällt, simplifiziert worden ist, wobei die Kultur tendenziell auf die Politik zurechtgestutzt wurde, wurde die erste Ausführung vielleicht nicht einmal registriert, zumindest in dem Sinne, daß man die Intention Gramscis, die Notwendigkeit einer "universellen" Beziehung zur Politik hervorzuheben, kaum aufgezeigt hat.

Während die Kritik der sogenannten "Abgetrenntheit" der Kultur von der Politik weite Verbreitung fand, hat man also nicht gesehen, daß Gramsci in Wirklichkeit nicht nur eine politischere Kultur sondern auch eine universelle Politik fordert.

Meiner Meinung nach genügt hier der Verweis auf die Kritik des korporativen Bewußtseins; denn die von Gramsci vorgetragene Kritik geht sehr wohl über die Renaissance hinaus und betrifft zum Beispiel auch die Politik der Aktionspartei, die Politik des savoyischen Staates und auch die Politik der sozialistischen Partei, vor allem weil es ihr an "Universalität" mangelt, oder an jener verbindenden und historisch beständigen Fähigkeit, die sich nicht aus der bloße n Befriedigung korporativer Klasseninteressen ergibt, und die daher in einer wirklichen Fähigkeit, die Politik voranzutreiben, verwirklicht werden muß.

Unter diesem Blickwinkel müßte man vielleicht Gramscis Analyse des Intellektuellen überdenken; man hat sie bisher vorwiegend soziologisch aufgefaßt, d. h. als eine Analyse der sozialen und politischen Funktion der Intellektuellen insofern sie die Vermittler des Konsens sind. In Wirklichkeit riskiert eine derartig einseitige Lektüre die Verminderung des Einflusses der Kultur auf die Politik und verunmöglicht daher das umfassende Verständnis der Formel Gramscis "Universalität + Politik".

Es ist wahrscheinlich notwendig, Gramscis Analyse der Intellektuellen durch die Ansätze zu einer wirklichen und eigentlichen Kritik der Politik zu ergänzen, die man hier und dort in den Gefängnisheften entdecken kann. Wir stehen dann einem großen theoretischen Problem gegenüber: dem Problem der Beziehung zwischen der Darstellung der Politik und Ökonomie in der historischen Entwicklung und der Darstellung der intellektuell-kulturellen Ebene. Während das Interesse sich aus der ersten Perspektive auf die Bemühungen und die Techniken zur Zementierung der historischen Blöcke und der staatlichen Formationen konzentriert, würde unter dem zweiten Gesichtspunkt ein anderes Problem in den Vordergrund gerückt: das Problem des universellen Beitrags, den jeder historische Block innerhalb bestimmter sozio-politischer Strukturen und unter der Führung einzelner Klassen zum allgemeinen historischen Fortschritt, zur Entwicklung des historischen materiellen und geistigen Erbes der Menschheit leistet.

Unter diesem Gesichtspunkt wäre es also auch möglich, die historisch-universelle Tragweite der Kultur des bürgerlichen Zeitalters wiederzugewinnen, insofern sie unter bestimmten historischen Voraussetzungen fähig war, die historische Universalisierung einer bestimmten Entwicklungsstufe zu verwirklichen, die dann angeeignet und weitgehend "unverzichtbar" war. Wie man weiß, enthielt bereits das Kommunistische Manifest von 1848 einen Hinweis auf diesen zweiten Gesichtspunkt der modernen Geschichte, den Marx besonders beachtete, als er sich mit Smith, Ricardo und Hegel auseinandersetzte.

Man versteht nun, daß die Wiedergewinnung der historisch-universellen Ebene nicht zur Überwindung, sondern zur Präzisierung der grundliegenden These führt, daß "die Geschichte... Geschichte von Klassenkämpfen" ist.

Man sollte sie nämlich ungefähr so lesen: die Geschichte ist nicht die Geschichte der Ideen, die die Gesellschaft und die sozialen Auseinandersetzungen produzieren, sondern die Geschichte der sozialen Auseinandersetzungen und der Gesellschaften, die die Ideen produzieren.

So gesehen verliert die These, daß die Geschichte Geschichte von Klassenkämpfen ist, die Bedeutung, die sie oft gehabt hat, daß die Geschichte nur Geschichte der Klassen sei, und daß die Geschichte der Ideen umso mehr ein funktional-instrumentelles Anhängsel der Klassenkämpfe sei. Eben dieser Auffassung entstammt genau gesehen die Überzeugung, daß die Kultur sich in zwei Kulturen, die bürgerliche und die Arbeiterkultur spalten kann.

Dies wäre eine Spaltung, die nicht nur die historische Epoche in der die Kultur hervorgebracht wird, kennzeichnen würde, d. h. ihren konkreten historischen Bezug oder die soziologischen Merkmale ihrer Exponenten, sondern sie wäre auch eine mechanische Beschreibung der begrifflichen Darstellung. Zudem wird deutlich, daß in diesem Falle eine eigentliche und unabhängige kulturelle Fragestellung aufhören würde, einen spezifischen Sinn zu haben: sie wäre nämlich nur ein abhängiger, untergeordneter und instrumenteller Aspekt der Politik. Die Kultur wäre daher auf die Politik "reduziert".

Aus der Perspektive, die hier angedeutet wird, scheint es jedoch so, daß Gramsci mit der Notwendigkeit einer Universalisierung der Politik eine höhere Stufe der Betrachtung anstrebt, um sowohl die Politik als auch die Klassen und die gesellschaftlichen Formationen beurteilen zu können: ihre Fähigkeit, die Geschichte kulturell voranzutreiben, oder ihre Fähigkeit, Kriterien und Perspektiven der historischen Universalisierung des Menschen zu formulieren und zu konkretisieren. Daraus würde sich notwendig die Aufgabe ergeben, die Genesis selbst dieser Frage der Universalisierung zu untersuchen, und zwar als ein spezifisches Problem der Feststellung der Ursachen und der Formen für die allgemeine Erweiterung der - historisch-ökonomischen - Erfahrungswelt, und daher des spezifischen Werts der Kultur als Erkenntnis, Kunst und Wissenschaft.

7. Nur die moderne Bourgeoisie schafft eine authentische und gleichzeitig laizistisch-universalistische Kultur, denn diese Kultur ist aufgebaut auf der Hypothese der Gleichstellung aller Glieder der Menschheit, und weder hat die Natur irgendeinen durch die Zivilisierung nicht überwindbaren Unterschied zwischen ihnen festgelegt, noch hat Gott seine Gnade unter sie verteilt.

Durch die Bourgeoisie wird die Universalisierung des Individuums zum ersten Mal mit der Entwicklung der gesamten Gattung verknüpft. In der klassischen Welt war dies wegen der je nach Geburt unterschiedlichen Zuordnung zu strukturell verschiedenartigen Sphären naturgemäß ausgeschlossen: es gab Freie und Sklaven. Die Menschheit als solche gab es nicht, zumindest insofern die natürliche Bestimmung des Menschen nicht genügte, um ihn zu einem Glied der Menschheit zu machen. Es be durfte stattdessen der Eingliederung des Individuums in einen sozio-politischen Kontext, der wegen seiner gesamten historischen Tradition besonders dazu geeignet war, das Individuum seiner "niedrigeren" Pflichten, und das heißt im wesentli chen der körperlichen Arbeit, zu entziehen. Daher war die Kultur für den Menschen die konkrete Emanzipation, der unbeschwerte Genuß des Lebens und die tiefe Lebensfreude; denn die Emanzipation bestand in der Befreiung von der körperlichen Arbeit und der ausschließlichen Hinwendung auf die geistige Arbeit.

Aber auf diese Weise war die geistige Arbeit genaugenommen nicht Arbeit, d. h. eine Tätigkeit für alle, ein universalistischer Beitrag des Individuums, da sie ja die Spaltung der Menschheit in Freie und Sklaven voraussetzte und bestä tigte. Einerseits war die Tatsache, daß ein Teil der Menschheit dazu verurteilt war zu dienen, die Voraussetzung für die vollständige Freiheit eines anderen Teils der Menschheit, und andererseits war sie das theoretisch bestätigte Ergebnis der intellektuellen Aktivität weniger. Die Kultur war also die freie Welt der Freien, die andererseits die Unmöglichkeit einer allgemeinen Freiheit für Alle sanktionierte.

Insgesamt zeichnet die Freiheit der antiken Welt sich also durch eine große Eintracht und Harmonie aus, an der die Gesamtheit der Menschen jedoch keinen Anteil hat. Man begreift nun, daß die Kultur der antiken Welt daher dazu verurteilt ist, auf eine Klassenkultur beschränkt zu bleiben, in der der geringe Beitrag der individuellen Persönlichkeiten auf der geringen Zahl der Menschen beruht, die tatsächlich an der geschichtlichen Bewegung teilhaben.

Dies alles tritt in der Erscheinung eines großen, harmonischen Zusammenschlusses der Welt der Freien auf, die jedoch in diesem Zusammenschluß immer noch die halbnaturwüchsigen und kritisch-verstandesmäßig ungelösten Aspekte einer Gemeinschaft beinhaltet, die durch die Natur und naturgemäß geformt ist, und daher nicht vollständig von den Auseinandersetzungen der Geschichte differenziert ist.

