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1999-11-10
Das "Jospin-Papier"
Beitrag der Sozialistischen Partei Frankreichs zum 21.
Kongreß der Sozialistischen Internationale
(Wortlaut)
Vom 8. bis 10. November tagt in Paris der 21. Kongreß
der Sozialistischen Internationale. Das Präsidium der
gastgebenden französischen PS hat aus diesem Anlaß ein
Dokument beschlossen, das als eine Art Antwort auf das
"Schröder/Blair-Papier" verstanden
und in der Presse folgerichtig als "Jospin-Papier"
etikettiert wurde.
"Auf dem Weg zu einer gerechteren
Welt"
Jean Jaurès
In einer Zeit tiefgreifenden Wandels stellen sich die Sozialisten
natürlich Fragen hinsichtlich ihrer Identität. Nicht zum
ersten Mal. Im Laufe ihrer Geschichte sind sie immer wieder veranlaßt
gewesen, neue politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Sie haben sich den
Veränderungen angepaßt, ohne ihren Willen zur
Gerechtigkeit aufzugeben.
Überall haben sich unsere Parteien mit der Sache der
Demokratie und des sozialen Fortschritts identifiziert. Sie haben den
Kapitalismus bekämpft und durch politische und soziale Erfolge
dazu beigetragen, die Marktwirtschaft zu organisieren und zu
zivilisieren und ihr so ermöglicht, ihre Rolle voll auszufüllen,
und gleichzeitig eine Wohlstandsgesellschaft geschaffen, die
Ungleichheiten jeder Art vermindert. Sie haben den Kommunismus in
seiner totalitären Form entschlossen angeprangert, dessen
irregeleitete Logik dem humanistischen Anspruch widersprach, der dem
sozialistischen Ideal zugrunde liegt. Im Laufe der bewegten
Geschichte der Arbeiterbewegungen gegründet, sind sie zu
"Parteien des ganzen Volks" geworden, zu Verteidigern des
allgemeinen Interesses. In ihren nationalen Realitäten
verankert, haben sich die sozialistischen Parteien stets ihre
internationalistische Perspektive bewahrt. Nach den beiden
Weltkriegen und der großen Dekolonisierungsbewegung haben sie
der Schaffung internationaler Normen und Institutionen zunehmende
Bedeutung beigemessen, um Konflikten vorzubeugen und Entwicklung zu
fördern.
Das sind die Errungenschaften unserer Internationale, die in den
Industrieländern geboren wurde, doch heute weltweit vertreten
ist. Sie vereint Parteien, Bewegungen und Organisationen, die für
ihre Völker die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkörpern.
Sie müssen sich dieser Hoffnung würdig erweisen.
Unsere Zukunft meistern
Unsere Werte bestätigen
Die Dynamik, die uns eint, gründet sich vor allem auf die
Werte, die wir verteidigen. Die drei Grundsätze der
Französischen Revolution, "Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit", die vom Stockholmer Kongreß 1989 in
die Erklärung der Sozialistischen Internationale aufgenommen
wurden, liegen weiterhin unserem Engagement zugrunde. Freiheit: Ohne
sie kann es weder Demokratie noch eine vollkommene
Selbstverwirklichung des Einzelnen geben. Gleichheit: Sie verbietet
es, sich mit einer ungerechten Gesellschaft abzufinden.
Brüderlichkeit: Sie bzw. in der Tradition der
Arbeiterbewegung die Solidarität und Zusammenarbeit ist
es, die aus der Gesellschaft mehr als eine Ansammlung von Einzelnen
macht. Sie bringt die Rechte des Menschen und seine Pflichten in ein
Gleichgewicht. Wir wissen, daß diese Werte zueinander in einem
Spannungsverhältnis stehen können. Unsere Politik gewinnt
ihre Legitimität aus der Fähigkeit, zwischen ihnen zu
vermitteln und Prioritäten zu setzen, aber auch aus der
Notwendigkeit, neue Ziele zu berücksichtigen: den Schutz der
Umwelt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, den kulturellen
Pluralismus.
Über all dies herrscht unter Sozialisten Einvernehmen. Doch
die entscheidende Frage bleibt, heute wie gestern, wie sich unsere
grundsätzlichen Werte und die Mittel, die es erlauben werden,
sie in der Wirklichkeit umzusetzen, darstellen. Zwischen den
Grundsätzen und den Notwendigkeiten des politischen Alltags
müssen wir deutlich machen, was wir tun wollen, um eine
gerechtere und menschlichere Gesellschaft zu schaffen, müssen
wir die Verbindung zwischen den Zielen und den Mitteln aufzeigen.
Hierfür müssen wir uns erneut über unser Verhältnis
zum Kapitalismus klar werden.
Wir sind der Meinung, daß wir ein kritisches Verhältnis
zum Kapitalismus aufrechterhalten müssen. Denn die Sozialisten
wissen, daß die Marktwirtschaft, auch wenn ihre Stärke
darin besteht, eine unvergleichliche Produzentin von Reichtümern
zu sein, auch ungerecht und häufig irrational ist. "Eine
Kraft, die marschiert, ohne jedoch zu wissen, wohin sie marschiert."
Eine der bedeutendsten Entwicklungen der letzten 20 Jahre ist die
Zunahme der Ungleichheiten zwischen ebenso wie innerhalb der
Nationen. Die Krisen dauern an, mit hohen menschlichen Kosten, die in
der Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung ihren schmerzhaften Ausdruck
finden. Wir haben diese schwierigen Momente in Europa erlebt und
erleben sie noch immer, wir haben ihre Auswirkungen kürzlich in
Südostasien, in Lateinamerika und Rußland erfahren müssen.
Ein Erbe, auf das wir stolz sind
Die Sozialisten haben die Sackgasse der Planwirtschaft erkannt und
angeprangert, lange bevor das Scheitern des Kommunismus offiziell
festgestellt wurde. Sie waren der Meinung und haben bewiesen, daß
es notwendig und möglich ist, den Kapitalismus zu regulieren,
u.a. durch die Umsetzung einer antizyklischen Politik, die
Entwicklung von Sozialsystemen, den Vorrang von Bildung und
Ausbildung, die Durchsetzung einer Einkommenspolitik etc.
Wir müssen die Karikatur zurückweisen, die manche
gelegentlich vom Erbe der Sozialdemokratie der 50er und 60er Jahre
zeichnen. Es stimmt nicht, daß sie sich nur auf die Aktivitäten
des Staates verließ und systematisch die Staatsausgaben
begünstigte. Ihr Erfolg bestand vielmehr darin, durch Gesetze
und Verhandlungen, in deren Rahmen sie dem öffentlichen Sektor
eine mehr oder weniger große Rolle einräumte, die
Aktivitäten der wichtigsten Akteure einer Gesellschaft zu
koordinieren, deren Solidarität sie anstrebte: Regierung,
Unternehmerschaft, Gewerkschaften. Sie hat auf diese Weise, durch die
Versöhnung des Privateigentums an den Unternehmen mit einer
demokratischen Regulierung der Wirtschaft zugunsten der Mehrheit,
Vollbeschäftigung, ein starkes Wirtschaftswachstum sowie
spektakuläre soziale Fortschritte ermöglicht: Vergessen wir
das nicht.
