Informationsmaterial der PDS/LL im Bundestag
Verletzungen und Aushoehlungen
des Einigungsvertrages
(Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Deutschen Demokratischen Republik
ueber die Herstellung der Einheit Deutschlands)
Bonn, Oktober 1992
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Aushoehlung und Verletzung der Regelungen ueber
Wirtschaftsfoerderung
1. Keine Uebergangszeit fuer Strukturanpassung
2. Fehlende Massnahmen zur Beschleunigung des
wirtschaftlichen Wachstums
3. Nichtgewaehrung eines Praeferenzvorsprunges
4. Mangelnde Foerderung des Mittelstandes
5. Fehlender Vertrauensschutz fuer und ungenuegende
Foerderung von Ostexporten
II. Verletzungen der treuhaenderischen Verwaltung des
volkseigenen Vermoegens
1. Aktive Sanierung fehlt
2. Treuhandauftrag zur Vermoegensverwendung verletzt
3. Mangelnde Fach- und Rechtsaufsicht
4. "Vergessene" Anteilsrechte
III. Verstoesse gegen Eigentumsregelungen und
vertagliche Vereinbarungen im Agrarbereich
1. Aushoehlung der Bodenreform
2. Verschleppung der Entschuldung in der Landwirtschaft
3. Verletzung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
IV. Frauen als Verliererinnen der Einheit
1. Statt weiterentwickelter Gleichberechtigung -
Vertiefung der Ungleichheit
2. Entzug von Grundlagen fuer die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf
V. Bruch und Aushoehlung rentenrechtlicher Regelungen
1. Rentenkuerzungen
2. Rentenstrafrecht
3. Verstoss gegen Vertrauens- und Besitzbestandsschutz
4. Kuerzung oder Aberkennung von Ehrenpensionen
VI. Verstoesse gegen weitere Sozialbestimmungen
1. Mietenexplosion ohne Einkommenszuwachs
2. Aushoehlung gesundheitlicher Grundsatzbestimmungen
VII. Zerstoerung der geistig-kulturellen Struktur
1. Untergrabung statt Erhaltung kultureller Substanz
2. Finanzieller Kollaps fuer Kultur
3. Ruinierung der Wissenschaftslandschaft
VIII. Verstoss gegen grundsaetzliche rechtliche
Bestimmungen
1. Fortsetzung der Entrechtung fuer Zehntausende
2. Parteienkungelei statt oeffentlicher Verfassungsdiskussion
---
Einleitung
Vor gut zwei Jahren hat die PDS in der Volkskammer den
Einigungsvertrag abgelehnt, weil er keinen Vertrag des
Zusammenwachsens der beiden Vertragspartner darstellte,
sondern ein Instrument des Anschlusses, des Aufsaugens
der untergehenden DDR durch die Bundesrepublik, der
jede Gleichberechtigung oder Gleichbehandlung vermissen
liess.
Zugleich hat sie angekuendigt, dass sie wahrscheinlich
die erste sein wird, die Bestimmungen aus diesem
Vertrag verteidigen wird, wenn diese fuer ihre Autoren
voraussichtlich nur noch ein aergerliches Stueck Papier
sein werden. Diese Zeit ist laengst gekommen. Und die
PDS macht ihre Ankuendigung wahr, gegen
Missinterpretationen, willkuerliche Auslegungen, Verstoesse
und Aushoehlungen des Einigungsvertrages im Interesse
der Buerger Politik zu machen.
Rund zwei Jahre nach dem Anschluss der DDR an die alte
Bundesrepublik stellt sich das vereinte Deutschland
staatlich geeinigt aber im Inneren zugleich tief
oekonomisch, sozial und geistig gespalten dar, mit einer
sichtbaren Tendenz der Zunahme dieser Spaltung. Die
Politik der Regierungskoalition unter Helmut Kohl hat
zu einer Einigungskrise gefuehrt, die im Osten wie im
Westen Deutschlands alle Lebensbereiche erfasst und zu
Lasten der Mehrheit der Bevoelkerung geht.
Wir sind nicht der Meinung, dass diese Krise auf die
Tatsache der Einigung selbst zurueckzufuehren ist. Die
Einheit entspricht dem Wuenschen und Wollen der
uebergrossen Mehrheit der deutschen Bevoelkerung. Sie hat
den Menschen in den neuen Bundeslaendern zweifellos
viele Vorteile gebracht und Einschraenkungen und
Entmuendigungen aufgehoben, denen sie in der DDR-
Gesellschaft unterworfen waren. Sie hat ihnen aber auch
neue Beschaedigungen in sozialer, kultureller, geistiger
und persoenlicher Hinsicht zugefuegt.
Wenn wir von Einigungskrise sprechen, dann meinen wir
vor allem die tiefen Wunden, die oekonomisch, sozial und
psychologisch geschlagen wurden, und die riesigen
ungeloesten Probleme, vor denen wir in Ost und West, vor
allem aber im Osten Deutschlands, stehen.
Die Einigungskrise beruht auf Art und Weise des
Einigungsprozesses, der vor der herrschenden
Regierungskoalition in Bonn und ihren ostdeutschen
Parteigaengern eben nicht als Vereinigung, sondern als
Anschluss mit dem schlagartigen Ueberstuelpen des
wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und
gesellschaftlichen Systems der alten Bundesrepublik
ueber das Anschlussgebiet, als Prozess der Unterwerfung
des Anschlussgebietes, betriebn wird.
Wir kommen nicht umhin, festzustellen:
Der Einigungsvertrag ist das Grunddokument und die
prinzipielle Handlungsanleitung fuer diese Unterwerfung.
Er ist nach Inhalt und Form das Diktat des Siegers ueber
die Besiegten, das die Bedingungen ihres Anschlusses
regelt. Er hat die Ursachen fuer die Missstaende gesetzt,
die heute von vielen Menschen beklagt werden. Die
dringend notwendige Korrektur des Einigungsprozesses
erfordert auch Korrekturen oder eine Neugestaltung des
Einigungsvertrages - zumindest in der praktischen Po-
litik. Aber auch eine eventuelle Neuverhandlung, wozu
wir den Gedanken einer "Dritten Kammer" als Vertretung
der ostdeutschen Bundeslaender beigesteuert haben.
Denkbar ist auch ein Staatsvertrag zwischen dem Bund
und den fuenf neuen Bundeslaendern sowie Berlin, der den
Einigungsvertrag revidiert und ergaenzt. Er muesste mit
verfassungsaendernder Mehrheit im Bundestag, Bundesrat
und den betreffenden Landesparlamenten gebilligt
werden.
Zur Korrektur des Einigungsprozesses gehoeren viele
Massnahmen, darunter:
* Die Erhaltung und der Ausbau des Wirtschafts- und
Industriestandortes Ostdeutschlands als
Voraussetzung einer eigenstaendigen Entwicklung der
ostdeutschen Laender und einer auf eigener Leistung
beruhenden Lebensentwicklung ihrer Menschen;
entsprechende Aenderung des Auftrages der Treuhand
und Gestaltung einer adaequaten Industrie- und
Strukturpolitik zur Schaffung einer oekologisch
orientierten zukunftsfoerdernden Industriesubstanz.
* Eine schnelle Regelung der Eigentumsverhaeltnisse
durch Aufhebung des Vermoegensgesetzes in seiner
jetzigen Form und des Grundsatzes Rueckgabe vor
Entschaedigung; Ueberfuehrung ehemaligen Staatsei-
gentums in die Haende der Laender und Kommunen.
* Die Sicherung von Maerkten fuer die ostdeutsche
Wirtschaft in den oestlichen Bundeslaendern, in
Osteuropa sowie in Westdeutschland und Westeuropa
durch Praeferenzen, Exportunterstuetzung u.a.
Massnahmen.
* Die Bildung von Investitionsfonds zur Struk-
turanpassung in den produzierenden Bereichen, fuer
Umweltsanierung, Wohnungsbau und -modernisierung und
Mittelstandsfoerderung.
* Eine wirksame beschaeftigungs- und struk-
turpolitische Konzeption zur Erhaltung und Schaffung
von zukunftssicheren Arbeitsplaetzen, einschliesslich
der Reduzierung von Arbeitszeit und der Umverteilung
von Arbeit, oekologieorientierte Arbeitsplatzpolitik
und aktive Arbeitsmarktgestaltung.
* Eine Sozialreform zur Verhinderung von Armut, Abbau
von Diskriminierung und Gewaehrleistung von sozialer
Sicherheit, was fuer Buerger Ost- und Westdeutschlands
gleichermassen gilt (soziale Grundsicherung, soziales
Pflegegesetz, solidarische und bezahlbare
Gesundheitsvorsorge, sozial gerechteres Rentensystem
und Beseitigung der Wohnungsnot).
* Ein mutiges und sozial vertretbares Finanzkonzept,
das beim Kuerzen des Verteidigungshaushaltes beginnt
und Investitionshilfe- und Ergaenzungsaufgaben ein-
schliesst.
* Die Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz fuer
Ost- und Westdeutsche und die Aufhebung aller
Ungleichbehandlungen.
Den Einigungsvertrag klar charakterisieren, kritisieren
und fuer seine Korrektur eintreten heisst nicht, im Sinne
der Eingangsworte, ihn nicht zu verteidigen.
Denn die Analyse von Wortlaut und Praxis zeigt, dass er
in vielen Faellen ausgehoehlt, sein Wortlaut ins
Gegenteil verkehrt, verzerrt oder umgangen wird.
Mehrere Faelle von direkten Verstoessen liegen vor.
Eine Korrektur verfehlter Einigungspolitik koennte mit
der Beseitigung dieser Vertragsverletzungen und -
verstoesse beginnen.
Dazu die oeffentliche und parlamentarische Diskussion
und entsprechendes Handeln zu foerdern, ist der Sinn
dieser Dokumentation.
I. Aushoehlung und Verletzung der Regelungen ueber Wirt-
schaftsfoerderung
1. Keine Uebergangszeit fuer Strukturanpassung
Art. 28, Abs. 1 des Einigungsvertrages legt fest:
"Mit Wirksamwerden des Beitritts wird das in Artikel 3
genannte Gebiet in die im Bundesgebiet bestehenden
Regelungen des Bundes zur Wirtschaftsfoerderung ...
einbezogen. Waehrend einer Uebergangszeit werden dabei
die besonderen Beduerfnisse der Strukturanpassung
beruecksichtigt. Damit wird ein wichtiger Beitrag zu
einer moeglichst raschen Entwicklung einer ausgewogenen
Wirtschaftsstruktur unter besonderer Beruecksichtigung
des Mittelstandes geleistet."
Statt dessen zeigt die Entwicklung, dass die Wirt-
schaftspolitik mit schlagartiger Schocktherapie
vorgegangen ist, die auf jegliche Anpassungsperiode und
eine gezielte staatliche Struktur- und Industriepolitik
verzichtet. Sie verkehrt die Festlegung ueber die rasche
Entwicklung einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur ins
Gegenteil.
- Wirtschaftliche und finanzielle Kreislaeufe wurden
zerstoert, die Reproduktions- und Akkumulationskraft
Ostdeutschlands ausgehoehlt.
- Es findet eine Deindustrialisierung statt, wie sie
im modernen Industriezeitalter nicht anzutreffen
ist.
Die industriellen Leistungen gingen 1991 in
Ostdeutschland im Vergleich zu 1989 auf weniger als
ein Drittel zurueck; dementsprechend sank der Anteil
der neuen Bundeslaender an der industriellen
Fertigung der Bundesrepublik auf sechs Prozent (1989
hatte die DDR einen Anteil an der Fertigung beider
deutscher Staaten von etwa 20%); 1992 wird der
Anteil der Industrieproduktion bei nur vier % (!)
liegen.
- Die ostdeutsche Produktivitaet erreichte Mitte 1992
erst 36% jener in Westdeutschland; sie hatte vor der
Vereinigung bei rund 37% gelegen; ausgeblieben ist
die erhoffte grosse Investitionswelle.
- Die Zahl der in Forschung und Entwicklung
Beschaeftigten ist von 87 000 (1989) auf ca. 30 000
(1991) zurueckgegangen.
Der Prozess der Zerstoerung statt Anpassung - geschuldet
der Wirtschaftspolitik der Kohl-Regierung - ist eine
grobe Verletzung des Einigungsvertrages.
2. Fehlende Massnahmen zur Beschleunigung des wirt-
schaftlichen Wachstums
Artikel 28, Abs. 2 des Einigungsvertrages legt fest:
"Die zustaendigen Ressorts bereiten konkrete
Massnahmeprogramme zur Beschleunigung des
wirtschaftlichen Wachstums und des Strukturwandels in
dem in Artikel 3 genannten Gebiet vor."
Tatsaechlich sind solche Massnahmepogramme nur zoegerlich,
zu spaet, halbherzig und unvollkommen und ohne
durchgreifende Ergebnisse in Gang gesetzt worden.
Gemessen an den Ergebnissen, wurde der genannte Auftrag
des Einigungsvertrages nicht erfuellt.
- Nicht das im Artikel 28.2 genannte Wachstum, schon
gar kein beschleunigtes, bestimmt das Bild der
Wirtschaft, sondern weiterer Niedergang.
Waehrend 1989 der Anteil der DDR am Brut-
tosozialprodukt der beiden deutschen Staaten noch
bei 11-12% lag, ist er 1991 auf 7% zurueckgegangen,
bei 20% der Bevoelkerung und 30% der Flaeche der
jetzigen Bundesrepublik. Das Sozialprodukt 1990 und
1991 hat sich in Ostdeutschland gegenueber dem Aus-
gangsniveau 1989 halbiert (1990 minus 17%, 1991
minus 35%), der Rueckgang setzt sich 1992 fort.
- In den neuen Bundeslaendern existiert real eine
Beschaeftigungskatastrophe. Die Zahl der
Erwerbstaetigen ging von 9,7 Mio. 1989 auf 5,4 Mio.
1992 zurueck.
Die reale Arbeitslosenrate (unter Einbeziehung von
ABM-Stellen, Kurzarbeit, Umschulungen und
Vorruhestand) betraegt mehr als 30, in manchen Regio-
nen ueber 50% und wird fuer laengere Zeit in dieser
Groessenordnung verharren.
3. Nichtgewaehrung eines Praeferenzvorsprungs
Artikel 28, Abs. 2 des Einigungsvertrages sieht vor,
dass bei den genannten Massnahmeprogrammen, "ein
Praeferenzvorsprung zugunsten dieses Gebietes (gemeint
ist das Beitrittsgebiet - d.Vf.) sichergestellt" wird.
Ein wirksamer Praeferenzvorsprung ist jedoch trotz einer
Reihe von Investitionsanreizen weder hinsichtlich der
Produktion, der Investition, von Marktschutz und -
foerderung, der Auftragserteilung o.a. Bereiche in
wirksamen Groessenordnungen sichergestellt. So werden
ostdeutsche Firmen bei der Auftragsvergabe der
oeffentlichen Hand nicht nur bevorzugt, sondern klar
benachteiligt. Die Folge ist, dass der ueberwiegende Teil
der im Rahmen des sogenannten Programms "Aufschwung
Ost" bereitgestellten Mittel wieder an westdeutsche
Produzenten und Leistungstraeger zurueckfliesst und so
einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Basis der
neuen Laender verloren geht. Statt eingetragene Waren-
zeichen von DDR-Betrieben zu schuetzen, mussten solche
Warenzeichen, sobald eine Konkurrenzsituation eintrat,
mit Verweis auf groesseren Absatz der Westprodukte einge-
stellt werden. (Beispiel: Gothaplast). Potentielle
Kunden von Erzeugnissen aus Treuhandbetrieben wurden
damit verunsichert, dass die Treuhand gleichzeitig die
Betriebe und ihre Erzeugnisse zum Verkaufanboten und
damit den Kunden jedes Vertrauen nahm, dass er auf
Kundendienst und weitere Lieferungen bauen kann
(Beispiel: Schraubenwerk Finsterwalde).
4. Mangelnde Foerderung des Mittelstandes
Art. 28, Abs. 2 sieht weiter "Massnahmen zur raschen
Entwicklung des Mittelstandes" vor.
- In den zwei Jahren seit der staatlichen Vereinigung
sind zehntausende Handwerks-, Gewerbe- und
Kleinhandelsbetriebe gegruendet worden. Industriell
produzierende mittelstaendische Unternehmen machen
jedoch nur 5-6% der insgesamt ueber 400 000 Firmen in
Ostdeutschland aus, weil die Treuhandanstalt
nichteffektive kleine Betriebe geschlossen hat,
statt sie marktfaehig zu sanieren, um den Aufbau
mittelstaendischer Strukturen zu unterstuetzen. Diesen
Strukturmangel kritisiert auch die Deutsche Bank in
einer Mittelstandsstudie ueber Ostdeutschland vom
August 1992. Mehr als 50% von Gewerbeanmeldungen
erfolgen im Handels- und Gaststaettenbereich, doch
treten hier auch mit steigender Tendenz die meisten
Abmeldungen auf (im 1. Halbjahr 1992 49.344 An-
und 29.616 Abmeldungen). Weit mehr als die Haelfte
geben angesichts der Konkurrenz der Handelsketten
wieder auf. Insgesamt gesehen wird jede dritte
Gewerbeanmeldung wieder aufgegeben.
- Kreditmittel (z.B. aus dem ERP-Programm) stehen in
nicht geringem Masse zur Verfuegung, doch werden sie
infolge buerokratischer Hemmnisse und oft mangel-
hafter kommunaler Hilfe wenig wirksam, wie ost-
deutsche CDU-Abgeordnete kritisch an die Bonner
Regierungsadresse vermerken. Ebenso erfahren
ostdeutsche Handwerker und Kleinunternehmer starke
Benachteiligungen bei der Auftragsvergabe durch die
oeffentliche Hand.
- Existenzgefaehrdet wirken sich die ueberdimensionalen
Gewerberaummieten aus - vor allem in den Staedten.
Oft uebersteigen geforderte Mieten die Einnahmen der
Handwerker und Gewerbetreibenden und zwingen sie zur
Aufgabe. Begrenzungen oder Einfrieren wurden bisher
von Kommunen oder als zentrale Regelungen abgelehnt.
5. Fehlender Vertrauensschutz fuer und Foerderung von
Ostexporten
Art. 29 des Einigungsvertrages regelt, dass "die ge-
wachsenen aussenwirtschaftlichen Beziehungen" der
ostdeutschen Wirtschaft gegenueber den frueheren RGW-
Laendern "Vertrauensschutz" geniessen und "unter Be-
achtung der Interessen aller Beteiligten und unter
Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsaetze ...
fortentwickelt und ausgebaut" werden. Ebenso sieht Art.
28, Abs. 2 Wirtschaftsfoerderung fuer "RGW-
Exportproduktion" vor.
Die Bedeutung dieser Vertragsbestimmung wird daraus
ersichtlich, dass gerade fuer den industriellen Kern
Ostdeutschlands - Maschinen- und Fahrzeugbau,
Elektroindustrie, Chemie, Textil/Bekleidung - die
Abhaengigkeit vom Export in die GUS und andere osteu-
ropaeische Laender ausserordentlich hoch ist und bis heute
bei vielen Betrieben etwa 50% betraegt, was ein
Gefaehrdungspotential bedrohter Arbeitsplaetze von 700
000 bei etwa 1,6 Mio. verbliebenen
Industriearbeitsplaetzen bedeutet.
Trotz der Festlegungen des Einigungsvertrages sind
Ostexporte der Wirtschaft der ostdeutschen Laender
nahezu zusammengebrochen.
Der Rueckgang betrug:
1991 zu 1990 von Jan.-April 92
---------------------------------------------------
Insgesamt - 59,9% weitere -26,4%
GUS - 46,2% -16,2%
Polen - 66,1% -72,2%
CSFR - 81,0% -12,7%
Ungarn - 86,1% -55,1%
Rumaenien - 85,4% -85,3%
Bulgarien - 90,8% -72,3%
Die Bundesregierung und Bundeskanzler Kohl geben selbst
zu, dass sie die Bedeutung der Ostmaerkte fuer die
Entwicklung der ostdeutschen Industrie und auch die
Kompliziertheit der Erhaltung dieser Maerkte
unterschaetzt haben. So unterblieben ausreichende und
gezielte Massnahmen einer entsprechenden Ex-
portfoerderung, wie sie gerade Art. 29 und 28.2 des
Einigungsvertrages entsprochen haetten.
