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"Erklärung der Bundesregierung zur deutschen Mithilfe bei Friedensmissionen der Vereinten Nationen"

Abgegeben vom Bundesminister des Auswärtigen vor dem Deutschen Bundestag Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, gab in der 151. Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn am 21. April 1993 folgende Erklärung der Bundesregierung "zur deutschen Mithilfe bei Friedensmissionen der Verein- ten Nationen" ab: Heute geht es über den konkreten Anlaß dieser Debatte hinaus um eine Frage von grundsätzlicher außen- und sicherheitspoli- tischer Bedeutung: Finden wir als vereintes und souveränes Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einem neuen außen- und sicherheitspolitischen Konsens, der uns in einer veränderten Weltlage zu einem handlungsfähigen und verantwortungsbewußten Partner der Weltgemeinschaft macht? Sind wir bereit, die Friedensaufgaben uneingeschränkt wahrzunehmen, die die Völkergemeinschaftvon uns als füh- rende Industrienation angesichts völlig neuer sicherheitspoliti- scher Herausforderungen erwartet? Nach den unheilvollen Erfahrungen mit unserer Geschichte hat der Deutsche Bundestag in den fünfziger Jahren um einen verteidigungspolitischen Grundkonsens gerungen. Mit der Schaffung der Bundeswehr haben wir es uns damals wahrlich nicht leichtgemacht. Ihre Aufgaben wurden zu Recht auf die Verteidigung unseres Territoriums an der Nahtstelle zweier Bündnissysteme beschränkt, die mitten durch unser Land lief und die Welt über 40 Jahre in zwei feindliche Lager teilte. Aus dieser Lage heraus haben wirjahrzehntelang unsere Sicherheit definiert und entsprechend den Auftrag der Bundeswehr aus- schließlich in der Verteidigung im Rahmen des NATO-Bünd- nisses gesehen. Dies war der von unserer Gesellschaft getrage- ne politische Grundkonsens. Mit dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang hat die bipolare Weltordnung ein Ende gefunden. Damit wurde auch dem bisherigen Sicherheitsverständnis eine wesentliche Grundlage entzogen. Ja: Auch in der neuen Weltlage bedeutet die Schaffung von Sicherheit vorwiegend Landesverteidigung. Aber wir brauchen unsere Bundeswehr heute nicht mehr ausschließlich dafür, um unser Land gegen einen potentiellen Angreifer zu verteidigen. Statt dessen sind drei neue Aufgaben dazugekommen, ja in den Vordergrund getreten: Konfliktver- hütung, Friedenssicherung und Friedensschaffung. Durch den Wegfall des West-Ost-Konflikts haben sich die Vereinten Nationen aus ihrer jahrzehntelangen Lähmung be- freien können. Erstmals besteht die Chance, daß diese Organi- sation zu dem wird, was ihre Gründungsväter im Auge hatten: Zum zentralen Friedenshüter der Menschheit. Und damit sind wir auch beim Kern dieser Debatte. Wir müssen zu einem neuen erweiterten politischen und verfas- sungsrechtlichen Konsens über die Aufgaben unserer Bundes- wehr kommen, einem Konsens, der uns in die Lage versetzt, bei der Lösung dieser drei neuen zentralen Sicherheitsauf- gaben unter UNO-Dach und an der Seite unserer Partner mit- zuwirken. Das ist ein gesellschaftspolitisch und politischer Meinungs- findungs- und Entscheidungsprozeß, der uns zu Recht um- treibt, und bei dem es in einem Rechtsstaat doch wahrhaftig keine Schande ist, wenn man auch in so schwierigen verfas- sungsrechtlichen Fragen verschiedener Meinung ist. Es besteht in diesem Hause weitgehend Einigkeit, daß die Bundeswehr in die Lage