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Rede des Bundesverteidigungsministers in Berlin Der Bundesminister der Verteidigung, Volker R ü h e , hielt auf der Tagung des Ausschusses für Verteidigung und Sicherheit der Nordatlantischen Versammlung am 21. Mai 1993 in Berlin folgende Rede: Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie zu Ihrer Tagung in der deutschen Hauptstadt. Es ist für mich persönlich immer noch ein besonderes Gefühl, wenn Gremien unserer Atlantischen Allianz in Berlin tagen. Ich vermute, Ihnen geht es ähnlich. Aber daß eine NATO- Tagung hier nicht nur möglich, sondern selbstverständlich wurde - das ist zuvorderst ein Verdienst des Zusammenhalts und der Standfestigkeit unseres Bündnisses. Hier in Berlin können Sie selbst erleben, was es heißt, die katastrophalen Folgen des sozialistischen Regimes zu bewälti- gen und eine mißratene Kommandowirtschaft in eine funktio- nierende soziale Marktwirtschaft umzuwandeln. Obwohl es große Fortschritte gibt, bleibt die Vollendung der deutschen Einheit die nationale Hauptaufgabe in diesem Jahrzehnt. Ich möchte heute unsere dänischen Kollegen besonders begrü- ßen und sie beglückwünschen. Der Ausgang des Referendums in Dänemark hat die "Euroskeptiker" Lügen gestraft. Das dänische "Ja" gibt der Idee der europäischen Einigung zu einer umfassenden Union neuen Schwung. Wir wissen alle, wie wichtig das auch für die Fortentwicklung der NATO ist. II. Für Deutschland ist klar: Der mit Maastricht vorgezeichnete Weg zu einer Europäischen Union, die alle Bereiche der Politik umfaßt, ist ohne Alternative. Die Integration Europas zu vertiefen und zu erweitern, ist jetzt die entscheidende Aufgabe für uns alle. Das freie Europa endet nicht an Oder und Neiße. Diese Erkenntnis darf unsere Allianz nicht unberührt lassen. Die NATO ist die einzige bewährte und zugleich voll hand- lungsfähige Sicherheitsorganisation, ein Modell funktionieren- der politischer und militärischer Zusammenarbeit. Sie ist das Fundament, auf demjede tragfähige Sicherheitsarchitektur der Zukunft ruht. Aber sie muß auch weiter Motor des Wandels bleiben. Die NATO ist die Institution, in der Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern und seinen Freunden die Zukunft meistem kann. Wir wissen, daß die NATO auf den deutschen Solidar- beitrag angewiesen ist. Wir Deutsche wollen und werden unseren Verbündeten weiterjene Solidarität entgegenbringen, auf die wir uns vierzig Jahre lang fest verlassen konnten; so wie wir während des Kalten Krieges eine Hauptstütze der NATO in Europa waren. Solidarität heißt Mitverantwortung und Risikoteilung, nicht nur bei der Verteidigungsaufgabe. Das gilt auch für die neuen Aufgaben unseres Bündnisses im internationalen Krisen- management. Internationale Kooperation und Arbeitsteilung werden immer stärker zentrale Voraussetzung sicherheitspoli- tischen Handelns aller Staaten. Das vereinte Deutschland hat in der kurzen Zeit nach Ende des Kalten Krieges und trotz der riesigen Vereinigungslasten bereits viel geleistet - in Kambodscha, im Irak, in Bosnien und in Somalia, vor allem durch den großen Anteil an der GUS- Hilfe. Diese Bilanz braucht keinen Vergleich zu scheuen. In Kürze entsenden wir ein Kontingent von zirka 1600 Solda- ten der Bundeswehr nach Somalia. Dieser Einsatz entspricht den neuen Aufgaben, die durch die Bundeswehr neben der Landes- und Bündnisverteidigung heute und künftig zu erfül- len sind: als Instrument des politischen Krisenmanagements, Seite an Seite mit den Truppen unserer Partner, unter dem Dach der VN, der NATO, der KSZE oder der WEU. III. Die Herausforderungen von heute und morgen sind vielfältig und entziehen sich der langfristig gültigen Analyse. Eine neue Form politischer Entwicklungen kennzeichnet die Lage: Es ist der Wettbewerb zwischen den Kräften der Integration und denen der Fragmentierung, zwischen den historischen Chan- cen für Frieden und Stabilität und neuen, gefährlichen Risiken. Auch in Europa werden Konflikte wieder akut. Alter Nationa- lismus zeigt neue, schreckliche Formen. Nirgends wird dies deutlicher als im ehemaligen Jugoslawien. Ein weiteres Mal darf es nicht soweit kommen wie in Bosnien-Herzegowina. Entscheidend ist der eindeutige politische Willen, in einer regionalen Krise frühzeitig mit allen geeigneten und verfügba- ren Mitteln von einer gewaltsamen Eskalation abzuschrecken. Das gilt nun besonders für Mazedonien, den Kosovo und die angrenzenden Regionen. Der Jugoslawien-Konflikt zeigt: Die internationale Gemein- schaft muß ihre Bemühungen um ein wirksames Krisenmana- gement verstärken. Im Vordergrund muß stehen, die operati- ven Fähigkeiten der VN zu stärken. Dazu muß sie sich zuneh- mend auf die Fähigkeiten anderer kollektiver Organisationen