Auch gegenwaertig sind die Bemuehungen eher halbherzig
und inkonsequent, bzw. sollen sogar ganz eingestellt
werden. Unkonventionelle Massnahmen zur Foerderung und
Finanzierung der Ostexporte sind dringlich und nach
wirtschaftswissenschaftlichem Rat im Ergebnis billiger
als die Finanzierung von - erneut ansteigender -
Arbeitslosigkeit.
II. Verletzungen der treuhaenderischen Verwaltung des
volkseigenen Vermoegens
1. Aktive Sanierung fehlt
Artikel 25, Abs. 1 des Einigungsvertrages sieht vor:
"Die Treuhandanstalt ist auch kuenftig damit beauftragt,
gemaess den Bestimmungen des Treuhandgesetzes die
frueheren volkseigenen Betriebe wettbewerblich zu
strukturieren und zu privatisieren." - Wettbewerbliche
Strukturierung haette - wie auch der ermordete Treuhand-
Chef Rohwedder propagierte - "entschlossene Sanierung"
bedeutet.
Die Treuhand vernachlaessigte jedoch die Sanierung und
konzentrierte sich auf den Verkauf, die Privatisierung
volkseigenen Vermoegens.
"Die bisherige Strategie der Treuhand laeuft praktisch
darauf hinaus, dass kaum ein Unternehmen richtig saniert
wird" (Kilian Krieger, Berliner Geschaeftsfuehrer der
britischen Unternehmensberatung Price Waterhouse, die
im Auftrag der Treuhand Firmen verkauft). Unternehmen
wurden vor allem "passiv saniert", das heisst durch
Arbeitsplatzabbau und massive Personalreduzierung,
Streichung der Kosten fuer Forschung und Entwicklung,
Produktionsstillegung u.ae. Massnahmen.
Die von der Sache her notwendige Strukturanpassung
vollzieht sich bisher fast nur als Zerstoerung
vorhandener Strukturen und Produktionsverflechtungen,
ohne das neue wettbewerbsfaehige Strukturen in
ausreichendem Masse entstehen. Massenhaft wurden Ar-
beitsplaetze liquidiert, waehrend neue und wett-
bewerbsfaehige Arbeitsplaetze nur in geringem Masse
geschaffen wurden. Das Verhaeltnis von verlorenen zu
neugeschaffenen Arbeitsplaetzen betraegt etwa 10:1.
Hinzu kommt, nach eigenen Angaben der Treuhandchefin
Breuel, dass Kaeufer von Unternehmen etwa 20 - 30 Prozent
der Arbeitsplatzzusagen ueberhaupt nicht einhalten.
Fuer "aktive Sanierung" durch Investitionen in neue Produkte,
Produktionsverfahren, Vertriebssysteme u.ae. stellte die
Treuhand kaum Kredite zur Verfuegung. So wurde die Lage
der Wirtschaft noch verschaerft, wie die bereits genannten
Fakten zur gesamtwirtschaftlichen Krise in Ostdeutschland
verdeutlichen.
Wenn die Treuhand-Spitze nunmehr davon spricht, mit
Mitteln in Milliardenhoehe fuer Investitionen der
Sanierung und Umstrukturierung einen "entscheidenden
Push" zu geben und "einen Kraftakt zu versuchen", so
bedeutet dies zweierlei:
Einmal ist es das Eingestaendnis einer bisher versaeumten
konsequenten Sanierungspolitik und damit einer
Verletzung oder zumindest ungenuegenden Ausfuellung des
Einigungsvertrages und des Treuhandgesetzes.
Zum anderen zeigt sich darin, dass der Auftrag der
Treuhand zur Sanierung zu vage, nicht verpflichtend
genug formuliert ist und ungenuegend kontrolliert wird.
Eine Aenderung kaeme zwar sehr spaet, aber doch fuer Teile
der Wirtschaft noch im letzten Moment. Vorschlaege
liegen auf dem Tisch.
2. Treuhandauftrag zur Vermoegensverwendung verletzt
Artikel 25, Abs. 3 des Einigungsvertrages lautet:
"Die Vertragsparteien bekraeftigen, dass das volkseigene
Vermoegen ausschliesslich und allein zugunsten von
Massnahmen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet
unabhaengig von der haushaltsmaessigen Traegerschaft
verwendet wird."
Es ist jedoch ganz eindeutig, dass die Privatisie-
rungspolitik der Treuhand im Auftrage der Bundes-
regierung in zwei Richtungen eindeutige Nachteile fuer
das Beitrittsgebiet nach Artikel 3, die neuen Laender,
und Vorteile fuer das Unternehmer-Kapital in den alten
Bundeslaendern gebracht hat:
- Zum einen wurden unliebsame Konkurrenten, so im
Werkzeugmaschinenbau, in der Feinmechanik/Optik, in
der Nahrungsgueterindustrie u.a. Zweigen, beseitigt.
Dies geschah durch guenstigen Kauf solcher Kon-
kurrenten, ihre Einverleibung in das westdeutsche
Unternehmen oder Stillegung, aber auch durch andere
Massnahmen, bei der Treuhandentscheidungen
Hilfsdienste leisten. Selbst technische Neuerungen
in ostdeutschen Betrieben wurden unter vorge-
taeuschter Hilfe - oder Kaufabsichten (Beispiel
Motorradwerke Zschopau) entwendet.
- Zum anderen wurden Vermoegenswerte zu
Schleuderpreisen von der Treuhand erworben und
zusaetzliche Kapitalleistungen fuer Investitionen und
andere Massnahmen erpresst. Obwohl die Treuhand noch
keine Vermoegensbilanz vorgelegt hat, muss nach bisher
bekannt gewordenen Verkaufserloesen davon ausgegangen
werden, dass der durchschnittliche Preis der
Unternehmen bei nur etwa zehn Prozent des realen An-
lagewertes liegt. Zudem ermoeglicht die Aneignung
riesiger Immobilien und von Grund und Boden durch
westliche Kapitaleigentuemer kuenftige
Spekulationsgewinne nicht abzuschaetzenden Ausmasses.
Im Ergebnis bisheriger Privatisierung durch die
Treuhand ist eine enorme Vermoegensuebertragung von Ost
nach West vor sich gegangen, die den Artikel 25, Abs. 3
praktisch ins Gegenteil verkehrt.
3. Mangelnde Fach- und Rechtsaufsicht
Artikel 25, Abs. 1, Satz 3 des Einigungsvertrages
besagt, dass die Treuhandanstalt der "Fach- und
Rechtsaufsicht" des Bundesministers der Finanzen
unterliegt.
Die Aushoehlung einigungsvertraglicher Bestimmungen ueber
Pflichten der Treuhandanstalt korrespondiert so mit
mangelnder zentraler Fach- und Rechtsaufsicht ueber die
Treuhand, die der Bundesminister der Finanzen zu ver-
antworten hat. Dies gilt auch hinsichtlich der bekannt
gewordenen (aber auch vertuschten) Treuhandkriminalitaet
- der Vorteilsgewaehrung durch Treuhandvertreter
gegenueber westdeutschen Banken und Grossunternehmen
- der Vorteilsnahme aus der Doppelfunktion von
Treuhandfunktion und eigener Unternehmertaetigkeit
- der Auspluenderung und Ruinierung von Treuhandbetrieben
- der Taeuschung, des Betruges u.a. krimineller
Handlungen.
4. "Vergessene" Anteilsrechte
Artikel 125, Abs. 6 des Einigungsvertrages bestimmt:
"Nach Massgabe des Artikels 10, Abs. 6 des Vertrages vom
18. Mai 1990 (ueber die Wirtschafts-, Waehrungs- und
Sozialunion - d.Vf.) sind Moeglichkeiten vorzusehen, dass
den Sparern zu einem spaeteren Zeitpunkt fuer den bei der
Umstellung 2 : 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes
Anteilsrecht am volkseigenen Vermoegen eingeraeumt werden
kann."
Die Bundesregierung hat sich selbst nach nunmehr mehr
als zwei Jahren mit keinem Wort, keiner Initiative oder
Vorschlag zu dieser Frage in der Oeffentlichkeit
geaeussert. Antraege im Bundestag, die Bundesregierung
aufzufordern, eine Entscheidung zu erarbeiten, wurden
abgelehnt.
Das ist - selbst wenn Artikel 25, Abs. 6 keinen exakten
Zeitpunkt nennt - ein deutlicher Verstoss gegen einen
die Buerger der neuen Laender unmittelbar betreffenden
Auftrag des Einigungsvertrages. Diese Haltung verstoesst
insbesondere gegen die Interessen der aelteren
Buergerinnen und Buerger sowie von Menschen mit
Behinderungen. Sie koennten eine - zudem bewusst
hinausgeschobene - Ermittlung der Ertragsfaehigkeit des
volkseigenen Vermoegens nicht mehr erleben. Zugleich
sind sie durch ihren anteilig hohen Grundverbrauch am
Einkommen mit der Mietentwicklung, dem Vervielfachen
der Kosten in Alten- und Pflegeheimen, den gestiegenen
Energiekosten und Verkehrstarifen anteilig staerker
belastet als andere Bevoelkerungsschichten. Ausserdem
wurden auch die von den Buergerinnen und Buergern
angesparten Moeglichkeiten der Altersvorsorge ab-
gewertet. Zugleich hat die aeltere Generation nach dem
Zweiten Weltkrieg entbehrungsreiche Aufbauarbeit
geleistet. Doch auch fuer diese Gruppe von Buergerinnen
und Buergern wurde die Gewaehrung von Anteilsrechten von
Bundestag und Bundesregierung abgelehnt.
III Verstoesse gegen Eigentumsregelungen und vertragliche
Vereinbarungen im Agrarbereich
1. Aushoehlung der Bodenreform
Im Artikel 4 des Einigungsvertrages wurde festgelegt,
in das Grundgesetz einen neuen Artikel 143 einzufuegen
(mit Beschluss des Deutschen Bundestages am 20.9.1990
geschehen), der in seinem Absatz 3 festlegt, dass
"Artikel 41 des Einigungsvertrages und Regelungen zu
seiner Durchfuehrung auch insoweit Bestand (haben), als
sie vorsehen, dass Eingriffe in das Eigentum auf dem in
Artikel 3 dieses Vertrages genannten Gebiet nicht mehr
rueckgaengig gemacht werden."
Dieser Artikel 41 des Einigungsvertrages lautet:
Regelung von Vermoegensfragen
(1)Die von der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Deutschen
Demokratischen Republik abgegebene Gemeinsamen
Erklaerung vom 15. Juni 1990 zur Regelung offener
Vermoegensfragen (Anlage III) ist Bestandteil des
Vertrages.
...
(3)Im uebrigen wird die Bundesrepublik Deutschland
keine Rechtsvorschriften erlassen, die der in Absatz
1 genannten Gemeinsamen Erklaerung widersprechen.
Und in dieser Gemeinsamen Erklaerung wird definitiv
entschieden:
"Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw.
besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) sind
nicht mehr rueckgaengig zu machen. Die Regierungen der
Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik
sehen keine Moeglichkeit, die damals getroffenen
Massnahmen zu revidieren. Die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland nimmt dies im Hinblick auf
die historische Entwicklung zur Kenntnis. Sie ist der
Auffassung, dass einem kuenftigen gesamtdeutschen
Parlament eine abschliessende Entscheidung ueber etwaige
staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben
muss."
Damit wurde eine soziale und wirtschaftliche
Grundforderung der demokratischen Oeffentlichkeit der
DDR, mit der auch die CDU in den Wahlkampf zog, im
Einigungsvertrag festgeschrieben. Das betrifft im
besonderen die Enteignungen im Rahmen der Bodenreform.
Restitutionsansprueche sogenannter Alteigentuemer wurden
ausgeschlossen; allerdings die Moeglichkeit einer
Entscheidung zur Gewaehrung staatlicher Ausgleichslei-
stungen fixiert.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht hat am
23.4.1991 in einem Verfahren ueber Verfas-
sungsbeschwerden von Bodenreform-Enteigneten gegen die
am 20.9.1990 beschlossene Grundgesetzaenderung deren
Verfassungsmaessigkeit bestaetigt, die entsprechenden
Enteignungen als wirksam erklaert, Rueckgaben
ausgeschlossen, aber auf eine Ausgleichsregelung
hingewiesen.
Einigungsvertrag, Grundgesetzergaenzung und
Verfassungsgerichtsurteil werden jedoch durch die
seitherige Praxis ausgehoehlt:
- Obwohl bereits mit dem Einigungsvertrag - also noch
vor der Herstellung der staatlichen Einheit -
eindeutig geregelt war, dass keine Rueckgabe land- und
forstwirtschaftlicher Grundstuecke an zwischen 1945
und 1949 Enteignete erfolgt, wurde bis zum heutigen
Tag nicht ueber die langfristige Verfuegung der in
Verwaltung der Treuhandanstalt (seit 1.7.1992 in
Verwaltung der Bodenverwertungs- und -verwal-
tungsgesellschaften GmbH) befindlichen Grundstuecke
entschieden. Die Bewirtschaftung dieses Bodens wurde
bisher ueber einjaehrige Pachtvertraege gesichert. Da
das im Durchschnitt ein Viertel des Bodenfonds der
LPG-Nachfolgeunternehmen betrifft, besteht fuer diese
Betriebe, die immerhin drei Viertel der
landwirtschaftlichen Flaeche der neuen Bundeslaender
bewirtschaften, Rechtsunsicherheit mit erheblichen
betriebswirtschaftlichen und sogar existenzbedro-
henden Konsequenzen.
- Einen fruehzeitigen Beleg dieser Aushoehlungspolitik
lieferte der bayerische Ministerpraesident Streibl
mit einem Brief an Bundesfinanzminister Waigel vom
16.10.1990, in dem er bittet, "... sicherzustellen,
dass die in den Jahren 1945 bis 1949 Enteigneten
durch Zwischenverfuegungen und Verpachtungen keinen
Schaden erleiden und nicht vor vollendete Tatsachen
gestellt werden." Bis heute erhielten die
Agrarbetriebe keine Zwoelfjahrespachtvertraege.
- Gemaess dem am 1.7.1992 veroeffentlichten
Eckwertepapiere der Gerster-Kommission der
Bundestags-Fraktion der CDU/CSU fuer ein
Entschaedigungsgesetz, in dem auch die
Ausgleichsleistungen fuer mit der Bodenreform
Enteignete geregelt werden sollen, ist ein
Wiedereinrichterprogramm vorgesehen. Es soll den
nichtrestitutionsberechtigten Alteigentuemern den
grosszuegig subventionierten Erwerb von Grundstuecken
auf Basis Kauf-Pacht ermoeglicht. Dagegen sollen Neu-
einrichter sowie Bauern aus eingetragenen
Genossenschaften und Gesellschafter anderer LPG-
Nachfolgeunternehmen nicht in dieses Programm
einbezogen werden. Die Folge waere eine weitgehende
Restauration der Eigentumsverhaeltnisse von vor 1945
und ein Entzug der Produktionsbasis der LPG-
Nachfolgeunternehmen.
2. Verschleppung der Entschuldung in der Landwirtschaft
Im Artikel 25, Abs. 3 des Einigungsvertrages ist festgelegt:
"Im Rahmen der Strukturanpassung der Landwirtschaft
koennen Erloese der Treuhandanstalt im Einzelfall auch
fuer Entschuldungsmassnahmen zugunsten von land-
wirtschaftlichen Unternehmen verwendet werden. Zuvor
sind deren eigene Vermoegenswerte einzusetzen. Schulden,
die auszugliedernden Betriebsteilen zuzuordnen sind,
bleiben unberuecksichtigt. Hilfe zur Entschuldung kann
auch mit der Massgabe gewaehrt werden, dass die Unterneh-
men die gewaehrten Leistungen im Rahmen ihrer
wirtschaftlichen Moeglichkeiten ganz oder teilweise
zurueckerstatten."
Diese Regelung erfolgte aufgrund der starken und
zugleich sehr differenzierten Altschuldenbelastung in
Hoehe von insgesamt 7,6 Mrd. DM, die fuer einen Teil der
Unternehmen existenbedrohend ist. Mit einem Volumen von
1,4 Mrd. DM machte die Bundesregierung von dieser im
Einigungsvertrag gegebenen Moeglichkeit Gebrauch.
Antraege auf Entschuldung konnten bis 31. Maerz 1991
gestellt werden. Seitens der Treuhandanstalt wurden
zwischenzeitliche Entschuldungsbescheide verschickt.
Bis Mitte August 1992 beliefen sich die tatsaechlich
realisierten Entschuldungsvereinbarungen auf nicht
einmal 20 Mill. DM. Ursache dieses unzureichenden
Standes ist die praktizierte Verknuepfung von
Teilentschuldung und Regelung der Behandlung der ver-
bliebenen Altschulden. Hierfuer setzte der
Bundesfinanzminister betrieblich kaum akzeptierbare
Bedingungen; zugleich verschleppen die Banken den
Abschluss von Rangruecktrittsvereinbarungen. Eine Folge
ist, dass bereits fuer eine Reihe von Betrieben jede Ent-
schuldung aufgrund Gesamtvollstreckung (Konkurs) zu
spaet kommt und der groesste Teil der Betriebe infolge der
Verschleppung der Entschuldung keine Investiti-
onskredite und damit auch keine investiven Foerde-
rungsmittel erhaelt. Damit widerspricht die Entschul-
dungspraxis dem Geist der Regelung im Artikel 25
Einigungsvertrag.
3. Verletzung des Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG).
Im Einigungsvertrag, Anlage II, Kapitel VI. ist ge-
regelt, dass das Landwirtschaftsanpassungsgesetz vom 24.
Juni 1990 (LAG) zum fortgeltenden DDR-Recht gehoert. In
diesem Gesetz ist u.a. folgendes festgelegt:
2 Gleichheit der Eigentumsformen
Alle Eigentums- und Wirtschaftsformen, die baeuerlichen
Familienwirtschaften und freiwillig von den Bauern
gebildete Genossenschaften sowie andere
landwirtschaftliche Unternehmen erhalten im Wettbewerb
Chancengleichheit.
3 Zielbestimmung des Gesetzes
Dieses Gesetz dient der Entwicklung einer vielfaeltig
strukturierten Landwirtschaft und der Schaffung von
Voraussetzungen fuer die Wiederherstellung leistungs-
und wettbewerbsfaehiger Landwirtschaftsbetriebe, um die
in ihnen taetigen Menschen an der Einkommens- und Wohl-
standsentwicklung zu beteiligen.
Mit Geltung vom 7. Juli 1991 an wurde dieses
Landwirtschaftsanpassungsgesetz neu gefasst.
- Die von der Bundesregierung gesetzten
Rahmenbedingungen gewaehrleisten jedoch keineswegs
die im 2 LAG verankerte Chancengleichkeit aller
Eigentums- und Wirtschaftsformen. LPG-
Nachfolgeeinrichtungen, insbesondere Genossen-
schaften, werden diskriminiert. Zum Beispiel gingen
1991 in PG-Nachfolgeeinrichtungen lediglich 7,5
Prozent der eingesetzten bzw. 4,7 Prozent der im
Haushalt vorgesehenen Mittel fuer die
einzelbetriebliche Investitionsfoerderung (Zuschuesse
und Zinsverbilligung). Der grosse Rest ging in
Familienbetriebe bzw. wurde umgeschichtet. Eine
Wende zeichnet sich auch 1992 nicht ab. Die
Beispiele waeren fortsetzbar.
- Mit der Novellierung des LAG wurde als Kernfrage
die Vermoegensauseinandersetzung in der LPG neu
geregelt. Die danach verbindliche Aufteilung des
Eigenkapitals wird der historischen und oekonomischen
Entwicklung der LPG in keiner Weise gerecht. Die
Folgen sind eine im Ausmass nicht gerechtfertigte
Kapitalumverteilung an landbesitzende Mitglieder,
ein Kapitalabfluss, der in seiner Hoehe weder wirt-
schaftlich begruendet noch vertretbar ist und eine
vielfache Zerstoerung der Genossenschaften aufgrund
des vom Gesetzgeber verschaerften statt entspannten
Interessenkonflikts. Damit wendet sich die
Novellierung gegen die zitierte und laut
Einigungsvertrag geltende Zielstellung des Gesetzes.
