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Der Bundesminister der Verteidigung, Volker R ü h e, hielt anläßlich der 32. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 4. Februar 1995 in München folgende Rede:
Nie war die Erkenntnis Henry Kissingers aus dem Jahr 1965 aktueller als heute: "Die Geschichte lehrt, daß um so größere Anstrengungen unternommen werden müssen, um den Zusam- menhalt einer Staatengemeinschaft zu gewährleisten, je radi- kaler sich das politische Umfeld verändert." Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind anders als im Kalten Krieg. Das Risiko eines großen Krieges zwischen Ost und West ist verschwunden, zugleich aber neh- men überall Instabilitäten, vor allem in der östlichen und süd- lichen Peripherie Europas zu. Andererseits wird das globale Netz von Verflechtungen und Abhängigkeiten immer dichter. Die Internationalisierung von Wirtschaft und Politik wächst, Ökonomie und technologische Innovationsfähigkeit werden zu bestimmenden Faktoren des internationalen Systems. Sie haben heute strategische Qualität. Diese Entwicklung betrifft Nordamerika und Europa gleichermaßen. Die fordernde Aufbauarbeit in Mittel- und Osteuropa und die stabilitätsfördemde Einbindung dieser Region in die euro- atlantischen Prozesse kann nur mit aktiver Hilfe Amerikas geleistet werden. Angesichts der Instabilität im östlichen Europa benötigen wir die strategische Rückendeckung Ameri- kas. Rußlands Größe und Potential sprengen europäische Dimensionen in jeder Hinsicht, gerade auch wenn dieses Land einmal zu neuer Kraft findet. Europa hat ein vitales Interesse an strategischer Stabilität. Ohne Amerika war, ist und bleibt diese Stabilität nicht erreich- bar. Das europäische Interesse an amerikanischer Teilhabe trifft sich mit dem amerikanischen Interesse, sich in und für Europa zu engagieren. Dafür gibt es gute politische, strategi- sche und wirtschaftliche Gründe. Selbst wenn heute viele Amerikaner von der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung im pazifischen Raum fasziniert sind, bleibt Europa für die USA von größter wirtschaftlicher Bedeu- tung. Die Zahlen sprechen für sich. Die Direktinvestitionen Amerikas in Europa und umgekehrt beliefen sich in jüngster Zeit auf etwa 500 Milliarden Dollar pro Jahr - auf beiden Sei- ten mehr als die Hälfte des Gesamtvolumens. Dahinter bleiben die US-Investitionen im pazifischen Raum weit zurück. Von amerikanischen Exporten nach Europa und den Aktivitäten der mehr als 4000 in den USA operierenden europäischen Firmen hängen mehr als zwölf Millionen amerikanischer Arbeits- plätze ab. Die transatlantische Wirtschaftsverflechtung zeigt zweierlei: zum einen wie bedeutsam die jeweils andere Weltregion für die eigene Stärke und den eigenen Wohlstand ist; zum anderen wie wenig es sich diese beiden Partner leisten können, eigene Wege zu gehen. Partnerschaft mit und Präsenz in Europa ist auch aus strategi- schen Gründen für die USA unabdingbar. Die in Europa sta- tionierten US-Truppen sind auch Instrument der Machtprojek- tion und in räumlicher Nähe zu den Regionen, die von vitalem Interesse für Amerika sind. Unser Kontinent und sein strategi- sches Umfeld können weder durch die Europäische Union noch durch die USA allein stabilisiert werden. Nur die Bünde- lung der Kräfte kann die neuen Herausforderungen bewältigen. Der östliche und der südliche Krisenbogen an der Peripherie Europas überschneiden sich im geographischen Dreieck Kau- kasus-Balkan-Nahost. Gerade hier münden tiefsitzende ethni- sche, religiöse und nationalistische Gegensätze immer wieder in offene Konflikte ein. Deutschland ist heute nur noch von Staaten umgeben, mit denen wir verbündet oder freundschaft- lich