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Ein ZEIT-Gespräch mit Ex-Terroristen Horst Mahler über die Apo, den Weg in den Terror und die Versöhnung mit dem Grundgesetz

von Willi Winkler

Die RAF ist Geschichte - eine Geschichte ohne Ende. Zwanzig Jahre nach dem Terrorjahr 1977 werden ihre Schatten wieder beschworen

DIE ZEIT: In Ihrem Plädoyer für Andreas Baader im Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozeß 1969 haben Sie die Richter aufgefordert, ihre Roben auszuziehen und sich der Revolution anzuschließen. Die Richter haben es nicht getan, aber Sie.

HORST MAHLER: Das war ein sehr widersprüchlicher Prozeß bei mir. Ich hatte eine bürgerlich ausgestattete Rechtsanwaltskanzlei mit Orientierung zum wirtschaftlichen Mittelstand. Durch die Studentenprozesse bin ich dann in ganz andere Vorstellungen hineingezogen worden. Gudrun Ensslin prophezeite mir beim Prozeß, daß ich auch einmal die Robe ausziehen und mit der Maschinenpistole in der Hand argumentieren würde.

DIE ZEIT: 1969 wollten Sie aber noch Anwalt bleiben?

HORST MAHLER: Ich hatte bestimmt nicht vor, auf ewig Anwalt zu sein. Anwalt ist ein Beruf, der sehr viel Affinität zu politischem Tun hat. Ich halte mich aber inzwischen für völlig unfähig, Politiker im landläufigen Sinne zu sein.

DIE ZEIT: Aber fern war Ihnen die Idee nicht.

HORST MAHLER: Ich hatte auf der Oberschule schon angefangen, Marx zu lesen und dann natürlich Lenin. Was ich dort las, schien mir schließlich die welthistorische Richtung anzugeben.

DIE ZEIT: Dann sind Sie einer der wenigen, die bereits in der Schule Lenin gelesen haben - ausgerechnet in der Frontstadt Berlin.

HORST MAHLER: Das ist beinah schon grotesk. Ich hatte ein traumatisches Erlebnis in der damals gerade erst gegründeten DDR. Obwohl ich erst dreizehn war, also noch nicht das satzungsmäßige Alter hatte, wurde ich zum Vorsitzenden der neuen FDJ-Schulgruppe gemacht. Obwohl ich im Elternhaus antikommunistisch beeinflußt wurde, habe ich mitgemacht. Aus rein opportunistischen Überlegungen: Ich wollte studieren. Da ich aus einer kleinbürgerlichen Familie stammte, also praktisch zu m Klassenfeind gehörte, wäre das nicht möglich gewesen. Von der FDJ-Leitung wurde mir zugesichert, daß ich studieren dürfte, wenn ich mich ihr zur Verfügung stelle. Mir wurde damals schon klar, daß ich mich praktisch hatte kaufen lassen. Die Familie verzog bald nach West-Berlin. Um meine eigene Vergangenheit zu verarbeiten, setzte ich mir hier in den Kopf, den Marxismus zu widerlegen. Daraus wurde nichts. Marx und Lenin überzeugten mich. Sie gaben mir die Möglichkeit, die jüngste deutsche Geschichte als Fäulniserscheinung des zum Untergang verurteilten Kapitalismus zu sehen. Das war für mich zugleich der Freispruch von der Kollektivschuld. Ich blieb also an Marx und Lenin kleben.

DIE ZEIT: Aber zuerst bei der SPD.