IV. Frauen als Verliererinnen der Einheit
1. Statt weiterentwickelter Gleichberechtigung -
Vertiefung der Ungleichheit
Artikel 31, Abs. 1 des Einigungsvertrages besagt:
"Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die
Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Maennern
und Frauen weiterzuentwickeln."
Mit dieser Festlegung haette man die Hoffnung auf
gesetzgeberische Schritte und praktische Verbesserungen
der Lage der Frauen in Ost wie West verbinden koennen.
Tatsache ist jedoch, dass sich im direkten Gegensatz zur
Verpflichtung des Artikels 31 die Lage der Frauen in
Ostdeutschland sozial und rechtlich besonders
tiefgehend verschlechtert hat.
Frauenrechte und sozialpolitische Massnahmen, in der DDR
selbstverstaendlich, wurden rigoros abgebaut.
- Der Anteil der Frauen an der Erwerbslosigkeit
betraegt inzwischen 67,2 Prozent und steigt weiter.
Die offizielle Arbeitslosenquote liegt mit etwa 25 %
weit ueber jener der Maenner. Sie werden weniger in
neue Arbeitsplaetze vermittelt als Maenner, ihr Anteil
an VorruhestaendlerInnen liegt weit ueber dem der Maen-
ner. Es fehlt in der Arbeitsmarktpolitik an
gezielten Massnahmen gegen Frauenarbeitslosigkeit wie
etwa die Vergabe von mindestens der Haelfte der
Arbeits- und Ausbildungsplaetze an Frauen, besonders
alleinerziehende und junge Frauen.
- Stattdessen werden Frauen aus dem Erwerbsleben
massiv und systematisch an Heim und Herd gedraengt,
von qualifizierten Berufen und Aufstiegschancen
ausgeschlossen.
Sie sind ihrer Rechte auf eigenstaendige Lebens- und
Berufsplanung verlustig gegangen. Mit Vorruhestand,
Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit erfolgt eine Erosion
ihrer sozialen Identitaet.
- Genommen wird den Frauen mit dieser Entwicklung
ihre soziale und oekonomische Eigenstaendigkeit. Sie
werden wieder verstaerkt ueber den Mann definiert und
sind von diesem abhaengig. Sozialhilfe oder
Arbeitslosengeld statt eigenem Einkommen, Minirenten
im Alter, soziale Degradierung und Armut nehmen zu.
Im Vergleich zu den Maennern niedrigere Loehne druecken
Vorruhestands- oder Altersuebergangsgeld nach unten,
das wiederum senkt die Altersrente. Armut droht auch
alleinerziehenden, auslaendischen und behinderten
Frauen. Von den Ende 1989 in der DDR ausgewiesenen
340 000 alleinerziehenden Muettern ist heute bereits
jede sechste ohne Erwerbsarbeit.
- Statt im Einigungsvertrag angekuendigter
weiterentwickelter Gleichberechtigung ist der
Aufschwung patriarchalischer Tendenzen und
reaktionaerer Frauenpolitik kennzeichnend.
Frauenfeindlichkeit, Gewalt gegen Frauen und Maedchen
sind an der Tagesordnung. Den Frauen wird das
Selbstbestimmungsrecht ueber den eigenen Koerper
abgesprochen und den neuen Laendern der
frauenfeindliche 218 mit Zwangsberatung
uebergestuelpt.
2. Entzug von Grundlagen fuer die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf
Artikel 31, Abs. 2 bestimmt als "Aufgabe des ge-
samtdeutschen Gesetzgebers, angesichts unter-
schiedlicher rechtlicher und institutioneller Aus-
gangssituationen bei der Erwerbstaetigkeit von Muettern
und Vaetern die Rechtslage unter dem Gesichtspunkt der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten."
In der Realitaet ist ein Entzug bisheriger Grundlagen
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf fuer die
Mehrheit der ostdeutschen Frauen eingetreten.
Zahlreiche sozialpolitische Massnahmen in der DDR hatten
gerade die Frauen als Zielgruppe. Abschaffung oder Ein-
schraenkung dieser Rechte - im Widerspruch zum zitierten
Art. 31 Abs. 2 und Abs. 3 (Weiterfuehrung der
Einrichtungen zur Tagesbetreuung der Kinder) - trifft
die Frauen hart.
- Die Schliessung von Kindertagesstaetten, die
Verkuerzung der Oeffnungszeiten von Kitas und Horten
sowie die Verteuerung der Plaetze verschlechtern die
Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung fuer
nicht wenige Frauen drastisch und zwingen sie zurueck
in den Haushalt.
- Der im Vergleich zu den alten Laendern weitaus
grosszuegigere Schwangerschafts- und Wochenurlaub
wurde radikal gekuerzt. Die Freistellung zur Pflege
kranker Kinder und der besondere Kuendigungsschutz
fuer Alleinerziehende fielen entweder Ende 1991 weg
oder wurden durch unguenstigere bundesdeutsche
Regelungen ersetzt. Die in der DDR stark
ausgepraegten Elemente einer eigenstaendigen sozialen
Sicherung der Frauen werden durch die weitgehende
Uebernahme der BRD-Sozialverfassung auf bun-
desdeutsches Marginal-Niveau reduziert. Besonders
dramatisch wirkt sich dies fuer alleinerziehende
Frauen aus.
- Auch andere neue Regelungen verschlechtern die
Situation. So verschlechtert sich mit dem
Unterhaltsvorschussgesetz das Prinzip der
Besitzstandswahrung. (Gewaehrung von Un-
terhaltsvorschuss anstatt bis zum 18. Lebensjahr fuer
die Dauer von 216 Monaten nur noch bis zum 12.
Lebensjahr fuer 72 Monate).
Das in der Regel der Mutter gezahlte Erziehungsgeld
von 600,-- DM liegt weit unter ihrem bisherigen
monatlichen Durchschnittsverdienst. Die im
Bundeserziehungsgeldgesetz eingeraeumte Wahlfreiheit
der Eltern, wer von ihnen Leistungen in Anspruch
nimmt, wird durch den ca. 30 % geringeren Verdienst
von Frauen aus materiellen Erwaegungen heraus in der
Familie vorbestimmt.
Bei der Regelung ueber 600,-- DM Erziehungsgeld ist
ausserdem das Existenzminimum weder eines Elternteils
noch des Kindes gesichert, geschweige denn das von
Alleinerziehenden mit mehreren Kindern.
V. Bruch und Aushoehlung rentenrechtlicher Regelungen
1. Rentenkuerzungen
Es muss zunaechst festgestellt werden, dass das
Rentenueberleitungsgesetz, erlassen aufgrund Artikel 30,
Abs. 5 des Einigungsvertrages, in mehrfacher Hinsicht
das Grundgesetz verletzt und auch gegen die generelle
Zielvorgabe fuer die Rentenueberleitung laut Eini-
gungsvertrag verstoesst, dass
"die Ueberleitung von der Zielsetzung bestimmt sein
(soll), mit der Angleichung der Loehne und Gehaelter in
im in Artikel 3 genannten Gebiet an diejenigen in den
uebrigen Laendern auch eine Angleichung der Renten zu
verwirklichen".
Ueber eine Million Rentner erhalten mit der Ueberleitung
durch den Wegfall unterschiedlicher Zuschlaege jedoch
eine gekuerzte Altersversorgung. Ohnehin schon
schlechter gestellt als die noch arbeitende Bevoelkerung
Ostdeutschlands, deren Tarifvertraege gegenwaertig 60 -
65 % der Einkommen von Vergleichsgruppen der alten
Bundeslaender vorsehen, liegen fuer sie die Renten nach
der Beschlussfassung im Durchschnitt bei 50,8 %
vergleichbarer Altersbezuege in den westlichen Laendern,
obwohl die Lebenshaltungskosten inzwischen nahezu
gleich sind.
2. Rentenstrafrecht
Das Rentenueberleitungsgesetz betaetigt sich gegenueber
Empfaengern und Empfaengerinnen von Zusatz- und
Sonderversorgungen als politisches Strafrecht.
Dabei bricht es bewusst und gewollt die Regelungen des
Einigungsvertrages, wie die Begruendung zum
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vom 23.4.1991,
Drucksache 12/405 des Deutschen Bundestages expressiv
verbis ausweist:
"Nach dem Einigungsvertrag sind Ansprueche und
Anwartschaften aus Zusatz- und Son-
derversorgungssystemen in die Rentenversicherung zu
ueberfuehren. Der Einigungsvertrag sieht hierfuer
bestimmte Massgaben vor, deren Einhaltung weder zu
sachgerechten noch zu sozialpolitisch vertretbaren
Ergebnissen fuehren wuerde. Die Vorgaben des
Einigungsvertrages hinsichtlich einer Ueberfuehrung durch
Rechtsverordnung sind deshalb nicht einzuhalten."
Im Konkreten bedeutet dieser Vertragsbruch:
- Kappung der Altersversorgung fuer rund 360 000
Bezieherinnen und Bezieher und rund 1 Million
Anwartschaften (also Wirkung noch rund 30 Jahre) von
Zusatz- und Sonderversorgungen
- Das sind die Angehoerigen der wissenschaftlich-
technischen, kuenstlerischen, aerztlichen und paedago-
gischen Intelligenz, des Staatsapparates, der
Parteien und gesellschaftlichen Organisationen sowie
der bewaffneten Organe der DDR.
- Anerkannt wird nicht das tatsaechliche Einkommen bei
der Rentenberechnung, sondern nur ein bestimmter
Prozentsatz des jaehrlichen Durchschnittseinkommens
aller Beschaeftigten von 180 % fuer die Intelligenz,
100 % fuer die "staatsnah" Beschaeftigten und 70 % fuer
MfS-Angehoerige mit sofortiger Kuerzung auf max. 802
DM.
3. Verstoss gegen Vertrauens- und Besitzbestandsschutz
In der Anlage II des Einigungsvertrages, Kapitel III,
Sachgebiet H (gesetzliche Rentenversicherung) Abschnitt
III, Ziffer 9b (Regelungen fuer Sonder- und
Zusatzversorgungssysteme) heisst es:
"Bei Personen, die am 3. Oktober 1990 leistungs-
berechtigt sind, darf bei der Anpassung nach Satz 3 Nr.
1 der Zahlbetrag nicht unterschritten werden, der fuer
Juli 1990 aus der Sozialversicherung und dem
Versorgungssystem zu erbringen waren. Bei Personen, die
in der Zeit vom 4. Oktober 1990 bis 30. Juni 1995
leistungsberechtigt werden, darf bei der Anpassung nach
Satz 3 Nr. 1 der Zahlbetrag nicht unterschritten
werden, der fuer Juli 1990 aus der Sozialversicherung
und dem Versorgungssystem zu erbringen gewesen waere,
wenn der Versorgungsfall am 1. Juli 1990 eingetreten
waere."
Dieser Bestandsschutz wird durch das Renten-
ueberleitungsgesetz, bzw. das Anspruchs- und An-
wartschaftsueberleitungsgesetz in doppelter Weise
aufgeloest.
- er gilt nur bis zu einem Hoechstbetrag von 2.010,-- DM,
- er gilt nur fuer bestehende Versorgungen und
Neuzugaenge bis Ende 1993.
Beide Regelungen - und darauf beruhende Entscheidungen
- verstossen gegen den Einigungsvertrag und stellen
Vertrags- und Vertrauensbruch dar.
Dies bestaetigten auch zwei Entscheidungen des
Sozialgerichtes Berlin zu der Frage, ob Altersver-
sorgungen aus Zusatzversorgungssystemen der Intelligenz
auf den Hoechstbetrag gekuerzt werden durften.
"Das Gericht verurteilte die BfA dazu, die Kuerzungen
rueckgaengig zu machen und den Klaegern mindestens den
Gesamtzahlbetrag weiterhin monatlich zu gewaehren, der
ihnen fuer den Monat Juli 1990 zugestanden hatte. Das
Gericht stuetzte sich dabei auf die Bestandsgarantie des
Einigungsvertrages: Der Einigungsvertrag schreibt vor,
dass auch bei der zukuenftigen Anpassung von Altersrenten
aus der Zusatzversorgung der Zahlbetrag nicht
unterschritten werden darf, der fuer Juli 1990 zu
gewaehren war."
(Zitiert aus Pressemitteilung des Praesidenten des
Sozialgerichts Berlin vom 13. Maerz 1992)
4. Kuerzung oder Aberkennung von Ehrenpensionen
(Entschaedigungsrenten)
Der Einigungsvertrag sah in Anlage II, Kapitel VIII,
Sachgebiet H, Abschnitt III, Punkt 5 die Moeglichkeit
einer Kuerzung von Ehrenpensionen fuer Verfolgte des
Faschismus vor.
Mit einem Entschaedigungsrentengesetz wird jedoch
angestrebt
- einer pauschalen Kuerzung der Ehrenpensionen Tuer
oder Tor zu oeffnen
- Aberkennungen vorzunehmen
- eine Verfahrensregelung einzufuehren, die ueber den
Einigungsvertrag und seine Durchfuehrungs- und
Auslegungsvereinbarungen hinausgeht und schaerfer als
im Rentenueberleitungsgesetz fixiert ist.
Die Ehrenpension erhielten noch rund 9.000 Personen,
davon ein Drittel als Kaempfer gegen Faschismus 1.700
DM, ein Drittel als Verfolgte das Faschismus 1.400 DM
(jetzt als Entschaedigungsrenten einheitlich 1.400 DM),
das letzte Drittel sind Hinterbliebene. Etwa drei
Viertel der Bezieherinnen und Bezieher der Ehrenpension
sind ueber 75 Jahre alt, die Haelfte gar ueber 80 und
knapp ein Viertel ueber 85 Jahre. Es sind also nicht
vorrangig die finanziellen Belastungen, die die
Bundesregierung zum Handeln treiben, sondern politische
Absichten.
VI. Verstoesse gegen weiter Sozialbestimmungen
1. Mietenexplosion ohne Einkommenszuwaechse
Anlage I des Einigungsvertrages, Kapitel XIV, Abschnitt
II, Punkt 7 (Aenderung des Gesetzes zur Regelung der
Miethoehe) ermaechtigt die Bundesregierung durch
Rechtsverordnung, "den hoechstzulaessigen Mietzins unter
Beruecksichtigung der Einkommensentwicklung
schrittweise" zu erhoehen.
Sowohl mit der ersten (zum 1. 10. 1991) als auch mit
der zweiten (zum 1. 1. 1993) Verordnung ueber die
Erhoehung der Grundmieten wird gegen diese Festlegung
verstossen.
- Die im Einigungsvertrag enthaltene Formulierung,
die die Bundesregierung ermaechtigt, "... den
hoechstzulaessigen Mietzins unter Beruecksichtigung der
Einkommensentwicklung" festzusetzen, wurde offenbar
mit Absicht so unverbindlich gewaehlt. Sie sollte den
Eindruck erwecken, dass die Miete etwa im Gleich-
schritt mit der Einkommenssteigerung angehoben
werden sollte. Darueber hinaus verdeckte der Begriff
"Mietzins" - in der DDR im landlaeufigen Sinne als
Bruttomiete verstanden - die Tatsache, dass die
Betriebskosten um ein Mehrfaches schneller als die
Grundmieten steigen wuerden.
Das Ergebnis ist, dass mit der am 1. 10. 1991 wirksam
gewordenen Mieterhoehung (einschliesslich Be-
triebskostenumlagen) die Wohnkosten in den ostdeutschen
Laendern auf das Vier- bis Siebenfache angestiegen sind.
Die ab 1. 1. 1993 wirksam werdende 2. Mieterhoehung
steigert diese Erhoehung noch erheblich weiter bis auf
das Neun- bis Zehnfache. Fuer die Einkommensentwicklung
gibt es keine verlaesslichen Daten. Die Bundesregierung
stuetzt sich auf Schaetzungen und Durchschnittsangaben,
um einen Mietanstieg im Gleichklang mit den Einkommen
zu behaupten. Gerade hier liegt die Verfaelschung des
Einigungsvertrages.
Angesichts des generell niedrigen Einkommensniveau in
den ostdeutschen Laendern bedeutet eine solche enorme
Mietsteigerung eine krasse Veraenderung der Verwendungs-
struktur des Haushaltseinkommens. Fuer Arbeitslose und
Rentner ist dabei - trotz Wohngeld - die Verminderung
des nach Mietzahlung verfuegbaren Einkommens noch staer-
ker.
Analyse des Deutschen Mieterbundes fuer Ostberlin:
Rund 10 Prozent aller Haushalte muessen auch mit
Wohngeld mehr als 30 Prozent ihres Haushaltseinkommens
fuer die Miete einsetzen. 18 Prozent der Haushalte
zahlen mehr als ein Viertel ihres Einkommens. Bei Ein-
Personen-Rentnerhaushalten muss jeder fuenfte - trotz
Wohngeld - ueber 30 Prozent der Rente fuer die Wohnung
ausgeben, und rund ein Drittel dieser Haushalte zahlt
mehr als ein Viertel der Rente.
- Der Einigungsvertrag enthaelt keine direkte Aussage
ueber den kuenftigen Status der bisher volkseigenen
bzw. genossenschaftlichen Wohnungen. Bei sinngemaesser
Anwendung des BRD-Rechtes haetten diese Wohnungen
aufgrund der Tatsache, dass ihr Bau zum groessten Teil
mit oeffentlichen Mitteln aus dem Staatshaushalt fi-
nanziert wurde, den Status von Sozialwohnungen mit
entsprechenden Konsequenzen fuer Mietpreis- und Bele-
gungsbindung erhalten muessen. Das ist nicht ge-
schehen. Mit einem ganz ueblen Trick - fuer ehemalige
DDR-Buerger nicht durchschaubar - wurden diese rund
vier Millionen Wohnungen dem Gesetz zur Regelung der
Miethoehe unterworfen und damit hinsichtlich der
Mietpreisbildung dem sogenannten freifinanzierten
Wohnungsbau gleichgestellt. Im neu hinzugefuegten
Paragraphen 11 des Miethoehegesetzes heisst es dazu in
Absatz 3: "... den hoechstzulaessigen Mietzins...
schrittweise mit dem Ziel zu erhoehen, die in Para-
graph 2 Absatz 1, Satz 1 Nr. 2 bezeichnete Miete
zuzulassen." Hinter diesem Juristenkauderwelsch
verbirgt sich die sogenannte ortsuebliche Ver-
gleichsmiete. Damit hat sich die Lage in den
ostdeutschen Laendern gegenueber den Altbundeslaendern
und Westberlin, wo es noch einen Teil Sozial-
wohnungen gibt, verschlechert.
2. Aushoehlung gesundheitlicher Grundsatzbestimmungen
Krankenkassen
Die Festlegungen des Einigungsvertrages schufen
faktisch eine zeitweilige "Regionalisierung" in Alt-
und Neubundeslaender.
So heisst es im Einigungsvertrag, Anlage 1, Kap.
VIII, Sachbiet G, Abschnitt II:
Paragr. 313 Finanzierung
(1) Bis zur Angleichung der wirtschaftlichen Ver-
haeltnisse in dem in Artikel 3 des Eini-
gungsvertrages genannten Gebiet an das Niveau im
uebrigen Bundesgebiet haben Krankenkassen, die
ihre Zustaendigkeit auf das in Artikel 3 des Ei-
nigungsvertrages genannte Gebiet erstrecken, in
Ergaenzung der in 220 vorgesehenen Regelungen
in ihrem Haushalt die Einnahmen und Ausgaben fuer
die Durchfuehrung der Versicherung in diesem Ge-
biet getrennt auszuweisen. Dies gilt auch fuer
den Rechnungsabschluss sowie fuer Ge-
schaeftsuebersichten und Statistiken. Die Kran-
kenkassen duerfen fuer die Finanzierung der Aus-
gaben, die auf das in Artikel 3 des Einigungs-
vertrages genannte Gebiet entfallen, nur die
Einnahmen aus der Durchfuehrung der Versicherung
in diesem Gebiet verwenden; entsprechend ist ein
besonderer Beitragssatz festzulegen.