versetzt werden muß, sich bei der Friedenssicherung - also bei Blauhelmmissionen - zu beteili- gen. Wir ringen aber nun seit langer Zeit um die Frage, ob sich die Bundeswehr auch der Aufgabe der Friedensschaffung stellen muß. Die Antwort der Koalition, der Bundesregierung hierauf ist "Ja". Ihr Vorschlag für eine entsprechende Grund- gesetzänderung liegt auf dem Tisch. Mein Appell an alle, vor allem an die SPD, in dieser Debatte ist, sich nun endlich mit großem Ernst und staatspolitischer Verantwortung um eine Lösung zu bemühen, die unser Land unter den neuen Gegebenheiten handlungsfähig macht und auch unseren verunsicherten Soldaten den sicheren Rahmen gibt, den sie für ihren Auftrag brauchen. - Es ist höchste Zeit zum Handeln. Wir sind dabei, mit unserem quälenden Prozeß innen- und außenpolitischen Schaden zu nehmen. Die Bundesregierung hat zusammen mit ihren Partnern auf den revolutionären Wandel in Europa mit primär politischen und wirtschaftlichen Konzepten geantwortet. Es hat nie die Absicht bestanden, Außen- und Sicherheitspolitik in der sich neu ordnenden Welt auf das Militärische zu verengen. Die Schaffung einer weltoffenen und bürgernahen Europäischen Union, ihre feste transatlantische Verankerung sowie die stu- fenweise Ausdehnung dieses Stabilitätsraumes nach Osteuropa - dies ist der Kern unserer Antwort auf die neue Weltlage. Die Staatengemeinschaft versucht heute in einer neuen Ge- meinsamkeit unter Führung der Vereinten Nationen und regio- naler Abmachungen wie der KSZE, den mit dem Ende der Blöcke aufgeflammten zahllosen nationalen, ethnisch religiö- sen Konflikten Herr zu werden. Die Vereinten Nationen sind dabei an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Sie müssen gestärkt werden. Seit 1991 hat sich das Friedens- engagement der UNO vervierfacht: Derzeit wirken 53 000 UNO-Soldaten aus 64 Ländern weltweit an insgesamt 13 Friedensoperationen mit. Mit der vorgesehenen UNO- SOM-II-Mission in Somalia werden es über 80 000 sein. Trotz unserer verfassungsrechtlichen Beschränkungen können wir auf eine langjährige bemerkenswerte Bilanz deutscher personeller Beteiligung an humanitären Friedensmissionen der Vereinten Nationen zurückblicken. Ich denke an die Zur- verfügungstellung von Lufttransportkapazitäten der Bun- deswehr an die Vereinten Nationen nach dem Jom-Kippur- Krieg im Jahr 1973, an die logistische Unterstützung der Abrüstungsmission im Irak durch Bundeswehrpiloten, an unser Feldlazarett in Kambodscha bis zur Luftbrücke nach Sarajevo oder die Transall-Versorgungsflüge nach Ost-Bos- nien und nach Somalia. All diesen Aktionen ist bei aller Verschiedenheit eines gemeinsam: Es ging. immer darum, Menschen in Not zu helfen und sie vor Gewalt und Menschen- rechtsverletzungen zu bewahren. Hier wurde und wird kein militärischer Zwang ausgeübt, es geht nicht um einen militäri- schen Einsatz. Die Behauptungen, die Bundesregierung betriebe mit der For- derung nach uneingeschränkter Übernahme aller Pflichten der UNO-Charta eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik, ist absurd. Sind denn die Finnen, Kanadier oder Iren, die seit Jahren an allen Brennpunkten der Welt für die UNO ihren oft lebensgefährlichen Dienst tun, deshalb Militaristen? Sind die Franzosen oder Engländer, die im ehemaligen Jugoslawien die Bevölkerung versorgen, die Amerikaner, Italiener oder Inder, die in Somalia mit der Waffe in der Hand ein Volk vor Anarchie und Hungertod bewahren, sind