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1994-07-13

Mitteilung des SPD-Pressedienstes vom 13. Juli 1994

Die SPD hat wesentliche Ziele erreicht

Bundesverfassungsgericht hat Bundesregierung und Union klar zurückgewiesen

Von Rudolf Scharping Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

1. Das Karlsruher Urteil hat das rechtliche Zwielicht beseitigt, 
das in der Frage der Bundeswehreinsätze entstanden war. Es ist 
jetzt klar, in welchem rechtlichen Rahmen sich die Politik zu 
bewegen hat. Davon wird eine befriedende Wirkung für die außen- 
und sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland ausgehen. 
Vor allem aber ist die rechtliche Klärung wichtig für die 
Soldaten, die einen Anspruch darauf haben, daß sich ihr Dienst 
nicht in einer verfassungsrechtlichen Grauzone vollzieht.

2. Das Gericht hat die Auffassung der Bundesregierung und der 
Unionsparteien klar und eindeutig zurückgewiesen, wonach die 
Bundesregierung internationale Einsätze der Bundeswehr in 
eigener Verantwortung anordnen könne. Die von CDU/CSU und 
Regierung gewünschte Politik der freien Hand ist widerlegt. An 
den Entscheidungen muß das Parlament beteiligt werden. Das ist 
ein großer Gewinn für die Demokratie in unserem Land.

3. Es ist jetzt geklärt, daß internationale Bundeswehreinsätze 
unter der Verantwortung der Vereinten Nationen möglich sind. 
Davon unberührt bleibt die politische Entscheidung in jedem 
Einzelfall. Es bedarf vor jedem Bundeswehreinsatz einer 
politischen Entscheidung über die Beteiligung an einer UNO-
Aktion und über deren Umfang und Dauer. Für die SPD gilt bei 
diesen Entscheidungen ein klarer Maßstab: Zustimmung ist 
möglich, wenn es sich um eine friedenserhaltende Maßnahme 
handelt. Das schließt Blockaden und deren militärische 
Durchsetzung ein.

4. Soweit die NATO von dem Urteil betroffen ist, gilt für die 
SPD, daß sie an einer Stärkung der NATO auf der Grundlage der 
bestehenden Verträge interessiert ist.

5. Das Einsatzspektrum der Bundeswehr ist jetzt klar definiert. 
Sie dient der Landesverteidigung, der Erfüllung von 
Bündnisverpflichtungen und der Unterstützung von Maßnahmen der 
Vereinten Nationen. Der Einsatz im Inneren bleibt unverändert 
und strikt eingeschränkt. Er ist nur zulässig bei Unglücks-, 
Katastrophen- und innerstaatlichen Notstandsfällen.

6. Die Auseinandersetzung über die außen- und 
sicherheitspolitische Orientierung unseres Landes wird die SPD 
jetzt - befreit vom verfassungsrechtlichen Streit - 
weiterführen. Das gewachsene deutsche Gewicht sollte für eine 
Sicherheitsordnung in Europa eingesetzt werden, in der große 
wie kleine Staaten Sicherheit finden. Wir wollen keine neuen 
Grenzen zwischen 0st und West.

7. Die wesentlichen weiterreichenden Vorstellungen der 
Bundesregierung und der CDU/CSU zu Bundeswehreinsätzen sind vom 
Verfassungsgericht abgewiesen worden. Weder kann sich die 
Bundeswehr an Aktionen von NATO und WEU, die nicht 
Bündnisverteidigung sind und nicht von der UNO beschlossen 
sind, beteiligen, noch kann sie nach dem Grundsatz 
internationaler Nothilfe eingesetzt werden. Da bei 
Bundeswehreinsätzen im UNO-Rahmen ausdrücklich das Kommando der 
Vereinten Nationen gefordert ist, scheidet auch die Beteiligung 
an Kriegen wie dem Golfkrieg aus.

8. Damit hat die SPD wesentliche politische Ziele erreicht, die 
sie mit ihrer Verfassungsklage erreichen wollte.



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From: infopool@spd-bonn.zer.sub.org (Sysop@SPD-Bonn P.Stinner)
Subject: Egon Bahr zum BVG-Urteil/Bundeswehr
Date: Thu, 21 Jul 1994 13:22:41 +0000