Die Krankenkassen in den neuen Bundeslaendern haben
1991 ein Finanzvolumen von fast 2,6 Mrd. angespart.
Bisherige Schaetzungen sagen fuer 1992 in den Kran-
kenkassen Ost ein Defizit von ca. 250 Mio DM voraus,
was nur ein Bruchteil (9,6 %) der Einsparsumme 1991
ausmacht.
Durch das sich gegenwaertig in der parlamentarischen
Debatte befindliche Gesundheitsstrukturgesetzt (soll
noch im Oktober 1992 verabschiedet werden), wird der
erwaehnten zweiteiligen Regionalisierung, ein-
schliesslich der vorerst getrennten Kassenfuehrung,
sowie der konkreten Situation der Leistungsempfaenger
und Leistungsanbieter in den neuen Bundeslaendern
nicht entsprochen. Der Gesetzenwurf basiert allein
auf der Analyse der Situation in den alten
Bundeslaendern, die erweiterten Zuzahlungen in Hoehe
von 3,2 Mrd. DM, die Einsparungen bei Aerzten, der
Pharmaindustrie usw. betreffen jedoch die Alt- wie
Neubundeslaender. Die ausschliesslich im Westen
entstandenen Defizite sollen also durch den Osten
mit getragen werden. Von dieser geplanten Nicht-
einhaltung des Einigungsvertrages sind alle fuer in
der DDR gesetzlich Versicherten und auch die dort
angesiedelten Leistungsanbieter (z.B. die
zwangsniedergelassenen aelteren Aerzte und Aerztinnen)
betroffen.
Gesundheitswesen - stationaere Versorgung
Artikel 33 des Einigungsvertrages besagt:
"(1) Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die Vor-
aussetzungen dafuer zu schaffen, dass das Niveau
der stationaeren Versorgung der Bevoelkerung in
dem in Artikel 3 genannten Gebiet zuegig und
nachhaltig verbessert und der Situation im
uebrigen Bundesgebiet angepasst wird."
Die Finanzierung des auf ueber 30 Mrd. DM geschaetzten
investiven Nachholebedarfs muesste durch ein auf ca.
zehn Jahre angelegtes gemeinsames Investitions-
programm von Bund und den neuen Laendern gesichert
werden.
In ihrer Antwort auf eine Anfrage nach der Art der
Realisierung des Auftrages des Art. 33 Einigungs-
vertrag nimmt sich die Bundesregierung jedoch ab
Anfang 1993 aus der Verantwortung fuer eine zuegige
und nachhaltige Verbesserung der Situation in den
neuen Bundeslaendern heraus, indem sie den investiven
Nachholebedarf fuer Krankenhaeuser den Laendern und
Kommunen ueberlaesst.
Es heisst in Drucksage 12/3115 des Deutschen
Bundestages vom 29.7.92: "Die neuen Laender haben
jetzt die Aufgabe, mit ihrer gestaerkten Fi-
nanzausstattung ihre originaeren Aufgaben zu erfuel-
len. Zusaetzliche Mittelzuweisungen fuer Einzelbe-
reiche sind nicht moeglich. Auch eine Ausnahme
zugunsten der Krankenhaeuser ist derzeit nicht
machbar."
Der Verweis auf die "gestaerkte Finanzausstattung"
der neuen Laender ist angesichts ihrer prekaeren
Haushaltslage eine Verhoehnung des Ei-
nigungsvertrages. Die Defizite der ostdeutschen
Laender und Gemeinden steigen von 9,3 Mrd. DM 1991
auf 33,8 Mrd. DM 1994 und 1995 gar auf 62 Mrd. DM
(Berechnungen des DIW).
Gesundheitswesen - ambulante Behandlung
Anlage I des Einigungsvertrages, Kapitel VIII,
Sachgebiet t, Abschnitt II hatte festgelegt, dass in
den neuen Laendern aerztlich geleitete kommunale,
staatliche und freigemeinnuetzige Gesundheitsein-
richtungen, einschliesslich Polikliniken, Ambulato-
rien u.a. kraft Gesetzes bis 31.12.1995 zur am-
bulanten Versorgung zuzulassen sind und eine
Verlaengerung der Zulassung moeglich ist. Die am-
bulante Versorgung wird im bundesdeutschen Gesund-
heitssystem durch den Sicherstellungsauftrag ueber
die kassenaerztliche Vereinigung niedergelassener
Aerzte organisiert.
Obwohl seit mehr als zehn Jahren allen Gesund-
heitspolitikern klar ist, dass dieses System kosten-
treibend und dringend reformbeduerftig ist, wurde die
Versorgung in den neuen Bundeslaendern gleichartig
gestaltet.
Polikliniken, staatliche Arztpraxen, Dispensaireein-
richtungen wurden abgewickelt und liquidiert.
In der Existenzberechtigung von Polikliniken und
Ambulatorien in den neuen Bundeslaendern bis 31. 12.
1995 sah die kassenaerztliche Vereinigung der nieder-
gelassenen Aerzte ihre Monopolstellung in der ambu-
lanten Versorgung gefaehrdet und trieb - entgegen den
Festlegungen des Einigungsvertrages - zusammen mit
kommunalen und Landesbehoerden einen Grossteil der
Aerztinnen und Aerzte in die Niederlassung (derzeit
ca. 90 %). Mehr als ein Drittel davon sind aelter als
50 Jahre. Muessen diese mit 65 Jahren in den Ruhe-
stand (wie es das Gesundheitsstrukturgesetz
vorsieht), ist ihre Existenz und Alterssicherung
gefaehrdet. Hier haben Kommunal-, Landes- und
Bundespolitiker versagt, denn Alterna-
tivvorstellungen fuer die ambulante Versorgung sind
heute mehr denn je gefragt.
VII. Zerstoerung der geistig-kulturellen Struktur
1. Untergrabung statt Erhaltung kultureller Substanz
"Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten
Gebiet darf keinen Schaden nehmen." (Art. 35.2 des
Einigungsvertrages). Diese Grundaussage des Kapitels
VIII. des Einigungsvertrages ueber Kultur, Bildung und
Wissenschaft, Sport ist zu einer leeren Huelse geworden.
Die kulturelle Substanz hat nicht nur Schaden genommen,
sondern ist in ihrer Existenz bedroht.
- Seit der Vereinigung mussten in den neuen
Bundeslaendern jedes zweite Kino und jede vierte
Bibliothek schliessen, die Zahl der Kulturhaeuser ging
um 15 %, die der Jugendzentren um 40 % zurueck.
- Theater, Orchester, Museen, Gedenkstaetten leiden
dramatische Finanznot, sind unterbesetzt, muessen
Spielplangestaltung oder Oeffnung einschraenken oder
sind teilweise schon geschlossen worden.
- Fuer Kuenstler sind die Ateliermieten in Grossstaedten
zwischen 500 und 2000 Prozent gestiegen bei
gleichzeitiger Abnahme der Auftraege. Staatliche
Unterstuetzung ist gekuerzt oder weggefallen. Viele
Kuenstler sind in direkte soziale Notlage geraten.
- Bei Verwirklichung der Plaene fuer die Reduzierung
der Wissenschafts- und Hochschullandschaft wird es
nach einer Schaetzung der "Initiative" fuer die Wis-
senschaft in den neuen Bundeslaendern" in Ostdeutsch-
land pro 10 000 Einwohner nur noch etwa 12 in
Forschungsbereichen Taetige geben, gegenueber 69 in
den alten Bundeslaendern (in Ungarn 35, in Polen 25).
Eine Gruppe renommierter Wissenschaftler der Freien
Universitaet Berlin charakterisiert die Entwicklung
folgendermassen:
"Der Vereinigungsprozess beider deutscher Staaten
bedeutet fuer die ehemalige DDR die Stillegung vieler
wissenschaftlicher Einrichtungen und die Freisetzung
von WissenschaftlerInnen und wissenschaftlich-
technischem Personal in einer Groessenordnung, die
einmalig in der bisherigen Geschichte ist und deren
Folgen kaum absehbar sind. Damit droht die
Zerstoerung eines betraechtlichen Teils der wissen-
schaftlichen Kapazitaeten im oestlichen Teil
Deutschlands als Beitrag zu dessen geistig-
kultureller Veroedung."
(Zitiert aus: Weissbuch - Unfrieden in Deutschland,
S. 335)
2. Finanzieller Kollaps fuer Kultur
In Art. 35, Abs. 6 und 7 wird zur Finanzierung kul-
tureller Angelegenheiten festgelegt:
"(6) Der Kulturfonds wird zur Foerderung von Kultur,
Kunst und Kuenstlern uebergangsweise bis zum 31.
Dezember 1994 in dem in Artikel 3 genannten Gebiet
weitergefuehrt. Eine Mitfinanzierung durch den
Bund... wird nicht ausgeschlossen..."
"(7) Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung
Deutschlands kann der Bund uebergangsweise zur
Foerderung der kulturellen Infrastruktur einzelne
kulturelle Massnahmen und Einrichtungen in dem in
Artikel 3 genannten Gebiet mitfinanzieren."
Im Bundeshaushalt sind fuer Substanzerhaltung und
Foerderung der kulturellen Infrastruktur im Sinne des
Einigungsvertrages und als Zuschuss des Bundes an die
Stiftung Kulturfonds von 1991 mit 1.097.000 TDM bis
1993 mit 316.000 TDM sich drastisch verringernde Mittel
vorgesehen. (Zum Vergleich: Die Zuwendung des Bundes
allein an die Kunst- und Ausstellungshalle der BRD soll
1993 die Summe von 30 000 TDM erreichen!)
Mit Ablauf des Haushaltsjahres 1993, also bereits fuer
1994, sollen entgegen den Festlegungen des
Einigungsvertrages diese Mittel wegfallen.
Das bedeutet:
- Schon jetzt sind diese Mittel voellig unzureichend
und ueberdies noch weitaus geringer als die Mittel
fuer Einrichtungen in den westlichen Bundeslaendern.
Zwei Beispiele aus Berlin: Die Staatlichen
Schauspielbuehnen erhalten ueber 40 Mio DM, das
vergleichbare Deutsche Theater ein Drittel dessen =
13,8 Mio. DM; die Deutsche Oper in Westberlin
verfuegt ueber einen 80-Millionen-Etat, die Staatsoper
in Ostberlin nur ueber 37 Millionen.
- Mit dem Wegfall der Bundeszuschuesse 1994 muessten die
ostdeutschen Laender und Kommunen 90 - 95 Prozent der
Kulturausgaben tragen, angesichts ihrer Finanzlage
ist der "Zusammenbruch einer jahrhundertealten
Kulturszene", wie es die Theater-Intendanten der
Stadt Dresden formulierten, programmiert.
- Soll die Verpflichtung aus Art. 35 des Eini-
gungsvertrages nicht ad absurdum gefuehrt werden, so
muss sie laengerfristige Aufgabe fuer den Bund sein. Es
ist pure Illusion anzunehmen, die neuen Laender
koennten im Verlaufe von zwei - drei Jahren eine
finanzielle/wirtschaftliche Leistungskraft erringen,
um die kulturelle Landschaft zu erhalten.
3. Ruinierung der Wissenschaftslandschaft
- Die eigentliche Verletzung der Aussage des Art. 38,
dass "Wissenschaft und Forschung... auch im vereinten
Deutschland wichtige Grundlagen fuer Staat und
Gesellschaft (bilden)", erfolgt mit Hilfe der
Bestimmungen der Anlage I des Vertrages, Kapitel XIX
- Recht der im oeffentlichen Dienst stehenden
Personen -. Sie gaben die Moeglichkeit, alle
oeffentlich Bediensteten - also auch die Wis-
senschaftler, Lehrer u.a. Bereiche der Intelligenz -
erst einmal ausserhalb der Grundrechte des
Grundgesetzes anzusiedeln, zu Unpersonen oder
Unrechtspersonen zu erklaeren und von daher die
uebergrosse Mehrheit der Intelligenz auszusieben. So
wurde jene bereits zitierte Zerstoerung der
wissenschaftlichen Kapazitaeten und der geistig-
kulturellen Sozialstruktur erreicht, die den
Aussagen ueber Wissenschaft und Forschung als
Grundlage fuer Staat und Gesellschaft im vereinten
Deutschland ins Gesicht schlaegt.
- Gleichwohl stellt die Praxis der Evaluierung und
Abwicklung wissenschaftlicher Einrichtungen auch
einen direkten Verstoss gegen die Bestimmung von
Artikel 38, Abs. 1, Satz 2 dar, der die Erhaltung
leistungsfaehiger Einrichtungen nach Begutachtung
durch den Wissenschaftsrat fordert. In nicht wenigen
Faellen, die auch oeffentlich dokumentiert sind
(vergleiche Weissbuch - Unfrieden in Deutschland, S.
333 - 383), wurde in gar nicht gutachterlicher,
sondern selbstherrlicher, arroganter, von wenig
Sachkompetenz getragener Art mit international be-
kannten Wissenschaftlern und wissenschaftlich lei-
stungsfaehigen Einrichtungen umgegangen. Gegenueber
vielen Einrichtungen bestanden politische Vorur-
teile, andere wurden nicht einmal im eingeschraenkten
Sinne "begutachtet", vielen erneuerungswilligen und
-faehigen Kraeften keine Chance fuer die Durchsetzung
neuer Wissenschaftskonzepte gegeben.
- Einen direkten Verstoss gegen Art. 38, Abs. 2 des
Einigungsvertrages stellen auch die administrativ
angeordnete Beendigung der Taetigkeit der Gelehr-
tensozietaet der Akademie der Wissenschaften und das
Erloeschen der Mitgliedschaft ihrer Gelehrten dar.
Art. 38, Abs. 2 geht klar von der Auffassung aus,
dass die Taetigkeit der Gelehrtensozietaet fortgefuehrt
wird und lediglich ueber das Wie landesrechtlich ent-
schieden wird. Der Berliner Senat hat diesen Tatbe-
stand ins Gegenteil verkehrt.
VIII. Verstoss gegen grundsaetzliche rechtliche
Bestimmungen
1. Fortsetzung der Entrechtung fuer Zehntausende
Kapitel XIX der Anlage I des Einigungsvertrages,
Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 1, Abs. 4 enthaelt
folgende Regelung:
"(4) Die ordentliche Kuendigung eines Arbeitsver-
haeltnisses in der oeffentlichen Verwaltung ist auch
zulaessig, wenn
1. der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher
Qualifikation oder persoenlicher Eignung den
Anforderungen nicht entspricht oder
2. der Arbeitnehmer wegen mangelnden Bedarfs nicht
mehr verwendbar ist oder
3. die bisherige Beschaeftigungsstelle ersatzlos
aufgeloest wird oder bei Verschmelzung,
Eingliederung oder wesentlicher Aenderung des
Aufbaues der Beschaeftigungsstelle oder eine
anderweitige Verwendung nicht mehr moeglich
ist...
Dieser Absatz tritt nach Ablauf von zwei Jahren nach
dem Wirksamwerden des Beitritts ausser Kraft."
Mit Hilfe dieser und anderer Festlegungen des Kapitels
XIX ueber Rechtsverhaeltnisse im oeffentlichen Dienst
stehender Personen sind in den vergangenen zwei Jahren
mehr als 600 000 Angestellte, Arbeiter,
Wissenschaftler, Paedagogen, Techniker, Mediziner,
Kuenstler und Angehoerige anderer Berufsgruppen abge-
wickelt, in Arbeitslosigkeit oder Altersuebergangsgeld
unter Umgehung gesetzlicher Schutzrechte entlassen
worden. Sie waren die Grundlage des mit dem Anschluss
der DDR von den Regierenden in Bonn praktizierten
personellen Kahlschlages.
Jetzt soll sogar die auf zwei Jahre festgelegte Be-
grenzung beseitigt und die grundgesetzwidrige
Kuendigungsklausel von Oktober 1992 auf Dezember 1993 -
also um 1 1/4 Jahre verlaengert werden.
In der Begruendung eines entsprechenden Gesetzentwurfes
heisst es:
"Eine Verlaengerung der Frist fuer die Bedarfskuendigung
nach Anlage I Kapitel XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III,
Nr. 1 Abs. 4 des Einigungsvertrages bis zum 31. Dezember 1993
wuerde die Ergebnisse im Personalabbau der neuen Laender
erheblich erbessern."
(Bundestagsdrucksache 12/2794 vom 12. 6. 92)
Dies bedeutet die Ermaechtigung fuer Bedarfskuendigungen
und Willkuermassnahmen gegen bisher noch nicht erfasste
Missliebige oder neu durch etwa kritische Haltung sich
als nicht den Anforderungen entsprechend Erweisende.
Es bedeutet Kuendigungen ohne Abstimmung mit dem
Personalrat und ohne Beruecksichtigung sozialer Belange
in den oeffentlichen Verwaltungen, insbesondere im
Kultus- und Wissenschaftsbereich und in den Verwaltun-
gen der Kommunen bis 31. 12. 1993.
Die OeTV befuerchtet den Abbau von 150 000 Arbeitsplaetzen
durch diese Regelung.
2. Parteienkungelei statt oeffentlicher Verfassungsdiskussion
In Artikel 5 des Einigungsvertrages heisst es, "Die
Regierenden der beiden Vertragsparteien empfehlen den
gesetzgebenden Koerperschaften des vereinten
Deutschlands, sich innerhalb vor zwei Jahren mit den im
Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen
Fragen zur Aenderung oder Ergaenzung des Grundgesetzes zu
befassen."
- "Im Zusammenhang mit der deutschen Einigung" war in
verfassungsmaessiger Hinsicht ein breit getragener
Wunsch sowohl fuer eine neue Verfassung wie auch eine
verfassungsgebende Versammlung vorgebracht worden.
Beides wollen die Regierenden in Bonn nicht. So
wurde lediglich eine Gemeinsame Ver-
fassungskommission (GVK) aus je 32 Vertretern von
Bundestag und Bundesrat geschaffen, die Aenderungen
und Ergaenzungen des Grundgesetzes vorbereiten und
beiden Organen vorlegen soll.
- Waehrend sich nach Meinungsumfragen wichtige
Forderungen zur Verfassungsergaenzung, wie Aufnahme
sozialer Grundrechte und Staatsziele, oekologischer
Umbau der Verfassungsordnung, Konkretisierung des
Friedensgebotes, Erweiterung der Mitwirkungsrechte
des Volkes, auf eindeutige Mehrheiten in der Be-
voelkerung stuetzen koennen, stossen sie in der GVK und
bei der Mehrheit von Bundestag und Bundesrat auf
Ablehnung. Statt oeffenlicher Verfassungsdiskussion
mauscheln die Fraktionen der grossen Parteien und es
drohen politische Kompensationsgeschaefte.
- In anderer Weise entfernt sich die Mehrheit der GVK
vom urspruenglich relativ eng gehaltenen Auftrag des
Artikels 5, Einigungsvertrag. Die gesetzgebenden
Koerperschaften sollten sich nur mit dem Bund-Laender-
Verhaeltnis, der Moeglichkeit einer Neugliederung fuer
den Raum Berlin/Brandenburg, mit der Moeglichkeit der
Aufnahme von Staatszielen und einer Volksabstimmung
ueber eine Verfassung im Rahmen des Art. 146
befassen.
Jetzt wird eine Generalrevision des Grundgesetzes
unter konservativ-autoritaeren Vorzeichen angestrebt.
Einschraenkung des Asylrechts nach Art. 16 GG,
Einsatz der Bundeswehr ausserhalb des NATO-Gebietes,
Einschraenkung des Rechtes auf Unverletzlichkeit der
Wohnung, Privatisierung von Post und Bahn u.a.
zeigen in diese Richtung. Sicher wird dies zugleich
auch mit einigen anderen Festlegungen demokratisch
drapiert werden.
- In jedem Fall ist die Verfassungsfrage bisher keine
Angelegenheit des Volkes, was sicher dessen im
geltenden Grundgesetz verankerter Souveraenitaet
widerspricht, wohl aber auch dem Einigungsvertrag
und den mit der Vereinigung aufgeworfenen und ihrer
Loesung harrenden Aufgabe.