Die Harmonie der griechischen Kunst und Literatur ist noch von diesen naturalistischen Wesensmerkmalen durchtränkt, und die ästhetischen Ideale des Griechen beruhen noch auf der Vorstellung einer Gesamtheit der Menschen; diese gewinnt eher einen Vorteil aus der Harmonie und aus der Abstimmung einiger Teile untereinander als aus individuellen, persönlichen höchst kreativen Beiträgen der einzelnen Teile als solche. Es fehlt die Vorstellung eines unendlichen Potentials, das - als unb egrenzte Folge von Menschen als Subjekten - für die Menschheit verfügbar ist; stattdessen herrscht die Vorstellung, nur einige wenige Menschen seien die Urheber intellektueller und historischer Anstöße, Subjekte. Somit beruht die politische und ästhetische Universalisierung auf der Gestaltung der gegenseitigen Beziehung derjenigen Subjekte, die die Natur von den anderen unterschieden hat, und auf der ausgleichenden Harmonie des geistigen Schaffens dieser Subjekte.

Es besteht also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse und allgemeiner zwischen Frei-Sein und Mensch-Sein, zwischen der naturgegebenen Freiheit von der Sklaverei und der Urheberschaft intellektuellen und moralischen Lebens.

In der klassischen Welt fehlt die konkrete Möglichkeit - und folglich auch die Vorstellung - der Einheit der Menschheit, ihrer ursprünglich in der Erkenntnis vorhandenen und ihrer in der Zukunft möglichen historischen Vereinigung. Die Vorstellung eines Alle vereinigenden Schöpfers fehlt ebenso wie die Vorstellung des Strebens aller Menschen nach einem vereinigten Ideal; in dem Maße wie das politische Gebäude der Polis und der Civitas auseinanderbricht, bringt die historische Zersplitterung der Menschheit die Frage nach der potentiellen Bedeutung (oder des Hervortretens) jedes einzelnen Menschen als Subjekt hervor. Und endlich fehlt - wie auch im Mittelalter - die Möglichkeit, daß eine beherrsc hte Klasse zur führenden Klasse wird.

So reift mit der Auflösung des antikes politischen Gebäudes gleichzeitig die Entwicklung zweier Instanzen zur Einigung der Menschheit, das Römische Recht und der christliche Monotheismus. Gleichzeitig mit der Entwicklung dieser beiden Instanzen kommt es zum Fortschritt der Vorstellung, daß die Gleichheit aller Individuen möglich ist, und daß die Teilung in Regierende und Regierte ihrem Wesen nach unnatürlich ist.

Im Römischen Recht gerät die Gleichstellung der Menschen noch in Konflikt mit der Sklaverei; doch die wachsenden Bedürfnisse der Warenzirkulation durchbrechen diese Grenze und bedingen eine Reihe von Hypothesen über die Gleichbe rechtigung der Menschen, einschließlich der Sklaven. Man denke vor allem an die Regelung des "Pekulium"* und an die Tatsache, daß auch Sklaven öffentliche Ämter übernehmen konnten, und man denke auch an die weltlichen Implikationen des römischen Stoizismus.

Dennoch kann diese Struktur menschlicher Gleichwertigkeit sich nicht als herrschende Struktur durchsetzen, sie bleibt auf einzelne Bereiche des Privatlebens beschränkt, sie setzt sich also nicht als allgemeine öffentliche Struktur durch.

Die historische Grenze des Römischen Rechtes ist also genau diese Unfähigkeit, ein öffentliches Recht zu schaffen, das ein lex generalis omnium verwirklichen kann und eine Welt vor dem Gesetz gleicher Rechtspersonen.

Was den weltlichen rechtlichen Institutionen nicht möglich ist, ist jedoch - nach der Überwindung der Anfangsschwierigkeiten dem abstrakten System der monotheistischen, auf die Schöpfung bezogenen christlichen Religion möglich. Die Vorstellung, daß jeder einzelne Mensch in der Welt endlich ist, reduziert immer mehr die Bedeutung der weltlichen, d. h. der konkret erfahrenen Unterschiede, während sie die abstrakte Identität der Subjekte - der Seelen - betont. Aber all dies beinhaltet, daß es ziemlich unerheblich ist, ob man der gesellschaftlich herrschenden Elite angehört, doch es beinhaltet auch die grundlegende Bedeutungslosigkeit jeder gesellschaftlichen Fragestellung und jeder politischen Strategie, eben deshalb, weil die Einigung der Menschheit weder die Aufgabe einer Klasse, noch die eines Staates oder einer Kultur sein konnte.

Im Gegenteil: die real existierende Welt des praktischen Lebens verknöchert in ihren konkreten Differenzen, die als hierarchische Pluralität des Dienens für eine metapolitische Strategie zur Einigung der Menschheit aufgefaßt werden: das Diesseits hat nur dann einen Sinn, wenn es im Dienste des Jenseits steht. Hier wird der große Vorteil des Christentums gegenüber der antiken Weltauffassung deutlich: jedes einzelne Individuum wird eben als solches zumindest insofern aktiviert als es eine Seele hat, und die Menschheit kann endlich als Gesamtheit der real existierenden Wesen gedacht werden, wenn diese auch sozusagen nur als abstrakte Inhaber einer Seele zählen. Somit wird endlich die Menschheit entdeckt, wen n sie auch nur mit einem ursprünglich göttlichen Erbe versehen wird, das sie dann verlor, und das sie nur im Himmelreich wiedergewinnen kann. Die Menschheit ist genaugenommen eine Projektion der irdischen Wesen ins Jenseits, und so ist es bereits möglich, universelle Aufgaben und universelles ethisch-politisches Handeln zu denken, wenn diese auch nur dadurch eine allgemeine Bedeutung erlangen, daß sie sich selbst nur als von der Religion abhängige Artikulierungen begreifen.

8. Der historisch-ideelle Gesichtskreis der modernen Bourgeoisie stellt einen tiefen Bruch mit diesen vorneuzeitlichen Anschauungen über den Menschen dar: seine Voraussetzungen sind im wesentlichen die folgenden: 1. gegen die antike Welt wird die christliche Idee hochgehalten, daß die politischen und sozialen Organismen keine Organismen der Natur, sondern künstliche Schöpfungen der Menschen sind; 2. gegenüber der christlichen Idee, daß diese Einrichtungen mit dem göttlichen Willen ausgestattet seien, wird darauf bestanden, daß es sich hierbei im Gegenteil um weltliche und vertragliche Einrichtungen der Menschen handelt, die ihrer Natur nach von einer unzerstörbaren autonomen Subjektivität begabt sind.

So wird erst möglich die Unterstellung einer Universalisierung des menschlichen Willens in den beiden großen Systemen a) der weltlichen Ethik, auf deren Grundlage die individuelle Entscheidung sich als universeller kategorischer Imperativ darstellt, b) der gesetzlichen Ordnung, in der die universelle Verallgemeinerung ihre größte Verwirklichung in der Gleichstellung aller als gleiche Subjekte vor dem Gesetz findet, das von allen abhängt und für alle gleich ist.

Auf diese Weise bleiben die Unterschiede zwischen den Individuen zwar bestehen, aber sie setzen nicht mehr die formelle Diskriminierung der menschlichen Gattung in zwei Abteilungen (die Herrschenden und die Beherrschten) voraus und ebensowenig die christliche Vertagung jeglicher universeller Neugestaltung aufs Jenseits.

Auf der Ebene der politisch-juristischen Abstraktion, die die typische Sphäre der bürgerlichen Vereinheitlichung der Welt ist, werden einige Aspekte menschlicher Gleichstellung möglich: 1. alle Bürger desselben Nationalstaats können als gleiche Besitztitelhalter jedweden Rechts und jedweder Pflicht aufgefaßt werden; 2. im Bereich der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse also unabhängig von den besagten politisch-staatlichen Unterschieden - können sich alle Menschen als gleiche Besitzer der Menschen- und Eigentumsrechte verstehen; 3. unter einem zunächst programmatischen Aspekt können alle Individuen, unabhängig von ihrem Eigentümerstatus, als Subjekte der "großen" Frei heiten betrachtet werden: der Freiheit des Wortes und des Denkens, der Freiheit von Not, der Freiheit der Person.

Diese verschiedenen Aspekte der Gleichstellung der Menschen stellen andererseits Ebenen dar, die jeweils in ziemlich unterschiedlichen Verhältnissen zur praktisch-institutionellen Realität stehen; diesbezüglich ist der unterschiedliche Grad ihrer Verwirklichung positiv oder negativ vorgegeben durch die unüberwindliche nationale Souveränität der Staaten. Von diesen Aspekten menschlicher Gleichstellung ist der zweite zweifellos der meistgarantierte; hinter ihm wirkt das moderne Eigentumsrecht gleichermaßen auf den, der eine Fabrik betreibt, wie auf den, der seinen eigenen Körper anwendet. Aber es ist klar, daß dieser Aspekt der Gleichheit nur verwirklicht wird, indem die gesellige Ungeselligkeit (Kant), die sich in der modernen bürgerlichen Gesellschaft der einander bekämpfenden Privaten etabliert, als unveränderbar und der "menschlichen Natur" eigentümlich postuliert werden. Freilich stützt sich diese eher fiktive Gleichstellung der Menschen als gleiche Eigentümer (ihrer selbst oder von Dingen) zugleich auf die Anerkennung der gleichen Möglichkeit, in der Welt zu expandieren, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und "das Glück" zu erlangen. Alle sind Subjekte und Eigentümer oder Menschen sui iuris: sie sind, um mit Kant zu sprechen, Menschen gleicher Würde, angesichts derer die wahrnehmbaren Unterschiede zu vernachlässigen sind. Wenn das auch noch wenig ist, so ist es doch schon etwas Wesentliches. In der Tat werden die wahrnehmbaren Unterschiede jetzt zwar als unverrückbar, unveränderbar und unaufhebbar vorausgesetzt, aber sie werden trotzdem tendenziell in ihrer Bedeutung negiert. Ihre Bede utsamkeit ist völlig an die Tatsache gebunden, daß das Subjekt als Person sich als gesondertes Subjekt betrachtet, das nur auf die abstrakte oder moralische Universalisierung an sich Anspruch erhebt. Wenn sich das Subjekt in privates Subjekt und Staatsbürger verdoppelt, so ist es ebenso wahr, daß der Staatsbürger auf das Privatsubjekt Druck ausüben kann, daß die Politik auf die Wirtschaft Einfluß nehmen kann, daß die juristische Gleichheit theoretisch nicht das Auftauchen der sozialökonomischen Gleichheit verhindern kann. Schließlich sieht ein ganzer Kreis von Subjekten (das moderne Proletariat oder die Klasse derer, die bloß Eigentümer ihrer selbst, aber Produzenten der Dinge sind) eben darin die Erlangung des Glücks.

