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1998-10-26Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-KonfliktRede vor dem Deutschen Bundestag am 16.10.1998Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstens. Ich möchte zunächst noch Kritik an der Sitzung selbst üben. Ich will jetzt nicht verfassungsrechtlich argumentieren, sondern verfassungspolitisch. Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland hat am 27. September 1998 einen neuen Bundestag gewählt. Das amtliche Endergebnis liegt seit dieser Woche vor. Hier verhandelt ein abgewählter Bundestag, während der neugewählte nicht zusammengerufen wurde, obwohl es natürlich möglich gewesen wäre, Konstituierung und Sachentscheidung miteinander zu verbinden.
Ich werde das Gefühl nicht los, daß man der neuen Mehrheit, insbesondere den Grünen, damit einen Gefallen tun wollte, dergestalt, noch nicht die Mehrheit zu sein und deshalb noch nicht in ihrer neuen Funktion entscheiden zu müssen. Ich halte das für völlig illegitim. Ich bin der Meinung, man hätte für diese Entscheidung den neugewählten Bundestag zusammenrufen müssen, auch, um ihn nicht mit der Entscheidung eines Bundestages zu binden, der bereits abgewählt ist.
Zweitens. Wie Sie alle schätzen auch wir die Situation im Kosovo als höchst kompliziert ein. Ich habe mehrfach gesagt -- und wiederhole dies --: Auch ich gehe davon aus, daß Milosevic und damit die Regierung in Jugoslawien die Hauptverantwortung für die gegenwärtige Situation im Kosovo trägt, insbesondere deshalb, weil 1989 das Autonomiestatut für den Kosovo aufgehoben worden ist und damit dort eine Vielzahl von Problemen entstanden ist, die sich nun in jeder Hinsicht zugespitzt haben. Nur, wenn wir alle das so sehen, dann müssen wir doch folgende Frage zulassen: Was hat die NATO, was hat die internationale Staatengemeinschaft, was hat die Bundesregierung, was haben wir alle in den Jahren seit 1989 real getan, um die Situation im Kosovo zu stabilisieren und den dort lebenden Menschen einen anderen Status zu geben, als sie ihn gegenwärtig haben? Nicht einmal in Dayton ist darüber ernsthaft verhandelt worden. Das ist eine Tatsache.
Jetzt haben wir es mit der Situation zu tun, daß sich dort eine militärische Macht in Form der UCK herausgebildet hat, die nicht die Autonomie anstrebt, sondern die Abspaltung und Unabhängigkeit. Das ist doch nichts Neues in der Geschichte. Ich kenne keinen Fall, in dem die Zentralregierung auf solche Art von Gewalt nicht ihrerseits mit Gewalt geantwortet hat, um die Abspaltung und die Unabhängigkeit eines Teils des Landes zu verhindern. Ich erinnere Sie an die diesbezüglichen Auseinandersetzungen in Nordirland, als nicht nur von den Nordiren, die eine Loslösung von Großbritannien wollten, Gewalt angewandt wurde, sondern auch von der Zentralregierung. Dieselbe Situation hatten wir im Baskenland und -- noch viel schlimmer -- in Tschetschenien, als die russische Regierung sogar gebombt hat, ohne daß hier jemand auf die Idee gekommen wäre, daß wir uns mit der Androhung oder gar dem Einsatz von militärischer Gewalt einzumischen hätten. Noch viel schlimmer ist die Situation bei einem NATO-Partner, in der Türkei: Seit Jahren findet dort ein Krieg gegen das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes statt, ohne daß es überhaupt jemanden in diesem Bundestag gegeben hätte, der dafür gewesen wäre, dies seitens der NATO oder der Bundesrepublik Deutschland mit der Androhung oder der Anwendung militärischer Gewalt zu beantworten.
So schlimm die Situation im Kosovo auch ist: Niemand hier kann bestreiten, daß die Situation in Afghanistan noch tausendmal schlimmer ist, ohne daß irgend etwas ernsthaft unternommen wird, um diese Situation zu verändern. Ich finde, dies macht die ganze Sache mit dem moralischen Stempel so unglaubwürdig: wenn man so unterschiedliche Maßstäbe anlegt, je nach Land, je nach Regierung, je nach Nähe, oder dies von der Frage abhängig macht, ob man besonders viele Flüchtlinge oder besonders wenige Flüchtlinge befürchtet, und deshalb das Eigeninteresse im Vordergrund steht und nicht die Interessen der Menschen in anderen Ländern.
