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  Geschichte   

 


1989-10-07

Michail Gorbatschow

Festansprache zum 40. Jahrestag der DDR

Wir zweifeln nicht daran, daß die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands mit ihrem intellektuellen Potential, ihren reichen Erfahrungen und ihrer politischen Autorität imstande ist, in Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften Antwort auf die Fragen zu finden, die durch die Entwicklung der Republik auf die Tagesordnung gestellt wurden und die ihre Bürger bewegen. Eigentlich geht es um die Entfaltung der Möglichkeiten, die unserer sozialistischen Ordnung innewohnen der Ordnung der Werktätigen, der Volksherrschaft.

Die Sowjetunion ist aufrichtig daran interessiert, daß die Deutsche Demokratische Republik weiterhin erstarkt, wächst und sich entwickelt! (Anhaltender starker Beifall) [ ... ]

Ich möchte besonders folgendes erwähnen. Für die sozialistische Welt wie für die heutige Zivilisation insgesamt ist die wachsende Vielfalt der Formen der Produktionsorganisation, der sozialen Strukturen und der politischen Einrichtungen charakteristisch. Es erfüllt sich die These W. 1. Lenins, daß jede Nation ihre Eigenart in diese oder jene Form der Demokratie, dieses oder jenes Tempo der sozialistischen Umwandlungen einbringen wird (Bd. 30, S. 123).

Die Versuche der Unifizierung und Standardisierung in den Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, einerseits der Nachahmung, andererseits der Aufzwingung von irgendwelchen verbindlichen Mustern, gehören der Vergangenheit an. Die Palette der schöpferischen Möglichkeiten wächst, die Idee des Sozialismus an sich bekommt einen unvergleichlich reicheren Inhalt.

Die Auswahl der Entwicklungsformen ist eine souveräne Angelegenheit eines jeden Volkes. Aber je größer die Vielfalt und Eigenart dieser Formen ist, desto stärker ist auch der Bedarf an Erfahrungsaustausch sowie an der Diskussion theoretischer und praktischer Probleme. Und natürlich am gemeinsamen Handeln.

Anders ausgedrückt, ist die Mannigfaltigkeit nicht nur kein Hindernis, sondern im Gegenteil ein weiteres gewichtiges Argument für die Entwicklung der Zusammenarbeit. [ ... 1

Fragen, die die DDR betroffen, worden nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden

Der 50. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges gab den Anlaß für lebhafte Diskussionen und Auseinandersetzungen, für die Suche in der Geschichte nach den Antworten auf die Fragen, die die Gegenwart uns gestellt hat.

Leider passiert es auch, daß man in der Geschichte nur eine solche Antwort sucht, die man bekommen will. Ich meine damit die Versuche, die Schuld für die Spaltung Europas in sich gegenüberstehende militärische Blöcke auf die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu schieben.

Man fordert uns unaufhörlich auf, Maßnahmen zur Beseitigung dieser Spaltung zu unternehmen. Wir haben schon Aufforderungen gehört wie: Die UdSSR soll die Berliner Mauer beseitigen, dann könne man erst endgültig an ihre friedlichen Absichten glauben. Und in der BRD kommen in der letzten Zeit Stimmen auf, die die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 fordern, und auch das polnische Schlesien kommt wieder zur Sprache.

Es scheint, als würden die Reformen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern einige Politiker dazu verführen, diese oder jene ihrer alten Ansprüche wieder geltend zu machen. Es ging so weit, sogar eine zweifelhafte Interpretation der im Juni in Bonn unterzeichneten sowjetisch westdeutschen Erklärung zu geben.

Diese Fragen haben eine außerordentliche Bedeutung für das Schicksal der europäischen Völker, für den Weltfrieden. Deshalb braucht man hier volle Klarheit.