Der universalistische Antrieb, zu dem die von der Bourgeoisie repräsentierte Welt fähig ist, geht nicht über diese auffällige Grenze der Ambiguität hinaus: wir müssen gleich sein, weil wir konkret zu ungleich sind, aber wir dürfen nicht derart gleich sein, daß wir dasjenige aufheben, welches uns so verschieden macht und eben deshalb unsere bloß abstrakte Gleichstellung nötig macht! Die Gleichheit ist gleichzeitig das notwendige Modell sowohl der Universalität als auch der nicht auslöschbaren Utopie, die allerdings in die Grenzen der Ethik, des Rechts und der Politik verbannt wird.

Im bürgerlichen Zeitalter, bemerkte Marx, wird die Geschichte zu universellen Geschichte. Entsprechend entsteht auch die "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (Kant). Das Ende der formellen Privilegi en, die Angleichung der ethisch-juristischen und politischen Möglichkeiten stellt die Gesellschaft der individuellen Konkurrenz vor das Problem der Universalisierung. Auch Kant, der große Theoretiker des modernen Individualismus und der abstrakten Gleichheit, muß schreiben: "Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vol lständig entwickeln" (14). Auch für Kant besteht die Kultur "in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen" (15), aber dieser gesellschaftliche Wert des Menschen wird allein und ausschließlich als moralischer Wert aufge faßt. Die wahre Grenze der vollen gesellschaftlichen Entfaltung des menschlichen Wesens besteht gerade in der Unfähigkeit, dem gesellschaftlichen Charakter eben der praktischen, von den Menschen produzierten Werte Rechnung zu tragen. Die gesamte klassische, für Kant zeitgenössische Ökonomie dreht sich in ihrem Bemühen genau um das Problem des Arbeitswerts, um aus der großen Antinomie des bürgerlichen Denkens herauszukommen: der Mensch ist ein soziales Wesen, aber seine Gesellschaftlichkeit wird praktisch verunmöglicht durch die Dominanz des Privateigentums, sei es bei der Beherrschung der Natur, sei es bei der Konstruktion der gesetzlichen Autonomie des Individuums, sei es bei der moralischen Entfaltung der Freiheit. Nicht zufällig stellt sich Kant die Gesellschaft als einen Wald vor, in dem jeder Baum "dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht", sodaß sie "einander nötigen, beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und voneinander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen" (16). Man begreift, daß die Universalisierung in Wirklichkeit auf Selektion reduziert ist: "Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird sich zu disziplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln " (17). Diese abgedrungene Kunst ist das moderne Nationalstaatsrecht: Kunst des Zwangs. Die naturwüchsige Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft wird durch diese Kunst diszipliniert, die dann auch die Weltbürgerschaft der Staaten regiert, die sie ebenso ständig entzweit. Für Kant ist jedoch (wie für Marx!) das, "was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand", aber das, was konkret möglich ist, ist nur ein "künftiger großer Staatskörper" (18).

Ersteres bleibt das Modell, an dem sich die Praxis der erscheinenden Existenz der Staaten immer orientiert, ohne es jemals zu erreichen; ihr Wesen ist aber durch das Wesen der abstrakten und zwangsweisen Regelung der naturwüchsigen und unaufhebbaren Ungesellschaftlichkeit der bürgerlichen Eigentümergesellschaft vorgegeben.

Aber hier deutet sich eine gefährliche Spannung an, die zu einem Bruch führen muß: in die eine Richtung drängt die geistige Entdeckung der theoretischen Notwendigkeit einer Universalisierung der Existenz, welche die sozialen, politischen und juristischen Unterschiede des Eigentums, des Staates und des Rechts überwindet, um in den erscheinenden historischen Institutionen das "gesellschaftliche Wesen des Menschen", aus dem die Kultur besteht, zu verwirklichen. In die andere Richtung drängt hingegen das (klassische) verkehrte Vorurteil, daß Eigentum, Staat und Recht - die echten Hindernisse einer wirksamen universalistischen und kosmopolitischen Ordnung - unverrückbar seien, weil sie der "schlechten" Natur der Menschen entsprechen. Und zwar, wohlgemerkt, der schlechten Natur der assoziierten Menschen (der Gesellschaft), da jedes einzelne Individuum für sich genommen ja im Gegenteil bereits ein universeller Wert sei. Hinter der Rousseauschen Kritik der Zivilisation kommt schon der moderne Skeptizismus gegenüber dem Leben in der Gesellschaft, die privatistische Neigung des modernen Robinson zum Vorschein.

Darin besteht der Bruch: die Kultur drängt in eine Richtung, die (bürgerliche) Gesellschaft in eine andere. Wenn die (bürgerliche!) Kultur sich konsequent universalistisch entwickelt, drängt sie in Richtung einer Beseitigung aller praktischen Hindernisse und anerkennt in wachsendem Maße deren nicht naturgegebenen, sondern historisch-künstlichen Charakter (die abgedrungene Kunst von Kant), überdenkt noch einmal kritisch deren Grundlage und Berechtigung. Aber dergestalt kommt sie mit den Institutionen der etablierten Gesellschaft in Konflikt, während zugleich die etablierte Gesellschaft mit der Kultur kollidiert. Die Kultur fordert die Weltbürgerschaft und kritisiert die Gesellschaft; die (b ürgerliche) Gesellschaft weist die Weltbürgerschaft zurück und fordert eine auf ihren unabdingbaren Notwendigkeiten - Eigentum, Staat und Recht - zurechtgestutzte Kultur.

Das bürgerliche Zeitalter gerät notwendig in diese Antinomie: es produziert immer mehr Kultur aber eben auch immer mehr Zerstörung der Kultur. Es ist kein Zufall, daß das Vaterland von Kant auch das Vaterland Hitlers ist.

9. Lesen wir nun Gramsci: "Das Absterben der alten Ideologien verwirklicht sich als Skeptizismus gegenüber allen Theorien und allgemeinen Formeln sowie als Hinwendung zum rein ökonomischen Tatbestand (Gewinn etc.) und zur Politik - nicht nur im Sinne faktischer Realpolitik (wie das immer der Fall ist), sondern zu einer in ihren unmittelbaren Äußerungen zynischen Politik (... ). Aber diese Reduktion auf Ökonomie und Politik bedeutet genaugenommen Reduktion der höheren Überbaustrukturen auf die mehr zur Basis gehörigen, bedeutet also die Möglichkeit und Notwendigkeit der Herausbildung einer neuen Kultur." (19) Und mit noch größerer Präzision: "Die rückschrittlichen und konserv ativen sozialen Gruppierungen kehren immer mehr zu ihrer anfänglichen ökonomisch-korporativen Phase zurück, während die fortschrittlichen und erneuernden Gruppierungen sich noch in ihrer anfänglichen, ebenfalls ökonomisch-korporativen Phase befinden." (20) Um die schöne Metapher von Gramsci anzuwenden: das "Geistige" entfernt sich vom "Irdischen", sei es weil das Geistige gegen das - um es so auszudrücken - Irdisch-Geschäftliche und Irdisch-Imperiale der Bourgeoisie sich auflehnt, sei es auch, weil das Irdische selbst das Geistige zurückweist, das auf der Suche nach Universalität ist. (21)