HORST MAHLER: Ich bin in die SPD eingetreten. Dort bin ich bald an Wände gestoßen, die unsichtbar waren, aber sehr hart. Ich habe sehr schnell die Leitung der Jungsozialistengruppe in Charlottenburg übertragen bekommen. Meine erste Veranstaltung war der Vortrag eines ausgewiesenen Trotzkisten, Mitglied der SPD, der bei den Nazis und bei Stalin im KZ war, eine durch und durch integre Person. Der hat dafür plädiert, daß Deutschland aus der Nato austritt, und mir damit mein er stes Parteiausschlußverfahren eingebracht. Aber die Partei wollte mich halten. Man ist an mich herangetreten mit den Worten: "Du bist Jurist, du kannst reden. Damit hast du eine glänzende Karriere in der Partei vor dir, aber du mußt absch wören." Das sind offensichtlich die Dinge, die man können muß. Ich bin nicht darauf eingegangen. Ich habe dann auch keine Karriere gemacht in dieser Partei. Der Rest ist bekannt.

DIE ZEIT: Während der Osterunruhen 1968 haben Sie in einer Rede erklärt, bei einer Revolution sei wie im Straßenverkehr mit Opfern zu rechnen. War das bereits eine Drohung oder einfach weise Voraussicht?

HORST MAHLER: Das war weder eine Drohung, noch war es weise, es war ein recht ungeschickt gewähltes Bild. Die Osterbewegung befand sich auf dem Höhepunkt, die ganze Entwicklung eskalierte, es wurden neue Ziele bestimmt, und die Staatsmacht rückte immer entschlossener an. In München war durch einen Steinwurf aus den Reihen der Demonstranten ein Journalist getötet worden. Darüber waren die Studenten tief erschrocken. Die Stimmung drohte in Resignation umzuschlagen. Da glaubte ich, die Studenten aufrütteln zu können, indem ich sagte, wer die Revolution macht, muß mit so was rechnen.

DIE ZEIT: Sie haben also 1968 von der bevorstehenden Revolution gesprochen.

HORST MAHLER: Ja, sicher. Aus den verschiedensten Richtungen gelangte man zu dem einen Punkt, daß diese Gesellschaft eine andere werden müßte - was sicherlich nicht mit dem Stimmzettel zu erreichen wäre.

DIE ZEIT: Mit einer solchen Beschreibung ist man noch nicht Teil der Bewegung. Wann passierte der Übergang?

HORST MAHLER: Das kann ich so gar nicht bestimmen. Das ist ein Prozeß, in dem man aus einem Dämmerzustand in ein etwas wacheres Bewußtsein übergeht, zum Beispiel weil man tätig ist und bestimmte Erfahrungen sammelt. Eine Situation erinnere ich noch, wo die Stimmung von einem Tag auf den anderen umschlug. Am Abend des 1. Juni 1967, also am Tag vor dem Schah-Besuch, gab es eine große Veranstaltung im Auditorium maximum der FU. Es sprach Bahman Nirumand über die Verhältnisse in Persien. Der SDS, der schon immer etwas weiter war, nutzte diese Veranstaltung, um auf der Empore die Fahne des Vietcong zu entrollen. Die Studenten auf der Empore stürzten sich auf diese SDSler und entrissen ihnen die Fahne. Das war ihnen schon zu kommunistisch. Am nächsten Tag, nach dem "Reinstechen in die Leberwurst" vor der Oper, wurde diese Fahne in den Seitenstraßen die Fahne der Studententrupps, die von der Polizei gejagt wurden. Von Stund an war das Banner des Vietcong die Fahne der Bewegung. So schnell gehen Bewußtseinsprozesse.

DIE ZEIT: Weniger Bewußtsein als eine Polizeiaktion.

HORST MAHLER: Auch die schafft Bewußtsein. Es hat dann sehr geholfen, daß sich diese jungen Akademiker intensiv mit Gesellschaftstheorie befaßten, um zu verstehen, was sie da unmittelbar als Zeugen gesehen und auch als Opfer der Polizeiwillkür erlitten hatten.

DIE ZEIT: Die Studenten haben also bei Lenin nachgeschaut, was sie da grade angestellt hatten.

HORST MAHLER: Ja, so war's. Sie fanden das dann sehr plausibel, was er über die Notwendigkeiten eines revolutionären Prozesses geschrieben hatte.