Eine Modernität für alle
Heute sind wir wie in unserer ganzen Geschichte der
Modernität zugewandt, jedoch nicht irgendeiner Modernität.
Für uns ist Modernität untrennbar mit Authentizität
verbunden, d.h. der Treue gegenüber unseren Werten. Für uns
muß Modernität Trägerin von Fortschritt bleiben. In
der Entwicklung der Menschheit muß sie Fortschritte bringen,
nicht Rückschritte rechtfertigen. Darum wollen wir eine
gebändigte Modernität.
Modernität bedeutet nicht, sich angeblich naturgesetzlichen
Wirtschaftskräften auszuliefern, sie ist eine gemeinschaftliche
Konstruktion. Sie ist das Produkt einer auf demokratische Weise zum
Ausdruck gebrachten Souveränität. Um diese Modernität
zu konstruieren, benötigt die Welt unserer Meinung nach Regeln,
eine an die heutigen Bedingungen angepaßte Steuerung. Und wir
wollen eine vollständige Modernität. Modernität
beschränkt sich nicht auf den wirtschaftlichen Bereich: Sie
beinhaltet auch politische, soziale, kulturelle Aspekte. Schließlich
und vor allen Dingen wollen wir eine gemeinschaftliche Modernität.
Modernität sollte Gemeingut aller sein, nicht das Privileg
einiger weniger.
Um modern zu sein, müssen wir zunächst die Welt, so wie
sie ist, genau analysieren, um sie zu begreifen und zu beherrschen.
Das neue Zeitalter des Kapitalismus
Der Kontext, in den sich unsere Handlungen einordnen, ist in dem
Bericht der Kommission "Globaler Fortschritt", die von
Felipe González angeregt wurde, ausgezeichnet analysiert. Er
läßt sich nicht auf ein einziges Konzept beschränken
auch wenn der Begriff "Globalisierung" in
angemessener Weise den eingetretenen Wandel der Maßstäbe
beschreibt. Tatsächlich haben mehrere bedeutende Phänomene
unterschiedlicher Art dazu beigetragen, die Welt unter dem Zeichen
des Marktes zu einen und den Kapitalismus in ein neues Zeitalter
treten zu lassen: Nennen wir als die wesentlichen die technischen
Umwälzungen, ganz besonders im Informations- und
Kommunikationsbereich, die Zunahme des internationalen Handels, die
Entwicklung der Finanzverbünde und internationalen
Kapitalbewegungen, den Durchbruch aufstrebender kapitalistischer
Staaten, den Eintritt der kontinentalen Massen (v.a. China, Indien,
Brasilien und Rußland) in den wirtschaftlichen Austausch, den
Zusammenbruch und Zerfall der Sowjetunion und die Diskreditierung
revolutionärer Ideologien, die Hegemonie der USA.
Dieser tiefgreifende Wandel führt uns in eine zugleich
globalisierte und fragmentierte Welt. Er bringt neue Produktions- und
Beschäftigungsstrukturen hervor, die alte Solidaritäten
zersetzen. Er begünstigt die Entwicklung des Individualismus in
unseren Gesellschaften. Er begrenzt die Autonomie der Staaten und
beschränkt ihre Optionen. Auf diese Weise verringert er zugleich
die Hoffnungen, die in politisches Handeln gesetzt werden können.
Wir müssen also die Formen der Regulierung bestimmen, die das
neue Zeitalter des Kapitalismus erfordert. Das setzt die Festlegung
der jeweiligen Anteile, die dem Markt und die dem Staat zukommen
sollen, der Rolle des Einzelnen und der Gesellschaft, des
Wirkungsfelds der Nationalstaaten, der regionalen Gruppierungen und
der internationalen Organisationen voraus. Wir müssen dieselbe
Anstrengung des Willens und des Verstandes leisten, die die
vorangegangenen sozialistischen Generationen in einer anderen, aber
durchaus nicht einfacheren Welt geleistet haben.
Werte und Praxis sind also untrennbar. Der Kapitalismus impliziert
ständig erneuerte Risiken. Sie lassen sich nur ertragen, wenn
der Einzelne die Garantie der vollen Bürgerrechte [citoyenneté]
besitzt. Die Sozialdemokratie definiert sich weiterhin durch ein
Gerechtigkeitsideal.Es ist ihre Aufgabe, ein kohärentes Programm
zu formulieren, um die Ausübung individueller Fähigkeiten
und Initiativen so stark wie möglich zu fördern; um den
Unzulänglichkeiten des Marktes zu begegnen und Ungleichheiten zu
korrigieren; um die Rechte und Pflichten, die sämtliche
Bevölkerungsschichten die Reichen und Mächtigen
ebenso wie die Armen und Schwachen betreffen, zu definieren.
Der demokratische Sozialismus, der darin besteht, jeden soweit wie
möglich zu befähigen, am Leben der Gesellschaft
teilzuhaben, seine Rechte und seine Verantwortung voll auszuüben,
beruht auf einem Verständnis der Bürgerrechte , das alle
Bereiche der Wirklichkeit umfaßt. Es ist dieser Anspruch auf
bürgerschaftliche Teilhabe, an dem wir uns bei der Bestimmung
unserer konkreten Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit
weiterhin orientieren müssen.
Ein Anspruch auf bürgerschaftliche
Teilhabe [citoyenneté]
Wenn wir die jeweiligen Rollen des Staates und des Marktes
verdeutlichen wollen, müssen wir auf das Wesentliche
zurückkommen: der Sozialismus ist grundsätzlich ein Ideal
gemeinschaftlicher Souveränität, das darauf abzielt, die
Entwicklung des Einzelnen zu ermöglichen. Der moderne
Sozialismus muß ausdrücklich eine Theorie der
bürgerschaftlichen Teilhabe sein. Die Staatsbürger müssen,
wenn sie gemeinsam handeln, in der Lage sein, die wesentlichen
Entwicklungen der Gesellschaft zu meistern und insbesondere den
unerwünschten Auswirkungen der Handlungen Einzelner
entgegenzutreten. Jeder Einzelne ist zugleich Staatsbürger und
ein Akteur auf dem Markt. Der Staat und der Markt stellen zwei
legitime Institutionen dar, die jedoch unterschiedlicher Art sind.
Wir müssen das Primat der Demokratie bekräftigen. Sie ist
es, die den Staatsbürgern durch politisches Handeln die
Möglichkeit gibt, in allen Bereichen über das, was sie
betrifft, zu entscheiden. Das setzt Gleichheit beim Zugang zum
Entscheidungsprozeß voraus.