* * *
*** ende ***
Informationsmaterial der PDS/LL im Bundestag
Verletzungen und Aushoehlungen
des Einigungsvertrages
(Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Deutschen Demokratischen Republik
ueber die Herstellung der Einheit Deutschlands)
Bonn, Oktober 1992
-------------------------------------------------------------
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Aushoehlung und Verletzung der Regelungen ueber
Wirtschaftsfoerderung
1. Keine Uebergangszeit fuer Strukturanpassung
2. Fehlende Massnahmen zur Beschleunigung des
wirtschaftlichen Wachstums
3. Nichtgewaehrung eines Praeferenzvorsprunges
4. Mangelnde Foerderung des Mittelstandes
5. Fehlender Vertrauensschutz fuer und ungenuegende
Foerderung von Ostexporten
II. Verletzungen der treuhaenderischen Verwaltung des
volkseigenen Vermoegens
1. Aktive Sanierung fehlt
2. Treuhandauftrag zur Vermoegensverwendung verletzt
3. Mangelnde Fach- und Rechtsaufsicht
4. "Vergessene" Anteilsrechte
III. Verstoesse gegen Eigentumsregelungen und
vertagliche Vereinbarungen im Agrarbereich
1. Aushoehlung der Bodenreform
2. Verschleppung der Entschuldung in der Landwirtschaft
3. Verletzung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
IV. Frauen als Verliererinnen der Einheit
1. Statt weiterentwickelter Gleichberechtigung -
Vertiefung der Ungleichheit
2. Entzug von Grundlagen fuer die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf
V. Bruch und Aushoehlung rentenrechtlicher Regelungen
1. Rentenkuerzungen
2. Rentenstrafrecht
3. Verstoss gegen Vertrauens- und Besitzbestandsschutz
4. Kuerzung oder Aberkennung von Ehrenpensionen
VI. Verstoesse gegen weitere Sozialbestimmungen
1. Mietenexplosion ohne Einkommenszuwachs
2. Aushoehlung gesundheitlicher Grundsatzbestimmungen
VII. Zerstoerung der geistig-kulturellen Struktur
1. Untergrabung statt Erhaltung kultureller Substanz
2. Finanzieller Kollaps fuer Kultur
3. Ruinierung der Wissenschaftslandschaft
VIII. Verstoss gegen grundsaetzliche rechtliche
Bestimmungen
1. Fortsetzung der Entrechtung fuer Zehntausende
2. Parteienkungelei statt oeffentlicher Verfassungsdiskussion
---
Einleitung
Vor gut zwei Jahren hat die PDS in der Volkskammer den
Einigungsvertrag abgelehnt, weil er keinen Vertrag des
Zusammenwachsens der beiden Vertragspartner darstellte,
sondern ein Instrument des Anschlusses, des Aufsaugens
der untergehenden DDR durch die Bundesrepublik, der
jede Gleichberechtigung oder Gleichbehandlung vermissen
liess.
Zugleich hat sie angekuendigt, dass sie wahrscheinlich
die erste sein wird, die Bestimmungen aus diesem
Vertrag verteidigen wird, wenn diese fuer ihre Autoren
voraussichtlich nur noch ein aergerliches Stueck Papier
sein werden. Diese Zeit ist laengst gekommen. Und die
PDS macht ihre Ankuendigung wahr, gegen
Missinterpretationen, willkuerliche Auslegungen, Verstoesse
und Aushoehlungen des Einigungsvertrages im Interesse
der Buerger Politik zu machen.
Rund zwei Jahre nach dem Anschluss der DDR an die alte
Bundesrepublik stellt sich das vereinte Deutschland
staatlich geeinigt aber im Inneren zugleich tief
oekonomisch, sozial und geistig gespalten dar, mit einer
sichtbaren Tendenz der Zunahme dieser Spaltung. Die
Politik der Regierungskoalition unter Helmut Kohl hat
zu einer Einigungskrise gefuehrt, die im Osten wie im
Westen Deutschlands alle Lebensbereiche erfasst und zu
Lasten der Mehrheit der Bevoelkerung geht.
Wir sind nicht der Meinung, dass diese Krise auf die
Tatsache der Einigung selbst zurueckzufuehren ist. Die
Einheit entspricht dem Wuenschen und Wollen der
uebergrossen Mehrheit der deutschen Bevoelkerung. Sie hat
den Menschen in den neuen Bundeslaendern zweifellos
viele Vorteile gebracht und Einschraenkungen und
Entmuendigungen aufgehoben, denen sie in der DDR-
Gesellschaft unterworfen waren. Sie hat ihnen aber auch
neue Beschaedigungen in sozialer, kultureller, geistiger
und persoenlicher Hinsicht zugefuegt.
Wenn wir von Einigungskrise sprechen, dann meinen wir
vor allem die tiefen Wunden, die oekonomisch, sozial und
psychologisch geschlagen wurden, und die riesigen
ungeloesten Probleme, vor denen wir in Ost und West, vor
allem aber im Osten Deutschlands, stehen.
Die Einigungskrise beruht auf Art und Weise des
Einigungsprozesses, der vor der herrschenden
Regierungskoalition in Bonn und ihren ostdeutschen
Parteigaengern eben nicht als Vereinigung, sondern als
Anschluss mit dem schlagartigen Ueberstuelpen des
wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und
gesellschaftlichen Systems der alten Bundesrepublik
ueber das Anschlussgebiet, als Prozess der Unterwerfung
des Anschlussgebietes, betriebn wird.
Wir kommen nicht umhin, festzustellen:
Der Einigungsvertrag ist das Grunddokument und die
prinzipielle Handlungsanleitung fuer diese Unterwerfung.
Er ist nach Inhalt und Form das Diktat des Siegers ueber
die Besiegten, das die Bedingungen ihres Anschlusses
regelt. Er hat die Ursachen fuer die Missstaende gesetzt,
die heute von vielen Menschen beklagt werden. Die
dringend notwendige Korrektur des Einigungsprozesses
erfordert auch Korrekturen oder eine Neugestaltung des
Einigungsvertrages - zumindest in der praktischen Po-
litik. Aber auch eine eventuelle Neuverhandlung, wozu
wir den Gedanken einer "Dritten Kammer" als Vertretung
der ostdeutschen Bundeslaender beigesteuert haben.
Denkbar ist auch ein Staatsvertrag zwischen dem Bund
und den fuenf neuen Bundeslaendern sowie Berlin, der den
Einigungsvertrag revidiert und ergaenzt. Er muesste mit
verfassungsaendernder Mehrheit im Bundestag, Bundesrat
und den betreffenden Landesparlamenten gebilligt
werden.
Zur Korrektur des Einigungsprozesses gehoeren viele
Massnahmen, darunter:
* Die Erhaltung und der Ausbau des Wirtschafts- und
Industriestandortes Ostdeutschlands als
Voraussetzung einer eigenstaendigen Entwicklung der
ostdeutschen Laender und einer auf eigener Leistung
beruhenden Lebensentwicklung ihrer Menschen;
entsprechende Aenderung des Auftrages der Treuhand
und Gestaltung einer adaequaten Industrie- und
Strukturpolitik zur Schaffung einer oekologisch
orientierten zukunftsfoerdernden Industriesubstanz.
* Eine schnelle Regelung der Eigentumsverhaeltnisse
durch Aufhebung des Vermoegensgesetzes in seiner
jetzigen Form und des Grundsatzes Rueckgabe vor
Entschaedigung; Ueberfuehrung ehemaligen Staatsei-
gentums in die Haende der Laender und Kommunen.
* Die Sicherung von Maerkten fuer die ostdeutsche
Wirtschaft in den oestlichen Bundeslaendern, in
Osteuropa sowie in Westdeutschland und Westeuropa
durch Praeferenzen, Exportunterstuetzung u.a.
Massnahmen.
* Die Bildung von Investitionsfonds zur Struk-
turanpassung in den produzierenden Bereichen, fuer
Umweltsanierung, Wohnungsbau und -modernisierung und
Mittelstandsfoerderung.
* Eine wirksame beschaeftigungs- und struk-
turpolitische Konzeption zur Erhaltung und Schaffung
von zukunftssicheren Arbeitsplaetzen, einschliesslich
der Reduzierung von Arbeitszeit und der Umverteilung
von Arbeit, oekologieorientierte Arbeitsplatzpolitik
und aktive Arbeitsmarktgestaltung.
* Eine Sozialreform zur Verhinderung von Armut, Abbau
von Diskriminierung und Gewaehrleistung von sozialer
Sicherheit, was fuer Buerger Ost- und Westdeutschlands
gleichermassen gilt (soziale Grundsicherung, soziales
Pflegegesetz, solidarische und bezahlbare
Gesundheitsvorsorge, sozial gerechteres Rentensystem
und Beseitigung der Wohnungsnot).
* Ein mutiges und sozial vertretbares Finanzkonzept,
das beim Kuerzen des Verteidigungshaushaltes beginnt
und Investitionshilfe- und Ergaenzungsaufgaben ein-
schliesst.
* Die Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz fuer
Ost- und Westdeutsche und die Aufhebung aller
Ungleichbehandlungen.
Den Einigungsvertrag klar charakterisieren, kritisieren
und fuer seine Korrektur eintreten heisst nicht, im Sinne
der Eingangsworte, ihn nicht zu verteidigen.
Denn die Analyse von Wortlaut und Praxis zeigt, dass er
in vielen Faellen ausgehoehlt, sein Wortlaut ins
Gegenteil verkehrt, verzerrt oder umgangen wird.
Mehrere Faelle von direkten Verstoessen liegen vor.
Eine Korrektur verfehlter Einigungspolitik koennte mit
der Beseitigung dieser Vertragsverletzungen und -
verstoesse beginnen.
Dazu die oeffentliche und parlamentarische Diskussion
und entsprechendes Handeln zu foerdern, ist der Sinn
dieser Dokumentation.
I. Aushoehlung und Verletzung der Regelungen ueber Wirt-
schaftsfoerderung
1. Keine Uebergangszeit fuer Strukturanpassung
Art. 28, Abs. 1 des Einigungsvertrages legt fest:
"Mit Wirksamwerden des Beitritts wird das in Artikel 3
genannte Gebiet in die im Bundesgebiet bestehenden
Regelungen des Bundes zur Wirtschaftsfoerderung ...
einbezogen. Waehrend einer Uebergangszeit werden dabei
die besonderen Beduerfnisse der Strukturanpassung
beruecksichtigt. Damit wird ein wichtiger Beitrag zu
einer moeglichst raschen Entwicklung einer ausgewogenen
Wirtschaftsstruktur unter besonderer Beruecksichtigung
des Mittelstandes geleistet."
Statt dessen zeigt die Entwicklung, dass die Wirt-
schaftspolitik mit schlagartiger Schocktherapie
vorgegangen ist, die auf jegliche Anpassungsperiode und
eine gezielte staatliche Struktur- und Industriepolitik
verzichtet. Sie verkehrt die Festlegung ueber die rasche
Entwicklung einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur ins
Gegenteil.
- Wirtschaftliche und finanzielle Kreislaeufe wurden
zerstoert, die Reproduktions- und Akkumulationskraft
Ostdeutschlands ausgehoehlt.
- Es findet eine Deindustrialisierung statt, wie sie
im modernen Industriezeitalter nicht anzutreffen
ist.
Die industriellen Leistungen gingen 1991 in
Ostdeutschland im Vergleich zu 1989 auf weniger als
ein Drittel zurueck; dementsprechend sank der Anteil
der neuen Bundeslaender an der industriellen
Fertigung der Bundesrepublik auf sechs Prozent (1989
hatte die DDR einen Anteil an der Fertigung beider
deutscher Staaten von etwa 20%); 1992 wird der
Anteil der Industrieproduktion bei nur vier % (!)
liegen.
- Die ostdeutsche Produktivitaet erreichte Mitte 1992
erst 36% jener in Westdeutschland; sie hatte vor der
Vereinigung bei rund 37% gelegen; ausgeblieben ist
die erhoffte grosse Investitionswelle.
- Die Zahl der in Forschung und Entwicklung
Beschaeftigten ist von 87 000 (1989) auf ca. 30 000
(1991) zurueckgegangen.
Der Prozess der Zerstoerung statt Anpassung - geschuldet
der Wirtschaftspolitik der Kohl-Regierung - ist eine
grobe Verletzung des Einigungsvertrages.
2. Fehlende Massnahmen zur Beschleunigung des wirt-
schaftlichen Wachstums
Artikel 28, Abs. 2 des Einigungsvertrages legt fest:
"Die zustaendigen Ressorts bereiten konkrete
Massnahmeprogramme zur Beschleunigung des
wirtschaftlichen Wachstums und des Strukturwandels in
dem in Artikel 3 genannten Gebiet vor."
Tatsaechlich sind solche Massnahmepogramme nur zoegerlich,
zu spaet, halbherzig und unvollkommen und ohne
durchgreifende Ergebnisse in Gang gesetzt worden.
Gemessen an den Ergebnissen, wurde der genannte Auftrag
des Einigungsvertrages nicht erfuellt.
- Nicht das im Artikel 28.2 genannte Wachstum, schon
gar kein beschleunigtes, bestimmt das Bild der
Wirtschaft, sondern weiterer Niedergang.
Waehrend 1989 der Anteil der DDR am Brut-
tosozialprodukt der beiden deutschen Staaten noch
bei 11-12% lag, ist er 1991 auf 7% zurueckgegangen,
bei 20% der Bevoelkerung und 30% der Flaeche der
jetzigen Bundesrepublik. Das Sozialprodukt 1990 und
1991 hat sich in Ostdeutschland gegenueber dem Aus-
gangsniveau 1989 halbiert (1990 minus 17%, 1991
minus 35%), der Rueckgang setzt sich 1992 fort.
- In den neuen Bundeslaendern existiert real eine
Beschaeftigungskatastrophe. Die Zahl der
Erwerbstaetigen ging von 9,7 Mio. 1989 auf 5,4 Mio.
1992 zurueck.
Die reale Arbeitslosenrate (unter Einbeziehung von
ABM-Stellen, Kurzarbeit, Umschulungen und
Vorruhestand) betraegt mehr als 30, in manchen Regio-
nen ueber 50% und wird fuer laengere Zeit in dieser
Groessenordnung verharren.
3. Nichtgewaehrung eines Praeferenzvorsprungs
Artikel 28, Abs. 2 des Einigungsvertrages sieht vor,
dass bei den genannten Massnahmeprogrammen, "ein
Praeferenzvorsprung zugunsten dieses Gebietes (gemeint
ist das Beitrittsgebiet - d.Vf.) sichergestellt" wird.
Ein wirksamer Praeferenzvorsprung ist jedoch trotz einer
Reihe von Investitionsanreizen weder hinsichtlich der
Produktion, der Investition, von Marktschutz und -
foerderung, der Auftragserteilung o.a. Bereiche in
wirksamen Groessenordnungen sichergestellt. So werden
ostdeutsche Firmen bei der Auftragsvergabe der
oeffentlichen Hand nicht nur bevorzugt, sondern klar
benachteiligt. Die Folge ist, dass der ueberwiegende Teil
der im Rahmen des sogenannten Programms "Aufschwung
Ost" bereitgestellten Mittel wieder an westdeutsche
Produzenten und Leistungstraeger zurueckfliesst und so
einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Basis der
neuen Laender verloren geht. Statt eingetragene Waren-
zeichen von DDR-Betrieben zu schuetzen, mussten solche
Warenzeichen, sobald eine Konkurrenzsituation eintrat,
mit Verweis auf groesseren Absatz der Westprodukte einge-
stellt werden. (Beispiel: Gothaplast). Potentielle
Kunden von Erzeugnissen aus Treuhandbetrieben wurden
damit verunsichert, dass die Treuhand gleichzeitig die
Betriebe und ihre Erzeugnisse zum Verkaufanboten und
damit den Kunden jedes Vertrauen nahm, dass er auf
Kundendienst und weitere Lieferungen bauen kann
(Beispiel: Schraubenwerk Finsterwalde).
4. Mangelnde Foerderung des Mittelstandes
Art. 28, Abs. 2 sieht weiter "Massnahmen zur raschen
Entwicklung des Mittelstandes" vor.
- In den zwei Jahren seit der staatlichen Vereinigung
sind zehntausende Handwerks-, Gewerbe- und
Kleinhandelsbetriebe gegruendet worden. Industriell
produzierende mittelstaendische Unternehmen machen
jedoch nur 5-6% der insgesamt ueber 400 000 Firmen in
Ostdeutschland aus, weil die Treuhandanstalt
nichteffektive kleine Betriebe geschlossen hat,
statt sie marktfaehig zu sanieren, um den Aufbau
mittelstaendischer Strukturen zu unterstuetzen. Diesen
Strukturmangel kritisiert auch die Deutsche Bank in
einer Mittelstandsstudie ueber Ostdeutschland vom
August 1992. Mehr als 50% von Gewerbeanmeldungen
erfolgen im Handels- und Gaststaettenbereich, doch
treten hier auch mit steigender Tendenz die meisten
Abmeldungen auf (im 1. Halbjahr 1992 49.344 An-
und 29.616 Abmeldungen). Weit mehr als die Haelfte
geben angesichts der Konkurrenz der Handelsketten
wieder auf. Insgesamt gesehen wird jede dritte
Gewerbeanmeldung wieder aufgegeben.
- Kreditmittel (z.B. aus dem ERP-Programm) stehen in
nicht geringem Masse zur Verfuegung, doch werden sie
infolge buerokratischer Hemmnisse und oft mangel-
hafter kommunaler Hilfe wenig wirksam, wie ost-
deutsche CDU-Abgeordnete kritisch an die Bonner
Regierungsadresse vermerken. Ebenso erfahren
ostdeutsche Handwerker und Kleinunternehmer starke
Benachteiligungen bei der Auftragsvergabe durch die
oeffentliche Hand.
- Existenzgefaehrdet wirken sich die ueberdimensionalen
Gewerberaummieten aus - vor allem in den Staedten.
Oft uebersteigen geforderte Mieten die Einnahmen der
Handwerker und Gewerbetreibenden und zwingen sie zur
Aufgabe. Begrenzungen oder Einfrieren wurden bisher
von Kommunen oder als zentrale Regelungen abgelehnt.
5. Fehlender Vertrauensschutz fuer und Foerderung von
Ostexporten
Art. 29 des Einigungsvertrages regelt, dass "die ge-
wachsenen aussenwirtschaftlichen Beziehungen" der
ostdeutschen Wirtschaft gegenueber den frueheren RGW-
Laendern "Vertrauensschutz" geniessen und "unter Be-
achtung der Interessen aller Beteiligten und unter
Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsaetze ...
fortentwickelt und ausgebaut" werden. Ebenso sieht Art.
28, Abs. 2 Wirtschaftsfoerderung fuer "RGW-
Exportproduktion" vor.
Die Bedeutung dieser Vertragsbestimmung wird daraus
ersichtlich, dass gerade fuer den industriellen Kern
Ostdeutschlands - Maschinen- und Fahrzeugbau,
Elektroindustrie, Chemie, Textil/Bekleidung - die
Abhaengigkeit vom Export in die GUS und andere osteu-
ropaeische Laender ausserordentlich hoch ist und bis heute
bei vielen Betrieben etwa 50% betraegt, was ein
Gefaehrdungspotential bedrohter Arbeitsplaetze von 700
000 bei etwa 1,6 Mio. verbliebenen
Industriearbeitsplaetzen bedeutet.
Trotz der Festlegungen des Einigungsvertrages sind
Ostexporte der Wirtschaft der ostdeutschen Laender
nahezu zusammengebrochen.
Der Rueckgang betrug:
1991 zu 1990 von Jan.-April 92
---------------------------------------------------
Insgesamt - 59,9% weitere -26,4%
GUS - 46,2% -16,2%
Polen - 66,1% -72,2%
CSFR - 81,0% -12,7%
Ungarn - 86,1% -55,1%
Rumaenien - 85,4% -85,3%
Bulgarien - 90,8% -72,3%
Die Bundesregierung und Bundeskanzler Kohl geben selbst
zu, dass sie die Bedeutung der Ostmaerkte fuer die
Entwicklung der ostdeutschen Industrie und auch die
Kompliziertheit der Erhaltung dieser Maerkte
unterschaetzt haben. So unterblieben ausreichende und
gezielte Massnahmen einer entsprechenden Ex-
portfoerderung, wie sie gerade Art. 29 und 28.2 des
Einigungsvertrages entsprochen haetten.
