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Beiträge zur Politik  






Vom kurzzeitigen Erwachen der DDR-Arbeiter


In einer gut besuchten Veranstaltung referierte Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Jörg Roesler vom Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung am 20. 3. 2002 in Berlin über "Die VEB in der Herbstrevolution 1989/90". Wesentlich auf Basis von zehn Konzern- und Betriebsgeschichten behandelte er ein Thema, das bei Erörterungen über die am Anschluss gescheiterte DDR-Rebellion meist vernachlässigt wird. Erstens begannen die  innerbetrieblichen Vorgänge später als die auf der Straße und wurden vom Fernsehen kaum beachtet, während Belege darüber inzwischen meist verschollen sind. Zweitens ärgern diese Vorgänge, so kurzfristig sie waren, die Herrschenden noch heute.

Die Unruhe in VE-Betrieben im Oktober 1989 äußerte sich nach Roesler zuerst am Schwarzen Brett, das mit Appellen nach der Devise "Kollegen, wacht auf aus dem Dornröschenschlaf" bepflastert wurde. Die Aufrufe galten anfangs der Teilnahme an Straßendemos und überregionalen Ereignissen. Später wurden Probleme der eigenen Betriebe und Kombinate angesprochen – Missstände beim Lohn, im Arbeitszeitregime und beim Umweltschutz - und ihre Abstellung verlangt. Zur Jahreswende 1989/90 kamen Forderungen  auf, Leiter zur Rechenschaft zu ziehen, vor allem auf SED- und Gewerkschaftsebene. (Die angeblich führende gesellschaftliche Kraft, "Partei der Arbeiterklasse" genannt, hat sich stillschweigend aus den Betrieben verdrückt.)

Am 6. 12. 1989 entband die Vertrauensleutevollversammlung des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) die Betriebsgewerkschaftsleitung ihrer Funktionen und setzte einen Sechserausschuss zur Vorbereitung von Neuwahlen ein. Schwierigkeiten ergaben sich daraus, dass Kandidaten schwer zu finden und die Vorstellungen der Initiativgruppen oft unterschiedlich waren. Gleich den SED- griffen die FDGB-Instanzen nicht in die Vorgänge ein. Sie waren gelähmt. Der FDGB-Vorstand in Berlin fungierte nur noch als Anschrift für Proteste aus der Mitgliedschaft wegen bisher bewiesener Gefolgschaftstreue Partei und Staat gegenüber. Wie im EKO wurden Frühjahr 1990 in anderen Werken, so bei Schwarze Pumpe und Jenapharm, neue BGL gewählt, andernorts Arbeiter- oder Betriebsräte, wobei sich letztgenannte an altbundesdeutschen Vorbildern, nicht denen aus der Weimarer Zeit oder der Ostzone nach 1945, orientierten. Bei Buna existierten die neue BGL und eine Initiativgruppe Betriebsrat nebeneinander.