Daher rührt die entscheidende Bedeutung der Bildung, der
Ausbildung, der bürgerschaftlichen Teilhabe, des geregelten
Funktionierens der Institutionen. Daher rührt auch die
Notwendigkeit sozialer Bürgerrechte [citoyenneté],
die Lebenssicherheit und Chancengleichheit verbindet, um allen zu
ermöglichen, tatsächlich und umfassend an der politischen
Gemeinschaft teilzuhaben. Ein Handeln, das unseren Werten entspricht
und das Politische, Wirtschaftliche und Soziale nicht voneinander
trennt, kann sich an diesen Kriterien orientieren. Ohne sie bleibt
unklar, welchen Sinn das sozialistische Ideal in den Augen der Völker
weiter haben sollte.
Eine menschlichere Gesellschaft
"Ja zur Marktwirtschaft, nein zur Marktgesellschaft":
diese Formulierung von Lionel Jospin ist häufig aufgegriffen
worden. Sie unterstreicht, daß sich, auch wenn der Markt eine
eigene Realität darstellt, die Lebenswirklichkeit nicht auf den
Markt beschränkt. Die Teilhabe an der Gesellschaft hat nicht nur
ihre ökonomische Seite. Zu ihr gehört auch der Zugang zu
Gesundheit, Bildung, Kultur, Umwelt. Alles Güter, die im
wesentlichen nicht von einer Verteilung durch den Markt abhängen
und auch nicht abhängen dürfen. Eine menschliche
Gesellschaft ist eine Gesellschaft, deren Werte nicht ausschließlich
dem Profitdenken unterworfen sind. Eine menschliche Gesellschaft ist
eine Gesellschaft, in der nicht alle Waren mit Gütern
gleichgesetzt werden. Eine menschliche Gesellschaft ist eine
Gesellschaft, die sich die Reduzierung der Ungleichheiten jeder Art
zum Ziel gesetzt hat.
Den Markt eindämmen
Die Arbeit des Menschen und die Schöpfungen seines Geistes
können nicht auf einfache Waren reduziert werden. Der
menschliche Körper ist keine Ware und darum müssen die
Sozialisten die beunruhigenden Fragen aufgreifen, die die Bioethik
stellt. Die Gesundheit der Menschen ist keine Ware. Wenn die
Begrenzung der Gesundheitsausgaben unabdingbar ist, dann deshalb, um
den Fortbestand der sozialen Sicherungssysteme gegen den Widerstand
derjenigen zu sichern, die sie privatisieren möchten, um aus der
Gesundheit ein Geschäft zu machen. Ebensowenig darf die
Gesundheitsfürsorge durch den Freihandel gefährdet werden,
und es ist legitim, das Recht aller Völker auf eine sichere und
gesunde Ernährung zu verteidigen. Unsere Umwelt ist genauso
wenig eine Ware, ein simples Vorratslager an Rohstoffen, aus dem man
schöpfen könnte, ohne sich um die zukünftigen
Generationen zu sorgen. Nur nachhaltige Entwicklung ist echte
Entwicklung. Wir verwechseln die Produktion von [gesellschaftlichen]
Reichtümern nicht mit dem Produktivismus. Überall müssen
Produktivkräfte, ländliche Entwicklung und Bewahrung der
Umwelt miteinander in Einklang gebracht werden.
Eine menschlichere Gesellschaft ist auch eine Gesellschaft, in der
die öffentlichen Dienste den Zugang aller zu den wesentlichen
Dienstleistungen sichern, ebenso wie die soziale und territoriale
Einheit oder die Entwicklung von Aktivitäten, die langfristige
Investitionen verlangen. Auch wenn die Form der Leistungserbringung
von einem Sektor zum anderen unterschiedlich sein kann, von
Staatsbesitz bis hin zur Delegierung an die Privatwirtschaft, müssen
die Aufgaben des öffentlichen Dienstes aufrechterhalten werden.
Die Vollbeschäftigung wiedererlangen
Eine menschlichere Gesellschaft ist vor allen Dingen eine
Gesellschaft, die die Rückkehr bzw. den Zugang zur
Vollbeschäftigung organisiert. Die sozialdemokratische Politik
muß sich mit dem Streben nach Vollbeschäftigung
identifizieren. Arbeitslosigkeit bleibt die größte Quelle
von Armut. Die soziale Herausforderung besteht jetzt darin,
Vollbeschäftigung für Männer und Frauen zu erreichen
bzw. wiederzuerlangen und die wachsende Kluft zwischen qualifizierter
und nicht-qualifizierter Arbeit zu schließen, die durch die
technologischen Umwälzungen entstanden ist. Um uns dieser
Herausforderung zu stellen, dürfen wir uns nicht innerhalb der
falschen Alternativen bewegen, die die wirtschaftsliberalen
Konservativen vorgeben.
Stellen wir nicht mikroökonomische Politik gegen
makroökonomische Politik; tun wir nicht so, als ob die Hinnahme
erheblicher sozialer Ungleichheiten die Beschäftigung fördern
könnte.
Wir sind nicht bar jeder Handlungsmöglichkeiten und können
u.a. durch eine makroökonomische Politik, durch die Verschiebung
der Abgabenlast zwischen den Produktionsfaktoren, durch eine aktive
Arbeitsmarktpolitik, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, durch
Ausbildung, durch die Reduzierung der Arbeitszeit, durch eine
gezielte Politik zur wirtschaftlichen Entwicklung von benachteiligten
Gebieten tätig werden. Die Auswahl kann von Land zu Land
unterschiedlich sein. Doch muß sich die Sozialdemokratie
überall die Umsetzung einer Beschäftigungspolitik zum Ziel
setzen, die das Recht auf Arbeit respektiert und die soziale
Unsicherheit [précarité] nicht begünstigt.
In diesem Sinne ist es offensichtlich grundlegend, ein starkes und
stabiles Wachstum zu sichern. Der Staat muß, insbesondere durch
seine Steuerpolitik, dazu beitragen, eine günstiges Umfeld für
die Unternehmen zu fördern. Doch er spielt auch vergessen
wir das nicht eine wesentliche Rolle für die
Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, indem er u.a. die
Qualität des öffentlichen Diensts, das Bildungs- und
Ausbildungsniveau der Bevölkerung, das Forschungspotential, die
Angemessenheit der Infrastruktur sichert.
Das Wachstum muß beschäftigungsintensiv sein. Wir
müssen die nicht-qualifizierte Arbeit fördern, sei es
direkt, indem wir personenbezogene Dienstleistungsarbeitsplätze
[emplois de proximité] schaffen, sei es indirekt, indem
wir die Dynamik eines privaten Dienstleistungssektors unterstützen.
