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Beiträge zur Geschichte  









Herbert Walter

Von Marx zu Gorbatschow

"Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft erfordert... Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen... Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren." (Engels: Der Deutsche Bauernkrieg, Berlin 1946, S.99 - 100)

Ist der Marxismus tot?

Betrachtet man die jüngsten tagespolitischen Ereignisse, so muß man den Zusammenbruch des kommunistischen Systems in einer Reihe ehemals kommunistisch regierter Länder konstatieren, die kommunistischen Parteien verloren ihre Machtpositionen und es strömte in das entstandene Machtvakuum das imperialistische System. Die Ereignisse überschlugen sich. Was gestern noch fest und unerschütterlich schien, brach in wenigen Tagen zusammen. Binnen kurzer Zeit, manchmal weniger Tage, so in der DDR, in der CSSR, in Rumänien, Bulgarien, Polen und Ungarn siegten bürgerliche Parteien und installierten ein auf Privateigentum basierendes System. Elender hat bisher kein System je kapituliert, kampfloser ist keine Klasse oder Partei von der politischen Bühne abgetreten.

Wie konnte es geschehen?

Als Gorbatschow den Versuch unternahm, die Periode der Stagnation zu überwinden, ging er von der Annahme aus, es genüge in der Wirtschaft "Peristroika" zu verwirklichen und in der Gesellschaft "Glasnost" einzuführen. Mit der "Peristroika" sollte die marode und vollkommen ineffektiv arbeitende Wirtschaft saniert und mit "Glasnost" die für die Eigenverantwortlichkeit der Betriebe notwendige Demokratisierung durchgeführt werden. Weder "Glasnost" noch "Peristroika" haben bisher positive Ergebnisse gebracht. Im Gegenteil: Die SU befindet sich in einer ihrer schwersten Krisen seit ihrer Existenz. Das sozialistische Lager zerfällt, die Satellitenstaaten, durch die Breschnew-Doktrin fest an die SU gebunden, machten von ihrer neuen "Freiheit" Gebrauch und werden kapitalistisch. In wenigen Wochen fegte die Straße die Macht des von der SED beherrschten Staatsapparates hinweg. Der Ruf nach Wiedervereinigung wurde immer stärker und führte schließlich zu einer überstürzten An- und Eingliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland.

Die neue Politik

Mit der Wahl von Michael Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU(B) hat die von ihm eingeleitete Politik nicht nur ein Experiment beendet, sondern gleichfalls in einer Vielzahl von europäischen Ländern die "sozialistische" Staatsmacht zerstört und damit das sogenannte sozialistische Lager liquidiert. Der Versuch, in der Sowjetunion und später in anderen wirtschaftlich unterentwickelten Ländern mit sowjetischer Hilfe den Sozialismus aufzubauen, muß als gescheitert angesehen werden. Damit ist auch die Strategie gescheitert, über die Eroberung der dritten Welt das imperialistische System zum Einsturz zu bringen. Lenin wollte noch das Kolonialsystem aus einer Reserve des Weltimperialismus zu einer Reserve des Sozialismus machen. Die Sowjetunion selbst befindet sich auf dem Wege zum Kapitalismus und hat ihren Frieden mit den USA gemacht.

Die marxistische Theorie ist seit Lenin in ihrer Entwicklung stehen geblieben. Weder die Erscheinungsform des Stalinismus, noch die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, noch die ökonomischen Probleme im Sozialismus wurden analysiert oder gar theoretisch verallgemeinert. Fragen von heute glaubte man mit Antworten von gestern und vorgestern beantworten und damit erledigen zu können.

Es ist deshalb an der Zeit, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, Vergangenheit wie Gegenwart zu analysieren, um für die praktische politische Arbeit einen festen Boden unter die politischen Füße zu bekommen. Obwohl die Konterrevolution vorerst gesiegt zu haben scheint, geht der Klassenkampf weiter, werden die Widersprüche im Kapitalismus wie im imperialistischen System nicht kleiner sondern größer. Denn was sich gegenwärtig vor unseren Augen vollzieht, ist nicht nur der totale Zusammenbruch einer auf Dogmatismus beruhenden Ideologie, sondern auch ein gigantischer Umschichtungsprozeß im imperialistischen System selbst, der für die Entwicklung und Formierung der sozialistischen Kräfte neue Perspektiven eröffnet.