das denn alles Kriegstreiber? Wollen wir die Besatzungen in den Transall- Maschinen, die Ost-Bosnien versorgen, wollen wir unsere Bundeswehrsoldaten in den AWACS-Maschinen diesem Vor- wurf aussetzen? Darf denn ein Soldat nicht humanitär tätig werden? Ich glaube, dies alles zeigt, wie falsch dieser Vorwurf der Militarisierung ist. Meine Damen und Herren, der blutigste und unmenschlichste der neu aufgeflammten Konflikte spielt sich im Hause Europas ab - im ehemaligen Jugoslawien. Ein völkischer Eroberungs- krieg ein Ende des 20. Jahrhunderts ist eine ungeheuerliche Herausforderung des Neuanfangs in Europa, der sich neu ordnenden Staatengemeinschaft insgesamt. Sie hat bis heute - leider - kein Mittel gefunden, dem Morden, dem Vertreiben, dem Vergewaltigen ein Ende zu setzen. Der Fall von Srebreni- ca hat uns erneut das ganze Ausmaß der menschlichen Tragö- die dramatisch vor Augen geführt. Ich verstehe die Empörung und Enttäuschung der Menschen über die Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, das Blutvergie- Ben zu beenden, nur zu gut. Aber: Ein Rezept, wie man Serbien unterhalb eines massiven militärischen Eingreifens mit ungewissem Ausgang und dem Risiko einer unberechen- baren Ausweitung der Kriegshandlungen in die Schranken weisen könnte, hat noch niemand vorgelegt. Eines wirdjedoch mittlerweilejedem überdeutlich, auch denen, die anfangs noch zögerlich waren: Belgrad versteht nur die Sprache äußersten Drucks. Dieser Druck wächst - für viele vielleicht immer noch zu langsam oder zu spät, aber es wird deutlich, daß die Geduld der Staatengemeinschaft am Ende ist. Der Beginn der militäri- schen Luftüberwachung durch die NATO, die jüngsten Äuße- rungen von Lord Owen zur Notwendigkeit noch schärferer Maßnahmen gegen die serbische Seite setzen klare Zeichen. Der VN-Sicherheitsrat hat mit der Resolution 820 eine ent- scheidende Weichenstellung vollzogen: Serbien mag heute noch militärisch triumphieren, wenn es seine Politik nicht ändert, droht ihm die völlige politische und wirtschaftliche Isolierung, auf die wir im Rahmen der Europäer besonders gedrängt haben. Deutschland hat sich von Anfang an an den internationalen Bemühungen zur Lösung dieses Konflikts aktiv beteiligt. Un- ser Anteil an der EG-Beobachtermission entspricht unserer Größe und Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft. Wir sind mit dem zweitstärksten Kontingent an den Missionen beteiligt, mit denen die Nachbarstaaten Serbien/Montenegros bei der Überwachung der Sanktionen unterstützt werden. Den gleichen Zweck wird die Polizei- und Zollaktion der WEU zur Unterstützung des Embargos auf der Donau erfüllen. Wir werden mit vier Streifenbooten und circa 50 Mann von Zoll und Polizei den größten Beitrag dazu leisten, daß die Donau endlich nicht mehr zum Embargobruch mißbraucht wird. Mit unseren humanitären Leistungen im ehemaligen Jugosla- wien stehen wir von allen europäischen Staaten an der Spitze. Wir haben unter den EG-Staaten mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Der bislang von Bundesregierung, Bundesländern und privaten Hilfsorganisationen zur Verfü- gung gestellte Finanzbeitrag beläuft sich inzwischen auf fast 540 Millionen DM. Ein zentraler Bereich unserer Hilfe ist die Unterbringung von Vertriebenen in Bosnien-Herzegowina und im angrenzenden Kroatien durch den Bau von Flüchtlingslagern und Wiederher- stellung vorhandener Unterkünfte. Das Technische Hilfswerk leistet Bewundernswertes. Die