Eine besondere Anstrengung muß unternommen werden, um die
dauerhafte Wiedereingliederung derjenigen Bevölkerungsschichten
in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, die sich den größten
Schwierigkeiten gegenübersehen ganz besonders Jugendliche
ohne Qualifikation und Langzeitarbeitslose , indem wir
insbesondere unsere Umverteilungssysteme anpassen. Die Reduzierung
der Arbeitszeit ist eine Entwicklung, die es zu unterstützen
gilt, sie verstärkt die Auswirkungen des Wachstums, sie gibt den
Arbeitnehmern zusätzliche Freizeit, um sich besser
weiterzubilden, sich ihren Familien oder ihrer persönlichen
Entwicklung zu widmen. Die Art und Weise der Umsetzung der
Arbeitszeitverkürzung hängt selbstverständlich von den
verschiedenen nationalen Realitäten, vom Arbeitsmarkt und vom
System der Arbeitsbeziehungen ab. Bei der Reform der
35-Stunden-Woche, die wir gegenwärtig umsetzen, stellen wir das
Gesetz in den Dienst des gesellschaftlichen Dialogs [negociation
sociale].
Die Veränderungen, die mit dem technologischen Fortschritt
und der Härte des wirtschaftlichen Wettbewerbs einhergehen,
zwingen die Unternehmen zur Anpassung an sich ständig ändernde
Bedingungen. Dieses Bemühen ist legitim, doch muß man es
einzuordnen wissen. Wir können keine "Flexibilität"
akzeptieren, die zu einer allgemeinen Unsicherheit führt.
Arbeiten bedeutet zunächst, eine Form von Sicherheit angesichts
der Unwägbarkeiten des Lebens zu erlangen. Es bedeutet nicht,
sich zusätzlichen Unwägbarkeiten auszusetzen. Die
Sozialdemokraten müssen die Errungenschaft geregelter
Tarifverträge verteidigen. Sie ermöglichen in den meisten
Fällen eine wirksame Anpassung an die wirtschaftliche
Entwicklung denn Zusammenarbeit und ausgewogene Kompromisse
sind Quellen von Fortschritt und die Bewahrung der Rechte und
Lebensbedingungen der Arbeitnehmer.
Besondere und anhaltende Aufmerksamkeit muß der Frauenarbeit
gewidmet werden. In manchen Weltregionen wird sie als Ergänzung
des Familieneinkommens betrachtet, die keine angemessene Entlohnung
beanspruchen kann; anderswo wird ihre strukturierende Dimension
innerhalb der nationalen Volkswirtschaften nicht anerkannt. Und in
den entwickelten Ländern muß festgehalten werden, daß
es weiter nennenswerte Einkommensunterschiede bei gleicher
Qualifikation und Kompetenz gibt. Die Sozialdemokraten müssen
sich entschlossen dafür einsetzen, die Chancengleichheit von
Mann und Frau im Bildungs- und Ausbildungsbereich sowie die
Gleichberechtigung hinsichtlich Rechtsstatus und Entlohnung
voranzutreiben.
Die soziale Sicherung garantieren
Gleichgültig welchen Namen man ihr gibt
"Vorsorgestaat", "Wohlfahrtsgesellschaft"
, die soziale Sicherung steht im Zentrum der Debatte. Ihre
Schwierigkeiten sind bekannt, die Überalterung der
Bevölkerungen, die Last der Massenarbeitslosigkeit von zwei
Jahrzehnten, die soziale Ausgrenzung, die zunehmende Komplexität
der medizinischen Pflege: das fordert in Volkswirtschaften, die im
internationalen Wettbewerb stehen, seinen Preis. Doch das Projekt
einer solidarischen Gesellschaft, für das die soziale Sicherung
steht, bleibt aktuell.
Der Vorsorgestaat muß heute die traditionellen Risiken
abdecken, Krankheit, Rente, die frühe Kindheit,
Arbeitslosigkeit, doch er muß sich auch neuen sozialen
Bedürfnissen stellen, um die Veränderungen zu
berücksichtigen, die in der Familie, im Arbeitsprozeß und
in unseren Lebenszyklen stattfinden. Die soziale Sicherung kann und
muß an diese neuen Vorgaben angepaßt werden; nicht in
Frage stellen darf man ihre Grundsätze. Zu Recht wird die
Bedeutung "sozialer Investitionen", insbesondere in
Bildung und Ausbildung, betont, die den Einzelnen dazu befähigen
sollen, unter bestmöglichen Bedingungen auf dem Markt zu
konkurrieren. Doch wir sind nicht der Meinung, daß man "soziale
Investitionen" und "Sozialausgaben"
gegeneinander ausspielen sollte. Denn zahlreiche Politikansätze
lassen sich nicht einfach der einen oder anderen Kategorie zuordnen:
wenig qualifizierte Arbeit zu fördern, ist beispielsweise
zugleich eine wirtschaftliche Investition und eine Form von
Umverteilung. Der Gedanke, daß soziale Investitionen zahlreiche
traditionelle Aufgaben des Vorsorgestaates ersetzen könnten, ist
unrealistisch, und sei es nur beispielsweise weil
unsere Gesellschaften einen demographischen Alterungsprozeß
durchlaufen, dessen Folgen sie werden tragen müssen. Wir dürfen
nicht und können im übrigen auch nicht bei
der Umverteilungspolitik sparen.
Wir dürfen auch nicht Universalität und Selektivität
von Sozialleistungen gegeneinander ausspielen. Selektivität kann
notwendig sein und die Erfahrung hat gezeigt, daß bestimmte
Leistungen ressourcenabhängig erbracht werden können. Doch
die wirksamsten Sicherungen sind jene, die den größten
Teil der Bevölkerung in bezug auf wesentliche Güter, wie
z.B. Gesundheit und Renten, abdecken. Das Konzept eines Vertrags, der
die Rechte und Pflichten der Begünstigten, aber auch aller
anderen Akteure der sozialen Sicherung festschreibt, ermöglicht
es, die Gefahr von Passivität, die allen anderen Beistandsformen
eigen ist, zu überwinden, ohne die sozialen Risiken in Kauf zu
nehmen, die mit einer Selektivität von Leistungen verbunden
sind.
Die Universalität begründet die Legitimität der
Sozialpolitik und ermöglicht es, "Armutsfallen" zu
bekämpfen, die ganze Schichten ausgrenzen. Es muß ein
gerechtes Gleichgewicht zwischen Hilfe, Anreiz und Verpflichtung
hergestellt werden. Glauben wir doch nicht, daß "workfare"
"die" Allzwecklösung sein kann, wenn die
Ausgrenzungen eine erhebliche geographische Dimension haben, in
Gegenden, in denen der Mangel an Sicherheit, Ausbildung, Hilfen,
Arbeitsplätzen vor allen Dingen nach einer breiten öffentlichen
und privaten Mobilisierung verlangt.
