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1999-03-23

Gysi warnt vor NATO-Aggression gegen Jugoslawien

Gregor Gysi, Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion, erklärt:

Die Ereignisse im Kosovo sind zutiefst tragisch. Milosevic trägt eine hohe, aber nicht die alleinige Verantwortung für die entstan- dene Situation. Auch die UCK hat Zivilisten getötet und Fluchtur- sachen gesetzt.

Die UN-Charta kennt ausschließlich zwei Szenarien als Rechtferti- gungsgründe für militärische Maßnahmen: Nach Artikel 51 darf sich ein Staat militärisch wehren, wenn er oder einer seiner Bünd- nispartner militärisch angegriffen wird. Es steht fest, daß die Bundesrepublik Jugoslawien keinen anderen Staat angegriffen hat, auch kein Mitgliedsland der NATO. Nach Kapitel VII darf der Welt- sicherheitsrat militärische Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens anordnen, wenn er ihn gefährdet sieht. Der UN-Sicher- heitsrat hat sich mit der Lage im Kosovo beschäftigt und eine Re- solution verabschiedet. Darin werden keine militärischen Maßnahmen angeordnet. Der Sicherheitsrat hat sogar ausdrücklich festgelegt, daß er sich selbst vorbehält, im Falle der Nichtumsetzung der Re- solution über weitere Schritte zu entscheiden. Er hat nicht fest- gelegt, daß die NATO dies an seiner Stelle tun darf. Wenn die NATO jetzt Militärschläge beabsichtigt, negiert sie das Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates.

Zur Rechtfertigung heißt es jetzt in vielen Kommentaren, daß die NATO im Falle einer Bombardierung "völkerrechtliches Neuland" be- treten würde. *Völkerrechtsbruch kann aber nicht als völkerrecht- liches Neuland bezeichnet werden.* Würden in der Bundesrepublik Deutschland plötzlich Tausende Menschen ohne Haftbefehl in Unter- suchungshaft genommen werden, so wäre dies auch kein verfassungs- rechtliches oder strafprozessuales "Neuland", sondern ein Bruch der Verfassung und ein Bruch der Strafprozeßordnung.

Im Übrigen ist auch die Vorstellung der NATO, Jugoslawien so lange zu bombardieren, bis eine Unterschrift unter ein Friedensabkommen gesetzt wird, selbst völkerrechtswidrig. Im Artikel 52 des 9. Wie- ner Übereinkommens über das Recht der Verträge heißt es wörtlich: "Ein Vertrag ist nichtig, wenn sein Beschluß durch Androhung oder Anwendung von Gewalt unter Verletzung der in der Charta der Ver- einten Nationen niedergelegten Grundsätze des Völkerrechts herbei- geführt wurde." Wie lange hätte also ein solcher Vertrag Bestand?

Der Abzug der OSZE-Beobachter war eine Fehlentscheidung. Seit die- ser Zeit dringen jugoslawische Truppen wieder in den Kosovo ein, die sich vorher an das Abkommen vom Oktober 1998 hielten. Die Lage im Kosovo wird verschärft, auch die UCK fordert die Konfrontation heraus. *Humanitäre Katastrophen wendet man nicht durch Bomben ab.*

Viel wird gegenwärtig darüber diskutiert, welche Folgen es hätte, wenn die NATO weiter "zögern" würde. *Wann wird darüber nachge- dacht, was passiert, wenn die NATO den angedrohten Militärschlag ausführt?* Nachher wird nichts mehr sein wie vorher. Es wird nicht weniger, sondern mehr Tote und Flüchtlinge geben. Der Sicherheits- rat der UN wird faktisch entmachtet sein. Die Beziehungen der eu- ropäischen Staaten zueinander werden sich verändern. Die Selbst- mandatierung der NATO wird Schule machen, auch in anderen Regionen der Welt. Die Beziehungen zwischen der NATO einerseits und Rußland andererseits werden zumindest gefährdet sein. All dies darf man hinterher nicht beklagen, wenn man es vorher nicht bedenkt.

*Nach wie vor gibt es Chancen für eine politische und friedliche Lösung des Konflikts im Kosovo.* Eine Bombardierung durch die NATO ist die schlechteste aller denkbaren Lösungsvarianten. Ich appel- liere an alle Verantwortlichen, diesen Weg nicht zu beschreiten. Jugoslawien seinerseits muß allerdings wesentlich aktiver zu einem Frieden im Kosovo beitragen und offensiv werden, d.h. den UN-Si- cherheitsrat anrufen. Dort könnten von Jugoslawien akzeptierte Lö- sungen zur Sicherung eines Friedens im Kosovo gefunden werden.

*Bei der Frage Krieg oder Frieden ist das Argument des "Gesichtsverlustes", von wessen Seite auch immer, das ungeeignet- ste. Es geht um Leben und Tod.* Geschichte darf sich nicht wieder- holen. Der Balkan darf nicht der Ausgangspunkt für einen neuen eu- ropäischen Krieg werden.

Deutschland darf sich aus historischen, politischen und verfas- sungsrechtlichen Gründen nicht an einem Angriffskrieg beteiligen. Die Artikel 25 und 26 des Grundgesetzes dürfen nicht zur Makulatur werden.



Quelle: Pressemitteilung Nr. 0413 der PDS vom 23.03.1999, Internet: http://www.pds-online.de


 




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