verbunden sind. Aber die Entfernungen zu den regionalen Konflikten in unserem Teil der Welt sind gering; und diese Konflikte bergen allesamt die Gefahr in sich, zu eskalieren und sich dann auch geographisch auszuweiten. Deshalb ist es stra- tegisch unzureichend, sich auf das Krisengeschehen in Bos- nien, Tschetschenien oder Algerien zu konzentrieren, ohne zugleich die Bezüge zumjeweiligen Umfeld herzustellen - im östlichen Europa wie im Mittelmeerraum. Das Mittelmeer verbindet unseren Kontinent mit den Staaten und Kulturen Nordafrikas und des Vorderen Orients zu einem geopolitischen Großraum. Hier liegen für uns wesentliche Ressourcenquellen. Der Erfolg des Friedensprozesses im Nahen Osten eröffnet neue Möglichkeiten zu intensiver wirt- schaftlicher Kooperation, vor allem auch für Europa. Das gemeinsame Interesse aller Beteiligten am Frieden wird auch bedauerlicherweise immer wieder durch brutalen Terror unter- laufen. Im Mittelmeerraum prallen die gesellschaftlich-kultu- rellen Gegensätze von Orient und Okzident aufeinander und verlangen deshalb friedenssichernde Vorsorge und die Fähig- keit zur politischen Krisenbewältigung. Unser politisch-strate- gisches Denken kann sich daher nicht nur auf Mittel- und Ost- europa richten. Es muß alle Risiken und Chancen berücksich- tigen, die für Europas Zukunft wichtig sind und zugleich gemeinsame vitale europäisch-amerikanische Interessen berühren. Partnerschaft heißt gemeinsam handeln und Verantwortung teilen. Geteilte Verantwortung bedeutet wechselseitige politi- sche Einflußnahme - regional und weltweit. Das zusammen- wachsende Europa ist politischer, ökonomischer und strategi- scher Partner der Vereinigten Staaten. Gleichberechtigte Part- nerschaft ist das Schlüsselwort für die künftigen Beziehungen zwischen USA und Europa. Der NATO-Gipfel vom Januar 1994 hat dazu endgültig die Weichen gestellt. Amerika unter- stützt den Aufbau einer eigenen europäischen politischen Identität. Die NATO ist die einzige Organisation, die die Sicherheit ihrer Mitglieder tatsächlich garantieren kann. Sie besitzt zugleich die besten Voraussetzungen für wirkungsvolle Kri- senbewältigung in Europa. Zugleich ist die Allianz ein wichti- ger Motor des politischen Wandels. Denn sie hat die Stabili- sierung Mittel- und Osteuropas als strategische Aufgabe ersten Ranges angenommen. Das Atlantische Bündnis muß aber die notwendigen Lehren aus dem Bosnien-Engagement ziehen. Es kann nicht nur Aus- führungsorgan anderer mit unbefriedigender Wirksamkeit sein. In Zukunft sollte die NATO nur im Auftrag der Verein- ten Nationen handeln, wenn die politische Zielsetzung von allen Bündnispartnern gleichermaßen akzeptiert ist, wenn es ein durchführbares militärisch-operatives Konzept gibt und die NATO dafür ihre Kräfte und Mittel ungehindert entfalten kann. Nur so kann das Bündnis die notwendige internationale Glaubwürdigkeit und innenpolitische Akzeptanz diesseits und jenseits des Atlantik bewahren. II. Gemeinsam mit der NATO bildet die Europäische Union die Fundamente einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung auf unserem Kontinent. Die Europäische Union ist ein Stabi- litätsraum, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Diejenigen, die modischem Euro-Skeptizismus oder rückwärtsgewandtem Nationalismus das Wort reden, verkennen den Fortschritt, den wir erreicht haben. Die gleichberechtigte Integration hat eine einzigartige friedensstiftende Dynamik entwickelt und uns allen eine der längsten Friedensperioden der Geschichte ge- bracht. Die institutionelle Integration Europas ist der bislang erfolg- reichste Versuch, jahrhundertelang rivalisierende Nationen zu befrieden. Was wir an Stabilität und Wohlstand