DIE ZEIT: Sie selber haben nicht auf eine Gelegenheit, aber auf eine Bewegung gewartet.

HORST MAHLER: Richtig. Zu meiner großen Überraschung gab es die.

DIE ZEIT: Ende 1969 sind Sie zu Andreas Baader und Gudrun Ensslin gefahren, die sich in Rom versteckt hielten.

HORST MAHLER: Das ist richtig. Ich hatte Verbindung mit ihnen, weil ich ja ihr Verteidiger war und wußte, wo sie sich aufhalten. Ich hatte hier in Berlin verschiedene Diskussionszirkel. An einem war Rudi Dutschke maßgeblich beteiligt. Da wurde zum Beispiel eine Nato-Kampagne aus der Taufe gehoben, bei der sich Rudi sehr klar für militante Aktionen ausgesprochen hat, um die Nato als politischen Feind zu "markieren". Von daher weiß ich, daß Rudi durchaus nicht der Pazifist war, für den man ihn heute gerne hält, um ihn noch im nachhinein als Helden der Bewegung vor sich hertragen zu können. Ich fand die Position, die er vertreten hat, absolut richtig. Deswegen bin ich vorher zu ihm nach London gefahren, um mich mit ihm darüber zu unterhalten, was man tun könnte und sollte. Wir sind im Dissens, aber nicht unfreundschaftlich auseinandergegangen.

DIE ZEIT: Und von dieser Besprechung weiter nach Rom.

HORST MAHLER: Ja. Ich kannte die Situation der Leute und habe ihnen etwas Geld mitgebracht, das mir in München von hochmögenden Kulturschaffenden zugeschanzt wurde. In einer nächtlichen Diskussion mit Andreas Baader, mit Gudrun Ensslin, mit Astrid Proll und noch ein paar anderen haben wir uns über das verständigt, was wir hier machen werden. Dann bin ich zurück, um die Vorbereitungen zu treffen, damit sie nach Berlin kommen können.

DIE ZEIT: Es gibt einen herrlichen Satz von Fritz Teufel, der mal Ihr Mandant war: "Egal, wie wir uns nannten - Zwoter Juni oder Erraeff -, im Grunde waren wir alle Haschrebellen."

HORST MAHLER: Ich kenne nicht die begriffliche Ausfüllung dieses Wortes "Haschrebellen", die Fritz Teufel zugrunde legt. Ich habe jedenfalls nie gehascht. Ich bin von Mitgliedern der Kommune I ständig ermuntert worden, diese Erfahrung doch nun endlich mal zu machen. Da ich selbst nicht rauchen kann, hat man sich erboten, das mit Plätzchen oder Tee zu bewirken. Rainer Langhans hat mir ganz rührend einen solchen Tee gebrüht, aber es hat sich bei mir nichts abgespielt. Für meine Person kann ich das nicht bestätigen.

DIE ZEIT: In Dostojewskis Roman "Die Dämonen" formuliert Netschajew, der als Vorläufer Lenins gilt, einen politischen Katechismus: "Ein Revolutionär ist ein todgeweihter Mensch. Er kennt weder persönliche Interessen noch persönliche Geschäfte, weder persönliche Gefühle noch persönliche Bindungen."

HORST MAHLER: Netschajew war eine Leitfigur. Bei Netschajew zeigte sich allerdings etwas, was mich an dieser ganzen Geschichte am meisten erschreckt hat, nämlich daß innerhalb einer solchen Gruppe der Faschismus ausbricht - nicht nach außen, sondern nach innen. Wobei man sich sehr gut vorstellen kann, daß eine solche Gruppe das schließlich flächendeckend einführt, weil sie's ganz normal findet. Wie bei Netschajew.

DIE ZEIT: Sie haben es mir auf dem Silbertablett geliefert: Die Faschisierung innerhalb der RAF.