Den Arbeitern und Angestellten stand das Management gegenüber, voran die bislang Wirtschaftsdiktator Mittag unterworfenen Generaldirektoren der Kombinate. Mit ihnen verglichen wiesen die Beschäftigtenvertreter gewichtige Handikaps auf: Sie hatten wenig Kenntnisse in Sachen Betriebsführung. Zudem stand die Regierung – zuvörderst Ministerpräsident Modrow und Wirtschaftsministerin Luft –  nicht auf ihrer, sondern auf der Seite der Manager. Westliche Konzerndirektoren, die an Geschäften und Joint ventures interessiert waren, hofierten kurzzeitig die ihnen in manchem ähnlichen Leiter von Ostbetrieben. Bis April dauerte die "Phase der Generaldirektoren".  
Gleichzeitig mit diesen gewannen viele Belegschaftsvertreter an Selbstbewusstsein. Sie erhoben Forderungen, die über das altbundesdeutsche Betriebsrätegesetz weit hinausgingen und westlichen Konzernherrn wie Gewerkschaftsbonzen als verderblicher Syndikalismus erscheinen mussten, so die nach Mitsprache bei Investitionen Planung und betrieblichen Umstellungen, in Sozial- und Personalfragen, schließlich gar nach Wahl der Betriebsleitungen durch die Belegschaft. Einiges davon stand bald in neuen Betriebskollektivverträgen oder wurde praktiziert. Zusätzlich zu Mitbestimmungsrechten hatten ostdeutsche Arbeiter demnach Mitentscheidungsrechte errungen. Einige Leiter verloren ihre Posten – so Herbert Richter, Generaldirektor der Schwarzen Pumpe und Mitglied des SED-Zentralkomitees, welcher kurz darauf allerdings zum Chef der für sein früheres Kombinat mit zuständigen Holding berufen wurde. In einigen Fällen kam es zur Doppelherrschaft von Management und Beschäftigtenvertretern. Das am 1. 3. unter Modrow in Kraft tretende Gesetz zur Umwandlung volkseigener Betriebe in Aktiengesellschaften und GmbH bedang sich die Kooperation beider Seiten aus.
 
Dem Berichterstatter über Roeslers Vortrag sei nachfolgende Anmerkung erlaubt: Wäre in dieser Situation eine politisch bewusste Arbeiter- und Angestelltenschaft mit Interessenvertretern auf gesamtstaatlicher Ebene vorhanden gewesen, hätte grundsätzlich die Chance bestanden, zum Sozialismus überzugehen. Doch war den Werktätigen in mehr als 40 Jahren bürokratischer Herrschaft das nötige Bewusstsein nicht einfach "abhanden gekommen", sondern von den Herrschenden ausgetrieben worden. Die SED-Mitglieder sind  mit daran schuld, weil sie nicht dagegen aufbegehrten. Zu den Mängeln beim subjektiven Faktor kam 1989/90 hinzu, dass die objektiven Bedingungen – Zusammenbruch und Auseinanderfallen des morschen "Realsozialismus" und kampfloser Sieg des Kapitalismus im Weltmaßstab – denkbar ungünstig für einen sozialistischen Neuanfang waren.

Bei den letzten, unter BRD-Einwirkung abgehaltenen Volkskammerwahlen am 18. 3. 1990 waren die Allianzparteien – eine von der Ost-CDU geführte Agentur Helmut Kohls - erfolgreich. Von Bonn angeleitet, steuerte schon die Regierung de Maizière einen Kurs der Verschrottung einstiger VE-Betriebe bzw. ihrer Übereignung an die Westkonzerne, der nach dem Anschluss noch forciert wurde. Beschleunigungsfaktoren waren die per DDR-Gesetz vom 17. 6. umgestaltete Treuhandanstalt und die Währungsunion vom 1. 7. 1990. Der  Prozess kam meines Erachtens einer Konterrevolution von oben und außen mit Unterstützung östlicher Hilfswilliger gleich. Das DDR-Volk verlor "seine" Betriebe. An die unter Modrow avisierte Ausgabe von Anteilscheinen war nicht mehr gedacht, hätte das doch Beute und Profit westdeutscher Kapitalisten geschmälert. Arbeiter und Angestellte verloren die Mitentscheidung über die Betriebe, dazu alle über altbundesdeutsches Maß hinausgehenden Mitbestimmungsrechte, viele verloren auch den Arbeitsplatz. DDR-Manager einschließlich Generaldirektoren büßten ihre Posten an die neuen westdeutschen Herren der Vorstände und Aufsichtsräte ein. Eine besonders traurige Rolle in der Enteignungszeremonie spielte der DGB. Er war nur darauf bedacht, ostdeutsche Mitglieder zu übernehmen, nicht aber die von diesen errungenen gesellschaftlichen Rechte oder ihre Arbeitsplätze zu verteidigen.

B. M.  








 

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