Ein neues Bündnis schmieden
Die "Wohlfahrtsgesellschaft" ist ein politisches
Projekt. Sie muß als solches dargestellt werden. Unsere
Gesellschaften bleiben in eindeutige soziale Gruppen unterteilt. Die
Mittelschichten bilden heute das Herzstück unserer
Gesellschaften. Sie spielen eine besondere Rolle bei der Expansion
unserer Volkswirtschaften. Doch zwei Jahrzehnte
Massenarbeitslosigkeit haben Gruppen von "Ausgegrenzten"
hervorgebracht. Und wenn die unteren Schichten sich auch gewandelt
haben, so sind sie doch nicht verschwunden. Die Sozialdemokraten
müssen also gleichzeitig die Interessen und Bestrebungen der
Ausgegrenzten, der unteren Schichten und der Mittelschichten
berücksichtigen. Ungeachtet ihrer Unterschiede haben diese
Gruppen gemeinsame Anliegen: die Entwicklung der Arbeit, den Rückgang
der ungesicherten Arbeitsplätze [précarité],
die Verbesserung des Bildungssystems, die Konsolidierung der sozialen
Sicherung. Für die Ausgegrenzten und die unteren Schichten
bilden die Mittelschichten das Modell einer gelungenen sozialen
Integration. Die Sozialisten müssen also die Anliegen der
Mittelschichten beachten. Doch dürfen sie nicht den Anspruch
aufgeben, sie links zu verankern, indem sie daran arbeiten, ihnen
unsere Werte zu vermitteln. Daraus folgt, daß es darum geht,
eine Mehrheit für eine Umverteilungspolitik zu schaffen, die als
gerecht empfunden wird. Im Rahmen ihres politischen Projekts sind die
Sozialdemokraten die einzigen, die ein solches "neues
Bündnis" verkörpern und umsetzen können.
Einen modernen Staat fördern
Um mit dieser Politik Erfolg zu haben, muß der moderne Staat
zur Schaffung von Wohlstand [création de richesses]
ermutigen, eine aktive Politik zur Förderung der
Risikobereitschaft führen sowie dabei behilflich sein,
Veränderungen zu antizipieren. Der Staat, Garant der gemeinsamen
Regeln, muß weiterhin eine Steuerungsfunktion wahrnehmen. Ein
moderner Staat ist ein vorausschauender Staat, der seine Mittel in
den Dienst der Antizipation stellt, der dabei behilflich ist, die
Zukunft zu meistern. Er ist ein Staat, der die notwendigen Impulse
gibt, ohne dabei an die Stelle der gesellschaftlichen Akteure
Bürger, Vereinigungen, Gewerkschaften, Unternehmen,
Gebietskörperschaften zu treten, der ihre Bemühungen
jedoch unterstützt, indem er sie in die Lage versetzt,
selbständig zu handeln. Er ist ein Staat, der seine
unersetzliche Verantwortung für das Funktionieren einer
Marktwirtschaft übernimmt, indem er jedem seinen Platz in der
Gesellschaft garantiert. Impulse zu geben, um die Verbreitung einer
technischen Errungenschaft in der Gesamtheit der Gesellschaft zu
beschleunigen, ist genau das, was der französischen Regierung im
Bereich der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien
gelungen ist.
Zwei Fragen verdienen es jedoch, diskutiert zu werden. Sind wir
der Meinung, daß es heutzutage möglich ist, eine wirksame
makroökonomische Politik zu betreiben? Was haben wir zu der Art
und Weise zu sagen, in der die Besitzrechte des Kapitals in unserer
Gesellschaft ausgeübt und die Risiken verteilt werden?
Es ist inzwischen eine abgegriffene Floskel zu behaupten, daß
der "Keynesianismus" der Welt von gestern angemessen
war, aber in einer "komplexen Modernisierung" nicht
überleben kann. Das heißt zwei Tatsachen zu vergessen. Die
eine ist die weltweite Bestätigung der keynesianischen
Botschaft: In einer Welt voller Unsicherheiten und mit einem
weitgehend deregulierten Weltmarkt, in der Geld ein Wert und ein
Tauschmittel ist, investieren die Sparer nicht immer und ist
Vollbeschäftigung nicht das angestrebte Ziel. Vor allen Dingen
aber, und das ist die zweite Tatsache, beschränkt sich die
Sozialdemokratie in ihrer tiefergehenden Logik nicht auf das, was die
keynesianische Steuerung der 50er und 60er Jahre ausmachte. Ihre
Erfolge beruhten maßgeblich auf einer wirksamen Koordination
von Regierungen, monetären Institutionen und den
Interessenverbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Diese
Koordination ist auf nationaler Ebene notwendiger als je zuvor und
auch auf europäischer Ebene zunehmend erforderlich. Europa
bietet uns die Voraussetzungen einer erfolgreichen makroökonomischen
Haushalts- und Geldpolitik, wenn wir uns mit den erforderlichen
Mitteln ausrüsten, indem wir ein Vertrauensklima schaffen und
eine Koordinierung der Regierungen, der Zentralbank und der
Interessenverbände anstreben. Das ist der Sinn dessen, was wir
eine "Wirtschaftsregierung" nennen. Wir müssen wissen,
daß wir eine Harmonisierung unserer Steuerpolitiken benötigen
werden, um die Belastung der Arbeit zu reduzieren und ökologische
Steuern einzuführen.
Wir müssen allgemein daran arbeiten, eine "Kultur der
Langfristigkeit" in unseren Gesellschaften zu entwickeln.
Der Staat muß dabei seine Rolle spielen. Doch auch das
Unternehmen trägt hierfür Verantwortung. Was an der
gegenwärtigen Entwicklung des Kapitalismus frappiert, ist die
Uniformität der Entscheidungsformen. Die Leitung von Unternehmen
ist zunehmend auf dem Streben nach kurzfristiger finanzieller
Rentabilität gegründet, wie die gestiegene Bedeutung der
Pensionsfonds beweist. Uns stellt sich die Aufgabe, in den
Unternehmen eine finanzielle und strukturelle Architektur aufzubauen,
die es ihnen ermöglicht, eine langfristige Perspektive
anzunehmen und die Interessen der Arbeitnehmer und der ganzen
Gesellschaft zu berücksichtigen. Notwendig ist also eine
Vielfalt von Entscheidungskriterien. Die Errungenschaften und
Analysen zahlreicher sozialdemokratischer Parteien müssen uns
bei der Definition der Formen inspirieren, die eine Vertretung der
Arbeitnehmer in den Entscheidungszentren heute annehmen könnte.
Das menschliche Kapital muß in der Struktur des
Unternehmenskapitals vertreten sein. Diese Überlegung ist
wesentlich für unsere gemeinsame Zukunft.
Regeln für die Welt
Die Sozialdemokratie muß die Notwendigkeit einer Regulierung
im globalen Maßstab voll in Rechnung stellen. Die
entscheidenden Fragen stellen sich inzwischen weltweit. Es ist
notwendig, auch weltweite Antworten darauf zu finden. Für
globale Probleme globale Lösungen. Je globaler die Welt wird,
umso mehr benötigt sie Regeln. Unsere Parteien waren daran
gewöhnt, historisch, kulturell und politisch zumeist in
nationalen Maßstäben zu denken. Diese eingeschränkte
Denkweise ist uns nicht länger erlaubt. Das trifft auf
zahlreiche Bereiche zu, auf die Friedensproblematik natürlich,
die wirtschaftlichen Beziehungen und die Entwicklungsungleichheiten,
die großen natürlichen Gleichgewichte, die Globalisierung
von Kommunikation und Information, bis hin zur Sicherheit in unseren
Wohnvierteln, die mit dem internationalen Drogenhandel zusammenhängt.