HORST MAHLER: Die faschistische Strukturierung innerhalb der Gruppe hat sich zuerst in Jordanien gezeigt.

DIE ZEIT: Wohin die RAF im Juni 1970 nach der Befreiung Andreas Baaders reiste, um sich von Palästinensern an der Waffe ausbilden zu lassen.

HORST MAHLER: Das war eine ganz wichtige und für mich auch ganz schlimme Auseinandersetzung. Damals spielte ich mit dem Gedanken auszusteigen. Als ich aus Jordanien zurückkam, blieben mir eigentlich nur noch drei Möglichkeiten: Entweder ich gehe in den Osten, oder ich stelle mich der Polizei, oder ich schieß' mir eine Kugel in den Kopf.

DIE ZEIT: Und was war nun dieser Schock im Palästinenserlager?

HORST MAHLER: Die Diskussion darüber, ob Peter Homann umgelegt wird oder nicht.

DIE ZEIT: Peter Homann galt als potentieller Verräter . . .

HORST MAHLER: Ich war strikt dagegen. Wenn das nur aufgrund eines bestimmten Verdachts passiert, dann wird als nächstes jeder im anderen seinen Mörder sehen. Es kam dann anders, die Palästinenser hatten eine sehr klare Haltung, die uns fürchterlich beschämte. Peter Homann hat jedenfalls diese Situation überlebt. Da konnte man sehen, daß wir alle anfällig sind für das, was wir eigentlich bekämpften: die Preisgabe aller Menschlichkeit, nur um die eigene Machtposition als Gruppe zu sichern.

DIE ZEIT: Alles wegen der behaupteten eigenen moralischen Überlegenheit.

HORST MAHLER: Anders wär's gar nicht gegangen. Man mußte sich schon vorstellen können, daß man in einer historischen Tendenz zum Besseren tätig ist, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Das hat mit der bürgerlichen Moral nichts mehr zu tun, sondern das war die Moral, die Lenin und die Netschajew gepredigt hatten: Wem es ernst ist mit der Revolution, der muß sich befähigen, die schlimmsten Schandtaten zu begehen.

DIE ZEIT: Im Gefängnis von Stammheim wurde "Die Maßnahme" von Brecht diskutiert. Dort gibt es den furchtbaren Vers: "Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um / Die Niedrigkeit auszutilgen?" Ein wesentlicher Grund zur Revolte der 68er war der Kampf gegen die Naziväter. Die Opfer der Nazis waren die Juden. Und dann gehen die Kinder zur Al Fatah, deren Religion darin bestand, die Juden ins Meer zu treiben und die Überlebenden auszurotten. Das ist die schändlichste Niedrigkeit der RAF.

HORST MAHLER: Ich kann das sogar noch mehr zuspitzen. In Berlin tauchten 1969 diese Pattex-Bomben auf. Beim Landgerichtsdirektor Brandt ist eine hochgegangen, eine andere, die Gott sei Dank nicht hochgegangen ist, wurde im Jüdischen Gemeindehaus gefunden. Ich wußte, wer sie dorthin gebracht hatte, und habe das aufs heftigste kritisiert - genau mit dieser Erinnerung an das, wo wir herkommen. Die mich schlechthin entwaffnende Antwort lautete: "Ja, wenn du so genau Bescheid weißt über den richtigen Einsatz von Gewalt, warum machst du's dann nicht?" Das war der Moment, da ich an konkrete Vorbereitungen gegangen bin und Leute gesammelt habe. Ich bin mit dieser Geschichte überhaupt nie ins reine gekommen. Eine traumatische Geschichte, aber Sie sehen, wir haben uns darauf eingelassen.

DIE ZEIT: Und bei Andreas Baader war diese Faschisierung bereits passiert?