Bundesregierung bemüht sich intensiv um die Versorgung der durch den Krieg am schlimm- sten betroffenen Männer, Frauen und Kinder aus dieser Re- gion. Im Kessel von Bihac versorgen wir die Verwundeten. Und nicht zuletzt beteiligt sich die Bundeswehr an den Ver- sorgungsflügen nach Sarajevo und an den Flügen zum Ab- wurf von Lebensmittelsendungen über eingeschlossenen ost- bosnischen Ortschaften. Dies ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Unser Dank und unsere Anerkennung gilt dem selbstlosen Einsatz aller deutschen Helfer, der Bundeswehr, vor allem den deutschen Flugzeugbesatzungen, die hierbei Leib und Leben riskieren. Meine Damen und Herren, die Herstellung eines neuen politi- schen und rechtlichen Konsenses über den außen- und sicher- heitspolitischen Beitrag Deutschlands zur Sicherung des Weit- friedens ist inzwischen zu einer Kardinalfrage geworden, die gelöst werden muß, wenn wir uns im Bündnis, in der Europäi- schen Gemeinschaft und VN-Rahmen nicht auf Dauer ins Abseits begeben wollen. Wir alle müssen umdenken. Ich achte die Motive derer, die sich über ein erweitertes Engagement unserer Bundeswehr Sorgen machen, ich will nichts beiseitewischen, aber die Vorstellung, der wirtschaftsstärkste und bevölkerungsreichste Staat in der Mitte Europas könne sich nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang in eine Art Schneckenhaus zurückziehen, während unsere Partner für uns die Kastanien aus dem Feuer holen, hält doch der Realität nicht stand! Unsere Partner in Allianz und WEU haben über 40 Jahre lang mit für unsere Sicherheit gesorgt. Wenn wir nun diese Partner bei den neu hinzugekommenen Aufgaben der Friedenssiche- rung und Friedensschaffung im Stich lassen, dann werden wir bündnisunfähig. Wir wollen keine Draufgänger, aber auch keine Drückeberger sein. Ja, wir müssen unsere Geschichte im Auge behalten, dürfen uns aber nicht hinter ihr verschanzen. Die Lehre aus ihr kann nur lauten: Nie wieder aus der Gemeinschaft der west- lichen Völker ausscheren, nie wieder Sonderwege - auch nicht der moralischen Besserwisser und Gesinnungsethiker. Friedliche Konfliktlösung hat absoluten Vorrang. Militärischer Zwang darf immer nur das letzte Mittel bei der Sicherung des Friedens sein. Aber haben wir denn vergessen, daß nur Waf- fengewalt und nicht Friedensmärsche den Verbrechen Hitlers ein Ende setzten? Können wir die Augen davor verschließen, daß das Morden auf der Welt mit Worten allein nicht abzustel- len ist? Meine Damen und Herren, es geht nicht nur um den politi- schen Konsens, wir brauchen auch den verfassungsrechtlichen Konsens. Wir müssen durch eine Ergänzung des Grundgeset- zes die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Bundes- wehr bei friedenserhaltenden und friedensschaffenden Maß- nahmen endgültig außer Streit stellen und dabei vor allem die entscheidende Frage der Mitwirkung des Bundestages regeln. Denn die bisherige Nichtlösung hat doch eine paradoxe Kon- sequenz: Die im Koalitionsvorschlag für eine Grundgesetzän- derung vorgesehene und in einer Demokratie unverzichtbare Einschaltung des Parlaments hat in der jetzigen Lage keine rechtliche Verankerung. Diese brauchen wir aber. Erst sie wird dem Parlament das Recht verschaffen, von Fall zu Fall darüber zu entscheiden, ob und wie wir uns an solchen Aktionen beteiligen wollen. Einem Automatismus jedweder Art würde damit vorgebaut. Wir brauchten uns mit diesem rechtlichen Problem - das