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1999-04-01

Noam Chomsky

Furcht vor dem globalen Polizisten USA soll erhalten bleiben

ND-Gespräch mit dem Sprachwissenschaftler

Für viele Experten ist Noam Chomsky der "Einstein der Linguistik" Wegen seiner Politischen Militanz wird der Sprachwissenschaftler in den USA offiziell aber nur ungern beachtet, vor allem nach seinen Untersuchungen über die subtilen Mechanismen ideologischer Kontrolle, die durch Massenmedien und Politik ausgeübt wird. Der 69jährige Professor ist Mitglied des Massachusetts Institute of Technology.

Mit ihm sprach Max Böhnel (New York)

- Worin besteht die Logik, wenn 19 NATO­Staaten unter Führung der einzigen Supermacht USA gegen ein Land wie Jugoslawien einen Angriffskrieg vom Zaun brechen?

Es gibt ein Konzept namens »humanitäre Krise«, wobei die Frage, ob eine solche wirklich existiert oder nicht, unerheblich ist, es hat vor allem »technische« Bedeutung. Damit, meine ich: Auf dem Balkan ist ein Problem entstanden, das die Interessen der Reichen und Mächtigen bedroht. Darin besteht die »Krise«. Die Mächtigen und Reichen der USA und Europas sehen mit jeder Erschütterung auf dem Balkan ihre Interessen verletzt. Das heißt dann »humanitäre Krise«. Nicht aber, wenn sich Menschen in Sierra Leone oder in der Republik Kongo abschlachten. Clinton hat sich kürzlich geweigert, die lächerliche Summe von 100 000 US­Dollar für friedenserhaltende Maßnahmen in der Republik Kongo freizugeben, was ein, riesiges Massaker verhindert hätte. Aber schließlich gab es dort auch keine »humanitäre Krise«. Das gilt ebenso für die Türkei, einen äußerst wichtigen USA­Bündnispartner, mit ihren Millionen kurdischen Flüchtlingen.

Was also tun gegen die Balkan­Krise? Das Nächstliegende, nämlich die UNO als verantwortliche internationale Institution mit der Krisenlösung zu beauftragen, lehnen die USA ab. Vor langem schon haben sie offen erklärt, daß sie Institutionen der Weltordnung wie UNO oder Weltgerichtshof verachten. Vorbei auch die glorreichen Jahre, da die Mehrzahl der UNO-Mitgliedstaaten hinter den USA stand. Die Reagansche Verachtung für internationale Institutionen steigerte sich unter Clinton weiter. Selbst rechte Falken machen sich deswegen inzwischen Sorgen. Einer von ihnen, der außenpolitische Analytiker Samuel Huntington, warnte Washington in der aktuellen Ausgabe von »Foreign Affairs«, der größte Teil der Welt betrachte die USA als »Schurken­Supermacht« und als Bedrohung. Auch die NATO wird eindeutig von den USA dominiert. Als europäische Mitglieder im Oktober das Plazet des UNO­Sicherheitsrats für NATO­Aktivitäten haben wollten.

lehnte Washington ab. Als sich die Verhandlungen hinzogen und schließlich die Frage der Gewaltanwendung aufkam, bestanden die beiden Kriegerstaaten USA und Britannien auf möglichst rascher Gewaltanwendung, was europäische Diplomaten zu Erklärungen veranlaßte, sie seien, bestürzt über das Säbelrasseln aus Washington, vor allem von Außenministerin Albright. Je näher man dem Balkan ist, desto mehr sträubt man sich offensichtlich gegen Gewaltanwendung.

- Worauf gründet sich die hohe Gewaltbereitschaft der USA?

Wer in eine Konfrontation verwickelt ist, spielt die stärkste Karte und versucht, den Gegner auf jene Konfrontationsebene zu zerren, auf der man selbst am stärksten und erfahrensten ist. Für die USA ist das die Ebene der Gewalt, schließlich üben sie auf diesem Feld das Weltmonopol aus. Es war also vorauszusehen, daß die USA alles tun würden, um die NATO zur Gewaltanwendung zu veranlassen. Auch die Konsequenzen waren von Anfang an klar. »Völlig vorhersehbar«, meinte der kommandierende USA­General, sei gewesen, daß die Bombardements das Maß an Übergriffen und Vertreibung verschärfen würden. Und sie taten es. Ebenfalls zu erwarten war, daß die Bomben der vielversprechenden und mutigen demokratischen Oppositionsbewegung Serbiens ein Ende bereiten würden und daß es in den angrenzenden Ländern zu nervösen Reaktionen kommt. Das Niveau einer humanitären Krise, wie sie in der Türkei herrscht, ist zwar noch nicht erreicht, aber sie ist erheblich. Aber das Schicksal Hunderttausender Kosovo-Flüchtlinge kümmert Clinton und Blair wenig. Seit Beginn der Angriffe wiederholen sie, es gehe tun die »Glaubwürdigkeit der NATO. Dahinter steckt aber nicht die Sorge um die Glaubwürdigkeit von NATO­Staaten wie Dänemark oder Frankreich, sondern einzig um die der USA. »Glaubwürdigkeit« heißt »Furcht«. Die Furcht vor dem globalen Polizisten USA muß erhalten bleiben.