Ist hier nicht mit großer Feinheit ein wahres und wirkliches historisches Gesetz erfaßt und, im besonderen, die Tendenz unserer Epoche der allgemeine Krise der bürgerlichen Welt? Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte abstirbt und das Neue noch nicht ins Leben treten kann. Und, wohlgemerkt, das Alte stirbt, weil seine praktische Struktur sich von seiner theoretischen Struktur ablöst, weil die Welt seiner Interessen mit der Welt der Kultur und der bereits proklam ierten Universalität zusammenstößt. Das Neue kann deshalb nicht heraustreten, weil das neue historische Subjekt - die Arbeiterklasse - noch in seiner ökonomisch-korporative Enge "verpuppt" ist, auf die sich ihrerseits die he rrschende Klasse selbst mehr und mehr zurückzieht. Die allgemeine Bedrohung, die sich für die heutige Zeit abzeichnet, ist die eines allgemeinen ökonomisch-korporativen Niedergangs aller, d. h. die Gefahr einer allgemeinen Zersetzung und eines allgemeinen Zusammenbruchs der Kultur, der Zivilisation selbst. Und dazu trägt die Unfähigkeit der Bourgeoisie, an den von ihr selbst formulierten historischen Aufgaben der Universalisierung festzuhalten, erheblich bei, ebenso aber die noch unzureichende Fähigkeit der Arbeiterklasse, von ihren klassenmäßig begrenzten Aufgaben zu den universellen historischen Aufgaben aufzusteigen, die uneingelöst blieben und die nur sie kraft ihrer eigenen praktisch-sozialen Struktur übernehmen kann. Im "Aufgabenverzeichnis" ihrer eigenen Klassenemanzipation sind eingetragen: die Kritik des Eigentums, des Staates und des Rechts, die internationalistische Solidarität und die allgemeine Vereinigung in der Weltbürgerschaft der Arbeiter. Die praktischen Klasseninteressen enthalten also objektive Elemente der Universalität; Gramsci deckt sie auf - wie schon der junge Marx -, aber mit größerer Schärfe (die durch unsere Zeit der Krise vorgegeben ist) spricht er ein neues Verhältnis zwischen Klassenemanzipation und allgemeiner Emanzipation aus. Er sieht nämlich, daß in den entwickelten Gesellschaften die sozialistische Revolution nur als zunehmende Auflösung eines herrsche nden historischen Blocks zum Durchbruch kommen kann, eines historischen Blocks, der durch historisch-allgemeine Werte der großen europäischen Kultur (nach Gramsci der einzigen historisch und konkret universellen Kultur) gefestigt ist; daher ist hier die sozialistische Revolution einzig in der Form des fortschreitenden Aufbaus eines anderen historischen Blocks möglich, der in der Lage ist, diese Werte durch die Gestaltung eines neuen Verhältnisses zwischen Kultur und Klassen zu assimilieren. Das wird um so eher möglich, als die Ablösung der bürgerlichen Korporativinteressen von der bürgerlichen universalistischen Kultur während der laufenden Krise stattfindet und gleichzeitig die Arbeiterbewegung ihr eigenes klassenkorporativistisches Sektierertum kritisiert (Lenin: der Linksradikalismus als Kinderkrankheit im Kommunismus; die sektiererische Selbstisolierung des italienischen Proletariats als Voraussetzung für den Sieg des Faschismus; der Stalinismus als Beleg des im Sektierertum angelegten Masochismus). Es handelt sich also nur darum, die Überwindung der Unreife und des Infantilismus der neuen Klasse, ihr "extra-uterines" Wachstum zu beschleunigen, das die Klasse dazu bringen muß, die Aufgaben der Universalisierung anzugehen. Politisch besteht das Problem also darin, ein positives Projekt der Umgestaltung zu entwerfen, das einen für die ganze Gesellschaft annehmbaren Gesamtaufbau vorschlägt; im kulturellen Bereich handelt es sich darum, außer einer wirksamen Orientierung der Kultur an hermeneutische Zwecke, auch eine Rekonstruktion und ein Programm ethisch-politischer Geschichte auszuarbeiten ("Die Philosophie der Praxis wird daher die Verkürzung der Geschich te auf bloß ethisch-politische Geschichte als unpassend und willkürlich kritisieren, ohne diese jedoch auszuschließen" 22.) Während sich die Kultur oder Universalität von den praktischen Interessen der Bourgeoisie ablöst, verbindet sie sich noch nicht mit den praktischen Interessen der Arbeiterklasse. Daraus ergibt sich nicht nur eine praktische, sondern auch eine moralische und geistige Krise, in der das Schicksal der Arbeiterklasse und das der Gesellschaft gemeinsam aufs Spiel gesetzt sind. Sollte die Verbindung nicht verwirklicht werden, bleibt die Arbeiterklasse in den "starken Kettengliedern" des kapitalistischen Systems unterlegen, weil sie nicht die Kraft hat, sie mit einer umfassenden kulturellen Eroberung zu schwächen. Aber gleichzeitig bliebe die geistige Kultur der modernen Welt ihrer konkreten und politisch-sozialen Bezugspunkte beraubt und versänke immer mehr im Labyrinth der Entfremdung und Verzweiflung in der Trennung der Geschichte. Der leichtere Sieg in den "schwachen Kettengliedern" kann diese "Flucht" der entwickelten Gesellschaft nicht ausgleichen. Von daher ergibt sich die Wichtigkeit der "Katharsis" in der Geschichte der Arbeiterbewegung, d. h. des "Übergangs von der bloß ökonomischen (oder egoistisch-leidenschaftlichen) Aktivität zur ethisch-politischen Wirksamkeit", nämlich zur "höheren Verarbeitung der Basisstruktur zur Überbaustruktur im Bewu&s zlig;tsein der Menschen" (23). Aber diese Katharsis, von der nunmehr sowohl der klassenpolitische Sieg der Arbeiter als auch das Überleben der Kulturgesellschaft ("Sozialismus oder Barbarei") abhängt, ist etwas gänzlich ander es als eine bloße Anstrengung im Sinne eines politischen Voluntarismus oder einer bloßen Erweiterung der Bündnisse. Es ist im Gegenteil die Fähigkeit, das eigene Sektierertum zu kritisieren und den praktischen Kampf auf das Ni veau der Allgemeinheit zu heben, also die Fähigkeit, universalistische Probleme und Lösungen anzugehen und auszuarbeiten! Es handelt sich um ein theoretisches und kulturelles Wachstum, das sich als Kritik an der egoistisch-leidenschaftlichen Enge der sozialistischen Tradition entfalten muß, sowohl am ökonomistischen Reduktionismus der theoretischen Tradition als auch an der arbeiterfixierten, operaistisch-aktivistischen Tradition der praktischen Politik. Da es sich nicht schlicht und einfach um eine Ausweitung der Bündnisse, sondern um eine Vertiefung des Wissens um die theoretisch-historischen Mechanismen, die die Arbeiterpolitik mit der Universalität verbinden, handelt, muß die Kritik unter dem zweiten Aspekt notwendig in eine neue Kritik der Grenzen der Politik als reine Interessenvertretung oder als instinktive, leidenschaftliche Korporativpolitik einmünden. Die wissenschaftlich-rationale Grundlage des modernen Sozialismus muß wiederentdeckt werden, das heißt, die Politik auf die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Sphären stützen: von den Basisstrukturen zu den Überbaustrukturen, vom ökonomisch-egoistischen zum ethisch-politischen Wirkungszusammenhang.

Hier begreift man die erneuernde Tragweite, die das Denken von Gramsci in der Geschichte des Marxismus erlangt: Gramsci geht das Problem an, von der ausschließlichen Erforschung der Anatomie (der Ökonomie) zum Studium aller historischen Gestalt ungen überzugehen ("Sicherlich kann man nicht sagen, daß vom menschlichen Körper die Haut (und auch ein historisch vorherrschender Typ physischer Schönheit) bloß Illusionen seien und nur das Skelett und die Anatomie Realit& auml;t besäßen - trotzdem hat man lange Zeit Ähnliches behauptet" (24). Das erfordert eine unmittelbare kritische Revision des traditionellen Modells mit dem man simplerweise die "Einheit von Theorie und Praxis" interpretier t hat: ein Modell, in dem immer und allein die Theorie zur Einheit aufgerufen wurde, niemals die Praxis, denn "man spricht von der Theorie als >Ergänzung< oder >Anhängsel< der Praxis, von der Theorie als Dienstmagd der Praxis" (25). Es handelt sich hingegen gerade heute - in der Krise - darum, den "theoretischen Aspekt der Verbindung Theorie-Praxis" zu verstärken, denn: "auf dem >praktischen< Element der Verbindung Theorie-Praxis zu insistieren (. . . ), bedeutet eine historisch relativ primitive Phase zu durchlaufen, eine noch ökonomistisch-korporative Phase." (26) Das schließt sowohl die Kritik des politischen Pragmatismus ein, als auch die Kritik einer traditionellen Tendenz des vulgären Marxismus, der sich mit dem bloßen Hinweis auf die "Funktionalität" der Ideen für die Welt der Interessen begnügte; darin entblößt sich die Unfähigkeit, sich mit den Höhepunkten der bürgerlichen Tradition zu messen: "Man gewinnt den Eindruck (... ), als wolle man nur gegen die schwächeren oder vielleicht die schwächsten Positionen kämpfen (. . . ), um leicht verbale Siege zu erhalten (denn von realen Siegen kann man nicht sprechen)" (27). Hier scheint Gramsci wieder jenen Wettstreit über die Höhepunkte des geistigen Lebens vorzuschlagen, den Marx in theoretischer Polemik mit Smith, Ricardo und Hegel sah und nicht etwa bloß in ideologischer Polemik, bei der es nur darum geht, das cui prodest der theoretischen Aussagen aufzuzeigen, sondern in echten wissenschaftlichen Diskussionen zur Ermittlung der theoretischen Tragweite der Abstraktionen und Kategorien vermittels der Verifizierung ihrer historisch-realen Träger. Nicht zufällig nimmt Gramsci die Kritik der spekulativen Philosophie wieder auf, zeigt die Gefahr einer dogmatischen Verknöcherung des historischen Materialismus auf und weist eine (leider nicht unbeträchtliche) marxistische Tradition zurück, die den historischen Materialismus in eine bescheidene Sozialpsychologie oder, mehr noch, in eine approximative Wissenssoziologie verwandelt hatte.

10. Gramsci entdeckt auf diese Weise wieder, daß der Marxismus mit dem Primat des Klassenkampfes überhaupt keine Reduktion der Geschichte auf die Bereiche der Ökonomie und Politik behauptet, sondern in diesen Bereichen den praktischen und politischen Schlüssel zur theoretischen und praktischen Artikulation einer wirksamen Universalisierung des Lebens des Menschengeschlechts sucht.

Aber worin kann diese Universalisierung bestehen? Wesentlich in der praktischen Beseitigung jeglicher Spaltung des sozialen Gemeinwesens, handele es sich um ökonomische oder politische Spaltungen, und daher in der praktischen Einigung der gesamten Menschheit unseres Planeten. (28) Wir begegnen auch hier, im Programm des wissenschaftlichen Kommunismus einer Perspektive der Kritik der Politik - nicht nur der Politik als geistiger, sondern als institutioneller Dimension der Existenz, d. h. der modernen Politik als Sphäre der Staatlichkeit. Es handelt sich sicher nicht um eine Perspektive, die gewissermaßen die einigende Potenz des Staates in Frage stellte - die Italien allerdings lange fehlte -, sondern die im Gegenteil die potentielle Fähigkeit der Menschheit maximal verwirklicht, indem die staatlichen Grenzen der modernen politischen Vereinigung programmatisch überwunden werden. Kurzum, die Kritik der Politik wird entworfen als Kritik des Nationalstaats gerade im Namen jenes Vereinigungsprogramms, das der Nationalstaat auferlegt: wenn der Nationalstaat tatsächlich ein Niveau der Vereinigung ist, das durch das Streben zur Überwindung der korporativen Partikularinteressen notwendig geworden ist, - warum in aller Welt könnte der nationalstaatliche Korporativismus nicht ebenfalls überwunden werden?