gewonnen haben, muß jetzt bewahrt und fortentwickelt werden, zugleich aber auch mit anderen geteilt werden. Gerade weil die Lage in Europa und in der Welt so dynamisch, vielfältig und komplex geworden ist, müssen wir den Eini- gungsprozeß energisch vorantreiben und zwar jetzt. Frank- reich und Deutschland kommt dabei besonders Verantwortung zu. Angesichts der Herausforderungen können und dürfen wir uns nicht auf nationale oder gar regionale Beschaulichkeit zurückziehen und vor der Aufgabe kapitulieren. Der Talmud sagt: "Wenn nicht jetzt, wann dann?" und "Wenn nicht wir, wer denn?" Wir haben drei Aufgaben: E r s t e n s: Die größer werdende Union muß ihr inneres Gleichgewicht wahren. Z w e i t e n s: Die Europäische Union muß Handlungsfähig- keit als globaler Akteur gewinnen. D r i t t e n s: Die Union muß die Mission Europas bei den Bür- gern verständlich machen, um akzeptiert zu werden. Politische Identität wächst aus der Fähigkeit der gemeinsamen Institutionen, die Zukunft zum gemeinsamen Nutzen zu mei- stern. Ein positives Europa-Bewußtsein wird sich über die pragmatische Evidenz der künftigen Europäischen Union oder gar nicht bilden. Zur Identität trägt aber auch das Bewußtsein gemeinsamer Vergangenheit und der Wille zur gemeinsamen Zukunft bei. Der souveräne Nationalstaat ist nicht überholt. Er ist der Rah- men, in dem die Völker sich freiheitlich, rechtsstaatlich und demokratisch organisieren und der ihnen identitätsstiftende Kraft gibt. Die gelassene Gewißheit, einer Nation anzu- gehören, gibt erst die Freiheit zur europäischen Einigung und Vielfalt. Zugleich hat und braucht aber auch die europäische Ebene staatliche Funktionen. Sicherheit für seine Bürger schafft der einzelne Staat nicht mehr allein. Die Herausforde- rungen der Lage erzwingen, daß die europäischen Nationen sich in ein "System der gemeinsamen Ausübung von Souverä- nität" finden, wie es der österreichische Bundespräsident unlängst ausdrückte. Die künftige Europäische Union wird etwas anderes sein als der alte westeuropäische Zusammenschluß. Sie wird auch keine Kopie der Vereinigten Staaten von Amerika sein. Sie wird eine politische Union eigener Art werden, und es wäre unhistorisch, das auszuschließen, und unpolitisch, nicht darauf hinzuarbeiten. Die Europäer müssen ihre Kräfte zusammenfassen - für ihre Überlebens- und ihre Wettbewerbsfähigkeit. Der Zusammen- -schluß Nordamerikas zu einem Wirtschaftsraum, die Dynamik im asiatisch-pazifischen Raum, die weltweite Bevölkerungs- entwicklung, der islanüsche Fundamentalismus, die weltwei- ten ökologischen Probleme und die grenzüberschreitende Kri- minalität lassen uns keine andere Wahl. Der wirtschaftlichen Einigung muß daher die politische Union folgen. Bosnien ist kein Beweis für das Scheitern einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, sondern der Nachweis für ihre dringende Notwendigkeit. Voraussetzung dafür ist eine gemeinsame Bestimmung der gemeinsamen Interessen, ausgehend von einer einvernehmlichen Analyse der Lage und ihrer Entwicklung. Bisher haben wir uns allzu oft davon leiten lassen, unsere jeweilige unmittelbare Nachbar- schaft zum Hauptbezugspunkt unserer Politik zu machen. Natürlich ist es verständlich, wenn Länder wie Spanien, Frankreich und Italien in erster Linie nach Nordafrika blicken oder wenn Deutschland sich vor allem seinen Nachbarn im Osten Europas zuwendet. Die Stabilisierung Zentraleuropas ist aber keine Aufgabe, die Deutschland allein bewältigen kann. Ebensowenig können wir Frankreich, Spanien und die anderen Mittelmeeranlieger allein lassen, wenn es um die Probleme dieser Region geht. Die Sicherheit und Stabilität Europas ist unteilbar und verlangt von uns allen das Bewußtsein, daß