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Rudi Dutschke: Kritik und Selbstkritik

Kritik und Selbstkritik auf der Grundlage der Erfahrungen in der 'Antikriegsdemonstration' vom 21. Oktober 1967

Unsere Demonstration vom 21. Oktober darf nicht formal als 'Teilnahme am internationalen Protesttag gegen den konterrevolutionären Krieg der USA in Vietnam' begriffen werden. Aus dieser falschen, weil unspezifischen Bestimmung resultiert ein Scheinproblem mit Realitätsgehalt: die Kluft zwischen der Demonstration in West-Berlin und dem Krieg in Vietnam muß 'ausgehalten' werden. Unter diesen Voraussetzungen kann daher ein 'Fahrbahnwechsel' oder eine 'listenreich herbeigeführte Konfrontation' mit der Polizei nur noch als irrationale Handlungsweise destruiert werden.

Der wirkliche Zusammenhang der Demonstration eröffnet sich erst einer konkret-spezifischen Bestimmung des Standes der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Senat, Polizei und Parteien auf der einen Seite und der außerparlamentarischen Opposition auf der anderen. Unsere Vietnamdemonstrationen sind schon längst primär Momente des gesellschaftlichen Kampfes mit unserer herrschenden Oligarchie, stehen nicht mehr unter dem Verdikt des eingepaßten pluralistischen Protestkomplexes.

Die der Demonstration nur kurz vorangegangene Wahl von Schütz zum Regierenden Bürgermeister war strukturierender politischer Mittelpunkt der Taktik-Diskussionen im SDS als dem bewußtesten Träger der außerparlamentarischen Opposition.

Es galt am 21., durch systematische, kontrollierte und limitierte Konfrontation mit der Staatsgewalt und dem Imperialismus in West-Berlin die repräsentative (Demokratie, zu zwingen, offen ihren Klassencharakter, ihren Herrschaftscharakter zu zeigen, sie zu zwingen, sich als 'Diktatur der Gewalt' zu entlarven! Daraus hätte eine mobilisierende Produktivkraft für die Anti-Springer-Kampagne entstehen können. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, hier hat auch die schonungslose Selbstkritik der Organisierten, der Initiativgruppen etc. zu beginnen.

Erst innerhalb dieser taktischen Perspektive gewinnen die Initiativgruppen, die Selbstverteidigungsgruppen, die Störgruppen, die limitierte Auseinandersetzung mit der Polizei auf der 'linken Fahrbahn' ihren wirklichen Zusammenhang.

Eine tiefe Selbstkritik der treibenden Kräfte des antiautoritär-sozialistischen Lagers hat nun zu prüfen, welchen politischen, organisatorischen und personellen Fehleinschätzungen die taktische 'Niederlage', unsere Unfähigkeit, das System als 'Diktatur der Gewalt' zu entlarven, begründeten.

I. Die falsche Einschätzung der Anpassungsfähigkeit der polizeilichen Repression durch uns:

Schütz, die Personifikation der Manager-Taktik, sah sehr richtig, daß eine kurzfristige Verstimmung mit der CDU über die 'weiche Welle' der Polizei seine eigene Stellung in der Partei nur stärken könnte, eine Wiederholung des 2. Juni aber den unmittelbaren Anfang vom Ende des neuen Senats bedeuten würde, die notdürftige Einheit der Partei sofort wieder zusammenbräche.

Wir ließen uns bluffen durch die 'harte Sprache' eines Neubauer in den 'Kontaktgesprächen'. Die Androhung von sofortigen polizeilichen Maßnahmen bei Nichteinhaltung der 'Auflagen' verursachte bei uns das 'sichere Gefühl' daß der durch Agitation und Propaganda in der Aktion vermittelte 'Fahrbahnwechsel' der Initiativgruppen und eines bewußten Sympathisantenrings ausreichen würde, temporäre, von uns bestimmte Konfrontationen zu produzieren, in ihnen zu lernen, mit welchen Mitteln die Polizei, die in West-Berlin immerhin Bürgerkriegsarmee-Funktionen ausübt, zeitweilig beherrscht werden kann. Das ist der eminent politische Sinn der Durchbrechung der Spielregeln des Systems.

2. Die völlig unzureichende Massenaufklärung über den Sinn einer Vietnam-Demonstration als Kampfinstrument in der hiesigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung:

Die Vietnam-Veranstaltungen in der Woche vor der Demonstration blieben fast reine Informationsveranstaltungen, Spezialisten referierten und Zuhörer konsumierten. Politisch-organisatorisch mußte sich dieses Zusammenspiel als legale und angepaßte Demonstration reproduzieren, was dann auch am 21. für mehr als die Hälfte der 10 000 eintrat.

3. Das absolute Fehlen einer öffentlichen Diskussion über die organisatorische Seite von Kampf-Demonstrationen:

Am Abend vor der Demonstration stritten wir uns im Audi-Max mit Sozialdemokraten herum, die objektiv die Aufgabe hatten, die Einheitsfront der praktisch-kritischen Studenten aufzubrechen. Dabei 'vergaßen' wir, die letzte Chance einer politischen, das heißt wesentlich organisatorischen Vorbereitung der Aktion des nächsten Tages noch 'massenhaft' durchzudiskutieren, zu gemeinsamen Entscheidungen, vielleicht in organisatorischer Form, in der Gestalt von Aktionskomitees zu kommen.