Marxistische Theorie und politische Praxis

Will man die Marxsche Konzeption auf einen vereinfachenden Nenner bringen, so ließe sich zusammenfassend etwa folgendes sagen: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften war die Geschichte von Klassenkämpfen, die mit dem Sieg der einen oder dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen endete. Der Kapitalismus habe einerseits den Klassenkampf vereinfacht und auf Bourgeoisie und Proletariat reduziert; andererseits die objektiven Voraussetzungen geschaffen zur Aufhebung des Eigentums und damit zur Aufhebung der Klassen. Die historische Aufgabe der Bourgeoisie bestehe demnach darin, die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus zu schaffen, indem es die Produktivkräfte entwickelt, die Produktionsprozesse vergesellschaftet, kurzum, alle Voraussetzungen für den Übergang zu einer klassenlosen kommunistischen Überflußgesellschaft schafft, deren niedere Stufe der Sozialismus ist.

1. Die politische Machtergreifung durch das Proletariat

Nach der klassischen kommunistischen Theorie sollte der Umwandlungsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische vom Proletariat vollzogen werden. Nur das Proletariat besitze das Moment der Negation und das der Totalität. "Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen ... Gesellschaft aufzuheben." (Marx) Das Proletariat müsse seine historische Aufgabe durchführen oder scheitern. Es könne aber seine Aufgabe nur erfüllen, wenn es zum Bewußtsein seiner selbst gelange. Es müsse aus einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden. Mit der Eroberung der politischen Macht sollte keine neue Klassenherrschaft errichtet, sondern jegliche Klassenherrschaft abgeschafft werden. An die Stelle von Herrschaftsverhältnissen trete die Organisierung von Produktionsprozessen; der Staat beginne abzusterben. Dieser Prozeß könne kein nationaler, sondern müsse ein internationaler, zumindest die Tat der herrschenden Völker sein.

"Diese Entfremdung, um den Philosophen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie eine "unerträgliche" Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus "Eigentumslos" erzeugt hat und zugleich im Widerspuch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt - und andererseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die im weltgeschichtlichen, statt der im lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher einerseits das Phänomen der "Eigentumslosen" Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (allgemeine Konkurrenz), jedes derselben von der Umwälzung der anderen abhängig macht, und endlich weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat. Ohne dies könnte 1. der Kommunismus nur als eine Lokalität existieren, 2. die Mächte des Verkehrs hätten sich als universelle, drum unerträgliche Mächte nicht entwickeln können, sie wären heimisch-abergläubige "Umstände" geblieben, und 3. würde jede Erweiterung des Verkehrs den lokalen Kommunismus aufheben. Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker "auf einmal" und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt." (Marx/Engels, Bd. 3, S.34/35, Berlin 1962)

2. Der Sozialismus

Mit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat konnte nach Marx der bürgerliche Staatsapparat nicht übernommen, sondern mußte zerschlagen werden. An seine Stelle sollte ein proletarischer Staat treten, der die Aufgabe hat, die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen, die Konterrevolution niederzuhalten, der Bourgeoisie das Kapital zu entreißen und in Staats- oder Gemeineigentum zu überführen. Unter diesen Übergangsstaat verstand Marx die Diktatur des Proletariats. Er sollte nichts anderes sein als praktizierte sozialistische Demokratie.

Rosa Luxemburg schreibt: "Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats."

3. Der Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus

Der Sozialismus baut auf die geistigen und materiellen Errungenschaften der Kapitalismus auf. Es kann deshalb keinen unmittelbaren Übergang von einer Gesellschaftsordnung in eine andere geben. Es kann aber auch auf Dauer keinen Rückfall hinter die Errungenschaften einer bürgerlichen Revolution geben. Die Wesensmerkmale der niederen Phase der kommunistischen Gesellschaftsordnung, des Sozialismus, lassen sich im wesentlichen in folgenden Punkten zusammenfassen:

a)Es existieren noch Klassen, (Arbeiter und Bauern) wenn auch keine antagonistischen, da es noch verschiedene Eigentumsformen gibt (staatliches und genossenschaftliches)
b)Es besteht der Staat weiter, der erst in einem sich mehr oder weniger langsam vollziehenden Prozeß abstirbt, d.h. immer mehr Funktionen verliert.
c)Der Unterschied zwischen Stadt und Land bleibt vorerst bestehen, ebenso
d)der Unterschied zwischen geistiger und körperlicher Arbeit.
e)Die sozialistische Gesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft, in der der Grundsatz herrscht: Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen.
f)Das Prinzip: "Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" setzt eine Überflußgesellschaft voraus, die zu schaffen bei Marx der Sinn des Umwälzungsprozesses ist.
g) Es herrscht weiter Warenproduktion, das Wertgesetz gilt weiter.

