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Rudi Dutschke zur Vietnam-Frage

Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß gerade in der Vietnam-Frage und in der Diskussion über die Theorien der Dritten Welt die Genossen in Marburg, in Frankfurt, entscheidenden Anteil hatten an der Formulierung eines radikalen Verständnisses der Vorgänge der Dritten Welt für die Metropolen.

Der Widerspruch zwischen einem abstrakten moralischen Humanismus auf der einen Seite und dem Sich-Freuen über die amerikanischen Verlustziffern in Vietnam auf der anderen Seite, brachte eine erste tiefe Diskussion über das Problem der Gewalt im revolutionären Kampf. Es zeigte sich, daß nur, ein kleiner Teil der Studentenschaft bereit war, eine solche Diskussion überhaupt zu führen. Das zeigte sich auch in der später durchgeführten Geldsammlung, die dazu dienen sollte, Waffen für die Befreiungsfront in Südvietnam zu kaufen. Nur sehr wenige Studenten gaben dafür Geld, waren aber sehr bereit, Geld für medizinische Hilfe zu geben. Diese reale Schranke im Bewußtsein der Studenten konnte auch durch die späteren Ereignisse des Jahres 1966 nicht aufgehoben werden. in der Abwehr der Gewalt durch die Studentenmehrheit lag die richtige Einsicht, daß es in den Metropolen keinen revolutionären Terror mit Waffen gegen Menschen geben könne. Da die linken Studentenverbände einschließlich des SDS auch darauf verzichteten, in systematisch aufklärenden Veranstaltungen auf die Gewaltproblematik zu insistieren, sie am vietnamesischen und an anderen Beispielen konkret zu diskutieren, konnte auch eine andere Haltung bei den Studenten gar nicht vorhanden sein.

Es fehlte auch bis zu diesem Zeitpunkt die sinnlich-manifeste Erfahrung der Repression in den Metropolen. Dennoch wurde immer deutlicher, daß das antiautoritäre Lager der Studentenschaft nicht mehr bereit war, einer "repressiven Toleranz" (Marcuse) Vorschub zu leisten, schon bereit war, Veranstaltungen mit Verschleierungscharakter wie die des RCDS mit dem südvietnamesischen Botschafter in der Bundesrepublik ganz einfach zu sprengen. Sprengen hieß, in sie einzugreifen, Aufklärung in der Übernahme zu entfalten, den Botschafter und die RCDS-Lakaien zu entlarven, um zu zeigen, daß wir nicht mehr bereit sind, nach monatelanger intensivster wissenschaftlicher Arbeit über die Situation in Vietnam die Lügen und Verzerrungen einer Marionette des südvietnamesischen Regimes noch hinzunehmen. Zu der Zeit war schon das Büchlein 'Kritik der reinen Toleranz' mit dem Aufsatz von Herbert Marcuse über die repressive Toleranz erschienen. Dieser Aufsatz brachte unser Unbehagen über die Permanenz der Diskussion, die keine praktischen Konsequenzen hatte, auf den Begriff. Wir begriffen, daß die Bourgeoisie, die herrschende Klasse in jedem Lande der 'freien Welt' es sich leisten kann, daß kritische Minoritäten über Probleme der eigenen und fremden Gesellschaft diskutieren, daß sie bereit sind, jede Diskussion zu gestatten, jede Diskussion, die theoretisch bleibt. Marcuses Aufsatz wurde so für viele Studenten eine sehr wichtige Produktivkraft in der Verarbeitung der Probleme des Spätkapitalismus am Beispiel der Dritten Welt, in diesem Falle Vietnams. Wir sehen, daß in dieser ganzen Auseinandersetzung immer wieder eine Dialektik von Erkenntnissen der Dritten Welt, Erkenntnissen der hochentwickelten kapitalistischen Welt und selbständige eigene Praxis in den Metropolen, die Lernprozesse und die Radikalisierung des Bewußtseins und die Radikalisierung der Aktionen ermöglichten. Ende 1966 wurde auch klar, daß es den Amerikanern in Vietnam nicht um eine Bekämpfung einer kommunistischen Aggression aus dem Westen ging, sondern daß sie Vietnam als exemplarisches Beispiel für die Bekämpfung sozialrevolutionärer Bewegungen in der ganzen Dritten Welt ansahen. Die Studenten, die antiautoritären Studenten begriffen McNamaras Satz: "Vietnam interessiert uns nicht als strategisches Ziel und nicht einmal als politischer Stützpunkt; es interessiert uns als Probe aufs Exempel [ ... ] Dieser Konflikt ist typisch, wie kann eine Großmacht wie die unsere ihn siegreich bestehen? Wie kann ein Land, das über ein enormes militärisches und ein minderes politisches Potential verfügt, in einem beliebigen Ort über einen Gegner siegen, der militärisch unterlegen, aber politisch stark ist? Das ist die Frage, vor die wir uns gestellt sehen. Es ist für uns keine Frage auf Leben und Tod, wenigstens nicht hier und jetzt. Aber hier und jetzt müssen wir Methoden lernen, mit denen wir dasselbe Problem in beliebigen Teilen Asiens, Afrikas und vor allem Lateinamerikas lösen können, wenn es eines Tages wirklich um Tod und Leben geht."

