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1994-04-19

Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht zum Auslandseinsatz der Bundeswehr

Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus K i n k e l, und der Bundesminister der Verteidigung, Volker R ü h e, gaben in der mündlichen Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes anläßlich des Organstreit- verfahrens zur Auslandsverwendung der Bundeswehr am 19. April 1994 in Karlsruhe folgende Erklärungen ab:



Erklärung von Bundesminister Dr. Kinkel

Deutsche Außenpolitik ist dem Frieden, der Solidarität und unserer Mitverantwortung in der Welt verpflichtet. Wir haben uns für Zusammenarbeit, Partnerschaft und multilaterale Sicherheitsstrukturen und gegen nationale Sonderwege entschieden. Mit dieser Friedenspolitik haben wir die Ost- West-Konfrontation überwunden und die deutsche Einheit erreicht. Unsere Vergangenheit und dieser Erfolg verpflich- ten uns. Heute hängen Frieden, Stabilität und unsere eigene Sicherheit immer stärker von der Bewältigung von Krisen außerhalb des Gebiets des Bündnisses ab. Jugoslawien ist das beste Beispiel. In einer auch nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinanderset- zung durch die Häufung von Krisen leider nicht friedlicher gewordenen Welt verlangen verflochtene Interessen gemein- same Verantwortung, Zuverlässigkeit, gegenseitige Hilfe, ab- gestimmtes Handeln. Die Zahl von Friedensmissionen der Vereinte Nationen hat in den vergangenen Jahren sprunghaft zugenommen. 70 000 Sol- daten aus 68 Ländern sind an 16 Unruhe-Gebieten im Interesse des Friedens im Einsatz. Die Vereinten Nationen sind längst an die Grenzen ihrer Kapazität gestoßen. Viele unserer Freunde verstehen nicht, daß nur ihre Söhne ihr Leben im Kampf um den Frieden einsetzen sollen. In dieser Lage erwarten unsere Partner von uns nicht nur finanzielle und materielle Unterstützung" sondern auch die Beteiligung der Bundeswehr. Deutschland kann nicht länger verweigern, was unsere Partner für die Vereinten Nationen seit langem erbrin- gen. Sie haben kein Verständnis, wenn wir heute Beschrän- kungen beibehalten, die in der Nachkriegszeit ihre Berech- tigung hatten. Die Erfahrung zeigt: es gibt Konflikte, bei denen diploma- tische Bemühungen zur Lösung nicht ausreichen. Ja, schwer- ste Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbruch können in Ausnahmefällen nur durch militärische Gewalt verhindert oder beseitigt werden. Es geht nicht um eine Renaissance militäri- schen Denkens. Der Einsatz von Zwangsmaßnahmen wird immer ultima ratio bleiben. Die VN können nur so stark sein, wie ihre Mitglieder sie machen. Deutschland trägt auch Verantwortung für eine Stär- kung der neuen multilateralen Sicherheitsarchitektur, deren Pfeiler weltweit die Vereinten Nationen und in Europa die KSZE, die NATO, die Europäische Union und die WEU sind. Daher dürfen wir uns gerade im Hinblick auf unsere Vergan- genheit nicht verweigern. Der Generalsekretär der VN hat die Bundesregierung aufge- fordert, sich mit Streitkräften an friedenserhaltenden und frie- densschaffenden Maßnahmen zu beteiligen. Erst in der letzten Woche hat er mir in Bonn wieder gesagt, er erwarte von Deutschland eine personelle Beteiligung an den von ihm ins Auge gefaßten "Stand-by-forces". Unsere Partner und Freunde erwarten auch Engagement von uns. Die Bundesregierung hat den Willen, sich diesen Heraus- forderungen und Verpflichtungen zu stellen. Mit den militäri- schen Maßnahmen, um die es heute geht, hat die Bundesregie- rung getan, was sie für erforderlich hielt. Die deutsche Betei- ligung, die die Bundesregierung in allen anstehenden