HORST MAHLER: Ich möchte das nicht so apodiktisch sagen. Andreas Baader hatte auch seine warmen Seiten, er war nicht der kalte Killer. Aber in der Diskussion über Peter Homann ist die Tendenz deutlich geworden. Da war Baader der Wortführer. Was mir aber auch sehr zu schaffen gemacht hat: Ulrike Meinhof, die mit Peter Homann mal zusammengelebt hat, sprach sich für Homanns Liquidierung aus.

DIE ZEIT: Es ist ja auffällig, daß mehrere Studienstiftler des deutschen Volkes bei der RAF waren und sich zur letzten Konsequenz entschlossen haben.

HORST MAHLER: Irgendwann erschien uns das, was als Leben vor uns lag, nicht mehr so arg reizvoll. Man hätte sich damit arrangieren können, man wäre dann vielleicht an Magengeschwüren oder einem Herzinfarkt frühzeitig dahingegangen . Da sagte man, nee, das ist es nicht, wir sehen unsere Lebensaufgabe mal anders, auch mit der Konsequenz, daß es sehr schnell zu Ende sein kann.

DIE ZEIT: Zu den Mysterien der RAF-Geschichte gehört die Figur Peter Urbach. Wann war klar, daß der nicht mit ganzem Herzen dabei war?

HORST MAHLER: So richtig klar war das an diesem Abend, als Baader verhaftet wurde. Aber es gab ja immer schon Mutmaßungen.

DIE ZEIT: Über den Verfassungsschutz.

HORST MAHLER: Im Prozeß hat Urbach bestätigt, daß er seit Jahren vom Verfassungsschutz bezahlt werde. Der hat ihn dann nach Amerika geschickt und ihm eine andere Identität besorgt.

DIE ZEIT: Gerüchteweise hieß es immer, der Verfassungsschutz habe von der Baader-Befreiung gewußt, sie vielleicht sogar gewollt.

HORST MAHLER: Ich kann mich hier nur an die Fakten halten: Peter Urbach war ein Spitzel; er hat mir eine 9-mm-Pistole mit Munition verschafft; er hat die Pattex-Bomben geliefert, die teils hochgegangen sind, teils eben nicht explodiert sind; und er hat den Tip gegeben, wie man die Fahrzeuge im Fuhrpark von Springer effektiv anzündet. Und wenn der Verfassungsschutz so weit gegangen sein sollte, mir eine Waffe zuzuspielen und diese Pattex-Bomben anbringen zu lassen, wenn Peter Urbach überall mit dabei ist, Hinweise gibt und sich gleichzeitig als der Superrevolutionär darstellt, dann muß man sich fragen, was haben die sich gedacht?

DIE ZEIT: In dem RAF-Manifest "Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa" (1971), einem richtigen kleinen Clausewitz-Text, wird der Krieg erklärt. Hatten Sie damals wirklich das Gefühl, sich im Krieg zu befinden?

HORST MAHLER: Da war vielleicht ein Widerspruch zwischen Gefühl und Überzeugung. Vom Gefühl her befand man sich natürlich nicht im Krieg. Es war sehr bequem, hier zu leben, man war ja relativ sicher. Von der Überzeugung her waren wir absolut durchdrungen von dem Gedanken, daß ein Weltbürgerkrieg stattfindet, in dem wir eine Rolle zu spielen haben.

DIE ZEIT: War es nicht arg revolutionsromantisch, sich im sogenannten Spätkapitalismus einen Buschkrieg auszumalen?

HORST MAHLER: Ich hatte auch Phasen, wo ich mir gesagt habe, das war eine revolutionsromantische Denkweise. Ich bin heute der Auffassung, daß das Konzept Stadtguerilla Zukunft ist.

DIE ZEIT: Im Ernst Zukunft?