Die kapitalistische Gesellschaftsordnung wird durch die kommunistische abgelöst, deren niedere Phase der Sozialismus ist. Marx meint den Sozialismus, wenn er schreibt: "Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt... Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit es Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andererseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten... Das gleiche Recht ist hier daher immer noch - dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert". (Marx: Kritik des Gothaer Programms)

Es sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Verstaatlichung, Sozialisierung oder Vergesellschaftung an sich noch nicht Sozialismus ist, sondern lediglich eine Conditio sine qua non (unerläßliche Bedingung) für die Verwirklichung des Sozialismus ist. Ziel aller Bestrebungen muß sein, an Stelle der Fremdbestimmung die Selbstbestimmung des Menschen treten zu lassen.

4. Die historische Funktion des Privateigentums

Im Kommunistischen Manifest heißt es einleitend: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Erläuternd hierzu schreibt Engels im Vorwort zur englischen Ausgabe von 1888: "Das heißt genau gesprochen, die schriftlich überlieferte Geschichte. 1847 war die Vorgeschichte der Gesellschaft, die gesellschaftliche Organisation, die aller niedergeschriebenen Geschichte vorausging, noch so gut wie unbekannt. Seitdem hat Haxthausen das Gemeineigentum am Boden in Rußland entdeckt. Maurer hat es nachgewiesen als gesellschaftliche Grundlage, wovon alle deutschen Stämme geschichtlich ausgingen, und allmählich fand man, daß Dorfgemeinden mit gemeinsamen Bodenbesitz die Urform der Gesellschaft waren von Indien bis Irland... Mit der Auflösung dieser ursprünglichen Gemeinwesen beginnt die Spaltung der Gesellschaft in besondere und schließlich entgegengesetzte Klassen."

Voraussetzung für die Bildung des Privateigentums

Die Bildung von Eigentum setzt ein Mehrprodukt voraus, das angeeignet werden kann. Es wird entweder verbraucht oder akkumuliert. Konsumtion wie Akkumulation setzt voraus, daß das Eigentum der Verfügungsgewalt anderer entzogen ist. Deshalb ist Eigentum die auschließliche Verfügungsgewalt über eine Sache. Im Zuge der geschichtlichen Entwicklung ging das Gemeineigentum in Privateigentum über. Auch das Grundeigentum wurde früher oder später Privateigentum. Der Übergang zum Privateigentum setzte ein bestimmtes Maß an Arbeitsproduktivität voraus; denn der Privateigentümer hat den Nichteigentümer zur Voraussetzung. So bestimmte der qualitative Stand der Produktivkräfte die Qualität der Produktionsverhältnisse, damit die Klassenverhältnisse und das Maß des angewandten direkten oder indirekten Zwanges zur Arbeit und damit zur Aneignung des geschaffenen Mehrproduktes. Somit ist die Periode der Klassengesellschaften, die Herausbildung einer auf Privateigentum beruhenden Gesellschaftsordnung, zwangsläufig.

Die Aufhebung des Privateigentum hat deshalb die praktische Voraussetzung, daß alle Privateigentümer sein können, die Arbeitsproduktivität also jenen Grad erreicht, die es der Gesellschaft ermöglicht, die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Wenn der gesellschaftliche Reichtum größer ist als der private sein kann, hat die Stunde des Privateigentums geschlagen.

In der Urgemeinschaft ist eine Ausbeutung mangels Mehrprodukt kaum möglich, in den Klassengesellschaften ist sie die einzig denkbare und zugleich notwendige Form, gesellschaftlichen Fortschritt zu schaffen. In der Überflußgesellschaft wird sie zum Anachronismus, da jedem gleichermaßen der gesellschaftliche Reichtum zur Verfügung steht. Aber nur das Privateigentum schafft die materiellen Voraussetzungen zum Sozialismus. Das Privateigentum erfährt bei Marx seine besondere Bedeutung, den Akkumulationsprozeß voranzutreiben, als notwendige Vorausssetzung im historischen Prozeß.