Vor allen Dingen sollten unsere westlichen Partner davon ausgehen, daß die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden werden. (Lang anhaltender Beifall) Die DDR ist ein souveräner Staat, sie unternimmt selbständig Maßnahmen, die verschiedene Aufgaben des Schutzes ihrer Interessen, ihre Innen und Außenpolitik betreffen. [ ... ]

Bis jetzt sicherte gerade die Anerkennung der Nachkrlegsrealitäten den Frieden in Europa

Jetzt zur Ordnung, die in Europa entstanden ist. Wir idealisieren sie nicht. Das Wesentliche aber ist, daß bis jetzt gerade die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten den Frieden in Europa sicherte.

Mehr noch aus dieser Ordnung heraus entstand der Prozeß von Helsinki, dessen Weiterführung weitere positive Veränderungen in der gesamteuropäischen Lage verspricht und den Bau des gesamteuropäischen Hauses in Aussicht stellt.

Mit einem Wort, die auf dem Kontinent bestehen­ den Realitäten, einschließlich der Grenzen der souveränen Staaten als Schlüsseikomponente, versperren den Weg für den Fortschritt der internationalen Beziehungen nicht.

Jedesmal, wenn im Westen auf die Änderung der Nachkriegskarte Europas gesetzt wurde, führte dies zu einer erneuten Spannung der internationalen Lage, einer Erhöhung der Gefahr eines atomaren Konflikts und trug in keiner Weise zur Lösung aktueller Probleme bei, die die Interessen der Menschen berührten.

Und umgekehrt, die Durchsetzung eines realistischen Kurses brachte große positive Ergebnisse sowohl für die generelle Gesundung des europäischen Klimas als auch für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und für die Vertiefung der Kontakte zwi_ schen den Menschen. [ ... ]

Es gibt tatsächlich nichts Wichtigeres als zwei grundlegende Wahrheiten, zu denen die Menschheit im 20. Jahrhundert unter großen Opfern gelangte.

Erstens: Im Atomzeitalter, da vor der Menschheit die Aufgabe des Kampfes ums Überleben steht, können die brennendsten Probleme der Gegenwart nur durch gemeinsame Anstrengungen und auf friedlichem Wege, durch politische Mittel gelöst werden. Einen anderen Weg gibt es nicht, ein anderer Weg wäre für alle tödlich.

Zweitens: Die Geschichte hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, ihr Tempo, ihren Rhythmus, die vom Heranreifen objektiver und subjektiver Entwicklungsfaktoren bestimmt werden. Das zu ignorieren bedeutete, neue Probleme zu schaffen.

Unsere Freundschaft wird sich weiter festigen

Genossen!

Es ist uns bekannt, welch großes Interesse in der DDR unseren Angelegenheiten, den radikalen Umgestaltungen in der Sowjetunion entgegengebracht wird.

Die Umgestaltung ist ein äußerst schwieriges Werk, das von der Partei und dem Volk die größte Anspannung aller physischen, geistigen und moralischen Kräfte erfordert. Aber sie ist für uns lebensnotwendig, und wir sind fest davon überzeugt sie wird unser Land zu neuen Erfolgen führen und das reiche Potential des Sozialismus unvergleichlich weiter entfalten.

Demokratisierung, Offenheit, sozialistischer Rechtsstaat, freie Entwicklung aller Völker und ihre gleichberechtigte Mitbestimmung in den Angelegenheiten, die das ganze Land betreffen, würdige Lebensbedingungen für die ganze Bevölkerung und garantierte Rechte für jeden, umfassende Möglichkeiten für das Schöpfertum eines jeden Menschen das erstreben wir, und von diesen Zielen lassen wir uns leiten.

Unsere Partei und unser Volk sind fest entschlossen, die Reformen, die die sowjetische Gesellschaft radikal erneuern sollen, zum erfolgreichen Abschluß zu bringen. [ ... ]

Originaltitel: Uns vereinen die Ideale des Sozialismus und des Friedens. Grußansprache von Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR.


Quelle: Neues Deutschland vom 9. Oktober 1989.


 




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