HORST MAHLER: Ja. Nicht daß ich das für richtig halte, aber wir werden da noch staunen. Die Gesellschaft zerfällt in zunehmendem Maße, und die Gewaltsamkeit bei der Auseinandersetzung nimmt zu. Ich glaube, daß grade diejenigen, die am integersten sind, viel eher diesen Weg gehen werden. Sie werden wieder eine tragfähige Ideologie finden und ihre Ansprüche, Meinungen und Glaubenssätze in extremen Formen ins Bild setzen. Der Sozialismus ist zwar mit einer Riesenstaubwolke in sich zusammengebrochen, aber das heißt nicht, daß es keinen Anlaß gibt, sich Gedanken zu machen.

DIE ZEIT: Sie sagen, das würden die "integersten Menschen" sein. Heute geht man als Studienstiftler ins Feuilleton der "FAZ". Wo sehen Sie das Potential, das mehr draus machte, als das System zu stabilisieren?

HORST MAHLER: Ich denke und rede nicht mehr in diesen Kategorien. Ich meine einfach, die Verhältnisse verändern sich auch hier wieder in eine Richtung, die wir schon längst überwunden glaubten. Dagegen werden immer wieder Menschen revoltieren. In einem bestimmten Sinn kann man sagen, daß alle bei der RAF amoralische Persönlichkeiten waren; sie haben sich über die Gebote der Moral hinweggesetzt. Integer heißt nicht, daß sie nicht anfällig wären f&uu ml;rrechtswidriges, amoralisches, auch verbrecherisches Handeln. Aber das sind nicht mehr die Kategorien, mit denen man sie wieder disziplinieren könnte.

DIE ZEIT: Das Konzept der Stadtguerilla ist also nicht gescheitert?

HORST MAHLER: Ich fürchte, nein. Andererseits ist diese Befürchtung auch Ausdruck meiner Hoffnung, daß man bestimmte Sachen mit dem Menschen hier und heute nicht mehr machen kann. Gegen das, was kaputtmacht, wird man sich zur Wehr setzen. Da gibt's verschiedene Tendenzen: Das kann rechts sein, das kann fortschrittlich sein, das kann spirituell sein.

DIE ZEIT: Bei Ihrem "Spiegel"-Gespräch mit Innenminister Gerhard Baum 1979 war mir immer dieses Faszinosum Staat rätselhaft. Während Baum wie ein Jugendkaplan begütigt, werfen Sie ihm vor: "Man liebt diesen Staat nicht, und damit wird die Sehnsucht nicht erfüllt nach der Verwirklichung des Staates in uns." Warum sollte man ausgerechnet den Staat lieben?

HORST MAHLER: Was wäre denn der Staat, wenn ihn nicht die, die ihn in ihrer Gesamtheit bilden, aus Überzeugung, daß das so sein muß und nicht anders sein kann und darf, auch vollziehen? Es wäre nur ein mit Gewalt zusammenzuhaltender Haufen unzivilisierter Barbaren. Staat beginnt für mich dort, wo Menschen in der Überzeugung leben, daß ganz bestimmte Sachen unter Menschen zu beachten sind. Daß man sich respektiert, daß man gemeinsame Interessen wahrnimmt, daß dafür gesorgt wird, daß man im Staate sicher leben kann und nicht, wenn man vor die Haustür geht, eins vor den Kopf bekommt. Dieses Bewußtsein ist das Fundament des Staates. Das kann man nicht sehen, das kann man nicht messen und nicht wiegen. Der Staat ist eine Institution, die meinen Willen verwirklicht, der dahin geht, daß zum Beispiel meine Kinder die Chance haben, sich zu bilden, daß meine Kinder nicht umgebracht werden, daß sie eine Perspektive haben. Nur das ist menschliche Existenz. Überall da, wo dieser Konsens verlorengeht, stirbt die Gesellschaft, wird sie anfällig für Anarchie, für Clan-Wesen, für Bandenkriege. Das ist das Ende des Staates, weil dann auch die Menschen nicht mehr die Überzeugung haben, daß das, was sie eigentlich wollen, eine Chance hat, sich in der Wirklichkeit zu zeigen. Wir haben dann den "Not- und Verstandesstaat", von dem Hegel spricht und der in den Faschismus mündet.