Auch gegenwaertig sind die Bemuehungen eher halbherzig
und inkonsequent, bzw. sollen sogar ganz eingestellt
werden. Unkonventionelle Massnahmen zur Foerderung und
Finanzierung der Ostexporte sind dringlich und nach
wirtschaftswissenschaftlichem Rat im Ergebnis billiger
als die Finanzierung von - erneut ansteigender -
Arbeitslosigkeit.
II. Verletzungen der treuhaenderischen Verwaltung des
volkseigenen Vermoegens
1. Aktive Sanierung fehlt
Artikel 25, Abs. 1 des Einigungsvertrages sieht vor:
"Die Treuhandanstalt ist auch kuenftig damit beauftragt,
gemaess den Bestimmungen des Treuhandgesetzes die
frueheren volkseigenen Betriebe wettbewerblich zu
strukturieren und zu privatisieren." - Wettbewerbliche
Strukturierung haette - wie auch der ermordete Treuhand-
Chef Rohwedder propagierte - "entschlossene Sanierung"
bedeutet.
Die Treuhand vernachlaessigte jedoch die Sanierung und
konzentrierte sich auf den Verkauf, die Privatisierung
volkseigenen Vermoegens.
"Die bisherige Strategie der Treuhand laeuft praktisch
darauf hinaus, dass kaum ein Unternehmen richtig saniert
wird" (Kilian Krieger, Berliner Geschaeftsfuehrer der
britischen Unternehmensberatung Price Waterhouse, die
im Auftrag der Treuhand Firmen verkauft). Unternehmen
wurden vor allem "passiv saniert", das heisst durch
Arbeitsplatzabbau und massive Personalreduzierung,
Streichung der Kosten fuer Forschung und Entwicklung,
Produktionsstillegung u.ae. Massnahmen.
Die von der Sache her notwendige Strukturanpassung
vollzieht sich bisher fast nur als Zerstoerung
vorhandener Strukturen und Produktionsverflechtungen,
ohne das neue wettbewerbsfaehige Strukturen in
ausreichendem Masse entstehen. Massenhaft wurden Ar-
beitsplaetze liquidiert, waehrend neue und wett-
bewerbsfaehige Arbeitsplaetze nur in geringem Masse
geschaffen wurden. Das Verhaeltnis von verlorenen zu
neugeschaffenen Arbeitsplaetzen betraegt etwa 10:1.
Hinzu kommt, nach eigenen Angaben der Treuhandchefin
Breuel, dass Kaeufer von Unternehmen etwa 20 - 30 Prozent
der Arbeitsplatzzusagen ueberhaupt nicht einhalten.
Fuer "aktive Sanierung" durch Investitionen in neue Produkte,
Produktionsverfahren, Vertriebssysteme u.ae. stellte die
Treuhand kaum Kredite zur Verfuegung. So wurde die Lage
der Wirtschaft noch verschaerft, wie die bereits genannten
Fakten zur gesamtwirtschaftlichen Krise in Ostdeutschland
verdeutlichen.
Wenn die Treuhand-Spitze nunmehr davon spricht, mit
Mitteln in Milliardenhoehe fuer Investitionen der
Sanierung und Umstrukturierung einen "entscheidenden
Push" zu geben und "einen Kraftakt zu versuchen", so
bedeutet dies zweierlei:
Einmal ist es das Eingestaendnis einer bisher versaeumten
konsequenten Sanierungspolitik und damit einer
Verletzung oder zumindest ungenuegenden Ausfuellung des
Einigungsvertrages und des Treuhandgesetzes.
Zum anderen zeigt sich darin, dass der Auftrag der
Treuhand zur Sanierung zu vage, nicht verpflichtend
genug formuliert ist und ungenuegend kontrolliert wird.
Eine Aenderung kaeme zwar sehr spaet, aber doch fuer Teile
der Wirtschaft noch im letzten Moment. Vorschlaege
liegen auf dem Tisch.
2. Treuhandauftrag zur Vermoegensverwendung verletzt
Artikel 25, Abs. 3 des Einigungsvertrages lautet:
"Die Vertragsparteien bekraeftigen, dass das volkseigene
Vermoegen ausschliesslich und allein zugunsten von
Massnahmen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet
unabhaengig von der haushaltsmaessigen Traegerschaft
verwendet wird."
Es ist jedoch ganz eindeutig, dass die Privatisie-
rungspolitik der Treuhand im Auftrage der Bundes-
regierung in zwei Richtungen eindeutige Nachteile fuer
das Beitrittsgebiet nach Artikel 3, die neuen Laender,
und Vorteile fuer das Unternehmer-Kapital in den alten
Bundeslaendern gebracht hat:
- Zum einen wurden unliebsame Konkurrenten, so im
Werkzeugmaschinenbau, in der Feinmechanik/Optik, in
der Nahrungsgueterindustrie u.a. Zweigen, beseitigt.
Dies geschah durch guenstigen Kauf solcher Kon-
kurrenten, ihre Einverleibung in das westdeutsche
Unternehmen oder Stillegung, aber auch durch andere
Massnahmen, bei der Treuhandentscheidungen
Hilfsdienste leisten. Selbst technische Neuerungen
in ostdeutschen Betrieben wurden unter vorge-
taeuschter Hilfe - oder Kaufabsichten (Beispiel
Motorradwerke Zschopau) entwendet.
- Zum anderen wurden Vermoegenswerte zu
Schleuderpreisen von der Treuhand erworben und
zusaetzliche Kapitalleistungen fuer Investitionen und
andere Massnahmen erpresst. Obwohl die Treuhand noch
keine Vermoegensbilanz vorgelegt hat, muss nach bisher
bekannt gewordenen Verkaufserloesen davon ausgegangen
werden, dass der durchschnittliche Preis der
Unternehmen bei nur etwa zehn Prozent des realen An-
lagewertes liegt. Zudem ermoeglicht die Aneignung
riesiger Immobilien und von Grund und Boden durch
westliche Kapitaleigentuemer kuenftige
Spekulationsgewinne nicht abzuschaetzenden Ausmasses.
Im Ergebnis bisheriger Privatisierung durch die
Treuhand ist eine enorme Vermoegensuebertragung von Ost
nach West vor sich gegangen, die den Artikel 25, Abs. 3
praktisch ins Gegenteil verkehrt.
3. Mangelnde Fach- und Rechtsaufsicht
Artikel 25, Abs. 1, Satz 3 des Einigungsvertrages
besagt, dass die Treuhandanstalt der "Fach- und
Rechtsaufsicht" des Bundesministers der Finanzen
unterliegt.
Die Aushoehlung einigungsvertraglicher Bestimmungen ueber
Pflichten der Treuhandanstalt korrespondiert so mit
mangelnder zentraler Fach- und Rechtsaufsicht ueber die
Treuhand, die der Bundesminister der Finanzen zu ver-
antworten hat. Dies gilt auch hinsichtlich der bekannt
gewordenen (aber auch vertuschten) Treuhandkriminalitaet
- der Vorteilsgewaehrung durch Treuhandvertreter
gegenueber westdeutschen Banken und Grossunternehmen
- der Vorteilsnahme aus der Doppelfunktion von
Treuhandfunktion und eigener Unternehmertaetigkeit
- der Auspluenderung und Ruinierung von Treuhandbetrieben
- der Taeuschung, des Betruges u.a. krimineller
Handlungen.
4. "Vergessene" Anteilsrechte
Artikel 125, Abs. 6 des Einigungsvertrages bestimmt:
"Nach Massgabe des Artikels 10, Abs. 6 des Vertrages vom
18. Mai 1990 (ueber die Wirtschafts-, Waehrungs- und
Sozialunion - d.Vf.) sind Moeglichkeiten vorzusehen, dass
den Sparern zu einem spaeteren Zeitpunkt fuer den bei der
Umstellung 2 : 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes
Anteilsrecht am volkseigenen Vermoegen eingeraeumt werden
kann."
Die Bundesregierung hat sich selbst nach nunmehr mehr
als zwei Jahren mit keinem Wort, keiner Initiative oder
Vorschlag zu dieser Frage in der Oeffentlichkeit
geaeussert. Antraege im Bundestag, die Bundesregierung
aufzufordern, eine Entscheidung zu erarbeiten, wurden
abgelehnt.
Das ist - selbst wenn Artikel 25, Abs. 6 keinen exakten
Zeitpunkt nennt - ein deutlicher Verstoss gegen einen
die Buerger der neuen Laender unmittelbar betreffenden
Auftrag des Einigungsvertrages. Diese Haltung verstoesst
insbesondere gegen die Interessen der aelteren
Buergerinnen und Buerger sowie von Menschen mit
Behinderungen. Sie koennten eine - zudem bewusst
hinausgeschobene - Ermittlung der Ertragsfaehigkeit des
volkseigenen Vermoegens nicht mehr erleben. Zugleich
sind sie durch ihren anteilig hohen Grundverbrauch am
Einkommen mit der Mietentwicklung, dem Vervielfachen
der Kosten in Alten- und Pflegeheimen, den gestiegenen
Energiekosten und Verkehrstarifen anteilig staerker
belastet als andere Bevoelkerungsschichten. Ausserdem
wurden auch die von den Buergerinnen und Buergern
angesparten Moeglichkeiten der Altersvorsorge ab-
gewertet. Zugleich hat die aeltere Generation nach dem
Zweiten Weltkrieg entbehrungsreiche Aufbauarbeit
geleistet. Doch auch fuer diese Gruppe von Buergerinnen
und Buergern wurde die Gewaehrung von Anteilsrechten von
Bundestag und Bundesregierung abgelehnt.
III Verstoesse gegen Eigentumsregelungen und vertragliche
Vereinbarungen im Agrarbereich
1. Aushoehlung der Bodenreform
Im Artikel 4 des Einigungsvertrages wurde festgelegt,
in das Grundgesetz einen neuen Artikel 143 einzufuegen
(mit Beschluss des Deutschen Bundestages am 20.9.1990
geschehen), der in seinem Absatz 3 festlegt, dass
"Artikel 41 des Einigungsvertrages und Regelungen zu
seiner Durchfuehrung auch insoweit Bestand (haben), als
sie vorsehen, dass Eingriffe in das Eigentum auf dem in
Artikel 3 dieses Vertrages genannten Gebiet nicht mehr
rueckgaengig gemacht werden."
Dieser Artikel 41 des Einigungsvertrages lautet:
Regelung von Vermoegensfragen
(1)Die von der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Deutschen
Demokratischen Republik abgegebene Gemeinsamen
Erklaerung vom 15. Juni 1990 zur Regelung offener
Vermoegensfragen (Anlage III) ist Bestandteil des
Vertrages.
...
(3)Im uebrigen wird die Bundesrepublik Deutschland
keine Rechtsvorschriften erlassen, die der in Absatz
1 genannten Gemeinsamen Erklaerung widersprechen.
Und in dieser Gemeinsamen Erklaerung wird definitiv
entschieden:
"Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw.
besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) sind
nicht mehr rueckgaengig zu machen. Die Regierungen der
Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik
sehen keine Moeglichkeit, die damals getroffenen
Massnahmen zu revidieren. Die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland nimmt dies im Hinblick auf
die historische Entwicklung zur Kenntnis. Sie ist der
Auffassung, dass einem kuenftigen gesamtdeutschen
Parlament eine abschliessende Entscheidung ueber etwaige
staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben
muss."
Damit wurde eine soziale und wirtschaftliche
Grundforderung der demokratischen Oeffentlichkeit der
DDR, mit der auch die CDU in den Wahlkampf zog, im
Einigungsvertrag festgeschrieben. Das betrifft im
besonderen die Enteignungen im Rahmen der Bodenreform.
Restitutionsansprueche sogenannter Alteigentuemer wurden
ausgeschlossen; allerdings die Moeglichkeit einer
Entscheidung zur Gewaehrung staatlicher Ausgleichslei-
stungen fixiert.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht hat am
23.4.1991 in einem Verfahren ueber Verfas-
sungsbeschwerden von Bodenreform-Enteigneten gegen die
am 20.9.1990 beschlossene Grundgesetzaenderung deren
Verfassungsmaessigkeit bestaetigt, die entsprechenden
Enteignungen als wirksam erklaert, Rueckgaben
ausgeschlossen, aber auf eine Ausgleichsregelung
hingewiesen.
Einigungsvertrag, Grundgesetzergaenzung und
Verfassungsgerichtsurteil werden jedoch durch die
seitherige Praxis ausgehoehlt:
- Obwohl bereits mit dem Einigungsvertrag - also noch
vor der Herstellung der staatlichen Einheit -
eindeutig geregelt war, dass keine Rueckgabe land- und
forstwirtschaftlicher Grundstuecke an zwischen 1945
und 1949 Enteignete erfolgt, wurde bis zum heutigen
Tag nicht ueber die langfristige Verfuegung der in
Verwaltung der Treuhandanstalt (seit 1.7.1992 in
Verwaltung der Bodenverwertungs- und -verwal-
tungsgesellschaften GmbH) befindlichen Grundstuecke
entschieden. Die Bewirtschaftung dieses Bodens wurde
bisher ueber einjaehrige Pachtvertraege gesichert. Da
das im Durchschnitt ein Viertel des Bodenfonds der
LPG-Nachfolgeunternehmen betrifft, besteht fuer diese
Betriebe, die immerhin drei Viertel der
landwirtschaftlichen Flaeche der neuen Bundeslaender
bewirtschaften, Rechtsunsicherheit mit erheblichen
betriebswirtschaftlichen und sogar existenzbedro-
henden Konsequenzen.
- Einen fruehzeitigen Beleg dieser Aushoehlungspolitik
lieferte der bayerische Ministerpraesident Streibl
mit einem Brief an Bundesfinanzminister Waigel vom
16.10.1990, in dem er bittet, "... sicherzustellen,
dass die in den Jahren 1945 bis 1949 Enteigneten
durch Zwischenverfuegungen und Verpachtungen keinen
Schaden erleiden und nicht vor vollendete Tatsachen
gestellt werden." Bis heute erhielten die
Agrarbetriebe keine Zwoelfjahrespachtvertraege.
- Gemaess dem am 1.7.1992 veroeffentlichten
Eckwertepapiere der Gerster-Kommission der
Bundestags-Fraktion der CDU/CSU fuer ein
Entschaedigungsgesetz, in dem auch die
Ausgleichsleistungen fuer mit der Bodenreform
Enteignete geregelt werden sollen, ist ein
Wiedereinrichterprogramm vorgesehen. Es soll den
nichtrestitutionsberechtigten Alteigentuemern den
grosszuegig subventionierten Erwerb von Grundstuecken
auf Basis Kauf-Pacht ermoeglicht. Dagegen sollen Neu-
einrichter sowie Bauern aus eingetragenen
Genossenschaften und Gesellschafter anderer LPG-
Nachfolgeunternehmen nicht in dieses Programm
einbezogen werden. Die Folge waere eine weitgehende
Restauration der Eigentumsverhaeltnisse von vor 1945
und ein Entzug der Produktionsbasis der LPG-
Nachfolgeunternehmen.
2. Verschleppung der Entschuldung in der Landwirtschaft
Im Artikel 25, Abs. 3 des Einigungsvertrages ist festgelegt:
"Im Rahmen der Strukturanpassung der Landwirtschaft
koennen Erloese der Treuhandanstalt im Einzelfall auch
fuer Entschuldungsmassnahmen zugunsten von land-
wirtschaftlichen Unternehmen verwendet werden. Zuvor
sind deren eigene Vermoegenswerte einzusetzen. Schulden,
die auszugliedernden Betriebsteilen zuzuordnen sind,
bleiben unberuecksichtigt. Hilfe zur Entschuldung kann
auch mit der Massgabe gewaehrt werden, dass die Unterneh-
men die gewaehrten Leistungen im Rahmen ihrer
wirtschaftlichen Moeglichkeiten ganz oder teilweise
zurueckerstatten."
Diese Regelung erfolgte aufgrund der starken und
zugleich sehr differenzierten Altschuldenbelastung in
Hoehe von insgesamt 7,6 Mrd. DM, die fuer einen Teil der
Unternehmen existenbedrohend ist. Mit einem Volumen von
1,4 Mrd. DM machte die Bundesregierung von dieser im
Einigungsvertrag gegebenen Moeglichkeit Gebrauch.
Antraege auf Entschuldung konnten bis 31. Maerz 1991
gestellt werden. Seitens der Treuhandanstalt wurden
zwischenzeitliche Entschuldungsbescheide verschickt.
Bis Mitte August 1992 beliefen sich die tatsaechlich
realisierten Entschuldungsvereinbarungen auf nicht
einmal 20 Mill. DM. Ursache dieses unzureichenden
Standes ist die praktizierte Verknuepfung von
Teilentschuldung und Regelung der Behandlung der ver-
bliebenen Altschulden. Hierfuer setzte der
Bundesfinanzminister betrieblich kaum akzeptierbare
Bedingungen; zugleich verschleppen die Banken den
Abschluss von Rangruecktrittsvereinbarungen. Eine Folge
ist, dass bereits fuer eine Reihe von Betrieben jede Ent-
schuldung aufgrund Gesamtvollstreckung (Konkurs) zu
spaet kommt und der groesste Teil der Betriebe infolge der
Verschleppung der Entschuldung keine Investiti-
onskredite und damit auch keine investiven Foerde-
rungsmittel erhaelt. Damit widerspricht die Entschul-
dungspraxis dem Geist der Regelung im Artikel 25
Einigungsvertrag.
3. Verletzung des Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG).
Im Einigungsvertrag, Anlage II, Kapitel VI. ist ge-
regelt, dass das Landwirtschaftsanpassungsgesetz vom 24.
Juni 1990 (LAG) zum fortgeltenden DDR-Recht gehoert. In
diesem Gesetz ist u.a. folgendes festgelegt:
2 Gleichheit der Eigentumsformen
Alle Eigentums- und Wirtschaftsformen, die baeuerlichen
Familienwirtschaften und freiwillig von den Bauern
gebildete Genossenschaften sowie andere
landwirtschaftliche Unternehmen erhalten im Wettbewerb
Chancengleichheit.
3 Zielbestimmung des Gesetzes
Dieses Gesetz dient der Entwicklung einer vielfaeltig
strukturierten Landwirtschaft und der Schaffung von
Voraussetzungen fuer die Wiederherstellung leistungs-
und wettbewerbsfaehiger Landwirtschaftsbetriebe, um die
in ihnen taetigen Menschen an der Einkommens- und Wohl-
standsentwicklung zu beteiligen.
Mit Geltung vom 7. Juli 1991 an wurde dieses
Landwirtschaftsanpassungsgesetz neu gefasst.
- Die von der Bundesregierung gesetzten
Rahmenbedingungen gewaehrleisten jedoch keineswegs
die im 2 LAG verankerte Chancengleichkeit aller
Eigentums- und Wirtschaftsformen. LPG-
Nachfolgeeinrichtungen, insbesondere Genossen-
schaften, werden diskriminiert. Zum Beispiel gingen
1991 in PG-Nachfolgeeinrichtungen lediglich 7,5
Prozent der eingesetzten bzw. 4,7 Prozent der im
Haushalt vorgesehenen Mittel fuer die
einzelbetriebliche Investitionsfoerderung (Zuschuesse
und Zinsverbilligung). Der grosse Rest ging in
Familienbetriebe bzw. wurde umgeschichtet. Eine
Wende zeichnet sich auch 1992 nicht ab. Die
Beispiele waeren fortsetzbar.
- Mit der Novellierung des LAG wurde als Kernfrage
die Vermoegensauseinandersetzung in der LPG neu
geregelt. Die danach verbindliche Aufteilung des
Eigenkapitals wird der historischen und oekonomischen
Entwicklung der LPG in keiner Weise gerecht. Die
Folgen sind eine im Ausmass nicht gerechtfertigte
Kapitalumverteilung an landbesitzende Mitglieder,
ein Kapitalabfluss, der in seiner Hoehe weder wirt-
schaftlich begruendet noch vertretbar ist und eine
vielfache Zerstoerung der Genossenschaften aufgrund
des vom Gesetzgeber verschaerften statt entspannten
Interessenkonflikts. Damit wendet sich die
Novellierung gegen die zitierte und laut
Einigungsvertrag geltende Zielstellung des Gesetzes.
