2001-10-14
Jürgen Habermas
Dankesrede des Friedenspreisträgers
Glauben und Wissen
Wenn uns die bedrückende Aktualität des
Tages die Wahl des Themas aus der Hand
reißt, ist die Versuchung groß, mit den John
Waynes »unter uns Intellektuellen« um den
schnellsten Schuss aus der Hüfte zu
konkurrieren. Noch vor kurzem schieden sich
die Geister an einem anderen Thema an
der Frage, ob und wie weit wir uns einer
gentechnischen Selbstinstrumentalisierung
unterziehen oder gar das Ziel einer
Selbstoptimierung verfolgen sollen. Über die
ersten Schritte auf diesem Wege war zwischen
den Wortführern der organisierten
Wissenschaft und der Kirchen ein Kampf der
Glaubensmächte entbrannt. Die eine Seite
befürchtete Obskurantismus und eine
wissenschaftsskeptische Einhegung
archaischer Gefühlsreste, die andere Seite
wandte sich gegen den szientistischen
Fortschrittsglauben eines kruden
Naturalismus, der die Moral untergräbt. Aber
am 11. September ist die Spannung zwischen
säkularer Gesellschaft und Religion auf eine
ganz andere Weise explodiert.
Die zum Selbstmord entschlossenen Mörder,
die zivile Verkehrsmaschinen zu lebenden
Geschossen umfunktioniert und gegen die
kapitalistischen Zitadellen der westlichen
Zivilisation gelenkt haben, waren, wie wir aus
Attas Testament inzwischen wissen, durch
religiöse Überzeugungen motiviert. Für sie
verkörpern die Wahrzeichen der globalisierten
Moderne den Großen Satan. Aber auch uns,
dem universalen Augenzeugen des
»apokalyptischen« Geschehens am
Fernsehschirm, drängten sich biblische Bilder
auf. Und die Sprache der Vergeltung, in der
nicht nur der amerikanische Präsident
zunächst auf das Unfassbare reagierte, erhielt
einen alttestamentarischen Klang. Als hätte
das verblendete Attentat im Innersten der
säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in
Schwingung versetzt, füllten sich überall die
Synagogen, die Kirchen und die Moscheen.
Diese untergründige Korrespondenz hat
übrigens die zivilreligiöse Trauergemeinde im
New Yorker Stadion vor drei Wochen nicht zu
einer symmetrischen Einstellung des Hasses
verleitet.
Trotz seiner religiösen Sprache ist der
Fundamentalismus ein ausschließlich
modernes Phänomen. An den islamischen
Tätern fiel sofort die Ungleichzeitigkeit der
Motive und der Mittel auf. Darin spiegelt sich
eine Ungleichzeitigkeit von Kultur und
Gesellschaft in den Heimatländern der Täter,
die sich erst infolge einer beschleunigten und
radikal entwurzelnden Modernisierung
herausgebildet hat. Was unter glücklicheren
Umständen bei uns immerhin als ein Prozess
schöpferischer Zerstörung erfahren werden
konnte, stellt in diesen Ländern keine
erfahrbare Kompensation für den Schmerz
des Zerfalls traditionaler Lebensformen in
Aussicht. Dabei ist die Aussicht auf Besserung
der materiellen Lebensverhältnisse nur eines.
Entscheidend ist der durch Gefühle der
Erniedrigung offenbar blockierte
Geisteswandel, der sich politisch in der
Trennung von Religion und Staat ausdrückt.
Auch in Europa, dem die Geschichte
Jahrhunderte eingeräumt hat, um eine
sensible Einstellung zum Januskopf der
Moderne zu finden, ist »Säkularisierung«
immer noch, wie sich am Streit um die
Gentechnik zeigt, mit ambivalenten Gefühlen
besetzt.
Verhärtete Orthodoxien gibt es im Westen
ebenso wie im Nahen und im Ferneren Osten,
unter Christen und Juden ebenso wie unter
Moslems. Wer einen Krieg der Kulturen
vermeiden will, muss sich die
unabgeschlossene Dialektik des eigenen,
abendländischen Säkularisierungsprozesses
in Erinnerung rufen. Der »Krieg gegen den
Terrorismus« ist kein Krieg, und im
Terrorismus äußert sich auch der
verhängnisvoll-sprachlose Zusammenstoß von
Welten, die jenseits der stummen Gewalt der
Terroristen wie der Raketen eine gemeinsame
Sprache entwickeln müssen. Angesichts einer
Globalisierung, die sich über entgrenzte
Märkte durchsetzt, erhofften sich viele von
uns eine Rückkehr des Politischen in anderer
Gestalt nicht in der Hobbistischen
Ursprungsgestalt des globalisierten
Sicherheitsstaates, also in den Dimensionen
von Polizei, Geheimdienst und jetzt eben
auch Militär, sondern als weltweit zivilisierende
Gestaltungsmacht. Im Augenblick bleibt uns
nicht viel mehr als die fahle Hoffnung auf
eine List der Vernunft und ein wenig
Selbstbesinnung. Denn jener Riss der
Sprachlosigkeit entzweit auch das eigene
Haus. Den Risiken einer andernorts
entgleisenden Säkularisierung werden wir nur
mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns
darüber klar werden, was Säkularisierung in
unseren postsäkularen Gesellschaften
bedeutet. In dieser Absicht nehme ich heute
das alte Thema »Glauben und Wissen« wieder
auf. Sie dürfen also keine »Sonntagsrede«
erwarten, die polarisiert, die die einen
aufspringen und die anderen sitzen bleiben
lässt.