DIE ZEIT: Umberto Eco unterscheidet zwischen Apokalyptikern und Integrierten. Als Anwalt sind Sie eine Stütze der Gesellschaft, die Sie vielleicht als denkender Mensch ablehnen.

HORST MAHLER: Ich fände es schon ganz in Ordnung, wenn ich eine Stütze des Grundgesetzes wäre. Es ist wirklich die freiheitlichste Verfassung, nicht nur als beschriebenes Stück Papier, sondern als aufgeschriebene Verfassungswirklichkeit - mit Widersprüchen und Tendenzen zur Rückentwicklung. Denn die Bereitschaft, den Rechtsstaat preiszugeben, ist heute ganz augenfällig. Sie brauchen bloß morgen den Tagesspiegel aufzuschlagen: Da wird die Überwachung per Video empfohlen, da werden die verdeckten Ermittler propagiert, die auch Straftaten begehen dürfen, und so weiter.

DIE ZEIT: Jetzt haben Sie aber noch nicht gesagt, ob Sie Apokalyptiker oder integriert sind.

HORST MAHLER: Vielleicht muß ich mich da gar nicht so festlegen. Der Staat, so wie Hegel ihn sieht, in dieser Übereinstimmung mit mir selbst, ist das Dasein Gottes in der Welt. Hegels ganzes Staatsdenken geht gegen den Liberalismus, so wie er verstanden wurde und heute noch verstanden wird. Ihm geht es um die Einsicht, daß wir nicht nur für uns sind, daß wir das Leben teilen. Erst das bringt uns zu einem Freiheitsbegriff, wo nicht der Egoismus herrscht, der tödlich ist.

DIE ZEIT: Fritz Teufel hat im Zusammenhang mit der RAF geschrieben: "Eine Gesellschaft, die die Nazigeschichte geistig verarbeitet und politisch bewältigt hätte, müßte die bewaffneten Kämpfer der siebziger Jahre nicht nur amnestieren, sondern auch als Pioniere der inneren und äußeren Abrüstung anerkennen und ehren."

HORST MAHLER: Wenn's nicht zuviel der Ehre wäre, dann würde ich sagen, das hat er richtig gesehen. Ich war immer dieser Meinung.

DIE ZEIT: Nicht bloß amnestieren, sondern "anerkennen und ehren"?

HORST MAHLER: Solche Überlegungen gibt es sogar in der CDU; Alfred Dregger hat sie bei einer Bundestagsdebatte anklingen lassen. Der Terrorismus in Japan, Italien und Deutschland habe damit zu tun, daß da ein noch nicht verarbeitetes Problem liegt. Diese Art Selbstkritik des Staates wäre die wirksamste Methode gewesen, den Terrorismus zu bekämpfen. Aber dieser Staat war zu einer selbstkritischen Reflexion nicht fähig.

DIE ZEIT: Das hat Dregger gesagt?

HORST MAHLER: Dregger zog natürlich ganz andere Schlußfolgerungen. Aber er hat darauf hingewiesen, daß man diesen Zusammmenhang nicht übersehen darf. Dregger hat die Gemeinsamkeit in der Vergangenheit des Staates geortet. Der Staat war für uns das Böse. Wir waren vergiftet, weil uns dieser Staat wie ein Stachel im Fleische saß und wir uns dagegen gewehrt haben.

DIE ZEIT: Und ist das Gift jetzt raus?

HORST MAHLER: Nein. Der Staat ist den Dialog bis heute schuldig geblieben. Er müßte seine Infragestellung durch die Guerilla selbstkritisch reflektieren und sich dadurch im Bewußtsein der Jugend neu legitimieren. Daß das möglich ist, zeigt die Entwicklung in Lateinamerika. In Uruguay sitzen die Tupamaros heute im Parlament.



DIE ZEIT 02.05.97 Nr.19




 




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