Es ist hier darauf hingewiesen worden, daß das Ganze der Verhinderung einer humanitären Katastrophe dienen soll. Ich will in diesem Zusammenhang nicht völkerrechtlich argumentieren, was den Begriff anbetrifft. Es gibt eine solche Katastrophe, und sie kann noch schlimmer werden. Nein, was mich in diesem Zusammenhang stört, ist: Wie reagieren wir denn auf diese Katastrophe? Mit der Androhung der Militärgewalt durch die NATO wurden die Hilfskräfte in der Bundesrepublik Jugoslawien und im Kosovo aufgefordert, das Land zu verlassen, damit sie durch einen Militärschlag nicht getroffen werden. Das heißt: Wir helfen, indem wir erst einmal die Hilfskräfte abziehen. Der Außenminister hat sich hier beim Haushaltsausschuß bedankt, daß die Mittel für einen Militärschlag sofort zur Verfügung gestellt worden sind. Wo sind denn die Mittel für Zelte? Wo sind die Mittel für Medikamente? Wo sind die Mittel für Lebensmittel? Nichts davon ist beantragt worden. Das Ganze unter "Humanität" laufen zu lassen und diesbezüglich im Antrag nichts zu erwähnen, das ist, wie ich finde, höchst unglaubwürdig.
Ferner sage ich folgendes: Die PDS war immer gegen den internationalen Einsatz der Bundeswehr -- aus politischen, moralischen, aber auch aus vielen historischen Gründen. Das war lange Zeit auch überwiegend Auffassung in der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen. Herr Fischer hat in der Zeitschrift "Die Woche" vom 30. Dezember 1994 folgendes ausgeführt. Für die Zukunft sehe ich die erhebliche Gefahr, daß die Bundesregierung, Koalition und Generalität nach den Gesetzen der Salamitaktik Anlässe suchen oder Anlässe schaffen werden, um die Barrieren abzuräumen, die es gegenüber den militärischen Optionen der Außenpolitik des vereinigten Deutschland noch gibt. Als Vehikel dienen dabei die Menschenrechts- und die Humanitätsfrage. So das Zitat von Joseph Fischer. -- Ich bin der Meinung, es hat eine entsprechende Entwicklung stattgefunden.
Wir haben immer vor der Militarisierung der Außenpolitik gewarnt. Es wird heute so schnell an Militär gedacht und so selten an andere Wege und Möglichkeiten, daß dies nicht nur in Europa, sondern weltweit verheerende Folgen hat. Wenn man nämlich internationale Beziehungen und Außenpolitik so militarisiert, dann entsteht doch der Eindruck, daß Einfluß nur der militärisch Starke hat. Das führt dann zum Beispiel in Pakistan und Indien zu der Überlegung, daß man überhaupt nur politischen Einfluß hat, wenn man selber über Atomwaffen verfügt. So kommt weltweit eine Militarisierung der internationalen Beziehungen und der Außenpolitik zustande. Deshalb waren wir immer dagegen; früher auch andere. Nun sind die meisten hier einen anderen Weg gegangen. Herr Voigt wirft uns vor, daß wir auf unserem Weg geblieben sind. Bloß, Kollege Voigt, eines sage ich ebenfalls: Wenn wir auch jetzt noch die Positionen vertreten, die Sie früher auch einmal vertreten haben, sollten Sie uns dafür nicht gar so sehr beschimpfen.
Das ist auch eine große Kritik an Ihrer eigenen Entwicklung. Vielleicht ist es gar nicht so unvernünftig, daß wir bei Positionen geblieben sind, die Sie auch einmal vertreten haben. Heute sind Sie von diesen Positionen weit weg.