Wir müssen uns der Risiken sehr bewußt sein, die mit der
Abwesenheit von politischer Steuerung auf internationaler Ebene
einhergehen: Das Scheitern einer ausgewogenen Entwicklung könnte
zu einem Rückzug auf traditionelle Werte in ihren aggressivsten
Formen führen konfliktträchtiger, ethnisch
begründeter Nationalismus oder religiöser Fanatismus, die
durch die allgemeine Verbreitung von Waffen angeheizt würden.
Wir haben schmerzhaft erfahren müssen, daß die
Fortschritte der Menschheit prekär sind und leicht wieder in
Frage gestellt werden können.
Das Völkerrecht fördern und
ihm Geltung verschaffen
Die Krisen, mit denen die internationale Gemeinschaft seit dem
Ende des Kalten Kriegs konfrontiert ist, zeigen, daß die
Instrumente, über die sie verfügt, um mit ihnen umzugehen,
unzureichend oder unangemessen sind. Unser Wille, ein System
kollektiver Sicherheit, von Vermittlung, Prävention und
Konfliktregelung sicherzustellen, kommt insbesondere in der Stärkung
der Rolle der Vereinten Nationen zum Ausdruck. Ihre Ergebnisse sind
zwiespältig und ihre Unzulänglichkeiten bekannt, doch ihre
Legitimität ist unbestritten. Keine Organisation kann die
Vereinten Nationen verdrängen oder ersetzen. Angesichts der
Versuchung des Unilateralismus ist es notwendiger denn je, sich
zusammenzuschließen, um nach multilateralen Regeln zu handeln,
die von allen respektiert werden.
Die letzten Krisen, insbesondere im ehemaligen Jugoslawien und in
Timor auch wenn sie die Notwendigkeit einer "humanitären
Einmischung" in der einen oder anderen Form verdeutlichen
unterstreichen vor allen Dingen, daß es notwendig ist, sich auf
die Charta der Vereinten Nationen zu stützen, um die
Menschenrechte stärker zu berücksichtigen. Es kann nicht
länger hingenommen werden, daß Diktaturen die Rechte ihrer
Staatsbürger offen mißachten können. Die Entwicklung
einer präventiven Diplomatie setzt voraus, daß die
Vereinten Nationen gemäß Kapitel VII ihrer Charta über
ständige militärische Interventionskräfte verfügen.
Die Vereinten Nationen müssen auch zum Hauptforum der Diskussion
über Abrüstung und Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen werden, unabhängig von der Möglichkeit,
ihre Kompetenzen im geeigneten Fall an regionale Organisationen
abzugeben. Den Spezialorganisationen des Systems der Vereinten
Nationen, die zugunsten von Entwicklung und Umwelt, Gesundheit,
Bildung und Kultur arbeiten, müssen zusätzliche Mittel
zugewiesen werden. Schließlich ist es notwendig, die Debatte
über die Institutionen wieder aufzunehmen: Tatsächlich ist
es nicht wünschenswert, daß die Zusammensetzung des
Sicherheitsrats auf Dauer festgelegt sein könnte. Die Aufnahme
neuer ständiger Mitglieder, die es jeder großen Weltregion
ermöglichen würde, im Sicherheitsrat vertreten zu sein
wie es Willy Brandt vorgeschlagen hat , muß in Erwägung
gezogen werden.
Wir müssen aktiv alles unterstützen, was in Richtung
einer internationalen Gerichtsbarkeit geht, die es ermöglicht,
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord
und Massaker zu bestrafen und so zu abzuschrecken. Die Schaffung
spezieller Gerichtshöfe sowie in Kürze des Internationalen
Strafgerichtshofs wird die Entwicklung einer internationalen "Moral"
begünstigen und ein Instrument des weltweiten Respekts der
Rechte der menschlichen Person sein.
Das internationale Finanzsystem reformieren
Wir müssen Steuerungsinstrumente auf globaler Ebene schaffen.
Dieser Wille widerspricht dem Skeptizismus der Vertreter der
liberalen Ideologie, die sich manchmal auch in unseren Reihen äußert.
Die Globalisierung ist ein unumkehrbarer Prozeß, der
zahlreichen Ländern Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Sie
benötigt jedoch Regeln, nicht nur um Krisen vorzubeugen, sondern
auch um regionale und nationale Identitäten zu bewahren. Die
Lehre aus den Finanzkrisen, die die Welt 1997 und 1998 erschüttert
haben, von der gesamten asiatischen Region über Rußland
bis hin nach Lateinamerika, dürfen ebensowenig in Vergessenheit
geraten wie die spekulativen Pleiten bestimmter westlicher
Investitionsfonds, die drohten, in ihrem Sturz das gesamte
Bankensystem mitzureißen. Sie haben das Scheitern der Politik
absoluter Liberalisierung besiegelt, insofern sie nicht vom Aufbau
von rechtsstaatlichen Strukturen und einer gelungenen demokratischen
Transition begleitet wurden.
Daher die dringende Notwendigkeit, eine größere
Transparenz des internationalen Finanzsystems sicherzustellen; allen
Finanzinstitutionen, einschließlich spekulativer
Investitionsfonds und "off-shore"-Zentren, gewisse
Vorsichtsregeln vorzuschreiben; Steuerparadiese abzuschaffen; die
destabilisierenden Auswirkungen des freien Kapitalflusses auf die
Schwellenländer zu begrenzen, indem ihre Kapitalmärkte in
progressiverer und geordneterer Weise geöffnet werden; die
internationalen Transaktionen zu besteuern, um die spekulativen
Kapitalbewegungen einzuschränken; die Gläubiger in die
Bewältigung der Krisen einzubinden, die sie mitverursacht haben;
gegen die organisierte Kriminalität, den internationalen
Drogenhandel und die Geldwäsche vorzugehen; unter dem Dach der
Vereinten Nationen einen wirtschaftlichen Sicherheitsrat zu gründen.
Dieser letzte Ansatz ist von besonderer Bedeutung, da die neuen
Bedrohungen, die sich aus der Unfähigkeit ergeben, die
wirtschaftlichen, monetären und finanziellen Phänomene im
Rahmen von Krisen und Börsenkrächen zu beherrschen, nicht
weniger schwer wiegen als die Bedrohungen, die die Gründung des
Sicherheitsrats gerechtfertigt haben. Es geht nicht darum die
existierenden Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds
(IWF), die Bank für internationalen Zahlungsausgleich, die
Weltbank, die OECD, die Welthandelsorganisation (WTO) oder
Begegnungen wie die der G7 abzuschaffen, sondern darum, sie zu
reformieren und zu stärken, um das Ausmaß und die
Intensität der wirtschaftlichen Schocks zu begrenzen.