Aufgezeigt werden soll, daß die traditionelle marxistische Voraussage des "Absterbens des Staates" in der gramscianischen Sicht der "Universalisierung" der Politik eine völlig neue Tragweite erlangt. Was in der Vergangenheit bloß die doktrinäre Anwendung eines marxistischen "Kanons" war, erscheint nun als ein Anspruch innerhalb der Politik selbst, soweit sie sich als echte Einheitsstiftung und Überwindung des Partikularismus versteht. Jetzt kommt es dazu, daß das Absterben des Staates gleichzeitig bedeutet: Überwindung des nationalen Marktes, der nationalen Grenzen, Entwurf einer weltweiten Vereinigung der menschlichen Gattung und besonders das Ende der Spaltung in Regierende und Regierte , Intellektuelle und einfache Menschen.

Gerade die letztgenannten Entsprechungen zeigen, wie die Kritik der Politik sich als Universalisierung der Politik erweist, soweit diese nicht ausschließlich als Macht begriffen wird. In dem Maße wie sie das, was sie allgemein von sich behauptet, wirklich sein will, d. h. Vereinigung und Universalisierung des Menschengeschlechts muß sich die Politik als Überwindung der Staats-Herrschaft präsentieren, deshalb auch als Überwindung des Nationalstaats und des Machtmonopols; sie muß als übernationale Vereinigung und konsensstiftende Funktion des Gemeinwesens verwirklicht werden. Aber gerade von dieser Seite her muß die Politik in eine kulturelle Perspektive eingefügt werden und sich löse n von den institutionell-repräsentativen Determinierungen (Funktion der modernen bourgeois-geschäftlichen bürgerlichen Gesellschaft) wie auch von dem elitären zwangsstaatlichen Charakter (Funktion der "Unmöglichkeit" einer echten Gemeinschaft in der modernen Welt der "natürlichen" Dissoziation und der bloß "künstlichen" Vereinigung).

Es scheint, daß nur in dieser Perspektive die technische und praktische Überwindung des traditionellen bürgerlichen Naturrechts plausibel wird, die Überwindung der Gegenüberstellung der Sphäre des "Naturrechts" des Menschen und der künstlichen Sphäre des "Sozialvertrages" mit seinen "Garantien". Jetzt verwandelt sich in der Tat jedes "Naturrecht" in konkrete historische Ansprüche und jede "Garantie" kann nicht mehr darauf beschränkt bleiben, eine rein formal-juristische Garantie zu sein, sondern muß als historisch-konkretes Muster fungieren, das von der praktischen Existenz her durchführbar ist.

Das Ende der schon klassischen Entgegensetzung von Naturrecht und positivem Recht bietet sich dar als Aufbau eines integrierten Gemeinwesens, in dem die Existenz nicht durch den ökonomischen Partikularismus und die Universalität nicht durch die juristisch-politische Abstraktheit begrenzt wird.

Das ist eine authentische Wiedergewinnung der marxistischen Forderung nach "Absterben des Rechts". Während in der traditionellen Fassung das Absterben des Staates und das Recht als abschließende historische Schritte erschienen, d. h. nur als Resultat und Schlußfolgerung eines wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses (der Leninsche Aufbau der "ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates" (29), erscheint die Überwindung der nationalen und zw angsstaatlichen Ende - ohne die konkrete historische Aufeinanderfolge der sozialen Prozesse zu verletzen - in der neuen Sichtweise von Gramsci schon im voraus als theoretischer Anspruch der Universalisierung der Politik, als gesellschaftliches Leben des Gemeinwesens oder, wenn man so will, als kulturellgeistige Forderung, die in nicht mehr doktrinärer Form das beschleunigt, was vorher nur als eherne Konsequenz der ökonomischen Praxis erschien. (30)

11. Es ist fast überflüssig darauf hinzuweisen, daß bei dieser neuen Sichtweise die unterschiedliche Bedeutung hervortritt, die die Frage der Subjektivität in der allgemeinen Dialektik des "historischen, gattungsmäßigen Klassenindividuums" (31) annimmt.

Hatte man diese Dialektik in der Vergangenheit hauptsächlich aus einer verengenden Perspektive betrachtet, die die Universalisierung des Menschen leugnete solange noch die Klassenspaltung bestehe, und die daher das historische Problem auf den bloßen ökonomisch-politischen Klassenkampf "reduzierte", so kann man nun der Geschichte wieder ihren vollen Wert zumessen - als Geschichte der Klassenkämpfe, in der sich zusätzlich ein historischer Prozeß der Zivilisierung der Menschheit entwickelt; und damit kann man zur gleichen Zeit die Möglichkeit zum historisch konkreten Genießen des Universalismus der Kultur gewinnen.

Die elitäre Abgehobenheit der traditionellen Kultur wird also nicht zu einem Vorwand, um die menschliche Universalisierung notwendigerweise auf den St. Nimmerleins-Tag der Verwirklichung des Kommunismus aufzuschieben. Nun wird nämlich - gerade weil sie für eine kritische Erweiterung der gegenwärtigen Politik des sozialen Wandels historisch notwendig ist - eine ganz einzigartige Hypothese möglich: die intellektuelle und kulturelle Universalisierung wirkt zugunsten einer Klassenpolitik, wenn es sich dabei um die Politik einer Klasse handelt, die nicht an die einengenden Institutionen des Marktes und der Nationalstaaten gebunden ist, und die stattdessen eine kosmopolitisch-internationalistische Dimension reflektiert.

Wenn die Arbeiterklasse also auch zunächst eine "ökonomistische" Spannung der menschlichen Verhältnisse fermentiert, so bringt ihr politisches Wachstum einen ganz neuen, "fruchtbaren" Klassenstandpunkt zur Reife: einen Klassenstandpunkt, der aus der Universalität jedweder kulturellen (auch abstrakten!) und wissenschaftlichen Hervorbringung einen Vorteil ziehen kann, insofern er die historische Fähigkeit zur Überwindung des utilitaristischen merkantilen und nationalistischen Partikularismus besitzt.

Je stärker man die "politische" Notwendigkeit eines Kampfes um die Führung eines neuen historischen Blocks entwickelt, umso größer wird für die Arbeiterklasse die Notwendigkeit und die Nützlichkeit der Ausweitung der politischen Dimension auf die Universalität der Kultur. Gerade in dem Augenblick, in dem - wie Gramsci feststellt - die Bedürfnisse der bürgerlichen Herrschaft sich von der Universalität der Kultur und der Wissenschaft ablösen und sich auf rein ökonomisch nützliche Interessen verengen, registriert man für die Arbeiterklasse die Notwendigkeit einer authentischen "Katharsis", die vom ökonomisch-korporativen Reduktionismus zu historisch verallgemeinerten Interessen führt.

Auf diese Weise wird die Abgehobenheit der elitären Darstellung der Kultur durch die Erweiterung der Politik kritisiert, und dieser Vorgang vollzieht sich als Überwindung der traditionellen politisch-technischen Beschränktheit der Macht.

Eine doppelte Abtrennung, und nicht nur eine einzige, wird also durch eine revolutionäre Politik, die auf potentiell revolutionären Interessen beruht, kritisiert und überwunden. Die Trennung der intellektuellen Arbeit von der gesellschaftlich-historischen Welt des Nationalstaates, die sich auf den nach unterschiedlichen Berufen geteilten Arbeitsmarkt gründet, und die Abgetrenntheit einer körperlichen Arbeit, die in untereinander verschiedene Berufe aufgegliedert ist, und nur durch die professionellen Techniken der "Anwendung" mit dem allgemeinen Gebäude des Wissens verbunden ist. In diesem theoretischen Rahmen wird, wie wir bereits festgestellt haben, die Rolle der Intellektuellen neu überdacht. Sie können nicht mehr nur als "Vermittler des Konsens" aufgefaßt werden, d. h. als soziale Schicht, und dies umso weniger als sich die Vermittlung des Konsens in der Massengesellschaft durch die Massenmedien vollzieht, d. h. durch institutionalisierte Kanäle, in denen die Intellektuellen sich nunmehr als untergeordnete Werkzeuge der Vermittlung fühlen. In Wirklichkeit verlieren die Intellektuellen dort, wo sie die soziale Funktion der Vermittlung des Konsens ausüben, jede intellektuelle Autonomie; und dort, wo sie sich diese Autonomie erhalten können, verlieren sie nicht nur jegliche Funktion für die Vermittlung des Konsens, sondern sie werden sogar zu den Organisatoren des sozialen Dissens. Dieser Prozeß betont immer stärker die intellektuelle Tätigkeit als solche und bringt sie in einen objektiven Gegensatz zu der sozialen Funktion, die der Schicht der Intellektuellen zugedacht ist. Stattdessen entwickelt sich eine Übereinstimmung der intellektuellen Arbeit mit den produktiven industriellen Arbeitsabläufen, in die sich ein wachsender Anteil intellektueller (wissenschaftlicher, technischer, kultureller) Tätigkeiten organisch einfügt.