wir lange kennen und in dem wir verschiedene Auffassungen haben - lange Zeit nicht zu befassen. Der Konflikt im ehemali- gen Jugoslawien hatjedoch eine Antwort erzwungen. Erstmals wurde dies bei der Kontrolle der Seeblockade in der Adria und bei dem AWACS-Einsatz über Österreich und Ungarn deut- lich. Zum Schwur kam es beim Einsatz deutscher Soldaten in den AWACS-Maschinen zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina. Die SPD verweigerte ihre Zustimmung zur Teilnahme und zur Verfassungsänderung. In der Koalition und der Regierung wollten wir von Anfang an politisch ge- meinsam das Mitfliegen unserer Soldaten, konnten uns aber über die Rechtsfragen nicht einigen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun den Weg für unsere Beteiligung bei der Durchsetzung des Flugverbots über Bos- nien-Herzegowina in einer ausdrücklich nur für diesen Fall getroffenen Entscheidung vorläufig freigemacht. Ja, es war ein - insbesondere auch für mich - qualvoller Ausweg, in dieser Frage die Entscheidung des höchsten Gerichts zu suchen, aber es war - wenn man politisch das durchsetzen wollte, was rechtlich der F.D.P. nicht möglich schien - der einzige Aus- weg: Es stand unsere Berechenbarkeit als Bündnispartner auf dem Spiel. Ein Aussteigen aus den integrierten AWACS-Besatzungen hätte den von der UNO dem Bündnis übertragenen Auftrag gefährdet - das war die neue, veränderte Situation im Ver- gleich zu den bisherigen Fällen - und uns in der Folge poli- tisch erheblich geschadet. Dies waren auch die tragenden Gründe für die Entscheidung des Gerichts. Wenn uns diese Entscheidung eine Botschaft vermittelt, dann doch diese: Es liegt nun in der Verantwortung der Politik, des Deutschen Bundestages, den verfassungsrechtlichen Konsens für die Übemahme nicht nur aller Rechte, sondern auch aller Pflichten eines Mitglieds der Vereinten Nationen herzustellen. Diese Aufgabe wird von Tag zu Tag dringlicher, denn es werden weitere Anforderungen des UNO-Generalsekretärs auf uns zukommen, die Welt und ihre Konflikte warten nicht, bis wir unser Haus in Ordnung gebracht haben. Nochmals: Der Vorschlag der Koalition für die notwendige Änderung des Grundgesetzes liegt vor. Er stellt keinen Frei- brief für Einsätze aller Art aus, sondern bindet diese an den Weltsicherheitsrat. Alleingänge sind ausgeschlossen. Die Ent- scheidung über den Einsatz wird in die Hände des Deutschen Bundestages gelegt. Ist das nicht genug an Vorsichtsmaß- nahmen, mißtrauen wir uns selbst in einem solchen Maße, daß dies als Bremse gegen Mißbrauch nicht ausreichen soll? Ich appelliere nochmals an die SPD, sich an der Lösung dieser für die deutsche Außenpolitik so wichtigen Frage zu beteili- gen. Was sie als SPD vorschlagen, reicht nicht aus. Die Praxis zeigt es. Ihr Grundgesetzänderungsvorschlag hätte den AWACS-Mitflug über Bosnien nicht abgedeckt. Die Trennung zwischen friedenserhaltenden und friedens- schaffenden Missionen entspricht weder den politischen noch den praktischen Erfordernissen. Das zeigt sich täglich in Kambodscha, in Bosnien oder in Somalia. Ich fordere die SPD auf und lade sie ein, zusammen nüt der Koalition die Teil- blockade unserer Außen- und Sicherheitspolitik zu beenden. Es darf nicht zur Isolation Deutschlands in der Staatengemein- schaft kommen! Meine Damen und Herren, wie wichtig das ist, zeigt die Bitte von UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali um Entsendung ei- nes Bundeswehrkontingents