wir diese Aufgabe nur gemein- sam meistem können. In jüngster Zeit wurden in Frankreich und Deutschland An- sätze für die Weiterentwicklung der europäischen Integration entwickelt. Bei allen Unterschieden sehe ich ein bemerkens- wertes Maß an Übereinstimmung, das geeignet ist, der Dis- kussion über Europas künftige Gestalt wesentliche Impulse zu geben. Mir erscheint ein Weg sinnvoll, mit dem souveräne Nation und überstaatliche Integration in intelligenter Balance gehalten werden. Das Entscheidungssystem der Europäischen Union muß um so klarer und einfacher sein, je größer und vielfältiger die Union wird. Wir müssen zu einer klaren Abgrenzung und Verteilung der Kompetenzen zwischen EU und Einzelstaaten kommen, die den differenzierten Interessenlagen und den unterschiedlichen Potentialen und Möglichkeiten der Natio- nen gerecht wird, ohne daß die Union an Handlungsfähigkeit einbüßt. III. Die Europäische Union wächst. Die Norderweiterung ist voll- zogen. Für unsere östlichen Nachbarn haben wir auf dem europäischen Gipfel in Essen den Weg in die Union und in den europäischen Sicherheitsraum vorgezeichnet. Mit der Aufnahme neuer Mitglieder stellt sich generell die Frage nach der Sicherheitsdimension der Mitgliedschaft neuer Partner. Es ist nicht vorstellbar, daß künftige Mitglieder der Europäischen Union einen minderen Sicherheitsstatus haben als die alten Mitglieder, die zugleich Mitglieder in der NATO sind. Die Erweiterung von Europäischer Union und NATO stehen daher in einer untrennbaren, logischen Beziehung zueinander. Aber Europäische Union und NATO würden sich politisch, wirtschaftlich und strategisch übernehmen, wenn sie alle potentiellen Beitrittskandidaten zugleich aufnehmen. Wir müssen auch berücksichtigen, daß sicherheitspolitische Vor- aussetzungen wahrscheinlich eher erfüllt sind als die ökono- mischen Standards. Die Wechselwirkung zwischen der Erweiterung der Europäi- schen Union und der Atlantischen Allianz ist aus konzeptio- nellen Vorüberlegungen jetzt in ein konkretes Stadium getre- ten. Der Ablauf der beiden Prozesse ist zwar miteinander ver- knüpft, aber diejeweiligen Meilensteine sind unabhängig von- einander zu definieren. Der Nordatlantikrat hat mit seinen Ent- scheidungen am 1. Dezember 1994 einen wichtigen neuen Meilenstein in der NATO-Erweiterung gesetzt. Wir können jetzt zielstrebig Pational und Modalitäten erörtern und damit die Voraussetzung für die Beantwortung der Fragen schaffen, wer wann Mitglied werden kann. Im Erweiterungsprozeß ist es notwendig, eine entsprechende Balance Richtung Rußland herzustellen. Stabilität in Europa gibt es nur mit, nicht gegen Rußland. Es liegt im Interesse aller Beteiligten, am Ziel einer strategischen Partnerschaft zwi- schen NATO und Rußland sowie der politisch-ökonomischen Partnerschaft zwischen Europäischer Union und Rußland fest- zuhalten. NATO-Erweiterung und der Ausbau einer funktio- nierenden politischen und strategischen Beziehung zwischen der Allianz und Rußland sind parallele Prozesse mit prakti- schen Inhalten. Es muß auch im Interesse Rußlands liegen, diesem für Moskau vorteilhaften Ansatz nicht den Boden zu entziehen. Aber Geschäftsgrundlage für unsere Beziehungen zu Rußland sind die Prinzipien, Abmachungen und Verträge, die wir alle und gemeinsam seit der Charta von Paris anerkannt und unter- schrieben haben. Die russische Intervention in Tschetschenien hat sich von die- sen Maßstäben gelöst. Internationale Vereinbarungen wurden gebrochen. Wir sind es uns selbst und einem glaubwürdigen Verhältnis zu Rußland schuldig, daß all dies eindeutig beim Namen genannt wird. Klare Sprache nach innen und außen und Bereitschaft zum Dialog sind kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Wir