Die Proletarisierung der Intellektuellen, die Massenkultur, die produktive Wirkung der Wissenschaft - die einigen als raffiniertes Instrumentarium einer modernen "Barbarisierung" erscheinen - erweisen sich aus dieser Perspektive im Gegenteil als Glieder eines lebendigen Wachstums der neuen historischen Gemeinschaft der Menschheit, als eine integrierte Gemeinschaft einer intellektuellen Arbeit, die die gesellschaftliche Praxis der Produktion befruchtet, und einer produktiven, praktischen Arbeit, die sich organisch mit Kultur und Wissenschaft verbindet.

12. Gewiß konnte Gramsci diese praktischen Entwicklungen zur Einigung nicht voraussehen; doch es war sein unzweifelbares und einzigartiges Verdienst, auf dem historischen Hintergrund einer agrarisch-industriellen Gesellschaft das historische und sozio-politische Gewicht der intellektuellen Arbeit zu erschließen und zu betonen, der die heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen eine unmittelbare Basis schaffen. Um es mit Gramscis Worten zu sagen: die Notwendigkeit der Formel "Universalität + Politik" - d. h. einer Revolution, die die geistige Kraft der Renaissance hat und gleichzeitig das Volk erfassen kann wie die Reformation - erhält heute konkrete soziale Anstöße aus dem Prozeß produktiver Vereinigung der geistigen mit der körperlichen Arbeit (d. h. der Klasse der Intellektuellen mit der Arbeiterklasse), sowie aus den Forderungen der revolutionären Politik nach einer kulturell-wissenschaftlichen Bereicherung.

Nunmehr - so kann man sagen - merkt eine universalistische Kultur (oder eine Kultur im Geiste der Renaissance), daß sie sich immer enger mit der "allgemeinen Klasse" der Produzenten verbinden muß, weil die partikularistische Klasse der Besitzer ihr Interesse an der Universalisierung nach und nach "verliert"; und zur gleichen Zeit bemerkt eine Reform für das Volk die Notwendigkeit, zu einer geistigen Kraft (oder einer Kraft im Geiste der Renaissance) zu werden, weil die korporative Klassenbeschränktheit (des Ökonomismus) auch die Emanzipation der Arbeiterklasse bremst. Die Kultur stellt fest, daß ihre universelle Aufgabe immer mehr der praktischen Verwirklichung bedarf, während die praktische Emanzipation einer immer stärkeren Entwicklung in Richtung auf eine freie universelle Subjektivität bedarf. Die Verknüpfung dieser beiden Aufgaben entsteht ebenso sehr aus einem spezifisch universalistischen Moment der Kultur, wie aus einem spezifisch "effektivistischen" Moment der Politik und schließlich auch aus einem konkreten gesellschaftlichen Bedürfnis, das durch die neuen Strukturen des Produktionsprozesses des technologischen Zeitalters zum Ausdruck kommt. Eben diese Verknüpfung bedingt die tiefgreifende Krise der Tradition der Aufklärung (der rationalistisch-abstrakten Kultur), der Tradition, in der die Politik nur eine Technik der Macht ist, und der jüngsten Versuchungen der Technokratie. Während also insgesamt die Bourgeoisie ihre (begrenzte) historische Aufgabe der Universalisierung erfüllt, indem sie auf der Basis einer Kultur, die von der Politik abgetrennt ist, und einer Politik, die von der Kultur abgetrennt ist, vorgeht, geht die Arbeiterklasse auf der Basis einer Kultur vor, die die Politik vermittelt, und auf der Basis einer Politik, die die Kultur vermittelt.

Wenn also eine Theorie der Kultur nur auf einer historischen Theorie der Klassen aufgebaut werden kann, so ist es genauso richtig und bedeutsam, daß eine historische Theorie der Klassen nur auf einer Theorie der sozialen Verhältnisse als eines historischen Verhältnisses zur Natur aufgebaut werden kann. Das heißt, die historische Existenz und selbst das Wesen der Klassen werden aus dem historischen Verhältnis, das die Menschheit gegenüber der Natur entwickelt, bestimmt. Und genau dieses Verhältnis das sich zunächst als materielles Verhältnis, d. h. als Verhältnis in der produktiven Bearbeitung der Natur entwickelt - ermöglicht die physische Reproduktion der Menschheit in ihren historischen Aus prägungen und verleiht ihnen gleichzeitig die spezifische Konfiguration sozialer Klassen, also menschlicher Gruppierungen, die sich nach einem besonderen und einzigartigen sozialen Modell produktiver Aktivität physisch reproduzieren.

Dennoch: wenn diese primäre Beziehung zur Natur sich als materielles Produktionsverhältnis ausdrückt, so erfordert und bestimmt seine Reproduktion selbst die Reproduzierbarkeit des sozialen Modells, und daher eine Reihe politischer Institutionen und eine Reihe begrifflicher Darstellungen, die gleichzeitig als historisches Resultat und als logisches Prinzip des materiellen Systems der Produktionsverhältnisse fungieren. Eben aus diesem Grunde produzieren und reproduz ieren sich die Produktionsverhältnisse innerhalb eines eigenen institutionell-kulturellen "Gehäuses", dessen Widerstandsfähigkeit und Reproduzierbarkeit sich mit der komplexen Fähigkeit (die der soziale Organismus historisch beweist) verbindet, die Niveaus der "bewußten" (eben politisch-kulturellen) Entwicklung in Gleichgewicht zu jenen der "unbewußten" (ökonomisch-materiellen) Entwicklung des historischen Systems der Klassen zu halten.

Daher erscheint eine Theorie der Klassen, die bei den "unbewußten" Niveaus stehenbleibt, höchst "reduktionistisch", doch ebenso eine Theorie der Klassen, die alle diese Niveaus in Stufen des vollendeten Bewußtseins verwandelt, und die damit den Institutionen immer weniger die Eigenschaft eines "Instruments" der Klassenherrschaft und den begrifflichen Darstellungen immer weniger die Eigenschaft einer "Klassenkultur" zuerkennt.

Aus diesem zweiten Blickwinkel versteht man, daß die äußerst trügerische Illusion reifen konnte, nach der man der "herrschenden Kultur" eine "Kultur der Beherrschten" gegenüber stellen müsse (so als ob diese - im Gegenteil - nicht bloß ein degradiertes Residuum der ersteren wäre) und so auch insbesondere die Illusion, daß man der bürgerlichen Kultur eine Arbeiterkultur gegenüberstellen müsse. Eine derartige Betrachtungsweise läßt vollständig die objektiven Bestimmungen der historischen Entwicklungen außer Acht, durch die die kulturellen Systeme hervorgebracht werden; zudem führt sie zum Beispiel notwendigerweise wieder zur Negation der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Konstruktion des gesellschaftlichen Bewußtseins als ein Bewußtsein von den materiell-objektiven Beziehungen zur Natur, die als solche verifiziert werden können. Aber sie muß dieser - bereits von der ideologischen Tradition des bürgerlichen Zeitalters proklamierten - Negation der Gesellschaftswissenschaft auch die Negation der Naturwissenschaften hinzufügen, die das bürgerliche Zeitalter prompt in dem Moment verkündete, wo die Geschichte als die Geschichte der Klassenkämpfe jeden "unbewußten" oder materiell-objektiven Aspekt aufsog, und daher - allgemeiner gefaßt - die (physische) Natur selbst zerstörte.

Aber diese Zerstörung der Objektivität ist gleichzeitig auch die Zerstörung der Möglichkeit einer Universalisierung der Menschheit.

Wenn es wahr ist, daß wie Marx sagte, "ein nicht objektives Wesen kein Wesen ist", dann kann nur ein objektives Wesen danach streben, sich als subjektives Wesen zu entfalten, und daher sein theoretisches Wissen und auch seine praktische Beherrschung aller Bereiche der natürlichen Objektivität zu erweitern. Überdies konnte Marx, gerade weil er diese Objektivität als allgemeines Feld der Wesen und auch der menschlichen Wesen anerkannte, eine wissenschaftliche Erklärung der Geschichte, einen Historischen Materialismus entwerfen. Und damit hatte er der entstehenden allgemeinen Klasse des modernen Zeitalters ein geistiges Ziel gewiesen: die Vervollkommnung der Begründung einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt, und daher auch die Universalisierung des Wesenmerkmals des Menschen: das Denken.

Wenn dies die Aufgabe des Menschen als Arbeiter sein kann, so bedeutet dies, daß endlich eine Vereinigung der praktischen, intellektuell noch mangelhaften, mit den theoretischen, noch praktisch begrenzten, Fähigkeiten möglich ist. Eine der artige Vereinigung scheint die spezifische Aufgabe und das universelle Ziel der kommenden historischen Epoche des Kommunismus zu sein.

Daß diese Vereinigung sich bereits heute als ein wesentlicher Ausdruck des politischen Kampfes der Arbeiterklasse darstellt, verdeutlicht den besonderen Wert der Klassentheorie Gramscis. In dieser Theorie ist nicht nur eine herrschende, nicht-führende Klasse möglich, d. h. eine Klasse, die historisch keine reale Fähigkeit zur hegemonialen Führung eines historischen Blocks besitzt, sondern auch eine führende, nicht-herrschende Klasse, d. h. eine Klasse, die historisch bereits die Fähigkeit zur Führung eines neuen historischen Blocks mit Hilfe des Konsens besitzt (ohne über die herrschende Macht im Staat zu verfügen).