zur humanitären Hilfe nach So- malia. Die Bundesregierung wird sich dieser Bitte nicht ver- schließen. Wir haben nach sorgfältiger Prüfung festgestellt, daß diesem Einsatz keine verfassungsrechtlichen Schranken entgegenstehen. Trotz gewisser Veränderungen im Anforde- rungsprofil wird die Aktion im Rahmen unseres Angebots vom 17. Dezember 1992 stehen. Sie findet in einem befriede- ten Gebiet statt, das sichert uns der Generalsekretär der UNO zu, und sie dient einem humanitären Zweck. Wir werden beim Auftrag für unsere Soldaten den seit Dezem- ber 1992 eingetretenen Veränderungen der Lage in Somalia Rechnung tragen. Die Aufgabe unserer Bundeswehrsoldaten wird es sein, eine Verteilerorganisation für rein zivile Hilfsgü- ter und für Versorgungsgüter für UNOSOM-II-Einheiten ein- zurichten und zu betreiben. Militärische Güter dürfen nur im Rahmen des zulässigen Umfangs der Selbstverteidigung trans- portiert werden. Die mitgeführte Bewaffnung dient ausschließ- lich dem Selbstschutz und wird in Art und Umfang entspre- chend ausgerichtet sein. Der von Generalsekretär Boutros-Ghali von uns erbetene humanitäre Beitrag kann eben insoweit nicht von anderen Institutionen übernommen werden. Nur die Bundeswehr ist unter den in Somalia gegebenen Umständen in der Lage, die erbetene spezielle Hilfe wirksam zu leisten. Wir dürfen nicht vergessen, daß ein "befriedetes Gebiet" unter den Bedingun- gen Somalias nicht einer deutschen Fußgängerzone entspricht. Hier verfügt die Bundeswehr gerade hinsichtlich des Selbst- schutzes über ganz andere Möglichkeiten als eine zivile Or- ganisation. Auch die anderen Staaten wählen ja für ihre huma- nitäre Hilfe nicht ohne Grund militärische Kontingente. Übrigens: Heute nacht rief mich Generalsekretär Boutros- Ghali an und hat sich für die beabsichtigte Mitwirkung deut- scher Soldaten in Somalia bedankt. Unser Einsatz in Somalia wird sich andererseits aber auch in Zukunft nicht auf den Einsatz der Bundeswehr beschränken. Diese Mission wird lediglich ein, wenn auch wichtiger Teil unseres humanitären Engagements bleiben. Wichtige Wieder- aufbauhilfe leisten wir auch durch die geplante Mitwirkung beim Aufbau einer somalischen Polizei sowie etwa durch die Wiederherstellung der Trinkwasser- und Stromversorgung durch das Technische Hilfswerk. Auch 1993 wird Somalia neben dem ehemaligen Jugoslawien Schwerpunkt unserer humanitären Hilfe bleiben. Meine Damen und Herren, ich weiß mich in der Kontinuität aller meiner Vorgänger, wenn ich sage: deutsche Außenpolitik war und bleibt auch künftig Friedenspolitik. Sie wird auch weiterhin auf Kontinuität und Berechenbarkeit aufbauen. Aber wir müssen auch in unserer Politik die notwendigen Verände- rungen der Weltlage aufnehmen. Den Frieden zu stärken, heißt heute in erster Linie, die Verein- ten Nationen zu stärken. Hierfür wollen, ja müssen wir nun die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, und zwar so, wie es die Staatengemeinschaft von uns zu Recht erwartet. Hans-Dietrich Genscher hat dies bereits 1991 in New York vor den Vereinten Nationen bekundet. Wir sind im Wort, vergessen wir das nicht! Deshalb nochmals mein Appell: Versagen wir nicht vor einer staatspolitischen Aufgabe! Machen wir unser Land zu dem handlungsfähigen und verantwortungsbewußten Partner, den die Weltgemein- schaft und wir selbst in uns sehen wollen!
Quelle: Bulletin Nr. 32 vom 23. April 1993




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