- Alte Schlagworte wie »ethnische Säuberungen« und »Genozid« werden derzeit wieder ausgegraben, neue wie »humanitäre Krise« tauchen auf. Je schwerer die NATO­Bombardements, desto schlimmer offenbar der serbische Gegner. Interessanterweise sind es die liberalen Eliten à la »New Labor«, »Dritter Weg«.und »Rot­Grün«, die die Realität in Codes hüllen..

Diese Verschlüsselung gab es immer. Der Begriff »Genozid« ist allerdings, eine Beleidigung für die Opfer Hitlers. Da kommt die revisionistische Schule durch, ins Extrem gesteigert. Wenn die Vorgänge in Kosovo Genozid oder Völkermord sind, dann herrscht auf der ganzen Welt Völkermord, und Clinton müßte dafür längst am Galgen baumeln, weil er für einen Großteil der Grausamkeiten mit verantwortlich ist, Die Zahl der Flüchtlinge aus Kosovo ist riesig ­ und fast halb so groß wie die der Palästina­Flüchtlinge. Wenn es so weitergeht, dann nähert sich die Zahl jener der Flüchtlinge in Kolumbien an. Dort werden jährlich annähernd so viele Menschen vom Militär und seinen USA­gesponserten Hilfstruppen ermordet, wie letztes Jahr in Kosovo starben. »Ethnische Säuberungen« sind Realität, aber wiederum keine neue Grausamkeit, die nur auf den Balkan zuträfe. Woher kommt es nur, daß ich hier in Boston lebe, die hiesigen Eingeborenen aber nicht. Sie sind wohl vor lauter Lebenslust verschwunden?

- Einige lehnen sich jetzt zurück und hoffen, daß die jugoslawische Luftabwehr die traurigen Leichensäcke sorgen möge. Erst dann werde die Friedensbewegung in den USA und Europa wieder stärker. Was ist Ihrer Ansicht nach zu tun?

Gegen die Grausamkeiten der USA in Zentralamerika entwickelte sich während der 80er Jahre in den USA eine überwältigende Opposition. Sie war so stark, daß sich die Reagan­Regierung auf ein internationales Terroristennetz stützen mußte, um ihre Operationen durchzuführen. Säcke mit US­amerikanischen Soldatenleichen waren für die Entstehung der Opposition nicht nötig. Es gab eine starke Opposition gegen die USA­ Unterstützung der indonesischen Schlächterei in, Osttimor. Body bags waren nicht notwendig, Während des Vietnamkriegs war die Tatsache, daß Amerikaner getötet wurden, ein Faktor, der zur Stärkung der Oppositionsbewegung beitrug, aber nicht der entscheidende. Für die Träger des Propagandasystems ist es unerträglich und schlicht nicht zu begreifen, daß Menschen aus moralischen Instinkten heraus handeln. Aber sie tun es. Die Behauptung, Menschen würden nur aus Eigeninteresse heraus und in diesem Fall einzig aus der Furcht vor dem eigenen Sterben handeln, ist lächerlich. Aber so lauten, die Propaganda­ und Werbebotschaften. Gegen die humanitäre Katastrophe, die hauptsächlich die USA, aber auch ihre europäischen NATO­Verbündeten mit herbeigeführt haben, ist einiges zu tun, damit die Eskalation zu einer Großkrise, verhindert wird: Erziehung, Aufklärung, Erklärung, Organisationsarbeit, Demonstrationen, Gegendruck ­ das Übliche, das immer so schwer fällt.

- Was aber, wenn Bevölkerungsmehrheiten für den Einsatz von NATO­Bodentruppen sind?

Die Leute erhalten die Marschordnung Tag und Nacht aus Washington, Paris, London und Berlin, Sie lautet: Schaut über die Grausamkeiten in der Welt hinweg, auch über die, die noch schlimmer sind als in Kosovo, und beachtet vor allem die Grausamkeiten nicht, in die die eigene Regierung verwickelt ist. Schaut nur auf Kosovo, und spielt euch permanent vor, daß die Krise wegen eines bösen Mannes entstanden ist, der den Völkermord seit langem geplant hat. Wenn die Intellektuellen, wie leider üblich, das mit unterzeichnen, dann ist der Ruf nach Bodentruppen nicht mehr weit weg. Pentagon und europäische Militärs sind allerdings aus technischen Gründen sehr gegen einen , Bodenkrieg. Sie nehmen an, daß dieVorbereitung Monate dauern, ein großer Anti­Guerilla­Krieg drohen und die gesamte Region schließlich zu einem Schlachtfeld worden würde. In den USA ist jeder Kommentator, der noch einen Funken Verstand hat, gegen Bodentruppen.



Quelle: Neues Deutschland, 9.4.1999


 




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