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"Samen der Demokratie gesprengt"

Belgrader Friedensaktivist über die anhaltenden Bombardements gegen sein Land

Von Voran Matic

Voran Matic ist Chefredakteur des am 2. April endgültig geschlossenen unabhängigen Belgrader Radiosenders B92. Der Friedensaktivist gilt zugleich als ein Sprecher der serbisch en Opposition

Die NATO­Luftangriffe gegen Jugoslawien wurden angeordnet, um die Kriegsmaschinerie von Milosevic zu stoppen. Das weitergehende Ziel lag darin, die Bevölkerung im Kosovo und diejenige in Serbien zu schützen, die ebenfalls Opfer des Milosevic­Regimes sind. Die Realität der Bombardierung sieht anders aus: Das Leben von 10,5 Millionen Menschen wird aufs Spiel gesetzt und eine Angriffswelle in Kosovo und in Serbien ausgelöst, mit der die demokratischen Kräfte in die Flucht geschlagen werden. Der Bombenteppich hat die Arbeit der reformorientierten Kräfte in Montenegro und in den serbischen Gebieten von Bosnien­Herzegowina sowie ihre Anstrengungen für den Frieden unterminiert. Wenn das Ziel der Angriffe die Verhinderung einer humanitären Katastrophe im Kosovo war, dann demonstriert die Bombardierung Jugoslawiens die politische Machtlosigkeit des US­Präsidenten Bill Clinton und der westlichen Alliierten. Der Schutz einer Bevölkerung gegen Bedrohungen ist eine ehrenwerte Aufgabe, aber sie erfordert eine klare Strategie und eine kohärente Zielsetzung. So wie sich die Situation Tag für Tag entwickelt, wird immer offensichtlicher, daß es keine solche Strategie gibt.

Statt dessen erfüllt die NATO ihre selbstgesetzten Erwartungen und Untergangsprophezeiungen: Mit jeder Bombe, die einschlägt, vergrößert sich die humanitäre Katastrophe, die die NATO eigentlich verhindern sollte. Es ist nicht einfach" diese Kriegsmaschinerie zu stoppen, wenn sie einmal mit voller Wucht in Gang gesetzt wurde. Aber ich rufe die Mitglieder der NATO dringend auf, einen Moment einzuhalten und über die Folgen ihres Handelns nachzudenken. Politische Kommentatoren und Analytiker fragen schon, ob es bei diesen Luftangriffen wirklich um die Rettung der Bevölkerung im Kosovo gehe. Wie weit sind die NATO-Staaten bereit zu gehen? Was kommt als nächstes, nach den bisher angegriffenen »militärischen Zielen«? Was soll geschehen, wenn der Krieg über die Grenzen greift?

Meine Freunde im Westen fragen mich immer wieder, weshalb es nicht zu einer Rebellion in Serbien komme. Wo sind all die Leute, die 1996 während dreier Monate Tag für Tag auf die Straßen geströmt sind, um Demokratie und Menschenrechte einzufordern? Zoran Zivkovic, der oppositionelle Bürgermeister von Nis, hat darauf letzte Woche geantwortet: »Vor zwanzig Minuten wurde meine Stadt bombardiert. Hier leben die gleichen Leute, die 1996 für Demokratie gestimmt haben, und die gleichen Leute, die hundert Tage lang protestiert haben, als die Behörden ihnen den Wahlerfolg mit Wahlfälschungen zu stehlen versuchten. Sie stimmten für die Demokratie, die wir aus Europa und den USA kennen. Heute wurde meine Stadt bombardiert von den demokratischen Staaten USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Kanada! Soll das wirklich Sinn machen?« Die meisten dieser Menschen fühlen sich verraten von den Ländern, die für sie Vorbilder waren.

Nur wenige Tage, bevor der Angriff begann, unterbreitete NATO­Generalsekretär Javier Solana den Vorschlag, eine »Partnership for Democracy« in Serbien und anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens einzurichten, mit dem Ziel, die Stabilität in der ganzen Region zu fördern. In einer schnellen Kehrtwendung um 180 Grad gab er dann den Befehl zum Angriff. Mir scheint, daß sich der Westen mit diesen Angriffen von den Menschen, Albanern, Serben und anderen, die in der Region leben, verabschiedet hat.

Wenn ein stabiles und demokratisches System aufgebaut werden soll, und wenn der Aufstieg von Demagogen, Populisten und anderen Betrügern vermieden werden soll darin muß die Öffentlichkeit zualIererst aufgeklärt werden. Mit' anderen Worten: Es braucht unabhängige Medien. Die NATO­Bomben haben die keimenden Samen der Demokratie aus dem Boden von Kosovo, Serbien und Montenegro herausgesprengt und sichergestellt, daß sie für lange Zeit nicht mehr sprießen werden.

Als Vertreter der unabhängigen Medien kenne ich das Bedürfnis nach Information der Menschen auf allen Seiten des Konflikts nur all zu gut. Aber anstelle eines ungehinderten Flusses akkurater Informationen hören wir alle nur Kriegspropaganda einschließlich westlicher Rhetorik. Die Wahrheit ist immer das erste Opfer in Kriegszeiten.



Quelle: Neues Deutschland, 6.4.1999


 




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