4. Der Mangel an Zusammenarbeit zwischen den an der Demonstration beteiligten Gruppierungen:

Daraus entstand Mißtrauen und Unsicherheit innerhalb der Demonstration und Ressentiment mit richtigem Kern zwischen den Organisationen.

5. Die taktischen Initiativgruppen in der Demonstration erwiesen sich fast ausschließlich als zu schwach, waren als Gruppen, als Einheit eines bewußten politischen Ensembles zu kurzfristig konstituiert worden, waren in keiner Großveranstaltung als politisch-organisatorische Notwendigkeit für die allseitige Leistung des Kampfes erklärt, kritisiert und anerkannt worden. Niemand soll uns mit einer mißverstandenen Spontaneitätsmythologie hier kommen. Die höchste Form der Selbsttätigkeit ist ihre organisierte Form. Keine Großveranstaltung mit Diskussion macht aus den 2000 oder 4000 Zuhörern, von denen vielleicht 10 oder 20 politische 'Führer' den Aufklärungsprozeß leiten, auch noch in widersprüchlicher Form, 2000 oder 4000 bewußte (Führer), die von sich aus in höchster Bewußtheit den Kampf führen könnten. Wäre das der Fall, so hätten wir dem System schon längst ein Ende bereitet. Unter der Herrschaft des Kapitals ist eine bewußtseinsmäßige Identität zwischen temporärer politischer Führung und sich aus den verschiedensten Keimformen des Bewußtseins zusammensetzenden Demonstrationsmassen nicht möglich. Das Problem der bewußtesten Träger der politischen Arbeit gegen das System besteht gerade darin, durch ein Höchstmaß an Aufklärung und durch organisatorische Transmissionsriemen die verschiedenen Bewußtseinsstufen auf das aktuell höchstmögliche Maß zu steigern, sich tendenziell immer mehr überflüssig zu machen, ohne sich der Illusion hinzugeben, daß die 'aufgeklärten Massen' ihren 'Weg' allein gehen werden. Diese Illusion führt unvermeidlich zum 'massenhaften Sozialdemokratismus', vielleicht auch in die Volksfrontjacke, der nur noch die Quantität des 'Protestes', seine 'ordentliche' Erfassung, nicht mehr den systematischen und langandauernden Kampf um einen 'neuen Menschentypus' kennt: Letzterer entsteht allein in der permanenten und immer schärfer werdenden Auseinandersetzung mit dem System.

6. Es genügt nach dem 21. nicht mehr, allein an der Uni vor Aktionen Großveranstaltungen durchzuführen. Republikanischer Club, Falken u. a. m. müssen mehr als bisher Transmissionsriemen zwischen Studenten und Lohnabhängigen, auch in politisch-organisatorischer Form, sein.

7. Die technische Seite der Organisationsfrage (Megaphone, Flugblattverteilung, vorbereitete Losungen, Lieder, Schilder, Spruchbänder, Farbtöpfe, Rauchkerzen) ist ein Moment des Gesamtkomplexes; sie kann verselbstständigt zum politischen 'inhaltslosen' Technizismus werden, kann aber auch, wenn sie als irrelevant beiseite geschoben wird, sehr leicht zum pragmatischen Opportunismus auf der Straße führen.

8. Die organisatorische Seite 'konspirativer' Tätigkeit gegen den amerikanischen Imperialismus in West-Berlin (US-Armee, US-Firmen, die sich an Schweinereien in Vietnam beteiligen, CIA-Zentralen) ist nicht Gegenstand öffentlicher Diskussion - inhaltliche Diskussion über die Notwendigkeit eines solchen Kampfes muß aber immer mehr in den Mittelpunkt unserer Aufklärungsarbeit gestell

Schlußfolgerungen:

a) Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung führt nur dann zur manifesten Entlarvung des Systems als 'Diktatur der Gewalt', wenn wir zentrale Nervenpunkte des Systems in mannigfaltiger Form (von gewaltlosen offenen Demonstrationen bis zu konspirativen Aktionsformen) angreifen - so zum Beispiel das Abgeordnetenhaus, Steuerämter, Gerichtsgebäude, Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder SFB, Amerika-Haus, Botschaften der Marionettenregierungen, Armeezentren, Polizeistationen etc.!

b) Um diesen Kampf aber führen zu können, müssen wir die starken moralischen Kräfte, die sich in der größten Demonstration der Linken seit dem Beginn des Kalten Krieges in West-Berlin zeigten, in materielle, schließlich organisatorische verwandeln. Wir müssen begreifen, daß wir den Kampf und damit aber auch die Kampforganisationen benötigen. Die Vermittlung dieser beiden Faktoren macht uns zu einer umwälzenden Kraft, macht uns fähig, auf internationale Schläge des weltweiten Imperialismus besser und effektiver zu antworten. In den nächsten Monaten wird der Versuch des Völkermords in Vietnam weitere 'Höhepunkte' erreichen. Diese Perspektive dürfen wir nicht verdrängen, müssen sie vielmehr materiell und politisch-organisatorisch vorbereiten, ohne Illusionen, aber fest entschlossen, die Invasion Nordvietnams oder die Bombardierung der VR China, nicht zu vergessen Interventionen der USA in lateinamerikanischen Ländern, mit Formen des Kampfes zu beantworten, die mit den jetzigen nur noch eine bedingte Ähnlichkeit haben.

Quelle: Bergmann, Dutschke, Lefèvre, Rabehl: Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, S. 82, Rowohlt 1968




 




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