Fällen wollte, über deren Rechtsgrundlage es aber teilweise unter- schiedliche Beurteilungen gibt, hat weltweit Anerkennung ge- funden. Die Klärung der Grundsatz- und Verfassungsfrage, um die es in diesem Verfahren geht, ist eilbedürftig. Unser Land braucht außenpolitische Handlungsfähigkeit. Es droht sonst Schaden zu nehmen. Das habe ich erst gestern wieder beim Treffen der zwölf europäischen Außenminister in Luxemburg zu spüren bekommen. Unsere Bürger wollen Klarheit. Klarheit brauchen ganz besonders aber unsere Soldaten, bevor sie in schwierige Missionen entsandt werden. Die Koalition hat im Januar 1993 im Deutschen Bundestag ein Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes eingebracht. Damit soll Deutschland in den Stand versetzt werden, seinen vollen Beitrag zu leisten, wenn es um friedenserhaltende und frie- densschaffende Maßnahmen geht. Jeder Einzelfall wird verantwortungsvoll zu entscheiden sein. Bei unserer Kultur der Zurückhaltung muß es bleiben. Auch in Zukunft wird der deutsche Beitrag primär politischer und wirtschaftlicher Natur sein. Wir werden auch in Zukunft häufiger "Nein" als "Ja" sagen müssen. Der Koalitionsent- wurf will künftig in jedem Einzelfall die Zustimmung des Parlaments. Trotz aller Bemühungen ist es uns nicht gelungen, für unseren Vorschlag die nötige verfassungsändernde Mehrheit zu finden. Deshalb sind die drei anhängigen Verfahren so wichtig. Ich hoffe, daß das Bundesverfassungsgericht es uns ermöglicht, daß deutsche Soldaten künftig so wie die Soldaten anderer Länder im Interesse des Friedens und der Menschen in Not helfen können. Dies sind wir uns selbst schuldig, um den Werten unserer Verfassung zu genügen. Das kann auch die Völkergemeinschaft von uns erwarten. Erklärung von Bundesminister Rühe In der Präambel des Grundgesetzes ist für Deutschland das umfassende Ziel seiner Außen- und Sicherheitspolitik be- stimmt: Es soll als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Aus dem Grundgesetz ergeben sich die Schutzverpflichtung und die Gestaltungsauf- gabe deutscher Politik. Als Mitglied der Vereinten Nationen, als Teil nehmer der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, als Mitglied der Nordatlantischen Allianz, der Europäischen Uni- on und der Westeuropäischen Union, aber auch wegen seiner Lage im Zentrum Europas und seiner Abhängigkeit als Indu- strienation mit weltweiten Verflechtungen ist Deutschland von den meisten politischen und strategischen Entwicklungen be- rührt. II. Die Vereinten Nationen und die euro-atlantischen Institu- tionen passen sich den Erfordernissen der veränderten inter- nationalen Lage an. Die Gefahr eines großen Angriffs ist zwar weiterhin der gefährlichste, heute aber eher unwahr- scheinliche Fall für unsere Sicherheitsvorsorge. Wahrschein- licher sind krisenhafte Entwicklungen in Europa und darüber hinaus, die Deutschlands Sicherheit und Europas Stabilität gefährden. Sie können und müssen gemeinsam mit unseren Bündnispartnern oder in der Völkergemeinschaft gemeistert werden. Für die NATO bedeutet dies, daß neben die klassische Auf- gabe der kollektiven Verteidigung zunehmend die Notwendig- keit, Krisen zu bewältigen, in das Blickfeld tritt. Das Bündnis hat seine Bereitschaft erklärt, zu diesem Zweck Operationen unter der Autorität der Vereinten Nationen zu unterstützen. Am Beispiel Jugoslawien wird Tag für Tag deutlich, warum und wie sich die Vereinten Nationen, die Atlantische Allianz und auch die Westeuropäische Union diesen neuen Aufgaben aus Verantwortung für den Frieden stellen müssen. III. Es ist nicht vorstellbar, daß Deutschland in seiner Verantwor- tung als ein Schlüsselfaktor