Die Regulierung auf neue Bereiche ausdehnen
Die Regulierung muß alle Bereiche umfassen, die für das
Wohlbefinden des Menschen von Bedeutung sind. Sie muß
vollständig und harmonisch sein und zu diesem Zweck auch alle
Anliegen berücksichtigen, die nicht wirtschaftlicher Art sind,
insbesondere soziale Fragen, kulturelle Vielfalt, die Achtung der
Umwelt.
Ein besonderer Augenblick für die weltweite Steuerung wird
sich durch die Verhandlungen der "Millennium-Runde"
im Rahmen der WTO eröffnen. Die Sozialdemokraten müssen
verlangen, daß die grundlegenden Interessen der Völker
respektiert werden, in einer Welt, die zwar offen bleiben muß,
jedoch um ihrer Stabilität willen keine übermäßigen
Ungleichheiten dulden darf und die die sozialen Rechte, den Schutz
der Umwelt und die kulturellen Identitäten garantieren muß.
Das Scheitern des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI) ist
hierin begründet. Schließlich müssen wir erreichen,
daß die internationalen Wirtschaftsbeziehungen nicht die
grundlegenden Rechte der Arbeitnehmer in Frage stellen, um
Sozialdumping zu vermeiden und gegen Kinder- und Zwangsarbeit
anzukämpfen.
Die Existenz sozialer Rechte in allen Ländern dieser Erde zu
fördern, ist ein wichtiges Ziel. In diesem Sinne müssen wir
die Ausweitung der Befugnisse der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) vorschlagen, der einzigen internationalen Institution, die die
Interessenverbände von Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereint.
Die Sorge um die Achtung der Umwelt muß unser politisches
Handeln insgesamt kennzeichnen. Der Gedanke der "nachhaltigen
Entwicklung" ist zum ersten Mal mit dem Bericht von
Gro-Harlem Brundtland in die Politik eingeführt worden. Die
Gipfel von Rio und Kyoto haben bedeutende Verpflichtungen gebracht.
Absichten und Aktion klaffen jedoch zu weit auseinander, mit der
Folge, daß die Ergebnisse unzureichend sind. Diese Politik muß
mittel- und langfristig angelegt sein und setzt Planungsanstrengungen
von seiten der Staaten voraus. Die sozialdemokratischen Parteien
müssen den Rest der Welt auf dem Weg eines voluntaristischen und
solidarischen Ansatzes mitreißen, um sich den großen
weltweiten Herausforderungen in Umweltfragen zu stellen. Mehrere
Möglichkeiten drängen sich auf: die Erstellung eines
Programms zur Energieeinsparung und zur Entwicklung regenerativer
Energien, die Erarbeitung von Mechanismen einer kooperativen
Entwicklung, um Technologien in den sensibelsten Bereichen
Wasser, Müll, Wüstenbildung, Festlegung von Normen für
die Luftverschmutzung wirksamer zu verbreiten.
Wir müssen entschlossen eine Politik der Solidarität
zwischen dem Norden und dem Süden verteidigen, die vorrangig den
ärmsten Ländern zugute kommt. Es stimmt nicht, daß
die Entwicklung des Handels die öffentliche Entwicklungshilfe
ersetzen könnte. Diese ist notwendiger denn je, und die
entwickelten Länder dürfen auf gar keinen Fall in ihren
Anstrengungen nachlassen. In diesem Sinne könnte es auch nicht
hingenommen werden, daß die multilateralen Handelsgespräche
dazu führen, daß die bestehenden Solidaritätsmechanismen,
insbesondere die Lomé-Verträge, zerstört werden.
Diese müssen vielmehr erneuert und mit zusätzlichen Mitteln
ausgestattet werden. Die Sozialdemokraten haben sich immer für
eine Verringerung oder einen Erlaß der Schulden eingesetzt:
Neue Initiativen werden ergriffen werden müssen, um in diesem
Sinne Fortschritte zu erzielen und die Last gerecht zu verteilen.
Die regionalen Organisationen tragen zu dieser Steuerung
bei
Die hauptsächliche Schwierigkeit, mit der globale Politik
konfrontiert ist, besteht darin, daß sie von den nationalen
Realitäten zu weit entfernt bzw. aufgrund fehlender Mittel zu
selektiv erscheint. Sie muß also auf regionaler Ebene ergänzt
werden. Die Europäische Union (EU) hat in dieser Hinsicht eine
Vorreiterrolle gespielt, doch jeder andere Kontinent trägt
ebenfalls seinen Teil an Verantwortung. Jeder von ihnen versucht, ihm
gemäße Integrationsformen zu entwickeln. Der
Integrationsstand ist heute unterschiedlich und diese
Zusammenschlüsse müssen weiterhin entsprechend ihrem
eigenen Rhythmus voranschreiten. Wollen sich diese Organisationen
jedoch eine soziale und menschliche Dimension geben, so dürfen
sie sich nicht auf einfache Freihandelszonen beschränken.
Unserer Meinung nach kann die europäische Konstruktion als
gelungenes Beispiel politischer und wirtschaftlicher Integration
gelten. Die Ergebnisse sind bereits greifbar. Die Länder der
Europäischen Union haben einen Teil der Steuerungskapazität
zurückgewonnen, die die Nationalstaaten verloren hatten. Doch
mit der Einführung des Euro entsteht eine neue Lage. Eine
Harmonisierung wird stattfinden: Wir wollen, daß sie "auf
höchstem Niveau" erfolgt und einen Fortschritt
darstellt. Um wirksame wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten zu
haben, müssen wir unsere Steuerungsinstrumente stärken. Die
durch den Euro auf europäischer Ebene wiedergefundene
Souveränität muß sich in der Wiedergewinnung von
Handlungsmöglichkeiten auf derselben europäischen Ebene
ausdrücken. Wir müssen mehrere für den Erfolg der
Europäischen Union notwendige Bedingungen auf die Tagesordnung
setzen, eine im Vorfeld jeder geographischen Erweiterung
abgeschlossene wirksame institutionelle Organisation; eine
Zentralbank, die nicht durch Beharren auf einer dogmatischen Haltung
die Beschäftigung benachteiligt; eine Wirtschaftsregierung, die
die Budgetsteuerung fördert; ein Beschäftigungspakt, der
die Staaten in die Pflicht nimmt; die Aushandlung eines
Sozialvertrags, dem dieselbe Bedeutung wie den wirtschaftlichen
Abkommen zukommt. Die Verantwortung der europäischen Sozialisten
ist groß, ihr Erfolg wird einen mitreißenden Effekt auf
andere Länder und regionale Gruppierungen haben können. Die
europäische Einigung verwirklicht humanistische Werte, sie
verteidigt ein Modell gesellschaftlicher Teilhabe, sie fördert
die Hoffnung auf ausgewogenere internationale Beziehungen.