lassen uns dabei von der Verantwor- tung leiten, die Reformen in Rußland mit langem Atem zu stützen. IV. Angesichts der Größe der künftigen Herausforderungen ver- blassen Interessenunterschiede der beiden großen demokrati- schen Wohlstandszonen Europa und Nordamerika. Künftig sollten Europa und Amerika ihre außen- und sicherheitspoliti- schen Strategien umfassender koordinieren, als es die bishe- rige, auf Europa fokussierte Sicherheitskooperation im NATO- Rahmen zuließ. Europa und Amerika brauchen eine neue transatlantische Agenda, die ganze Vielfalt politischer, wirt- schaftlicher und militärstrategischer Fragen umfaßt. Es geht um die Verständigung auf gemeinsame politische Ziele und Strategien zu den Grundfragen einer komplexen Welt und in einer neuen Zeit. Amerika und Europa haben wie Präsident Clinton zutreffend sagte, 'little to fear but much to gain'. In der globalen Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika muß die euro-atlantische Partnerschaft Grundlage und Kern bleiben und mit neuen Impulsen versehen werden, um Allein- gängen diesseits und jenseits des Atlantiks keinen Raum zu geben. Die gemeinsamen strategischen Herausforderungen machen Zusammenarbeit erforderlich, und die gemeinsame Grundlage an Werten und Interessen machen sie möglich. Die amerikanisch-europäische Partnerschaft muß zu einer umfassenden Problemlösungsgemeinschaft werden. Der alte 'transatlantic bargain', die Abmachung Schutz gegen Einfluß, muß zu einem neuen, erweiterten 'transatlantic contract' wei- terentwickelt werden. Es kommt darauf an, der transatlanti- schen Partnerschaft Vision und strategischen Gehalt für mor- gen zu geben. V. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den Einsatz der Bundeswehr im Ausland hat uns zusätzlichen politischen Handlungsspielraum eröffnet. Wir können nun uneinge- schränkt solidarisch handeln. Deutsche Soldaten können künf- tig die gleichen Aufgaben und Risiken übernehmen wie ihre Kameraden in NATO und WEU. Lange Jahre haben Verbün- dete uns Sicherheit im eigenen Land gegeben. Heute stellen wir uns darauf ein, Verbündeten zu helfen, um Konflikte am Ort ihres Entstehens einzudämmen und keine Flächenbrände entstehen zu lassen. Die Bundeswehr wird zu einem Instrument entwickelt, das den Bedingungen unserer Zeit entspricht - fähig zur Verteidigung unseres Landes, zur Krisenreaktion im ganzen Bündnisgebiet und im Dienste der Vereinten Nationen, wenn Humanität und Friedenssicherung es gebieten. Für die Weiterentwicklung der Bundeswehr haben wir im letzten Jahr den konzeptionellen Rahmen gesteckt und die Eckdaten für Umfang und Struktur festgelegt. Zugleich ist die Entwicklung der Bundeswehr in eine verläßliche Haushaltsperspektive gestellt worden. Wir halten an der Allgerneinen Wehrpflicht fest. Sie prägt den Charakter der Bundeswehr. Landesverteidigung und Wehr- pflicht gehören in unserer Demokratie zusammen. Die Bun- deswehr wird in den nächsten Jahren in moderater Weise um 30 000 Mann vermindert und dann eine Friedensstärke von 340 000 Soldaten haben, davon 50 000 Mann in den Krisen- reaktionskräften. Krisenreaktions- und Hauptverteidigungs- kräfte werden strukturell so verklammert, daß die Bundeswehr eine gesunde innere Struktur behält. Wir wenden uns jetzt mit Priorität dem zu, was am wahr- scheinlichsten auf uns zukommt. Wir stellen Krisenreaktions- fähigkeit schrittweise her, aber wir schaffen rasch erste Ver- bände, die sofort einsetzbar sind. Und schließlich schaffen wir durch konsequente Rationalisierung Spielraum für Investitio- nen. Die Bundeswehr hat Rechtssicherheit für ihren Auftrag und Grund zu Planungsvertrauen. In diesem Jahr wird politisch entschieden, wie sie