der NATO in Europa und als treibende Kraft der europäischen Integration abseits steht oder sogar eine Sonderrolle beansprucht. Außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit ist unab- dingbare Voraussetzung unserer Bündnisfähigkeit und des Vertrauens unserer Partner in die Kontinuität deutscher Poli- tik. Das sind die Kernelemente der Sicherheit Deutschlands. Falls unser Land seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht würde, müßte das von unseren Partnern als Diskonti- nuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verstanden werden. Mit der Beteiligung der Bundesmarine an der Überwachung des Embargos gegen das ehemalige Jugoslawien in der Adria, mit der Teilnahme deutscher Soldaten an der Überwachung und Durchsetzung des Flugverbots in den AWACS-Flugzeu- gen der NATO, den humanitären Hilfsflügen der Luftwaffe nach Bosnien und mit dem Beitrag des deutschen Unterstüt- zungsverbandes Somalia für UNOSOM II ist Deutschland seiner Verantwortung gerecht geworden. IV. Die Bundesregierung will die Gemeinsamkeit unter den Euro- päem und mit Amerika vertiefen. Wir wollen die Klammern zwischen unseren Streitkräften durch multinationale Truppen- teile verstärken. Wir wollen Aufgaben gemeinsam wahrneh- men und Risiken teilen. Wir wollen Alleingänge verhindern und Sonderwege ausschließen. Alle Partner sollen mitent- scheiden und Mitverantwortung tragen. Das kann nur gelingen, wenn für alle gleiche Voraussetzungen gelten. Die Geschäftsgrundlage muß für alle gleich sein. Nie- mand darf Exklusivklauseln beanspruchen. Ein Musterbeispiel ist die AWACS-Flotte der NATO. Sie ist ein Bündnisinstrument mit besonderer Integrationsqualität, auf das sich die Allianz schon in Friedenszeiten in bewußter gegenseitiger Abhängigkeit stützt. Deshalb war und ist die Entscheidung dieses Hohen Gerichts, die deutschen Soldaten in den Flugzeugen zu belassen, von fundamentaler politischer Bedeutung. V. Wir tragen Mitverantwortung für Frieden, Freiheit und Ge- rechtigkeit in der Welt. Deutschland darf nicht abseits stehen, wenn die Völkergemeinschaft unsere Hilfe und Unterstützung braucht. Das heißt aber nicht, daß Deutschland eine globale Präsenz anstreben würde. Unsere europäische Verantwortung steht im Vordergrund. Unser Engagement kann nur so weit gehen, wie auch unsere Möglichkeiten reichen und unsere Prinzipien und Interessen berührt sind. Jeder einzelne Fall wird umfassend abgewogen und verantwortungsvoll entschieden. Wer aber grundsätzlich "Ja" zur Mitverantwortung sagt, findet überall Verständnis, wenn erbegründet "Nein" sagt. Wenn wir aber "Ja" sagen und unsere Streitkräfte einsetzen - in humani- tären Einsätzen, zur Hilfeleistung und auch zur Währung oder Wiederherstellung des Weltfriedens -, dann brauchen unsere Soldaten auch die Gewißheit, daß ihr Einsatz politisch verant- wortet wird, daß die Rechtsgrundlagen ihres Einsatzes unstrit- tig sind und daraus der selbstverständliche Rückhalt der Be- völkerung erwächst. Obwohl unsere Einheiten in Somalia und in der Adria zum Teil schmerzlich registrieren mußten, daß sie ihren Dienst unter anderen Voraussetzungen zu leisten hatten als ihre Ka- rneraden aus anderen Staaten, haben sie ihren Auftrag hervor- ragend erfüllt. Das persönliche Engagement unserer Soldaten ist ein unver- kennbares Zeichen für die Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik und für die Bündnis- fähigkeit unseres Landes. Ihr treuer Dienst ist beides: Das sichtbare Bekenntnis u n d der Einsatz für fundamentale Werte unserer Verfassung.
Quelle: Bulletin Nr. 35 vom 22.04.1994, S. 310ff.




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