Die vollstÄndige Demokratie
Tatsächlich ist es die Demokratie, die es den Menschen
ermöglicht, ihr Schicksal zu meistern, die die Ebene der
Wirtschaft und Technik mit der sozialen und politischen Ebene
verbindet.
Die historische Stärke der Sozialdemokratie bestand
stärker als bei anderen politischen Kräften darin,
die Notwendigkeit zu begreifen, das Miteinander verschiedener
Interessen in einer Demokratie zu organisieren. Sie ignoriert nicht
die Konflikte und die reale Kräfteverteilung innerhalb jeder
Gesellschaft. Ihre Sicht der Gesellschaft schließt die
divergierenden Interessen der unterschiedlichen sozialen Schichten
ein, die sich gewandelt haben, ohne vollständig zu verschwinden.
Doch ist es ihr gelungen, "Klassenkompromisse" zu
begründen, die der Demokratie ein solides Fundament geliefert
haben. Eine "Partnergesellschaft" setzt den
Kompromiß voraus. Dieses Ziel bleibt wesentlich. Wir müssen
darauf achten, daß die gemeinschaftlichen Organisationen
repräsentativ bleiben, daß die Versprechungen der
politischen Demokratie eingehalten werden, daß die
grundlegenden Rechte, die gemeinschaftlichen Freiheiten und das Recht
auf Sicherheit für alle eine Realität bleiben.
Doch wir müssen auch neue Anforderungen berücksichtigen.
In fragmentierten und kulturell vielfältigen Gesellschaften will
der Einzelne seinen persönlichen Lebensentwurf zunehmend in die
eigenen Hand nehmen. Das Konzept der Solidarität befindet sich
nicht in der Krise, wie allzu häufig behauptet wird, sie führt
sogar zu gemeinschaftlichen Mobilisierungen, die den Reichtum unserer
sozialen Demokratien ausmachen. Doch der Einzelne möchte sich
nicht länger in die Gemeinschaft einfügen, ohne die Gründe
dafür zu kennen, er beteiligt sich nur an gemeinschaftlichen
Handlungen, wenn sie ihm notwendig erscheinen. Die Sozialdemokratie
muß neue Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der
Gemeinschaft entwickeln, indem sie dafür Sorge trägt, daß
die Entwicklung eines jeden Einzelnen in gemeinschaftlichen Projekten
wurzelt, die auf gemeinsamen Werten beruhen. Sie muß das
Miteinander der Vielzahl individueller und gemeinschaftlicher
Entwürfe fördern, die das Leben unserer Gesellschaften
ausmachen. Es kommt deshalb darauf an, die Neutralität des
Staates des Grundsatzes des Laizismus in der französischen
Tradition zu respektieren.
Die Demokratie, der einzige Weg zum Fortschritt
Freie Wahlen in regelmäßigen Abständen,
Wahrnehmung des allgemeinen Wahlrechts, politischer Pluralismus,
verfassungsmäßige Stabilität und Rechtssicherheit
sind offensichtlich essentiell. Und wir wissen, daß Demokratie
und Entwicklung untrennbare Ziele sind. Die Sozialdemokraten dürfen
Diktaturen gegenüber keinerlei Nachsicht üben, selbst wenn
sie sich als "progressiv" ausgeben. Es gibt keinen
anderen Weg zum Fortschritt als die politische Demokratie: Sie muß
sich überall durchsetzen und festigen, in allen Ländern,
auf allen Kontinenten, ohne Ausnahmen und ohne Verzögerungen.
Dort wo freiheitliche Regime bereits seit langem etabliert sind,
müssen wir die lokale Demokratie fördern und vertiefen.
Jedem die Möglichkeit zu geben, am politischen Leben
teilzuhaben, setzt auch voraus, Diskriminierungen und Ungleichheiten
zu bekämpfen, die zu viele Staatsbürger davon ausschließen.
Insbesondere der Kampf zugunsten einer stärkeren Beteiligung von
Frauen die Umsetzung des Grundsatzes der Gleichberechtigung
stellt für uns eine zentrale Aufgabe dar.
Die Verantwortung des Politischen
Das demokratische Anliegen darf sich nicht nur auf die
Institutionen beziehen, sondern muß auch unsere politische
Praxis und unsere Parteien umfassen, deren Strukturen, auch wenn sie
noch immer vom Erbe des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet sind, doch
einen "Professionalisierungsprozeß" durchlaufen,
der sie von der Bevölkerung und den sozialen Bewegungen
isolieren kann. Die konkreten Reformen, die umgesetzt werden müssen,
sind natürlich von den jeweiligen nationalen Realitäten
abhängig und fallen zweifellos in die Verantwortung der
einzelnen Partei. Doch können wir einige Grundsätze teilen:
uns zu offeneren Parteien zu entwickeln, die zugänglich und
besser durch die Bürger zu kontrollieren sind; gegen die
Anhäufung von Mandaten und Funktionen anzukämpfen, um die
politische Beteiligung auf die größtmögliche Anzahl
von Personen auszudehnen und die Eliten zu diversifizieren; die
Rechtsgrundsätze innerhalb unserer Organisation zu respektieren
und über eine transparente Finanzierung zu verfügen. In den
modernen Demokratien müssen unsere Parteien mit gutem Beispiel
vorangehen. Es handelt sich dabei um mehr als um formale oder
prozedurale Probleme: Die Legitimität der Politik wurzelt in der
Praxis. Um in der Lage zu sein, die Grundlagen einer
Wohlfahrtsgesellschaft zu verteidigen, die die Gefahren der
Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus oder des Fundamentalismus
jeder Art ausschließt, brauchen wir einen neuen demokratischen
Ansatz.
Die Sozialdemokratie ist in dieser Welt noch immer ein neues
Konzept. Sie verkörpert einen Gerechtigkeitswillen, der auf
einen Freiheitsanspruch gründet. Sie ist nicht nur eine
Denkweise, ein Widerstand oder eine Revolte. Sie ist eine Form
politischen Handelns, die den Anspruch erhebt, die größtmögliche
Zahl von Regierungen dazu zu inspirieren, die Welt anders zu
organisieren. Von unserer Ausstrahlungskraft hängt die Zukunft
der demokratischen Debatte ab, die der Richtung bedarf. Die
Grundsätze, die uns leiten müssen, sind eine Erkenntnis der
Zukunft, die Fortschritt ermöglicht, eine Modernität, die
Bewegung hervorruft, und die Solidarität, ohne die nichts einen
Wert hat. Vor über einem halben Jahrhundert hat sich Karl Renner
eine durch Kommunikation vernetzte, durch Vermittlung befriedete,
durch immer aktiveren Austausch geeinigte, durch die Forderung nach
einem gerechteren und freieren Leben harmonisierte Welt vorgestellt.
Er hat dieser neuen Welt einen Namen gegeben: die Internationale.
Heute ist es an uns, diesem Ideal treu zu sein.
Quelle: Blätter für deutsche und internationale
Politik (7/1999, S. 887-896)
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