Das Wort »Säkularisierung« hatte zunächst
die juristische Bedeutung der erzwungenen
Übereignung von Kirchengütern an die
säkulare Staatsgewalt. Diese Bedeutung ist
dann auf die Entstehung der kulturellen und
gesellschaftlichen Moderne insgesamt
übertragen worden. Seitdem verbinden sich
mit »Säkularisierung« entgegengesetzte
Bewertungen, je nachdem ob wir die
erfolgreiche Zähmung der kirchlichen Autorität
durch die weltliche Gewalt oder den Akt der
widerrechtlichen Aneignung in den
Vordergrund rücken. Nach der einen Lesart
werden religiöse Denkweisen und
Lebensformen durch vernünftige, jedenfalls
überlegene Äquivalente ersetzt; nach der
anderen Lesart werden die modernen Denk-
und Lebensformen als illegitim entwendete
Güter diskreditiert. Das Verdrängungsmodell
legt eine fortschrittsoptimistische Deutung der
entzauberten, das Enteignungsmodell eine
verfallstheoretische Deutung der obdachlosen
Moderne nahe. Beide Lesarten machen
denselben Fehler. Sie betrachten die
Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel
zwischen den kapitalistisch entfesselten
Produktivkräften von Wissenschaft und
Technik auf der einen, den haltenden
Mächten von Religion und Kirche auf der
anderen Seite. Dieses Bild passt nicht zu
einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf
das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften
in einer sich fortwährend säkularisierenden
Umgebung einstellt. Ausgeblendet bleibt in
diesem zu engen Bild die zivilisierende Rolle
eines demokratisch aufgeklärten
Commonsense, der sich im
kulturkämpferischen Stimmengewirr
gleichsam als dritte Partei zwischen
Wissenschaft und Religion einen eigenen
Weg bahnt. Gewiss, aus der Sicht des
liberalen Staates verdienen nur die
Religionsgemeinschaften das Prädikat
»vernünftig«, die aus eigener Einsicht auf eine
gewaltsame Durchsetzung ihrer
Glaubenswahrheiten Verzicht leisten. Jene
Einsicht verdankt sich einer dreifachen
Reflexion der Gläubigen auf ihre Stellung in
einer pluralistischen Gesellschaft. Das
religiöse Bewusstsein muss erstens die
Begegnung mit anderen Konfessionen und
anderen Religionen kognitiv verarbeiten. Es
muss sich zweitens auf die Autorität von
Wissenschaften einstellen, die das
gesellschaftliche Monopol an Weltwissen
innehaben. Schließlich muss es sich auf
Prämissen eines Verfassungsstaates
einlassen, der sich aus einer profanen Moral
begründet. Ohne diesen Reflexionsschub
entfalten die Monotheismen in rücksichtslos
modernisierten Gesellschaften ein
destruktives Potenzial. Das Wort
»Reflexionsschub« legt freilich die falsche
Vorstellung eines einseitig vollzogenen und
abgeschlossenen Prozesses nahe. Tatsächlich
findet diese reflexive Arbeit bei jedem neu
aufbrechenden Konflikt auf den
Umschlagplätzen der demokratischen
Öffentlichkeit eine Fortsetzung.
Sobald eine existenziell relevante Frage
denken Sie auch an die Gentechnik auf die
politische Agenda gelangt, prallen die Bürger,
gläubige wie ungläubige, mit ihren
weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen
aufeinander und erfahren so das anstößige
Faktum des weltanschaulichen Pluralismus.