Die amerikanische Machtelite, insbesondere McNamara, gaben auch immer deutlicher zu, daß das Problem der Dritten Welt nicht identisch ist mit dem traditionellen und aktuellen Begriff von Kommunismus. Sie halfen mit, damit ihre eigene Basis, den Antikommunismus weiterhin abzubauen.

Diese zynische, aber doch fast "historisch-materialistische" Antwort McNamaras deutet darauf hin, daß in den entscheidenden Phasen der Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution auch die Bourgeoisie mehr denn je historisch-materialistische Elemente der Erkenntnis in sich aufgenommen hat. Sie ist so wenig wie wir dazu verurteilt, die Geschichte als blindes Geschehen über sich ergehen zu lassen, kann - ähnlich wie wir - aktiv und autonom in den Prozeß der Geschichte eingreifen, in ihn eingreifen, um die Unterordnung der Massen, um die Ausbeutung und das Elend zu perpetuieren. Vom international organisierten CIA bis zu den verschiedenen Zentren des Pentagon zeigt sich eine deutliche Tendenz: Mit allen vorhandenen organisatorischen und technischen Möglichkeiten der höchstentwickelten Technik die revolutionären Kräfte in der ganzen Welt durch technisch-ökonomische, militärische Bekämpfung zu vernichten. Diesen Zusammenhang reflektiert auch die schon im Mai 1966 auf dem Studentenkongreß 'Vietnam -Analyse eines Exempels' verabschiedete Resolution: "Von allen Beteiligten wird der Vietnam-Konflikt als ein Modellfall kolonialer Revolution und Konterrevolution begriffen; in ihm wird bewußt das technische und taktische Instrumentarium gewonnen und vermittelt, das die erfolgreiche Bekämpfung sozialer Revolutionen nicht nur 'hier und jetzt', sondern 'immer und überall' ermöglichen soll. Der Abzug der amerikanischen Truppen und die demokratische Regierungsübernahme in Vietnam durch die Nationale Befreiungsfront wäre für andere Emanzipationsbewegungen ein neuerlicher Beweis für die Möglichkeit ihrer Befreiung und ein mächtiger Antrieb in ihrem Kampf. Diese exemplarische Bedeutung des Vietnam-Konfliktes haben die Machteliten der USA klar erkannt - sie ist der Hauptgrund für die Hartnäckigkeit, mit der die USA an ihrer Position festhalten."

Quelle: Bergmann, Dutschke, Lefèvre, Rabehl: Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, S. 72, Rowohlt 1968




 




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