IV. Frauen als Verliererinnen der Einheit
1. Statt weiterentwickelter Gleichberechtigung -
Vertiefung der Ungleichheit
Artikel 31, Abs. 1 des Einigungsvertrages besagt:
"Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die
Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Maennern
und Frauen weiterzuentwickeln."
Mit dieser Festlegung haette man die Hoffnung auf
gesetzgeberische Schritte und praktische Verbesserungen
der Lage der Frauen in Ost wie West verbinden koennen.
Tatsache ist jedoch, dass sich im direkten Gegensatz zur
Verpflichtung des Artikels 31 die Lage der Frauen in
Ostdeutschland sozial und rechtlich besonders
tiefgehend verschlechtert hat.
Frauenrechte und sozialpolitische Massnahmen, in der DDR
selbstverstaendlich, wurden rigoros abgebaut.
- Der Anteil der Frauen an der Erwerbslosigkeit
betraegt inzwischen 67,2 Prozent und steigt weiter.
Die offizielle Arbeitslosenquote liegt mit etwa 25 %
weit ueber jener der Maenner. Sie werden weniger in
neue Arbeitsplaetze vermittelt als Maenner, ihr Anteil
an VorruhestaendlerInnen liegt weit ueber dem der Maen-
ner. Es fehlt in der Arbeitsmarktpolitik an
gezielten Massnahmen gegen Frauenarbeitslosigkeit wie
etwa die Vergabe von mindestens der Haelfte der
Arbeits- und Ausbildungsplaetze an Frauen, besonders
alleinerziehende und junge Frauen.
- Stattdessen werden Frauen aus dem Erwerbsleben
massiv und systematisch an Heim und Herd gedraengt,
von qualifizierten Berufen und Aufstiegschancen
ausgeschlossen.
Sie sind ihrer Rechte auf eigenstaendige Lebens- und
Berufsplanung verlustig gegangen. Mit Vorruhestand,
Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit erfolgt eine Erosion
ihrer sozialen Identitaet.
- Genommen wird den Frauen mit dieser Entwicklung
ihre soziale und oekonomische Eigenstaendigkeit. Sie
werden wieder verstaerkt ueber den Mann definiert und
sind von diesem abhaengig. Sozialhilfe oder
Arbeitslosengeld statt eigenem Einkommen, Minirenten
im Alter, soziale Degradierung und Armut nehmen zu.
Im Vergleich zu den Maennern niedrigere Loehne druecken
Vorruhestands- oder Altersuebergangsgeld nach unten,
das wiederum senkt die Altersrente. Armut droht auch
alleinerziehenden, auslaendischen und behinderten
Frauen. Von den Ende 1989 in der DDR ausgewiesenen
340 000 alleinerziehenden Muettern ist heute bereits
jede sechste ohne Erwerbsarbeit.
- Statt im Einigungsvertrag angekuendigter
weiterentwickelter Gleichberechtigung ist der
Aufschwung patriarchalischer Tendenzen und
reaktionaerer Frauenpolitik kennzeichnend.
Frauenfeindlichkeit, Gewalt gegen Frauen und Maedchen
sind an der Tagesordnung. Den Frauen wird das
Selbstbestimmungsrecht ueber den eigenen Koerper
abgesprochen und den neuen Laendern der
frauenfeindliche 218 mit Zwangsberatung
uebergestuelpt.
2. Entzug von Grundlagen fuer die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf
Artikel 31, Abs. 2 bestimmt als "Aufgabe des ge-
samtdeutschen Gesetzgebers, angesichts unter-
schiedlicher rechtlicher und institutioneller Aus-
gangssituationen bei der Erwerbstaetigkeit von Muettern
und Vaetern die Rechtslage unter dem Gesichtspunkt der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten."
In der Realitaet ist ein Entzug bisheriger Grundlagen
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf fuer die
Mehrheit der ostdeutschen Frauen eingetreten.
Zahlreiche sozialpolitische Massnahmen in der DDR hatten
gerade die Frauen als Zielgruppe. Abschaffung oder Ein-
schraenkung dieser Rechte - im Widerspruch zum zitierten
Art. 31 Abs. 2 und Abs. 3 (Weiterfuehrung der
Einrichtungen zur Tagesbetreuung der Kinder) - trifft
die Frauen hart.
- Die Schliessung von Kindertagesstaetten, die
Verkuerzung der Oeffnungszeiten von Kitas und Horten
sowie die Verteuerung der Plaetze verschlechtern die
Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung fuer
nicht wenige Frauen drastisch und zwingen sie zurueck
in den Haushalt.
- Der im Vergleich zu den alten Laendern weitaus
grosszuegigere Schwangerschafts- und Wochenurlaub
wurde radikal gekuerzt. Die Freistellung zur Pflege
kranker Kinder und der besondere Kuendigungsschutz
fuer Alleinerziehende fielen entweder Ende 1991 weg
oder wurden durch unguenstigere bundesdeutsche
Regelungen ersetzt. Die in der DDR stark
ausgepraegten Elemente einer eigenstaendigen sozialen
Sicherung der Frauen werden durch die weitgehende
Uebernahme der BRD-Sozialverfassung auf bun-
desdeutsches Marginal-Niveau reduziert. Besonders
dramatisch wirkt sich dies fuer alleinerziehende
Frauen aus.
- Auch andere neue Regelungen verschlechtern die
Situation. So verschlechtert sich mit dem
Unterhaltsvorschussgesetz das Prinzip der
Besitzstandswahrung. (Gewaehrung von Un-
terhaltsvorschuss anstatt bis zum 18. Lebensjahr fuer
die Dauer von 216 Monaten nur noch bis zum 12.
Lebensjahr fuer 72 Monate).
Das in der Regel der Mutter gezahlte Erziehungsgeld
von 600,-- DM liegt weit unter ihrem bisherigen
monatlichen Durchschnittsverdienst. Die im
Bundeserziehungsgeldgesetz eingeraeumte Wahlfreiheit
der Eltern, wer von ihnen Leistungen in Anspruch
nimmt, wird durch den ca. 30 % geringeren Verdienst
von Frauen aus materiellen Erwaegungen heraus in der
Familie vorbestimmt.
Bei der Regelung ueber 600,-- DM Erziehungsgeld ist
ausserdem das Existenzminimum weder eines Elternteils
noch des Kindes gesichert, geschweige denn das von
Alleinerziehenden mit mehreren Kindern.
V. Bruch und Aushoehlung rentenrechtlicher Regelungen
1. Rentenkuerzungen
Es muss zunaechst festgestellt werden, dass das
Rentenueberleitungsgesetz, erlassen aufgrund Artikel 30,
Abs. 5 des Einigungsvertrages, in mehrfacher Hinsicht
das Grundgesetz verletzt und auch gegen die generelle
Zielvorgabe fuer die Rentenueberleitung laut Eini-
gungsvertrag verstoesst, dass
"die Ueberleitung von der Zielsetzung bestimmt sein
(soll), mit der Angleichung der Loehne und Gehaelter in
im in Artikel 3 genannten Gebiet an diejenigen in den
uebrigen Laendern auch eine Angleichung der Renten zu
verwirklichen".
Ueber eine Million Rentner erhalten mit der Ueberleitung
durch den Wegfall unterschiedlicher Zuschlaege jedoch
eine gekuerzte Altersversorgung. Ohnehin schon
schlechter gestellt als die noch arbeitende Bevoelkerung
Ostdeutschlands, deren Tarifvertraege gegenwaertig 60 -
65 % der Einkommen von Vergleichsgruppen der alten
Bundeslaender vorsehen, liegen fuer sie die Renten nach
der Beschlussfassung im Durchschnitt bei 50,8 %
vergleichbarer Altersbezuege in den westlichen Laendern,
obwohl die Lebenshaltungskosten inzwischen nahezu
gleich sind.
2. Rentenstrafrecht
Das Rentenueberleitungsgesetz betaetigt sich gegenueber
Empfaengern und Empfaengerinnen von Zusatz- und
Sonderversorgungen als politisches Strafrecht.
Dabei bricht es bewusst und gewollt die Regelungen des
Einigungsvertrages, wie die Begruendung zum
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vom 23.4.1991,
Drucksache 12/405 des Deutschen Bundestages expressiv
verbis ausweist:
"Nach dem Einigungsvertrag sind Ansprueche und
Anwartschaften aus Zusatz- und Son-
derversorgungssystemen in die Rentenversicherung zu
ueberfuehren. Der Einigungsvertrag sieht hierfuer
bestimmte Massgaben vor, deren Einhaltung weder zu
sachgerechten noch zu sozialpolitisch vertretbaren
Ergebnissen fuehren wuerde. Die Vorgaben des
Einigungsvertrages hinsichtlich einer Ueberfuehrung durch
Rechtsverordnung sind deshalb nicht einzuhalten."
Im Konkreten bedeutet dieser Vertragsbruch:
- Kappung der Altersversorgung fuer rund 360 000
Bezieherinnen und Bezieher und rund 1 Million
Anwartschaften (also Wirkung noch rund 30 Jahre) von
Zusatz- und Sonderversorgungen
- Das sind die Angehoerigen der wissenschaftlich-
technischen, kuenstlerischen, aerztlichen und paedago-
gischen Intelligenz, des Staatsapparates, der
Parteien und gesellschaftlichen Organisationen sowie
der bewaffneten Organe der DDR.
- Anerkannt wird nicht das tatsaechliche Einkommen bei
der Rentenberechnung, sondern nur ein bestimmter
Prozentsatz des jaehrlichen Durchschnittseinkommens
aller Beschaeftigten von 180 % fuer die Intelligenz,
100 % fuer die "staatsnah" Beschaeftigten und 70 % fuer
MfS-Angehoerige mit sofortiger Kuerzung auf max. 802
DM.
3. Verstoss gegen Vertrauens- und Besitzbestandsschutz
In der Anlage II des Einigungsvertrages, Kapitel III,
Sachgebiet H (gesetzliche Rentenversicherung) Abschnitt
III, Ziffer 9b (Regelungen fuer Sonder- und
Zusatzversorgungssysteme) heisst es:
"Bei Personen, die am 3. Oktober 1990 leistungs-
berechtigt sind, darf bei der Anpassung nach Satz 3 Nr.
1 der Zahlbetrag nicht unterschritten werden, der fuer
Juli 1990 aus der Sozialversicherung und dem
Versorgungssystem zu erbringen waren. Bei Personen, die
in der Zeit vom 4. Oktober 1990 bis 30. Juni 1995
leistungsberechtigt werden, darf bei der Anpassung nach
Satz 3 Nr. 1 der Zahlbetrag nicht unterschritten
werden, der fuer Juli 1990 aus der Sozialversicherung
und dem Versorgungssystem zu erbringen gewesen waere,
wenn der Versorgungsfall am 1. Juli 1990 eingetreten
waere."
Dieser Bestandsschutz wird durch das Renten-
ueberleitungsgesetz, bzw. das Anspruchs- und An-
wartschaftsueberleitungsgesetz in doppelter Weise
aufgeloest.
- er gilt nur bis zu einem Hoechstbetrag von 2.010,-- DM,
- er gilt nur fuer bestehende Versorgungen und
Neuzugaenge bis Ende 1993.
Beide Regelungen - und darauf beruhende Entscheidungen
- verstossen gegen den Einigungsvertrag und stellen
Vertrags- und Vertrauensbruch dar.
Dies bestaetigten auch zwei Entscheidungen des
Sozialgerichtes Berlin zu der Frage, ob Altersver-
sorgungen aus Zusatzversorgungssystemen der Intelligenz
auf den Hoechstbetrag gekuerzt werden durften.
"Das Gericht verurteilte die BfA dazu, die Kuerzungen
rueckgaengig zu machen und den Klaegern mindestens den
Gesamtzahlbetrag weiterhin monatlich zu gewaehren, der
ihnen fuer den Monat Juli 1990 zugestanden hatte. Das
Gericht stuetzte sich dabei auf die Bestandsgarantie des
Einigungsvertrages: Der Einigungsvertrag schreibt vor,
dass auch bei der zukuenftigen Anpassung von Altersrenten
aus der Zusatzversorgung der Zahlbetrag nicht
unterschritten werden darf, der fuer Juli 1990 zu
gewaehren war."
(Zitiert aus Pressemitteilung des Praesidenten des
Sozialgerichts Berlin vom 13. Maerz 1992)
4. Kuerzung oder Aberkennung von Ehrenpensionen
(Entschaedigungsrenten)
Der Einigungsvertrag sah in Anlage II, Kapitel VIII,
Sachgebiet H, Abschnitt III, Punkt 5 die Moeglichkeit
einer Kuerzung von Ehrenpensionen fuer Verfolgte des
Faschismus vor.
Mit einem Entschaedigungsrentengesetz wird jedoch
angestrebt
- einer pauschalen Kuerzung der Ehrenpensionen Tuer
oder Tor zu oeffnen
- Aberkennungen vorzunehmen
- eine Verfahrensregelung einzufuehren, die ueber den
Einigungsvertrag und seine Durchfuehrungs- und
Auslegungsvereinbarungen hinausgeht und schaerfer als
im Rentenueberleitungsgesetz fixiert ist.
Die Ehrenpension erhielten noch rund 9.000 Personen,
davon ein Drittel als Kaempfer gegen Faschismus 1.700
DM, ein Drittel als Verfolgte das Faschismus 1.400 DM
(jetzt als Entschaedigungsrenten einheitlich 1.400 DM),
das letzte Drittel sind Hinterbliebene. Etwa drei
Viertel der Bezieherinnen und Bezieher der Ehrenpension
sind ueber 75 Jahre alt, die Haelfte gar ueber 80 und
knapp ein Viertel ueber 85 Jahre. Es sind also nicht
vorrangig die finanziellen Belastungen, die die
Bundesregierung zum Handeln treiben, sondern politische
Absichten.
VI. Verstoesse gegen weiter Sozialbestimmungen
1. Mietenexplosion ohne Einkommenszuwaechse
Anlage I des Einigungsvertrages, Kapitel XIV, Abschnitt
II, Punkt 7 (Aenderung des Gesetzes zur Regelung der
Miethoehe) ermaechtigt die Bundesregierung durch
Rechtsverordnung, "den hoechstzulaessigen Mietzins unter
Beruecksichtigung der Einkommensentwicklung
schrittweise" zu erhoehen.
Sowohl mit der ersten (zum 1. 10. 1991) als auch mit
der zweiten (zum 1. 1. 1993) Verordnung ueber die
Erhoehung der Grundmieten wird gegen diese Festlegung
verstossen.
- Die im Einigungsvertrag enthaltene Formulierung,
die die Bundesregierung ermaechtigt, "... den
hoechstzulaessigen Mietzins unter Beruecksichtigung der
Einkommensentwicklung" festzusetzen, wurde offenbar
mit Absicht so unverbindlich gewaehlt. Sie sollte den
Eindruck erwecken, dass die Miete etwa im Gleich-
schritt mit der Einkommenssteigerung angehoben
werden sollte. Darueber hinaus verdeckte der Begriff
"Mietzins" - in der DDR im landlaeufigen Sinne als
Bruttomiete verstanden - die Tatsache, dass die
Betriebskosten um ein Mehrfaches schneller als die
Grundmieten steigen wuerden.
Das Ergebnis ist, dass mit der am 1. 10. 1991 wirksam
gewordenen Mieterhoehung (einschliesslich Be-
triebskostenumlagen) die Wohnkosten in den ostdeutschen
Laendern auf das Vier- bis Siebenfache angestiegen sind.
Die ab 1. 1. 1993 wirksam werdende 2. Mieterhoehung
steigert diese Erhoehung noch erheblich weiter bis auf
das Neun- bis Zehnfache. Fuer die Einkommensentwicklung
gibt es keine verlaesslichen Daten. Die Bundesregierung
stuetzt sich auf Schaetzungen und Durchschnittsangaben,
um einen Mietanstieg im Gleichklang mit den Einkommen
zu behaupten. Gerade hier liegt die Verfaelschung des
Einigungsvertrages.
Angesichts des generell niedrigen Einkommensniveau in
den ostdeutschen Laendern bedeutet eine solche enorme
Mietsteigerung eine krasse Veraenderung der Verwendungs-
struktur des Haushaltseinkommens. Fuer Arbeitslose und
Rentner ist dabei - trotz Wohngeld - die Verminderung
des nach Mietzahlung verfuegbaren Einkommens noch staer-
ker.
Analyse des Deutschen Mieterbundes fuer Ostberlin:
Rund 10 Prozent aller Haushalte muessen auch mit
Wohngeld mehr als 30 Prozent ihres Haushaltseinkommens
fuer die Miete einsetzen. 18 Prozent der Haushalte
zahlen mehr als ein Viertel ihres Einkommens. Bei Ein-
Personen-Rentnerhaushalten muss jeder fuenfte - trotz
Wohngeld - ueber 30 Prozent der Rente fuer die Wohnung
ausgeben, und rund ein Drittel dieser Haushalte zahlt
mehr als ein Viertel der Rente.
- Der Einigungsvertrag enthaelt keine direkte Aussage
ueber den kuenftigen Status der bisher volkseigenen
bzw. genossenschaftlichen Wohnungen. Bei sinngemaesser
Anwendung des BRD-Rechtes haetten diese Wohnungen
aufgrund der Tatsache, dass ihr Bau zum groessten Teil
mit oeffentlichen Mitteln aus dem Staatshaushalt fi-
nanziert wurde, den Status von Sozialwohnungen mit
entsprechenden Konsequenzen fuer Mietpreis- und Bele-
gungsbindung erhalten muessen. Das ist nicht ge-
schehen. Mit einem ganz ueblen Trick - fuer ehemalige
DDR-Buerger nicht durchschaubar - wurden diese rund
vier Millionen Wohnungen dem Gesetz zur Regelung der
Miethoehe unterworfen und damit hinsichtlich der
Mietpreisbildung dem sogenannten freifinanzierten
Wohnungsbau gleichgestellt. Im neu hinzugefuegten
Paragraphen 11 des Miethoehegesetzes heisst es dazu in
Absatz 3: "... den hoechstzulaessigen Mietzins...
schrittweise mit dem Ziel zu erhoehen, die in Para-
graph 2 Absatz 1, Satz 1 Nr. 2 bezeichnete Miete
zuzulassen." Hinter diesem Juristenkauderwelsch
verbirgt sich die sogenannte ortsuebliche Ver-
gleichsmiete. Damit hat sich die Lage in den
ostdeutschen Laendern gegenueber den Altbundeslaendern
und Westberlin, wo es noch einen Teil Sozial-
wohnungen gibt, verschlechert.
2. Aushoehlung gesundheitlicher Grundsatzbestimmungen
Krankenkassen
Die Festlegungen des Einigungsvertrages schufen
faktisch eine zeitweilige "Regionalisierung" in Alt-
und Neubundeslaender.
So heisst es im Einigungsvertrag, Anlage 1, Kap.
VIII, Sachbiet G, Abschnitt II:
Paragr. 313 Finanzierung
(1) Bis zur Angleichung der wirtschaftlichen Ver-
haeltnisse in dem in Artikel 3 des Eini-
gungsvertrages genannten Gebiet an das Niveau im
uebrigen Bundesgebiet haben Krankenkassen, die
ihre Zustaendigkeit auf das in Artikel 3 des Ei-
nigungsvertrages genannte Gebiet erstrecken, in
Ergaenzung der in 220 vorgesehenen Regelungen
in ihrem Haushalt die Einnahmen und Ausgaben fuer
die Durchfuehrung der Versicherung in diesem Ge-
biet getrennt auszuweisen. Dies gilt auch fuer
den Rechnungsabschluss sowie fuer Ge-
schaeftsuebersichten und Statistiken. Die Kran-
kenkassen duerfen fuer die Finanzierung der Aus-
gaben, die auf das in Artikel 3 des Einigungs-
vertrages genannte Gebiet entfallen, nur die
Einnahmen aus der Durchfuehrung der Versicherung
in diesem Gebiet verwenden; entsprechend ist ein
besonderer Beitragssatz festzulegen.