Unsere Epoche scheint genau die Epoche zu sein, in der die Strategie des Konsens, d. h. die Eroberung des Konsens für einen universalistischen Entwurf, der auf die eigenen Klasseninteressen gegründet ist, für diese Klasse - in den "starken Kettengliedern" der Geschichte - nicht nur zu einer spezifischen siegreichen politischen Strategie unter vielen wird, sondern zu jener Strategie, die die Klasse zum Sieg führt. Denn diese Strategie drückt einen "allgemeinen" Entwurf aus, der in der Lage ist, die anderen sozialen Schichten von der herrschenden Klasse zu lösen, und deshalb eine neue universalistische Ordnung herzustellen, die nunmehr auf die bewußte Vermittlung auch der ökonomischen Interessen gegründet ist. Dank einer theoretischen Entwicklung, die durch die engen Grenzen der ökonomisch-korporativen Interessen notwendig wurde, wird also die Emanzipation der Arbeiterklasse schon ab heute auch als universelle menschliche Emanzipation entworfen und verwirklicht. Dadurch wird Folgendes deutlich: wenn ein erstes grundlegendes Moment der moralischen Entfremdung aller Menschen, insofern sie vollständig vereinzelte Individuen einer aufgelösten Gattung sind, von der ökono mischen Ausbeutung durch einige wenige Menschen abhängt und nicht aufgehoben werden kann, ohne daß diese Tatsache überwunden wird, so bedarf die praktische Überwindung der ökonomischen Ausbeutung (wegen eines zweiten - aber nicht sekundären - Moments) der politischen Vermittlung, in der auf der Ebene der Kultur die organische Vereinigung der gesamten Menschheit, und daher auch der theoretische Prozeß der Aufhebung der Entfremdung heranreifen muß.

* vgl. das Stichwort Politik als Leidenschaft in Teil II dieses Buches - Anm. d. Red.

* im Orig.: "non gelatinosa", nicht-gallertartig - Anm. d. tJ.

* deutsch im Original, Anm. d. U.

* Vermögen, (urspr. Vieh), das auch Sklaven besitzen konnten und dessen Fixierung im römischen Recht ihnen eine sonst fehlende Möglichkeit der (beschränkten) Teilnahme am Geschäftsleben erlaubte. - Anm. d. Ü.

Anmerkungen:

1 Diese polemischen Bemerkungen gehen größtenteils von der doktrinären Annahme aus, daß die Politik einer sozialistisch-marxistisch orientierten Partei im wesentlichen dann bestehen müsse, einen Gesetzeskanon "anzuwenden", und nicht darin, die (politischen) Kämpfe und die Analysen voranzutreiben. Bezeichnenderweise deckt diese Annahme sich mit jener eines gewissen, sich hartnäckig behauptenden dogmatischen Marxismus. Ich habe diese Positionen in meinem Buch & quot;Crisi ideale e transizione al socialismo", Rom 1977 kritisiert, auf das ich hiermit verweise.

2 Die Grundlagen dieser Tradition sind in der Theorie der Ideologie zu suchen, dort, wo die Ideologiekritik dennoch in die Begründung einer "Theorie der Wahrheit" einmünden muß. Aus dieser Tradition erwächst also der sonderbare Schluß, im Unterschied zu allen anderen Ideologien und aus dem einfachen Grunde, daß er die Ideologie einer fortschrittlichen und nicht die einer ausbeutenden Klasse ist, sei der Marxismus kein falsches Bewußtsein sondern eine wissenschaftliche Ideologie. Man beachte, daß insbesondere L. Althusser ("Lenin und die Philosophie", Reinbek 1977) und Adam Schaff ("Geschichte und Wahrheit", Wien 1970) auf dieser Linie liegen. In Wirklichkeit st eht diese Interpretation der Wissenssoziologie Mannheims näher als dem marxschen Denken. Es genügt darauf hinzuweisen, daß diese Interpretation, indem sie den "wissenschaftlichen" Charakter der Ideologie auf den Klassencharakter des Proletariats gründet, folgende Verwicklungen erzeugt: 1) sie macht den Verweis auf den Klassenunterschied zum Kriterium der Wissenschaftlichkeit, obwohl die Klassenunterschiede selbst erst untersucht werden müssen; 2) sie verteidigt einen so zialen Determinismus durch die Proklamation (und die darauffolgende Negierung) einer durch Proletarier (Marx? Engels? Lenin?) hervorgebrachten Theorie; 3) bei ihrer Definition der Wissenschaft unterläßt sie jede erforderliche Angabe einer wissenschaftlichen Methode und proklamiert überdies den Primat der Philosophie (einer neuen Philosophie) über die (Natur-) Wissenschaft.

3 L. Althusser, a.a.O. S. 51. Althusser schreibt - wobei er trotz einiger Bedenken die gesamte Kultur auf Politik reduziert: "Und an der Macht sind die philosophischen Gedanken des Bürgertums. Auch in der Philosophie ist die Machtfrage entscheidend. Tatsächlich ist die Philosophie in letzter Instanz Politik".

4 Man beachte nebenbei, daß dieser Primat der Klassen bei der Einschätzung der Kultur beinhaltet, daß die Kultur die Klassen nicht unterscheiden könne, daß sie also keine vollendete wissenschaftliche Klassenanalyse erbringen könne, die so beschaffen ist, daß sie den, der sie durchführt, dazu veranlaßt, sich von seiner Klasse abzuwenden und sich auf die Seite der fortschrittlichen Klasse zu stellen! Marx hat schon im "Kommunistischen Manifest" genau das Gegenteil vorausgesehen. Andererseits muß man auch daran erinnern, daß das " Kapital" in Bezug auf die Klassen diesen Standpunkt beibehält und daß Marx selbst geschrieben hatte, daß &q uot;die Klassen wieder ein leeres Wort sind, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhen. Z. B. Lohnarbeit, Kapital etc." (Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (DDR) 1953, S.21)

5 Diese unzulässige Akzentuierung des "Klasseninteresses" in der Kultur führt zu einer Abwertung des "unbewußten" und zu einer Überbewertung des internationalen Moments, d. h. des politischen Moments, in der begrifflichen Darstellung. Ein typischer Ausdruck dieser Tendenzen ist die Reduktion des Rechts auf die Politik, also die Mißachtung jeden Unterschieds zwischen Schuld und Vorsatz im Verhalten des Einzelnen, die soweit führt, daß der politische Irrtum in einen Rechtsbruch umschlägt (siehe meine Studie: Il pensiero giandico sovietico, Rom 1969).

6 Was den geschlossenen Ausdruck einer Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft verhindert, ist etwas ganz anderes als das "Klasseninteresse": es ist der tiefverwurzelte historische Idealismus, der nur durch eine immanente Kritik korrigiert werden kann, die fähig ist, einen konsequenten Historischen Materialismus hervorzubringen; genau diese Aufgabe nimmt Marx in Angriff.

7 Siehe dazu Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 1964. Weber verdeutlicht den "utopischen" Charakter seiner Idealtypen, denen ke ine konkreten historisch-sozialen Organismen entsprechen, durch die sie verifiziert werden können: a.a.O. S.239ff. Doch der Historische Materialismus wird zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommen, wenn seine Begriffe losgelöst von jeder &Uum l;berprüfung an historischen Organismen konstruiert und in einer neuen allgemeinen Philosophie der Geschichte hypostasiert werden So bemerkt Gramsci zwar, daß "die ethisch-politische Geschichte (Croces) eine willkürliche und mechanisc he Hypostase des Moments der Hegemonie ist" (Il materialismo storicoe lafilosofia di Benedetto Croce (Der Historische Materialismus und die Philosophie Benedetto Croces), Rom 1977, S. 233; - Quaderni del carcere (Gefängnishefte), Turin 1975, S. 1222), aber er weist auch auf die Gefahr einer spekulativen Umkehrung der Philosophie der Praxis hin. So schreibt er z. B.: "Wenn der Begriff der Struktur >spekulativ< aufgefaßt wird, so wird er mit Sicherheit ein >heimlicher Gott<; aber er darf gerade nicht spekulativ aufgefaßt werden, sondern historisch als Ensemble der sozialen Beziehungen, innerhalb deren die realen Menschen sich bewegen und tätig sind, als Ensemble objektiver Bedingungen, die mit den Methoden der >Sprachwissenschaft< untersucht werden müssen, und nicht mit denen der >Spekulation< Als ein >Bestimmtes<, das gewiß auch >wahr< ist, das jedoch vor allem in seiner >Bestimmtheit< ; untersucht werden muß, bevor es in seiner >Wahrheit< untersucht werden kann" (Il materialismo storico . . ., a.a.O., S.237; -Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1226). Man sieht nun, daß die "Wahr heit" hier die Schlußfolgerung aus einem Prozeß analytischer Ermittlung ist, und nicht umgekehrt! Denn andernfalls "tendiert auch die Philosophie der Praxis dahin, eine Ideologie im schlechtesten Sinne zu werden, d. h. ein dog matischer Kanon absoluter und ewiger Wahrheiten" (Materialismo storico . . ., a.a.O., S. 118;-Quadernidelcarcere, a.a.O., S. 1489). Dieser Gefahr kann man nur entgehen, wenn man die Antithese zwischen "Tatsachenurteil" und "Werturteil" (d. h. zwischen Wissenschaft und Ideologie) auflöst, in der Max Weber noch befangen war: "Die Kausalanalyse liefert kein einziges Werturteil, und ein Werturteil ist niemals eine kausale Erklärung". Werturteile auf der Basis von Kausalanalysen erstellen - dies beweist die Notwendigkeit einer kausalen Geschichtswissenschaft, d. h. einer historisch-materiellen Begründung der Kategorien.