Bemerkungen zur geschichtlichen Entwicklung

Die Geschichtsbetrachtung von Marx geht von der Annahme aus, daß der revolutionäre Umwandlungsprozeß dort und in den Ländern stattfinden werde, wo der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung am größten ist. Die Menschen - in diesem Falle das Proletariat - machen die Revolution, und zwar dann, wenn, um mit Lenin zu sprechen, "die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können." Da der revolutionäre Prozeß nicht nur eine objektive und subjektive Seite hat, sondern darüber hinaus aus vielen Faktoren besteht und an verschiedene Bedingungen geknüpft ist, müßten diese nicht nur vorhanden sein, sondern in etwa auch synchron verlaufen, um zum Erfolg zu führen. Fehlen wesentliche Teile, gibt es entweder keinen revolutionären Umsturz oder keinen Sozialismus, sondern bestenfalls eine "sozialistische" Staatsmacht.

Der realexistierende Sozialismus

Der sozialistische Umwandlungsprozeß besteht bekanntlich aus zwei Teilen: dem Sturz der Bourgeoisie, der damit verbundenen Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und dem Aufbau des Sozialismus. Bei Marx bildete beides eine Einheit. Der subjektiven Reife des Proletariats hatten die für den Sozialismus reifen Produktivkräfte zu entsprechen. Beide Seiten bedingten sich, es waren zwei Seiten einer Sache. Natürlich muß jedes Proletariat zuerst mit seiner eigenen nationalen Bourgeoisie fertig werden, aber der Sozialismus läßt sich nur international errichten.

Leninismus

Lenin sah das Problem bereits differenzierter. Für ihn stand im Vordergrund die Eroberung der politischen Macht. Aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung des Kapitalismus war er überzeugt, daß die sozialistische Revolution dort zuerst ausbrechen werde, wo das Kettenglied des Imperialismus am schwächsten sei. Rußland müsse in einem weltrevolutionären Propzeß vorangehen, die revolutionäre Chance nutzen. Die hochindustriell entwickelten Länder werden folgen. Mit ihrer Hilfe werde dann der Sozialismus in Rußland aufgebaut.

Diese Überlegung aus Spekulation und Berechnung ging nicht auf. Zwar eroberten die Bolschewiki unter Lenin und Trotzki die politische Macht, aber das Resultat war nicht ein dem Kapitalismus überlegenes wirtschaftlich entwickeltes und politisch-demokratisches System, sondern das, was man seither unter dem später erfundenen Namen des "real-existierenden Sozialismus" versteht. Doch der Weg von der Oktoberrevolution bis zu Glasnost und Peristroika war schwer, lang und blutig, ohne daß gesagt werden könnte, der real existierende Sozialismus habe jene Qualitäten erreicht, die Voraussetzung sind, das kapitalistische System abzulösen.

Von Lenin zu Gorbatschow

Im Jahre 1905 stand in Rußland die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung. Sie sollte den Weg frei machen für die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. In "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" schrieb Lenin:

"Die Marxisten sind vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution unbedingt überzeugt. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß jene demokratischen Umgestaltungen der politischen Ordnung und jene sozialökonomischen Umgestaltungen, die für Rußland notwendig geworden sind, an und für sich nicht nur keine Untergrabung des Kapitalismus, keine Untergrabung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeuten, sondern daß sie umgekehrt zum erstenmal gründlich den Boden für eine breite und rasche, europäische und nicht asiatische Entwicklung des Kapitalismus säubern, daß sie zum erstenmal die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse ermöglichen werden. Die Sozialrevolutionäre können diese Idee nicht begreifen, weil sie das Abc der Entwicklungsgesetze der Warenproduktion und der kapitaliischen Produktion nicht kennen".

Die bürgerliche Revolution scheiterte 1905 bekanntlich und siegte erst in der Februarrevolution des Jahres 1917.

In einem Artikel vom 23. August 1915 schreibt Lenin im "Sozial-Demokrat" Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa: "Als selbständige Losung wäre jedoch die Losung Vereinigte Staaten der Welt wohl kaum richtig, denn erstens fällt sie mit dem Sozialismus zusammen, und zweitens könnte sie die falsche Auffassung von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande und eine falsche Auffassung von den Beziehungen eines solchen Landes zu den übrigen entstehen lassen.

Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, daß der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist. Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen, würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen. Die politische Form der Gesellschaft, in der das Proletariat siegt, indem es die Bourgeoisie stürzt, wird die demokratische Republik sein, die die Kräfte des Proletariats der betreffenden Nation oder der betreffenden Nationen im Kampfe gegen die Staaten, die noch nicht zum Sozialismus übergegangen sind, immer mehr zentralisiert. Die Abschaffung der Klassen ist unmöglich ohne die Diktatur der unterdrückten Klasse, des Proletariats. Die freie Vereinigung der Nationen im Sozialismus ist unmöglich ohne einen mehr oder minder langwierigen, hartnäckigen Kampf der sozialistischen Republiken gegen die rückständigen Staaten."

Wir bringen dieses Zitat deshalb, weil es immer als Beweis angeführt wird, Lenin sei der Erfinder vom "Sozialismus in einem Lande". Man beachte den letzten Satz des Zitats. 1915 jedenfalls stand für Lenin noch nicht der Sozialismus in Rußland auf der Tagesordnung.

Im Oktober 1917 eroberten die Bolschewiki die politische Macht, mit dem Ziel, den Sozialismus in Rußland einzuführen. Sie versuchten damit eine ganze Gesellschaftsformation zu überspringen und setzten damit auf die Weltrevolution. "Schon erwachen die Völker. Schon hören sie den feurigen Ruf unserer Revolution und bald werden wir nicht mehr allein sein. In unsere Armee wird die Kraft der proletarischen Massen anderer Nationen strömen". (Lenin 1918)

Die Macht wollte Lenin so gebrauchen, um die Massen zufrieden zu stellen und gleichzeitig die Produktivkräfte auf sozialistisches Niveau zu bringen, also das nachzuvollziehen, was die historische Aufgabe des Kapitalismus ist.

In Lenins berühmten Aprilthesen heißt es: "Die russische Revolution vom März 1917 war der Anfang jener Entwicklung, die einen imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln sollte. Aber ein zweiter Schritt ist notwendig, um den Frieden in einen dauernden zu machen, und der besteht darin, daß das Proletariat die Macht übernimmt." Einige Tage nach der Veröffentlichung der April-Thesen schrieben die Redakteure der Prawda: "Was Lenins allgemeinen Plan anbetrifft, so scheint er uns insofern unannehmbar, als er von der Voraussetzung ausgeht, daß die bürgerliche Revolution beendet ist, und daß er damit rechnet, diese ohne Übergang zu einer sozialistischen zu machen". Es war genau das, was ihm seitens einiger Altbolschewiken den Vorwurf des Trotzkismus einbrachte.

"Nur Schufte und Idioten können sich einbilden, daß das Proletariat erst die Majorität haben muß durch Wahlen, die unter dem Bourgeoisie-Joch stattfinden, unter dem Joch der Lohnsklaverei, und nur dann versuchen kann die Macht an sich zu reißen...

Nachdem das Proletariat genügend starke politische und militärische "Stoßtruppen" gesammelt hat, muß es die Bourgeoisie stürzen und ihr die Staatsgewalt entreißen, um sie ihren eigenen Klasseninteressen dienstbar zu machen.

Die Opportunisten "reden" dem Volk ein, daß es zuerst eine Majorität gewinnen müsse mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts; nachdem es diese Majorität gewonnen habe, müsse es die Staatsgewalt übernehmen und schließlich auf Grund dieser "folgerechten" (oder "reinen", wie man heutzutage sagt) Demokratie sich anschicken den Sozialismus zu organisieren.

Wir dagegen behaupten, daß das Proletariat erst die Bourgeoisie stürzen und die Macht an sich reißen und dann die Macht, das heißt die Diktatur des Proletariats als Instrument seiner Klasse so gebrauchen muß, daß es die Sympathie der Majorität der Werktätigen für sich gewinnt." (Lenin:Ges. Werke, Bd. XVI, S. 336)

Wie Marx aber schreibt, lassen sich Gesellschaftsformationen weder überspringen noch wegdekretieren. Die russische Revolution blieb isoliert und versuchte nun aus eigener Kraft das Land zu industrialisieren. Das Ergebnis war theoretisch die von Stalin und Bucharin entwickelte These vom Sozialismus in einem Lande und praktisch Systemverhältnisse, die als Stalinismus inzwischen in die Geschichte eingegangen sind.