Die Krankenkassen in den neuen Bundeslaendern haben
1991 ein Finanzvolumen von fast 2,6 Mrd. angespart.
Bisherige Schaetzungen sagen fuer 1992 in den Kran-
kenkassen Ost ein Defizit von ca. 250 Mio DM voraus,
was nur ein Bruchteil (9,6 %) der Einsparsumme 1991
ausmacht.
Durch das sich gegenwaertig in der parlamentarischen
Debatte befindliche Gesundheitsstrukturgesetzt (soll
noch im Oktober 1992 verabschiedet werden), wird der
erwaehnten zweiteiligen Regionalisierung, ein-
schliesslich der vorerst getrennten Kassenfuehrung,
sowie der konkreten Situation der Leistungsempfaenger
und Leistungsanbieter in den neuen Bundeslaendern
nicht entsprochen. Der Gesetzenwurf basiert allein
auf der Analyse der Situation in den alten
Bundeslaendern, die erweiterten Zuzahlungen in Hoehe
von 3,2 Mrd. DM, die Einsparungen bei Aerzten, der
Pharmaindustrie usw. betreffen jedoch die Alt- wie
Neubundeslaender. Die ausschliesslich im Westen
entstandenen Defizite sollen also durch den Osten
mit getragen werden. Von dieser geplanten Nicht-
einhaltung des Einigungsvertrages sind alle fuer in
der DDR gesetzlich Versicherten und auch die dort
angesiedelten Leistungsanbieter (z.B. die
zwangsniedergelassenen aelteren Aerzte und Aerztinnen)
betroffen.
Gesundheitswesen - stationaere Versorgung
Artikel 33 des Einigungsvertrages besagt:
"(1) Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die Vor-
aussetzungen dafuer zu schaffen, dass das Niveau
der stationaeren Versorgung der Bevoelkerung in
dem in Artikel 3 genannten Gebiet zuegig und
nachhaltig verbessert und der Situation im
uebrigen Bundesgebiet angepasst wird."
Die Finanzierung des auf ueber 30 Mrd. DM geschaetzten
investiven Nachholebedarfs muesste durch ein auf ca.
zehn Jahre angelegtes gemeinsames Investitions-
programm von Bund und den neuen Laendern gesichert
werden.
In ihrer Antwort auf eine Anfrage nach der Art der
Realisierung des Auftrages des Art. 33 Einigungs-
vertrag nimmt sich die Bundesregierung jedoch ab
Anfang 1993 aus der Verantwortung fuer eine zuegige
und nachhaltige Verbesserung der Situation in den
neuen Bundeslaendern heraus, indem sie den investiven
Nachholebedarf fuer Krankenhaeuser den Laendern und
Kommunen ueberlaesst.
Es heisst in Drucksage 12/3115 des Deutschen
Bundestages vom 29.7.92: "Die neuen Laender haben
jetzt die Aufgabe, mit ihrer gestaerkten Fi-
nanzausstattung ihre originaeren Aufgaben zu erfuel-
len. Zusaetzliche Mittelzuweisungen fuer Einzelbe-
reiche sind nicht moeglich. Auch eine Ausnahme
zugunsten der Krankenhaeuser ist derzeit nicht
machbar."
Der Verweis auf die "gestaerkte Finanzausstattung"
der neuen Laender ist angesichts ihrer prekaeren
Haushaltslage eine Verhoehnung des Ei-
nigungsvertrages. Die Defizite der ostdeutschen
Laender und Gemeinden steigen von 9,3 Mrd. DM 1991
auf 33,8 Mrd. DM 1994 und 1995 gar auf 62 Mrd. DM
(Berechnungen des DIW).
Gesundheitswesen - ambulante Behandlung
Anlage I des Einigungsvertrages, Kapitel VIII,
Sachgebiet t, Abschnitt II hatte festgelegt, dass in
den neuen Laendern aerztlich geleitete kommunale,
staatliche und freigemeinnuetzige Gesundheitsein-
richtungen, einschliesslich Polikliniken, Ambulato-
rien u.a. kraft Gesetzes bis 31.12.1995 zur am-
bulanten Versorgung zuzulassen sind und eine
Verlaengerung der Zulassung moeglich ist. Die am-
bulante Versorgung wird im bundesdeutschen Gesund-
heitssystem durch den Sicherstellungsauftrag ueber
die kassenaerztliche Vereinigung niedergelassener
Aerzte organisiert.
Obwohl seit mehr als zehn Jahren allen Gesund-
heitspolitikern klar ist, dass dieses System kosten-
treibend und dringend reformbeduerftig ist, wurde die
Versorgung in den neuen Bundeslaendern gleichartig
gestaltet.
Polikliniken, staatliche Arztpraxen, Dispensaireein-
richtungen wurden abgewickelt und liquidiert.
In der Existenzberechtigung von Polikliniken und
Ambulatorien in den neuen Bundeslaendern bis 31. 12.
1995 sah die kassenaerztliche Vereinigung der nieder-
gelassenen Aerzte ihre Monopolstellung in der ambu-
lanten Versorgung gefaehrdet und trieb - entgegen den
Festlegungen des Einigungsvertrages - zusammen mit
kommunalen und Landesbehoerden einen Grossteil der
Aerztinnen und Aerzte in die Niederlassung (derzeit
ca. 90 %). Mehr als ein Drittel davon sind aelter als
50 Jahre. Muessen diese mit 65 Jahren in den Ruhe-
stand (wie es das Gesundheitsstrukturgesetz
vorsieht), ist ihre Existenz und Alterssicherung
gefaehrdet. Hier haben Kommunal-, Landes- und
Bundespolitiker versagt, denn Alterna-
tivvorstellungen fuer die ambulante Versorgung sind
heute mehr denn je gefragt.
VII. Zerstoerung der geistig-kulturellen Struktur
1. Untergrabung statt Erhaltung kultureller Substanz
"Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten
Gebiet darf keinen Schaden nehmen." (Art. 35.2 des
Einigungsvertrages). Diese Grundaussage des Kapitels
VIII. des Einigungsvertrages ueber Kultur, Bildung und
Wissenschaft, Sport ist zu einer leeren Huelse geworden.
Die kulturelle Substanz hat nicht nur Schaden genommen,
sondern ist in ihrer Existenz bedroht.
- Seit der Vereinigung mussten in den neuen
Bundeslaendern jedes zweite Kino und jede vierte
Bibliothek schliessen, die Zahl der Kulturhaeuser ging
um 15 %, die der Jugendzentren um 40 % zurueck.
- Theater, Orchester, Museen, Gedenkstaetten leiden
dramatische Finanznot, sind unterbesetzt, muessen
Spielplangestaltung oder Oeffnung einschraenken oder
sind teilweise schon geschlossen worden.
- Fuer Kuenstler sind die Ateliermieten in Grossstaedten
zwischen 500 und 2000 Prozent gestiegen bei
gleichzeitiger Abnahme der Auftraege. Staatliche
Unterstuetzung ist gekuerzt oder weggefallen. Viele
Kuenstler sind in direkte soziale Notlage geraten.
- Bei Verwirklichung der Plaene fuer die Reduzierung
der Wissenschafts- und Hochschullandschaft wird es
nach einer Schaetzung der "Initiative" fuer die Wis-
senschaft in den neuen Bundeslaendern" in Ostdeutsch-
land pro 10 000 Einwohner nur noch etwa 12 in
Forschungsbereichen Taetige geben, gegenueber 69 in
den alten Bundeslaendern (in Ungarn 35, in Polen 25).
Eine Gruppe renommierter Wissenschaftler der Freien
Universitaet Berlin charakterisiert die Entwicklung
folgendermassen:
"Der Vereinigungsprozess beider deutscher Staaten
bedeutet fuer die ehemalige DDR die Stillegung vieler
wissenschaftlicher Einrichtungen und die Freisetzung
von WissenschaftlerInnen und wissenschaftlich-
technischem Personal in einer Groessenordnung, die
einmalig in der bisherigen Geschichte ist und deren
Folgen kaum absehbar sind. Damit droht die
Zerstoerung eines betraechtlichen Teils der wissen-
schaftlichen Kapazitaeten im oestlichen Teil
Deutschlands als Beitrag zu dessen geistig-
kultureller Veroedung."
(Zitiert aus: Weissbuch - Unfrieden in Deutschland,
S. 335)
2. Finanzieller Kollaps fuer Kultur
In Art. 35, Abs. 6 und 7 wird zur Finanzierung kul-
tureller Angelegenheiten festgelegt:
"(6) Der Kulturfonds wird zur Foerderung von Kultur,
Kunst und Kuenstlern uebergangsweise bis zum 31.
Dezember 1994 in dem in Artikel 3 genannten Gebiet
weitergefuehrt. Eine Mitfinanzierung durch den
Bund... wird nicht ausgeschlossen..."
"(7) Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung
Deutschlands kann der Bund uebergangsweise zur
Foerderung der kulturellen Infrastruktur einzelne
kulturelle Massnahmen und Einrichtungen in dem in
Artikel 3 genannten Gebiet mitfinanzieren."
Im Bundeshaushalt sind fuer Substanzerhaltung und
Foerderung der kulturellen Infrastruktur im Sinne des
Einigungsvertrages und als Zuschuss des Bundes an die
Stiftung Kulturfonds von 1991 mit 1.097.000 TDM bis
1993 mit 316.000 TDM sich drastisch verringernde Mittel
vorgesehen. (Zum Vergleich: Die Zuwendung des Bundes
allein an die Kunst- und Ausstellungshalle der BRD soll
1993 die Summe von 30 000 TDM erreichen!)
Mit Ablauf des Haushaltsjahres 1993, also bereits fuer
1994, sollen entgegen den Festlegungen des
Einigungsvertrages diese Mittel wegfallen.
Das bedeutet:
- Schon jetzt sind diese Mittel voellig unzureichend
und ueberdies noch weitaus geringer als die Mittel
fuer Einrichtungen in den westlichen Bundeslaendern.
Zwei Beispiele aus Berlin: Die Staatlichen
Schauspielbuehnen erhalten ueber 40 Mio DM, das
vergleichbare Deutsche Theater ein Drittel dessen =
13,8 Mio. DM; die Deutsche Oper in Westberlin
verfuegt ueber einen 80-Millionen-Etat, die Staatsoper
in Ostberlin nur ueber 37 Millionen.
- Mit dem Wegfall der Bundeszuschuesse 1994 muessten die
ostdeutschen Laender und Kommunen 90 - 95 Prozent der
Kulturausgaben tragen, angesichts ihrer Finanzlage
ist der "Zusammenbruch einer jahrhundertealten
Kulturszene", wie es die Theater-Intendanten der
Stadt Dresden formulierten, programmiert.
- Soll die Verpflichtung aus Art. 35 des Eini-
gungsvertrages nicht ad absurdum gefuehrt werden, so
muss sie laengerfristige Aufgabe fuer den Bund sein. Es
ist pure Illusion anzunehmen, die neuen Laender
koennten im Verlaufe von zwei - drei Jahren eine
finanzielle/wirtschaftliche Leistungskraft erringen,
um die kulturelle Landschaft zu erhalten.
3. Ruinierung der Wissenschaftslandschaft
- Die eigentliche Verletzung der Aussage des Art. 38,
dass "Wissenschaft und Forschung... auch im vereinten
Deutschland wichtige Grundlagen fuer Staat und
Gesellschaft (bilden)", erfolgt mit Hilfe der
Bestimmungen der Anlage I des Vertrages, Kapitel XIX
- Recht der im oeffentlichen Dienst stehenden
Personen -. Sie gaben die Moeglichkeit, alle
oeffentlich Bediensteten - also auch die Wis-
senschaftler, Lehrer u.a. Bereiche der Intelligenz -
erst einmal ausserhalb der Grundrechte des
Grundgesetzes anzusiedeln, zu Unpersonen oder
Unrechtspersonen zu erklaeren und von daher die
uebergrosse Mehrheit der Intelligenz auszusieben. So
wurde jene bereits zitierte Zerstoerung der
wissenschaftlichen Kapazitaeten und der geistig-
kulturellen Sozialstruktur erreicht, die den
Aussagen ueber Wissenschaft und Forschung als
Grundlage fuer Staat und Gesellschaft im vereinten
Deutschland ins Gesicht schlaegt.
- Gleichwohl stellt die Praxis der Evaluierung und
Abwicklung wissenschaftlicher Einrichtungen auch
einen direkten Verstoss gegen die Bestimmung von
Artikel 38, Abs. 1, Satz 2 dar, der die Erhaltung
leistungsfaehiger Einrichtungen nach Begutachtung
durch den Wissenschaftsrat fordert. In nicht wenigen
Faellen, die auch oeffentlich dokumentiert sind
(vergleiche Weissbuch - Unfrieden in Deutschland, S.
333 - 383), wurde in gar nicht gutachterlicher,
sondern selbstherrlicher, arroganter, von wenig
Sachkompetenz getragener Art mit international be-
kannten Wissenschaftlern und wissenschaftlich lei-
stungsfaehigen Einrichtungen umgegangen. Gegenueber
vielen Einrichtungen bestanden politische Vorur-
teile, andere wurden nicht einmal im eingeschraenkten
Sinne "begutachtet", vielen erneuerungswilligen und
-faehigen Kraeften keine Chance fuer die Durchsetzung
neuer Wissenschaftskonzepte gegeben.
- Einen direkten Verstoss gegen Art. 38, Abs. 2 des
Einigungsvertrages stellen auch die administrativ
angeordnete Beendigung der Taetigkeit der Gelehr-
tensozietaet der Akademie der Wissenschaften und das
Erloeschen der Mitgliedschaft ihrer Gelehrten dar.
Art. 38, Abs. 2 geht klar von der Auffassung aus,
dass die Taetigkeit der Gelehrtensozietaet fortgefuehrt
wird und lediglich ueber das Wie landesrechtlich ent-
schieden wird. Der Berliner Senat hat diesen Tatbe-
stand ins Gegenteil verkehrt.
VIII. Verstoss gegen grundsaetzliche rechtliche
Bestimmungen
1. Fortsetzung der Entrechtung fuer Zehntausende
Kapitel XIX der Anlage I des Einigungsvertrages,
Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 1, Abs. 4 enthaelt
folgende Regelung:
"(4) Die ordentliche Kuendigung eines Arbeitsver-
haeltnisses in der oeffentlichen Verwaltung ist auch
zulaessig, wenn
1. der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher
Qualifikation oder persoenlicher Eignung den
Anforderungen nicht entspricht oder
2. der Arbeitnehmer wegen mangelnden Bedarfs nicht
mehr verwendbar ist oder
3. die bisherige Beschaeftigungsstelle ersatzlos
aufgeloest wird oder bei Verschmelzung,
Eingliederung oder wesentlicher Aenderung des
Aufbaues der Beschaeftigungsstelle oder eine
anderweitige Verwendung nicht mehr moeglich
ist...
Dieser Absatz tritt nach Ablauf von zwei Jahren nach
dem Wirksamwerden des Beitritts ausser Kraft."
Mit Hilfe dieser und anderer Festlegungen des Kapitels
XIX ueber Rechtsverhaeltnisse im oeffentlichen Dienst
stehender Personen sind in den vergangenen zwei Jahren
mehr als 600 000 Angestellte, Arbeiter,
Wissenschaftler, Paedagogen, Techniker, Mediziner,
Kuenstler und Angehoerige anderer Berufsgruppen abge-
wickelt, in Arbeitslosigkeit oder Altersuebergangsgeld
unter Umgehung gesetzlicher Schutzrechte entlassen
worden. Sie waren die Grundlage des mit dem Anschluss
der DDR von den Regierenden in Bonn praktizierten
personellen Kahlschlages.
Jetzt soll sogar die auf zwei Jahre festgelegte Be-
grenzung beseitigt und die grundgesetzwidrige
Kuendigungsklausel von Oktober 1992 auf Dezember 1993 -
also um 1 1/4 Jahre verlaengert werden.
In der Begruendung eines entsprechenden Gesetzentwurfes
heisst es:
"Eine Verlaengerung der Frist fuer die Bedarfskuendigung
nach Anlage I Kapitel XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III,
Nr. 1 Abs. 4 des Einigungsvertrages bis zum 31. Dezember 1993
wuerde die Ergebnisse im Personalabbau der neuen Laender
erheblich erbessern."
(Bundestagsdrucksache 12/2794 vom 12. 6. 92)
Dies bedeutet die Ermaechtigung fuer Bedarfskuendigungen
und Willkuermassnahmen gegen bisher noch nicht erfasste
Missliebige oder neu durch etwa kritische Haltung sich
als nicht den Anforderungen entsprechend Erweisende.
Es bedeutet Kuendigungen ohne Abstimmung mit dem
Personalrat und ohne Beruecksichtigung sozialer Belange
in den oeffentlichen Verwaltungen, insbesondere im
Kultus- und Wissenschaftsbereich und in den Verwaltun-
gen der Kommunen bis 31. 12. 1993.
Die OeTV befuerchtet den Abbau von 150 000 Arbeitsplaetzen
durch diese Regelung.
2. Parteienkungelei statt oeffentlicher Verfassungsdiskussion
In Artikel 5 des Einigungsvertrages heisst es, "Die
Regierenden der beiden Vertragsparteien empfehlen den
gesetzgebenden Koerperschaften des vereinten
Deutschlands, sich innerhalb vor zwei Jahren mit den im
Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen
Fragen zur Aenderung oder Ergaenzung des Grundgesetzes zu
befassen."
- "Im Zusammenhang mit der deutschen Einigung" war in
verfassungsmaessiger Hinsicht ein breit getragener
Wunsch sowohl fuer eine neue Verfassung wie auch eine
verfassungsgebende Versammlung vorgebracht worden.
Beides wollen die Regierenden in Bonn nicht. So
wurde lediglich eine Gemeinsame Ver-
fassungskommission (GVK) aus je 32 Vertretern von
Bundestag und Bundesrat geschaffen, die Aenderungen
und Ergaenzungen des Grundgesetzes vorbereiten und
beiden Organen vorlegen soll.
- Waehrend sich nach Meinungsumfragen wichtige
Forderungen zur Verfassungsergaenzung, wie Aufnahme
sozialer Grundrechte und Staatsziele, oekologischer
Umbau der Verfassungsordnung, Konkretisierung des
Friedensgebotes, Erweiterung der Mitwirkungsrechte
des Volkes, auf eindeutige Mehrheiten in der Be-
voelkerung stuetzen koennen, stossen sie in der GVK und
bei der Mehrheit von Bundestag und Bundesrat auf
Ablehnung. Statt oeffenlicher Verfassungsdiskussion
mauscheln die Fraktionen der grossen Parteien und es
drohen politische Kompensationsgeschaefte.
- In anderer Weise entfernt sich die Mehrheit der GVK
vom urspruenglich relativ eng gehaltenen Auftrag des
Artikels 5, Einigungsvertrag. Die gesetzgebenden
Koerperschaften sollten sich nur mit dem Bund-Laender-
Verhaeltnis, der Moeglichkeit einer Neugliederung fuer
den Raum Berlin/Brandenburg, mit der Moeglichkeit der
Aufnahme von Staatszielen und einer Volksabstimmung
ueber eine Verfassung im Rahmen des Art. 146
befassen.
Jetzt wird eine Generalrevision des Grundgesetzes
unter konservativ-autoritaeren Vorzeichen angestrebt.
Einschraenkung des Asylrechts nach Art. 16 GG,
Einsatz der Bundeswehr ausserhalb des NATO-Gebietes,
Einschraenkung des Rechtes auf Unverletzlichkeit der
Wohnung, Privatisierung von Post und Bahn u.a.
zeigen in diese Richtung. Sicher wird dies zugleich
auch mit einigen anderen Festlegungen demokratisch
drapiert werden.
- In jedem Fall ist die Verfassungsfrage bisher keine
Angelegenheit des Volkes, was sicher dessen im
geltenden Grundgesetz verankerter Souveraenitaet
widerspricht, wohl aber auch dem Einigungsvertrag
und den mit der Vereinigung aufgeworfenen und ihrer
Loesung harrenden Aufgabe.
* * *
*** ende ***
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