Mitteilung des SPD-Pressedienstes vom 17. Juli 1994

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung "Deutschland hat alle Voraussetzungen erwachsen zu werden" Außenpolitische Interessen und Pflichten nach dem Karlsruher Urteil: fragen an den SPD-Politiker Egon Bahr Der Bundestag wird am Freitag zu einer _ Sondersitzung zusammenkommen. Geht es um Nachbesserung, oder geht es um mehr? Ich erwarte, daß sich die Debatte auf die nachträglich erforderliche Genehmigung für den Einsatz deutscher Soldaten bei der Awacs-Überwachung und in der Adria weitgehend beschränkt. Vorausgesetzt der Bundestag stimmt zu, dürfen deutsche Awacs- Besatzungen dann "out of area fliegen? Darf das deutsche Kriegsschiff Blockadebrecher aufbringen? Ja, wenn der Bundestag das bejaht, dann können deutsche Soldaten an diesen Aktionen genauso teilnehmen, wie alle anderen beteiligten Nationen das tun. Das ist auch durch das Bundesverfassungsgericht voll gedeckt. Ich möchte hinzufügen, daß auch nach Beschlußlage der SPD die Durchsetzung von Blockaden abgedeckt ist. Karlsruhe verlangt ein Gesetz ... ... darüber können noch keine Entscheidungen getroffen werden. Wünschenswert ist, daß die Erörterung eines solchen Gesetzes nicht durch das Wahlkampfgetöse beeinträchtigt wird und in Ruhe in den nächsten Monaten erfolgt - wenn es irgend geht im Zusammenwirken der demokratischen Parteien. Denn es handelt sich um eine Auslegung des Karlsruher Urteils, die fast konstitutiven Charakter bekommt. Das sollte man gemeinsam versuchen. Wo liegt die Hauptschwierigkeit? Eine der Grundsatzfragen, die jetzt behandelt werden müssen, ist die Frage, wieweit Deutschland durch Entwicklungen, die innerhalb der NATO oder der Westeuropäischen Union (WEU) eintreten, auf Souveränitätsrechte verzichtet. Denn wenn ein solcher Verzicht da ist, dann ist naturgemäß und logisch die Mitwirkung des Bundestags nicht mehr möglich, die aber das Verfassungsgericht als konstitutiv bezeichnet. Also muß man sich darüber klar werden, ob im Grunde genommen NATO und/ oder WEU eine supranationale Souveränität schaffen, die nationale Souveränitäten aushöhlt. Das ist meines Erachtens in absehbarer Zeit noch nicht der Fall. Also weder Frankreich noch Großbritannien, von Amerika ganz zu schweigen, betrachten diese beiden Organisationen als neuen Souverän in sicherheitspolitischen Angelegenheiten. Ergebnis für mich: die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland für jeden Einsatz bleibt national. Das heißt, es gibt keine Entscheidung des Bündnisses oder der WEU, die irgendeinen Automatismus für Deutschland zur Folge hat. Was ist mit dem Eurokorps? Auch das ist eine sehr erörterungswürdige Angelegenheit. Es geht um die Frage, ob ein solches Korps wegen seiner Kommandostrukturen nur gemeinsam einsetzbar oder ob es nicht gemeinsam einsetzbar ist, weil auch das Eurokorps noch keine Übertragung von Souveränitäten - ja, auf wen eigentlich - bedeuten kann. Das heißt, daß man entweder das Eurokorps nur einsetzen kann, wenn die beteiligten Regierungen übereinstimmen oder aber, daß die Verbände des Eurokorps so konstruiert sein müssen, daß man einzelne nationale Verbände herauslösen können muß, unabhängig von gemeinsamer Entscheidung. Welche außenpolitischen Kriterien müssen gelten, damit eine deutsche Beteiligung an UN-Missionen gerechtfertigt ist? Zunächst einmal sehe ich, daß sich die gegenwärtige Diskussion sehr stark der militärischen Seite außenpolitischer Aktivitäten zuwendet. Das ist als Ultima ratio unausweichlich. Aber das darf nicht das Zentrum der Diskussion bleiben. Wir haben einen großen Mangel an internationalen Mechanismen zur frühzeitigen Erkennung von Krisen, von präventiven, von wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen, auch militärischen, die Nicht Kampfeinsätze berühren. Und ich finde, daß die Bundesrepublik Deutschland gut daran täte, dieses internationale System insbesondere der UN auszubauen, damit es möglichst wenig militärische Einsätze gibt. Zweiter Punkt: Wie das bei den Deutschen so gern geschieht, zerbrechen wir uns natürlich auch den Kopf über ungelegte Eier. Noch niemals in der Geschichte der Vereinten Nationen hat es einen Beschluß des Sicherheitsrats gegeben zur Wiederherstellung des Friedens das heißt zu Kampfeinsätzen, die den Frieden erzwingen, auch wenn das Objekt nicht zustimmt. Das Bundesverfassungsgericht hält eine Teilnahme deutscher Soldaten auch daran für möglich. Aber das entspräche nicht der Auffassung der SPD . . . Ist die Unterscheidung zwischen Blauhelm-Aktionen und friedensschaffenden Maßnahmen, also Kampfeinsätzen, hinfällig? Nein. Die ist verfassungsrechtlich hinfällig, soweit es die