Stalinismus

1921 stand die SU vor dem Zusammenbruch. Bürgerkrieg und Kriegskommunismus hatten das Land völlig ruiniert. Als sichtbares Zeichen des Verfalls: der Aufstand der Matrosen von Kronstadt. Lenin rettete das Land wie schon einmal als er 1918 einen unpopolären Frieden durchsetzte - durch die "Neue Ökonomische Politik" (NEP). Es war die Einsicht, daß nur durch Konzessionen an das kapitalistische Element, durch Appell an die Privatinitiative, unter gleichzeitiger Beibehaltung des Staatseigentums der wirtschaftlichen Kommandohöhen (Grundstoffindustrie, Banken, Versicherungen, Beibehaltung des Außenhandelmonopols etc.), der Ausweg aus der Krise zu finden sei. Langsam erholte sich das Land und erreichte Ende der 20er Jahre den Vorkriegsstand von 1913. Nachdem Ende 1923 auch dem optimistischsten Kommunisten klar geworden war, daß die Weltrevolution nicht stattfinden werde, bzw. auf den ST. Nimmerleinstag verschoben ist, stand die SU vor der Frage: wie steht es um den Aufbau des Sozialismus in der SU?

Vereinfacht dargestellt war die KPdSU(B) einmal in Internationalisten und in Nationalisten gespalten, also in jene deren Grundüberzeugung war: ohne Weltrevolution kein Sozialismus und in die, welche den Aufbau des Sozialismus als nationale Tat propagierten, also die These des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande vertraten. Beide Lager waren in der Frage der Industrialisierung, des von Pjatakow aufgeworfenen Problems der ursprünglichen Akkumulation im Sozialismus, noch einmal gespalten, auf wessen Kosten die notwendige Industrialisierung vonstatten gehen soll - auf Kosten der Arbeiter oder auf Kosten der Bauern. Weiter bestanden Meinungsverschiedenheiten in der Frage des Tempos der Akkumulation. Die Entscheidung fiel zugunsten der Stalinschen Fraktion, was bedeutete, Aufbau des Sozialismus in einem Lande, Kollektivierung, forcierte Industrialisierung. Industrialisierung und Kollektivierung in diesem Ausmaß und in dieser Intensität aber bedeutete Konsumverzicht für zumindest eine ganze Generation. Da sich kein Volk freiwillig einer derartigen Ausbeutung unterwirft, bedurfte es der nötigen Repressionsmittel und Einrichtungen, der ideologischen Ausrichtung, der Stalinschen These von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus. Kurzum: Der Stalinismus ist das Produkt objektiver Verhältnisse der 20er, 30er und 40er Jahre dieses Jahrhunderts. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob eine andere Entwicklung möglich gewesen wäre. Insofern muß in der Beurteilung des Phänomens Stalinismus unterschieden werden zwischen einer gewissen objektiven Funktion, die er im Geschichtsprozeß und in der Entwicklung der SU zu einem Industriestaat hatte und jener Ausprägung, die er mehr oder weniger durch den verbrecherischen Charakter Stalins erfuhr und die ihren Niederschlag fand in der Liquidierung der Alten Garde und der Errichtung eines Regimes des Terrors, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Maßnahmen, aus der Not geboren, wurden zur Dauereinrichtung, aus der Not machte man eine Tugend. So verkümmerte das politische Leben, wurde zum Scheinleben, wie bereits Rosa Luxemburg schrieb, wo die Bürokratie das allein tätige Element noch ist. Es wurde in der Partei nicht mehr diskutiert, sondern nur noch administriert. Der demokratische Zentralismus funktionierte nur noch von oben nach unten und entartete zum bürokratischen Zentralismus. Und wie die Partei, so die Gesellschaft.

Diese Kommandowirtschaft mag in Notzeiten als Notbehelf ihre Berechtigung haben. Den komplizierten und differenzierten Erfordernissen eines hochentwickelten Industriestaates, dessen Qualität in der Effektivität seiner Wirtschaft zu messen ist, konnte ein derartiges System nicht mehr gerecht werden. Die Länder des real existierenden Sozialismus, allen voran die SU, gerieten in die Periode der Stagnation. Versuche von Ländern, sich der sowjetischen Bevormundung zu entziehen, scheiterten an der Anwendung der sogenannten Breschnew-Doktrin, von der begrenzten Souveränität. So mußten erst in der SU jene verändernden Schlußfolgerungen gezogen werden, die unter "Perestroika" und "Glastnost" bekannt wurden und damit das Ende einer Periode einläuteten, die sicher reif war geschichtlich abzutreten, deren Nachfolger aber bis heute den Nachweis schuldig geblieben sind, mit dem Nachlaß so umgehen zu können, um von der Geschichte die Absolution erteilt zu bekommen.