künftig aussieht. In den nächsten drei bis vier Jahren wird die Bundeswehr schrittweise ihre neue Struk- tur einnehmen. Deutschland behält moderne und leistungs- fähige Streitkräfte. Auf dem Wege dahin werden wir unsere Alliierten nach Kräften unterstützen, wenn das Bündnis gefor- dert ist. Und wir werden auch den Vereinten Nationen helfen, wenn Menschen in Not unsere Solidarität brauchen. Wir werden eden Einzelfall sorgfältig wägen, aber unserer Verantwortung gerecht werden. Dabei lassen wir uns von Grundsätzen leiten, die unserem Rechts- und Werteverständ- nis ebenso entsprechen wie unserer Interessenlage: - Unsere Hauptverantwortung liegt in Europa und seiner Peripherie. Unser Engagement kann auch nur so weit gehen, wie unsere Möglichkeiten reichen. - Zentrale Bedingungen für den Einsatz der Streitkräfte ist seine völkerrechtliche Legitimität. Ein Mandat der Verein- ten Nationen ist Voraussetzung. - Deutschland wird nicht allein handeln, sondern nur mit Freunden und Partnern in der euro-atlantischen Gemein- schaft. - Grundsätzlich gibt es keine Region, in der Deutschland auf- grund seiner Geschichte nicht mit Blauhelmen vertreten sein könnte. Aus historisch-moralischer Sicht mag es gute Gründe für und gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an Friedensmissionen in solchen Regionen geben. Der Maß- stab ist, ob wir wirklich helfen können. Ein friedens-erhal- tender Einsatz macht nur dort Sinn, wo deutsche Soldaten im Auftrag der UNO weitgehend die Akzeptanz aller Kon- fliktparteien finden. - Für Kampfeinsätze außerhalb von Landes- und Bündnis- verteidigung muß es zwingende Gründe geben. Die Gefahr für Deutschlands Sicherheit, für die Stabilität Europas oder für den intemationalen Frieden muß offensichtlich sein, so daß die Bevölkerung einen solchen Einsatz mitträgt. - Unverzichtbar ist ein glaubwürdiges politisches Konzept, das zu dauerhaftem Erfolg führt, und ein präziser militäri- scher Auftrag, der in einem klar begrenzten Zeitraum durchführbar ist. VI. Meine Damen und Herren, Europäer und Amerikaner stehen heute vor einer großen Aufgabe. In einer neuen Ära müssen und wollen wir die europäisch-atlantischen Beziehungen zu einer umfassenden Partnerschaft von Gleichen entwickeln. Die Geschäftsgrundlage der transatlantischen Beziehungen hat sich verändert. Die NATO als alleinige institutionelle Basis reicht nicht mehr aus. Die euro-atlantische Gemeinschaft hat sich mit dem Vertrag von Maastricht nicht nur qualitativ ver- ändert, sondern vergrößert sich auch um Staaten, die nicht Mitglied der NATO sind oder werden. Wirtschafts- und Handelsfragen sind in den europäisch-ameri- kanischen Beziehungen bislang institutionell nur unzurei- chend verankert. Europäische Union und die USA stellen für- einander aber nach wie vor die wichtigsten Handelspartner dar. Enge Beziehungen innerhalb des Westens sind um so wichti- ger, je deutlicher sich neue Konfliktlinien im internationalen System entlang kultureller Grenzen auftun. Europäische Union und Nordamerika markieren nach wie vor die weltpoli- tisch wichtigste Achse. Die neuen Herausforderungen können nur von beiden gemeinsam erfolgreich gemeistert werden. Wir wollen eine transatlantische Wirtschafts- und Sicherheits- gemeinschaft, die mehr ist als die Summe aus NATO und einem europäisch-amerikanischen Prosperitätsraum. Sie könnte Kern und treibende Kraft einer nördlichen Stabilitäts- zone werden, die Nordamerika, die Europäische Union und Rußland in eine neue, kooperative Balance führt. An diesem großen Ziel müssen wir festhalten, auch wenn es auf dem Weg dorthin zu Rückschlägen kommt.Quelle: Bulletin Nr. 9 vom 06.02.1995, S.73ff.
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