8 In diesem Zusammenhang ist meiner Meinung nach die Diskussion über Gramscis Auffassung der Folklore sehr wichtig (siehe dazu: A.M. Cirese, Intelletueli, folklore, insfinto di classe, Turin 1976; und Gramsci: arte efolklore, Hrs g. v. G.Prestipino, Rom 1977). Ein erster Anhaltspunkt für die Auffassung Gramscis ist folgendes Zitat: "Die Position der Philosophie der Praxis befindet sich im Widerspruch zu der katholischen: die Philosophie der Praxis ist nicht darauf gerichtet, den >einfachen Leuten< ihre primitive Philosophie des gewöhnlichen Alltagsbewußtseins zu lassen, sondern darauf, sie zu einer höheren Lebensanschauung zu führen" (Il materialismo storico. . . a.a.O., S. 1 2f.; -Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1384). Und man beachte die Präzisierung Gramscis, daß "die Beziehung zwischen >höherer< Philosophie und Alltagsbewußtsein >politisch< garantiert wird" (Il materialismo storico... a.a.O., S. 11 ;-Quaderni delcarcere a.a.O., S. 1883). Die spezifische Bedeutung dieser Präzisierung liegt darin, daß "das Bewußtsein, zu einer bestimmten hegemonialen Kraft zu gehören ( das politische Bewußtsein also), das erste Stadium eines umfassenderen und fortschrittlichen (Selbst-) Bewußtseins ist, in dem Theorie und Praxis sich endlich vereinigen" (Il materialismo storico. . ., a.a.O., S. 13; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1385). Die Politik ist also eine Brücke für den Entwicklungsprozeß des kritischen Bewußtseins, aber nicht mehr!

9 Siehe dazu den guten Essay von P. Rossi, Antonio Cramsci sulla scienza moderna, in: Critica marxista, Nr. 2, März-April 1976 (jetzt auch in: Immagine della scienza, Rom 1977), der zu Recht eine positive Bilanz des Verhältn isses Gramscis zur Wissenschaft aufstellt.

10 Meiner Meinung nach unternimmt Gramsci nun im wesentlichen zwei miteinander verbundene wesentliche Schritte: er kritisiert den historischen Idealismus und seine "Kulturologie" ausgehend vom Primat der Struktur, und kritisiert dann den Ökonomismus des Vulgärmarxismus, indem er die Rekonstruktion der ethisch-politischen Geschichte vorschlägt.

11 Diese Feststellung gilt für den gesamten Marxismus der II. und III. Internationale: für Lenin, für Rosa Luxemburg, für Kautsky, für Renner und für Stalin.

12 Siehe: Note sul Macchiavelli, sulla politica e sullo Stato moderno (Anmerkungen zu Macchiavelli, zur Politik und zum modernen Staat), Rom 1977, S.55ff; Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1583ff. Doch man muß sich hier die gesamte Darstellung des Hegemoniebegriffs und des Staatsbegriffs bei Gramsci vergegenwärtigen.

13 Siehe z. B.: Quaderni del carcere, a.a.O., S. 424. Man muß hier an den äußerst zutreffenden Ausspruch Gramscis erinnern: "Der Marxismus hatte zwei Aufgaben: erstens die modernen Ideologien in ihren differenziertesten Ausdrucksformen zu bekämpfen, und zweitens die Volksmassen, deren kulturelles Niveau mittelalterlich war, aufzuklären" (Quaderna del carcere, a.a.O., S. 422). Hier wird sehr gut verdeutlicht, daß die Kritik der modernen Ideologie nicht "aufklärerisch" und die Unterstützung der Volksmassen nicht "populistisch" ist.

14 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin 1912 , S. 18.

15 a.a.O., S. 21.

16 a.a.O., S. 22.

17 a.a.O., S. 22.

18 a.a.O., S. 28. Diese Antinomie zwischen moralischem Weltbürgertum und politischer Staatlichkeit wird später in der hegelschen Konzeption der kosmisch-historischen Funktion, die die einzelnen Staaten zugeordneten Völker nach und nach &uum l;bernehmen, in bedeutender Weise systematisch erfaßt.

19 Passato e presente (Vergangenheit und Gegenwart), Rom 1977, S. 48f.; Quaderni del carcere, a.a.O., S. 312.

20 Passato e presente, a.a.O., S. 39; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 690.

21 Passato e presente, ebenda; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 691.

22 Il materialismo storico, a.a.O., S. 235; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1224.

23 Il materialismo storico ..., a.a.O., S. 48; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1244.

24 Il materialismo storico. .., a.a.O., S. 294; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1321

25 Il materialismo storico..., a.a.O., S. 14; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1386.

26 Il materialismo storico..., a.a.O., S. 15; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1386f.

27 Il materialismo storico. . ., a.a.O., S. 163f.; - Quaderni del carcere, a.a.O., S. 1423.

28 Hier bleibt das Problem einer nicht-nivellierenden, also einer die individuellen Persönlichkeiten bereichernden Struktur, die diese - in Bezug auf die produktiven Tätigkeiten - egalitäre Gemeinschaft haben müßte, ausgespart. Es handelt sich hierbei um eine wichtige Fragestellung, in der die marxsche Gemeinschaft (der Kommunismus) derjenigen Rousseaus und der Utopisten kritisch gegenübergestellt wird.

29 siehe: W.I. Lenin, Staat und Revolution, Kap. V (Die ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates), S. 470ff., in: Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin (DDR) 1960.

30 Man kann zu Recht behaupten, daß Gramsci auf diese Weise jene Forderung nach der Gemeinschaft, (im Original deutsch - Anm. d.Ü.), die ein grundlegendes Moment des marxschen Denkens gewesen, und dann später durch die immer weitere Vertagung auf die Zeit des "Aufbaus" des zweiten Stadiums des Kommunismus verkürzt worden war, in eigenständiger Form wiedergewinnt. Dabei handelt es sich natürlich um eine ideelle Wiedergewinnung, die das Modell praktisch-ö konomischer Abstufungen in keinster Weise aufhebt.

31 Ich sehe hier einen Zusammenhang zwischen der Fragestellung Gramscis und der des frühen Marx. Es handelt sich um die angedeutete "Kritik der Politik" als Prinzip einer politischen Führung und auch politischer Institutionen, die f&au ml;hig sind, den entfremdeten und entfremdenden Charakter der Politik soweit wie möglich bewußt zu kontrollieren. Allgemeiner kann man sagen, daß Gramsci den Aspekt der Subjektivität als Bewußtsein im komplexen Rahmen der Auflh ebung der Entfremdung auflöst. Ich betone hier vor allem die (natürlich indirekte) Wiederaufnahme der Frage des "Gattungswesens" des Menschen, das Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844, (in: MEW, Ergänzungsband I, Berlin DDR) erläutert, in die Thematik der der Politik beigefügten Universalität. Damit gelingt es Gramsci, die praktische Revolution so anzulegen, daß sie sofort zum Ferment einer intellektuellen und moralischen Revolution wird (und nicht umgekehrt), also eine die Entfremdung aufhebende Politik zu entwerfen; diese Politik kann die Entfremdung nicht nur deshalb aufheben, weil sie auf das zukünftige Ziel der praktischen Überwindung der Ausbeutung gerichtet ist, sondern vor allem auch deshalb, weil sie schon heute die kritisch-bewußte Rekonstruktion der Subjektivität ist, die Eroberung einer kulturellen Perspektive bereits im politischen Kampf, und also die &U uml;berwindung nicht nur der "abgehobenen Kultur", sondern auch der "abgehobenen Politik", d. h. allgemein gefaßt der geistigen Entmenschlichung, von der der frühe Marx spricht, und der "Immoralität, Mißgeburt, Hebetismus der Arbeiter und der Kapitalisten" (Ökonomisch-Philosophische Manuskripte..., a.a.O., S. 524). Man kann diese Perspektive eher einlösen, wenn man sich die marxsche Kritik des "noch ganz rohen und gedankenlos en Kommunismus" (ebenda, S.534) vor Augen hält, von dem man sagen kann, daß er "... indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert... nur der konsequente Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation ist&quo t;, ist (ebenda, S. 534). Marx kritisiert an diesem rohen Marxismus einige Merkmale, an denen man durch einen Vergleich die Bedeutung des Beitrags Gramscis zur "Verfeinerung" des Kommunismus ermessen kann: den allgemeinen Neid, die Nivellierungs sucht und schließlich wohlgemerkt die "abstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung und der Zivilisation" (ebenda, S.535). Die Gemeinschaft, die daraus entsteht und die Marx weiterhin kritisiert, ist nur "eine Gemeinschaft der Arbeit", oder "die Gemeinschaft als der allgemeine Kapitalist" (ebenda, S. 535). Die Universalität, von der Gramsci spricht, deckt sich also mit dem marxschen Kriterium dafür, inwieweit der Mensch in seinem gesellschaftlichen Verhältnis zur Natur (dessen unmittelbarster Ausdruck das Verhältnis des Mannes zur Frau ist) "als Gattungswesen, als Mensch sich geworden ist und erfaßt hat" (ebenda, S. 535); d. h. mit dem Kriterium da für"... in(wie)weit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, inwieweit also der andere Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwe isen ist" (ebenda, S. 535), und eben dies bedeutet Universalität. Indem Gramsci also die unmittelbare Wirkung der Kultur auf die revolutionäre Politik bloßlegt, verdeutlicht er in gewisser Weise - so wie Marx -, " . . . wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist", und " . . . ihre Lösung daher keineswegs nur die Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe nur als theoretische Aufgabe faßte" (ebenda, S. 542). Und er verdeutlicht auch, wie unter dieser Voraus setzung die Lösung auch eine Aufgabe des Bewußtseins, der Philosophie und der Kultur ist. Damit deckt Gramsci den tiefen Sinn der letzten marxschen These zu Feuerbach auf: wenn die Philosophen die Welt nur interpretiert haben, während es darum geht, sie zu verändern, so kann man die Welt nicht verändern, ohne sie zu interpretieren; und wenn man sie interpretiert, um sie zu verändern, so ist auch die Interpretation eine Art der Veränderung. Die Theorie kann die Praxis sicherlich nicht ersetzen, doch wenn sie dies begriffen hat, so wird sie selbst zu einer Aufgabe der Emanzipation des Menschen.



Quelle: Umberto Cerroni: Gramsci-Lexikon, VSA-Verlag Hamburg 1979









 

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