abstützen. Die NATO wird dabei eine wichtige Rolle spielen. IV. Trotz der aktuellen Krisen und Konflikte erfahren wir große politische Fortschritte in Europa. Die mittelosteuropäischen Staaten sind in ihrem Demokratisierungsprozeß sehr weit vorangekommen. Ihre wirtschaftlichen Perspektiven sind erfolgversprechend. Dies findet seinen Ausdruck in der EG-Assoziierung, die in diesem Jahre ratifiziert wird. Auch in Rußland überwiegen die ermutigenden Aussichten. Das Referendum hat Präsident Jelzin nachhaltig gestärkt. In den vielen Gesprächen, die ich während meiner Rußland-Reise vor wenigen Wochen führen konnte, habe ich die Zuversicht gewonnen, daß sich die demokratischen Kräfte der Reform durchsetzen werden. Russische Politiker, aber auch die Militärs setzen großes Ver- trauen in unsere Bereitschaft, Rußland an der Entwicklung Europas zu beteiligen. Dieses Vertrauen ist wertvolles Kapital für den Bau einer wirklichen Friedensordnung. Aber dieses große Land braucht wie die anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks unsere Unterstützung. Hilfe zur Selbsthilfe - damit der Fortschritt unumkehrbar wird. Diese Politik weist in die Zukunft, aber sie hat auch ihren Preis. Deutschland hat bisher den Löwenanteil der Hilfe ge- tragen. Wir können die Rechnung für die Gesundung Osteuro- pas aber nicht allein bezahlen. Notwendig ist eine große, gemeinsame Anstrengung, ein gesamteuropäischer Solidar- pakt für die Staaten im Osten Europas. Uns allen muß klar sein: Was wir heute versäumen, wird uns morgen teuer zu stehen kommen. V. Vor dem Hintergrund der europäischen Integration gewinnt die Partnerschaft mit Nordamerika eine neue Qualität. In Zeiten dramatischen Wandels steht unsere in Jahrzehnten bewährte transatlantische Partnerschaft für politische Konti- nuität. Für Deutschland und Europa ist der strategische Rück- halt durch die USA unverzichtbar. Und auch Amerika braucht die Unterstützung seiner europäischen Freunde für die neuen Herausforderungen. Das muß seinen Niederschlag in den transatlantischen Institutionen finden. Wir müssen die Atlanti- sche Allianz auf die veränderten strategischen Herausforde- rungen ausrichten, damit sie zukunftsfähig bleibt. Wir wollen eine NATO, die die beiden Bündnispfeiler Europa und Nordamerika als gleiche Partner verbindet. Ein Amerika, das uns beim Bau des neuen Europas unterstützt, und ein Europa, das mehr Verantwortung für sich selbst und den Weltfrieden übernimmt. Das macht nur Sinn, wenn wir ganz Europa zu einer strategi- schen Einheit verbinden. Es kommt jetzt besonders darauf an, die erfolgreiche Entwicklung in Mittelosteuropa unumkehrbar zu machen. Wir müssen in unserem eigenen Interesse die Stabilitätszone des Westens so weit wie möglich nach Osten ausdehnen. Dazu brauchen wir ein abgestimmtes und ausgewogenes Gesamtkonzept. Ein Konzept, das den Möglichkeiten des Bündnisses entspricht, das pragmatisch umgesetzt werden kann und das die Sicherheitsbedürfnisse aller Betroffenen berücksichtigt - im gesamten Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Mit der bevorstehenden Assoziierung an die Europäische Gemeinschaft ist die Mitgliedschaft der VISEGRAD-Staaten Polen, Ungarn, der Tschechischen und der Slowakischen Republik in EG und WEU im Grundsatz politisch vorbestimmt. Ich sehe deshalb auch keinen prinzipiellen Grund, zukünftigen Mitgliedern der Europäischen Union eine Mitgliedschaft in der NATO zu verweigern. Deshalb ist der Beitritt neuer Partner für mich nicht so sehr eine Frage des Ob, sondern des Wie und Wann. Es ist eine Frage des Zeitpunktes und der Rahmenbedingungen. Darüber muß gesprochen werden. VI. Meine Damen und Herren, es gibt kein perfektes Rezept für endgültige politische Strukturen im euro-atlantischen Raum. Noch konkurrieren verschiedene Visionen des "einen Euro- pas" miteinander. Ich plädiere für realistische und pragmati- sche Konzepte. Die Frage des künftigen strategischen Gehalts unserer Allianz ist von entscheidender Bedeutung für unsere gemeinsame Zukunft. Wir müssen uns dieser Frage jetzt zu- wenden. Ich bin überzeugt, daß die Nordatlantische Versammlung dabei eine wichtige Rolle spielen muß. Sie verfügen über vielfältige Kontakte und Verbindungen auch in die jungen Parlamente unserer neuen Partner und kennen deren Anliegen. Ich bitte Sie, Ihre besonderen Möglichkeiten für die Fortent- wicklung unserer Allianz zu nutzen und zugleich unsere öst- lichen Freunde und Partner in Ihre Arbeit einzubeziehen. Die Nordatlantische Versammlung ist in den letzten Jahren ein Schrittmacher der Verständigung und neuer Offenheit gewe- sen; sie hat verbunden, was unsere Zeit bestimmt - Kontinuität und Wandel.Quelle: Bulletin Nr. 46 vom 2. Juni 1993
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