Wir glauben, daß das der falsche Weg ist. Man kann dazu eine andere Auffassung haben, und eine wachsende Mehrheit in diesem Bundestag -- auch im nächsten Bundestag -- hat dazu eine andere Auffassung. Aber auch für die Befürworter eines internationalen Einsatzes der Bundeswehr war bisher immer eines klar: Es muß völkerrechtlich legitimiert sein. Wenn Herr Gerhardt sagt, die völkerrechtliche Frage interessiere ihn nicht so sehr, dann kann ich nur erwidern: Das ist ein kreuzgefährlicher Weg. Es ist in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta geregelt, daß alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen sowohl die Androhung als auch die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen zu unterlassen haben. Gerade in bezug auf die Androhung wird hier ständig so getan, als sei sie ein völlig legitimes Mittel, obwohl nach der UN-Charta schon die Androhung von militärischer Gewalt verboten ist. Darüber wird hier schon gar nicht mehr diskutiert. Und die Anwendung von Gewalt ist dann erst recht verboten. In der Charta sind zwei Ausnahmen geregelt, nämlich der Fall von Selbstverteidigung, auch kollektiver Selbstverteidigung, und der Fall, daß der Frieden gefährdet ist, der Weltsicherheitsrat dies feststellt und selbst beschließt, militärische Gewalt anzudrohen oder anzuwenden. Das darf aber ausschließlich der Weltsicherheitsrat. Es besteht da ein Gewaltmonopol, und das wissen Sie. In Art. 39 der UN-Charta heißt es dazu: Der Sicherheitsrat -- nicht die NATO -- stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er -- nicht die NATO -- gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen. Der Sicherheitsrat hat sich befaßt. Er hat zwei Resolutionen verabschiedet und hat aus guten Gründen auf die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt verzichtet. Er hat am Schluß seiner letzten Resolution gesagt: Wir bleiben damit befaßt; wir werden weitere Berichte zur Kenntnis nehmen, und wir werden entscheiden, ob wir weitere Maßnahmen treffen. Deshalb liegt natürlich eine Selbstmandatierung und sogar eine Verletzung dieser Resolution vor,
wenn die NATO dann, ohne daß der Sicherheitsrat sich damit beschäftigt hat und ohne daß er weitere Maßnahmen beschlossen hätte, sagt: Wir legen fest, welche Maßnahmen zu beschließen sind. -- Das verletzt nicht nur das allgemeine Völkerrecht, sondern auch diese spezielle Resolution. Damit begeben wir uns auf eine Stufe mit der Bundesrepublik Jugoslawien, die diese Resolution ebenfalls nicht einhält.
Ich möchte noch etwas dazu sagen. Es ist doch nichts Neues, daß UN-Resolutionen nicht eingehalten werden. Aber das war schon bei Israel so; das war beim Irak so; das war bei Südafrika so; das war in Zypern so. Noch niemand ist auf die Idee gekommen, daß dann, wenn eine Resolution nicht eingehalten wird, ein anderer als der Sicherheitsrat das Recht hat, zu entscheiden, welche Maßnahmen dann zu treffen sind. Und diese Maßnahmen hat der Sicherheitsrat -- und zwar abgewogen -- in aller Regel getroffen. Jetzt sagen wir: Gerade weil er dazu nicht in der Lage ist, übernehmen wir als NATO und als Bundesrepublik Deutschland das selbst. Wer das vertritt, kann sich doch nicht mehr hier hinstellen und behaupten, das sei kein Präzedenzfall. Ob etwas ein Präzedenzfall ist oder nicht, entscheidet doch nicht derjenige, der das macht, sondern das wird von den anderen Ländern auf der ganzen Welt entschieden. Sie wissen, daß es in fast allen Ländern ethnische Minderheiten gibt; überall gibt es Menschenrechtsverletzungen. Ja, was glauben Sie denn, was andere Staaten, von denen Minderheiten in dritten Staaten leben, in Zukunft sagen werden? Sie können fragen: Wieso soll denn der UN-Sicherheitsrat dafür zuständig sein? Wir sehen dort Menschenrechtsverletzungen, und deshalb werden wir militärisch eingreifen und damit auch angreifen. -- Den Präzedenzfall dafür hat die NATO geschaffen, und ihn schafft heute der Bundestag der Bundesrepublik Deutschland, wenn Sie mit Mehrheit dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Gysi, Ihre Redezeit ist um. Dr. Gregor Gysi (PDS): Sie können es nicht leugnen: Sie ändern die völkerrechtliche Weltordnung, wie sie nach 1945 in der UN-Charta festgelegt wurde. Man kann in bezug darauf über eine Änderung nachdenken. Aber Sie ändern diese Weltordnung, ohne daß Sie eine neue hätten. Damit schaffen Sie einen Präzedenzfall, der den Sicherheitsrat, insbesondere China und Rußland, entmachten soll -- mit katastrophalen Folgen für die künftigen internationalen Beziehungen. Und grundgesetzwidrig ist es nach Art. 26 auch, genauso wie es auch strafbar ist nach _ 20 Strafgesetzbuch. Ja, es geht um einen möglichen Krieg gegen Serbien. Dafür wird heute ein Vorratsbeschluß gefaßt. Ich halte das für indiskutabel und für den falschen Weg. Hingegen wird die humanitäre Hilfe, die dringend erforderlich wäre, nicht geleistet.
Quelle: cl.gruppen.pds, Message-ID: 70flnn$jvu@lnx.BT.PDS-Online.De vom 29.3.1999, sh. Stenografischer Bericht des Deutschen Bundestages vom 16.10.1998 |
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