Der Stalinismus hat aber noch eine andere, sehr wichtige Seite, die sowohl die Entwicklung der kommunistischen Parteien in den Ländern des real- existierenden Sozialismus als auch in den kapitalistischen Ländern beeinflussen sollte.

Die III. Internationale

Im Jahre 1919 gründete Lenin die Dritte Internationale, um den internationalen Charakter der russischen Revolution zu betonen und die Weltrevolution voranzutreiben. Aber alle Versuche, ein ähnliches System wie in der SU in anderen Ländern zu installieren, scheiterten. Stalin baute die Dritte Internationale zu seinem persönlichem Werkzeug aus, ließ die ersten beiden Präsidenten der Internationale, Sinojew und Bucharin liqudieren und machte die Internationale zu einem Instrument sowjetischer Außenpolitik. Primär stand nunmehr nicht mehr die Weltrevolution auf der Tagesordnung, sondern die Verteidigung des 1. Arbeiter- und Bauernstaates. Die kommunistischen Parteien hatten sich nicht mehr in ihrer Politik vom Klasseninteresse in ihrem Land leiten zu lassen, sondern von dem, was man als das Interesse der Sowjetunion bezeichnete. "Die Bastion muß gehalten werden", lautete die Parole, und dieser Parole mußte alles untergeordnet werden. Die kommunistischen Parteien verloren mehr und mehr ihre Selbständigkeit und wurden mehr oder weniger zu Befehlsempfängern der KPdSU degradiert. Wer sich widersetzte war ein Konterrevolutionär und wurde liquidiert.

Was nun?

Mit dem Zusammenbruch des bisherigen Systems in der SU und den anderen Staaten des "real-existierenden Sozialismus" entsteht weder ein politisches Vakuum, noch hört der Klassenkampf auf das entscheidende Prinzip im geschichtlichen Prozeß zu sein. Die Grundwidersprüche, die bisher den Gegensatz zwischen Imperialismus und Sozialismus geprägt haben, bestehen im Prinzip weiter, wenn auch in einer neuen Ausprägungsform. Was sicher gescheitert sein dürfte, ist das bolschewistische Konzept, in unterentwickelten Ländern den Sozialiamus aufzubauen, indem man faktisch eine ganze Gesellschaftsformation überspringt, um unter sozialistischen Prämissen den Industrialisierungsprozeß nachzuholen. Damit ist der Versuch des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande gescheitert. Ebenso der Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg den von der Roten Armee besetzten Ländern ihr System aufzwingen zu wollen. Gescheitert ist drittens der Versuch, im Zuge eines Wettbewerbs die kapitalistischen Länder ökonomisch zu schlagen, indem man sie einholt oder überholt.

Es ist weiter sicher nicht ausreichend, zu erklären, daß das schwächste Kettenglied des Imperialismus reißt, um den Sozialismus aufzubauen. Nach den neuesten Erfahrungen und Ereignissen scheint es notwendig, die gesamte Theorie des Marxismus-Leninismus zu überprüfen, den neuen Gegebenheiten anzupassen und verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen.

Es wird geraume Zeit verstreichen, bis man sich vom Schock erholt und neu formiert hat. Die Widersprüche im Kapitalismus und seine Unfähigkeit, die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Völker auf Dauer zu befriedigen, werden ohne Zweifel diesen Prozeß beschleunigen. Sozialisten müssen sich nach neuen Organisationsprinzipien organisieren, sich an einer weiterentwickelten marxistischen Theorie, die den Stand der neuesten wissenschaftlichen Forschung widerspiegelt, orientieren. Nie wieder darf eine marxistische Partei hinter die Errungenschaften einer bürgerlichen Revolution in ihrer praktischen Politik zurückgehen. Die bürgerlichen Freiheiten, Presse-, Versammlungs, Koalitions- und Meinungsfreiheit dürfen auf Dauer nicht monopolisiert und dem Volke verweigert werden. Notmaßnahmen dürfen nicht zur Dauereinrichtung gemacht werden. Uniformes Denken ist dem Marxismus fremd. Gerade in der freien, geistigen Auseinandersetzung errang der Marxismus seine größten Triumphe.


© Herbert Walter, Berlin 1991








 

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