deutsche Diskussion angeht, sie ist nicht hinfällig, soweit es die Vereinten Nationen angeht. Denn es macht natürlich einen Unterschied, ob die UN zur Friedenserhaltung etwas beschließen, oder ob sie sich zum ersten Mal auf einen anderen Paragraphen, nämlich den Frieden wiederherzustellen, berufen. Im Prinzip würde Deutschland dann zu einer Art von Kriegsbeteiligung gefragt. Das hat eine andere Dimension. Was heißt das für die Sozialdemokraten? Die Sozialdemokraten werden sagen, nach unserer Beschlußlage lehnen wir eine solche Teilnahme ab. Wir können es nicht mehr ablehnen unter der Begründung "verfassungsrechtlich fraglich". Sondern wir können es nur ablehnen unter politischen Gesichtspunkten - wir wollen das nicht. Nun kann man sagen, die Vereinten Nationen wollten das bisher auch nicht. Insofern hoffe ich, das diese Frage sich in den nächsten fünf Jahren nicht stellt. Somalia war ein humanitärer Einsatz, der sieh dann anders entwickelt hat. War der Einsatz dennoch ausreichend sanktioniert? Ja, das war ein humanitärer Einsatz, der eine andere Dimension angenommen hat, aber nicht als andere Dimension geplant wurde. Da ist man hineingeschlittert. Immer stärker wird die Verantwortung Deutschlands in der Welt angemahnt. Es kann aber auch nicht um jeden beliebigen Krisenherd gehen. Wo liegen die deutschen Interessen und Pflichten? Die deutsche Außenpolitik sollte sehen daß unser Interesse an Stabilität und Frieden im Osten größer ist als im Süden. Das heißt, sie sollte sich klar werden darüber daß uns die Teilnahme an friedenserhaltenden und stabilisierenden Maßnahmen östlich von Deutschland noch näher liegt als in Afrika, in Asien und im Nahen Osten. Das bedeutet, daß man sich engagieren muß für Stabilität in diesem Raum auch deshalb, weil ohne westliche Bereitschaft zum Engagement eine russische Bereitschaft zu einem Engagement im Sinne der Selbstbeschränkung nicht denkbar ist. Im deutschen Interesse muß es auch liegen, daß es in Europa keine neue Teilung der Sicherheit gibt. Also: die Einbeziehung Rußlands in Sicherheitsabsprachen ist unabdingbar. Selbstverständlich sind wir, was die politische Interessensgewichtung angeht, auch vor unserer Haustür, das heißt südlich und östlich des Mittelmeeres, an Stabilität interessiert. Aber da muß weiter gelten: Der Einsatz deutscher Soldaten, in einer Region, in der eine Konfrontation mit israelischen Soldaten möglich wäre, ist abzulehnen. Mehr Pflichten, auch mehr Mitsprache? Wie steht es mit dem Sitz im Sicherheitsrat? Was den Sicherheitsrat angeht, würde ich warten, bis wir gefragt werden. Da drängt man sich nicht, damit macht man sich nur lächerlich. Wir werden eines Tages gefragt werden, davon bin ich fest überzeugt. Und dann sollten wir "ja" sagen. Zum Thema Bundeswehr: Für die Krisenreaktionskräfte kommen nur Zeitsoldaten in Betracht. Brauchen wir eine Berufsarmee? Zahlenmäßig kleine Einsätze sind heute schon möglich. Größere Aktionen, weltweit, sind es nicht. Dazu fehlt unter anderem eine auch von der NATO unabhängige Kommandostruktur. Die wird jetzt aufgebaut, und sie ist nötig, solange die Vereinten Nationen noch keine eigene Führungs- und Leistungsfähigkeit haben, die zu schaffen im übrigen sehr wünschenswert wäre. Die Frage nach der Berufsarmee ist berechtigt, aber die Antwort muß nicht entweder oder heißen. Ich glaube, daß die Krisenreaktionskräfte überwiegend von Berufssoldaten gebildet werden müssen. Reicht der Wehretat aus? Wenn ich den Haushaltsansatz sehe, dann komme ich zu dem Ergebnis, eine Erhöhung des Etats ist nicht nötig. Man muß sich nur entscheiden, was man will - welches Gewicht heute noch der Landesverteidigung zukommt, wie schnell der Aufbau der Krisenreaktionskräfte gelingen soll. Wenn diese der entscheidende Faktor sind, dann wird sich auch ergeben, daß eine Truppenstärke von insgesamt 340000 Mann nicht ehrlich ist, daß 300 000 ehrlicher wären. Denn man muß sich doch fragen, wie groß ist eigentlich das Sicherheitsrisiko, in dem das Land lebt? Kurzum: Die Festlegung aus Risiko und Geld könnte dazu führen, daß wir auch mit weniger als 300000 Soldaten auskommen. Sind die Deutschen darauf vorbereitet, mehr Verantwortung zu übernehmen? Zur Selbstverständlichkeit von Souveränität und Verantwortung gehört, daß man gerade nach dem Karlsruher Spruch zwar im Prinzip "ja" sagen kann, im Konkreten wenn es sein muß, aber auch "nein", ohne daß damit die Frage unserer Bündnisfähigkeit aufgeworfen wird. Im Prinzip hat Deutschland alle Voraussetzungen, erwachsen zu werden. Aber ich zweifle daran, ob es schon erwachsen ist. Die Fragen stellte Wolfgang Wischmeyer





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