Wenn sie mit diesem Faktum im Bewusstsein
der eigenen Fehlbarkeit gewaltlos umgehen
lernen, erkennen sie, was die in der
Verfassung festgeschriebenen säkularen
Entscheidungsgrundlagen in einer
postsäkularen Gesellschaft bedeuten. Im
Streit zwischen Wissens- und
Glaubensansprüchen präjudiziert nämlich der
weltanschaulich neutrale Staat politische
Entscheidungen keineswegs zugunsten einer
Seite. Die pluralisierte Vernunft des
Staatsbürgerpublikums folgt einer Dynamik
der Säkularisierung nur insofern, als sie im
Ergebnis zur gleichmäßigen Distanz von
starken Traditionen und weltanschaulichen
Inhalten nötigt. Lernbereit bleibt sie aber,
ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben,
gleichsam osmotisch nach beiden Seiten, zur
Wissenschaft und zur Religion, hin geöffnet.
Natürlich muss sich der Commonsense, der
sich über die Welt viele Illusionen macht, von
den Wissenschaften vorbehaltlos aufklären
lassen. Aber die in die Lebenswelt
eindringenden wissenschaftlichen Theorien
lassen den Rahmen unseres Alltagswissens
im Kern unberührt. Wenn wir über die Welt,
und über uns als Wesen in der Welt, etwas
Neues lernen, verändert sich der Inhalt
unseres Selbstverständnisses. Kopernikus
und Darwin haben das geozentrische und das
anthropozentrische Weltbild revolutioniert.
Dabei hat die Zerstörung der astronomischen
Illusion über den Umlauf der Gestirne
geringere Spuren in der Lebenswelt
hinterlassen als die biologische
Desillusionierung über die Stellung des
Menschen in der Naturgeschichte.
Wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen
unser Selbstverständnis umso mehr zu
beunruhigen, je näher sie uns auf den Leib
rücken. Die Hirnforschung belehrt uns über
die Physiologie unseres Bewusstseins. Aber
verändert sich damit jenes intuitive
Bewusstsein von Autorschaft und
Zurechnungsfähigkeit, das alle unsere
Handlungen begleitet?
Wenn wir mit Max Weber den Blick auf die
Anfänge der »Entzauberung der Welt« lenken,
sehen wir, was auf dem Spiel steht. Die Natur
wird in dem Maße, wie sie der
objektivierenden Beobachtung und kausalen
Erklärung zugänglich gemacht wird,
entpersonalisiert. Die wissenschaftlich
erforschte Natur fällt aus dem sozialen
Bezugssystem von Personen, die sich
gegenseitig Absichten und Motive
zuschreiben, heraus. Was wird nun aus
solchen Personen, wenn sie sich nach und
nach selber unter naturwissenschaftliche
Beschreibungen subsumieren? Wird sich der
Commonsense am Ende vom kontraintuitiven
Wissen der Wissenschaften nicht nur
belehren, sondern mit Haut und Haaren
konsumieren lassen? Der Philosoph Winfrid
Sellars hat diese Frage 1960 bereits mit dem
Szenario einer Gesellschaft beantwortet, in
der die altmodischen Sprachspiele unseres
Alltags zugunsten der objektivierenden
Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen
außer Kraft gesetzt worden sind. Er hat dieses
Szenario zunächst einmal entworfen.
Der Fluchtpunkt dieser Naturalisierung des
Geistes ist ein wissenschaftliches Bild vom
Menschen in der extensionalen Begrifflichkeit
von Physik, Neurophysiologie oder
Evolutionstheorie, das auch unser
Selbstverständnis vollständig entsozialisiert.
Das kann freilich nur gelingen, wenn die
Intentionalität des menschlichen Bewusstseins
und die Normativität unseres Handelns in
einer solchen Selbstbeschreibung ohne Rest
aufgehen. Die erforderlichen Theorien
müssen beispielsweise erklären, wie Personen
Regeln grammatische, begriffliche oder
moralische Regeln befolgen oder verletzen
können. Sellars Schüler haben das
aporetische Gedankenexperiment ihres
Lehrers als Forschungsprogramm
missverstanden, das sie bis heute verfolgen.
Das Vorhaben einer naturwissenschaftlichen
Modernisierung unserer Alltagspsychologie hat
sogar zu Versuchen einer Semantik geführt,
die gedankliche Inhalte biologisch erklären
will. Aber auch diese avanciertesten Ansätze
scheinen daran zu scheitern, dass der Begriff
von Zweckmäßigkeit, den wir in das
Darwinsche Sprachspiel von Mutation und
Anpassung, Selektion und Überleben
hineinstecken, zu arm ist, um an jene
Differenz von Sein und Sollen heranzureichen,
die wir meinen, wenn wir Regeln verletzen.
Wenn man beschreibt, wie eine Person etwas
getan hat, was sie nicht gewollt hat und was
sie auch nicht hätte tun sollen, dann
beschreibt man sie aber eben nicht so wie
ein naturwissenschaftliches Objekt. Denn in
die Beschreibung von Personen gehen
stillschweigend Momente des
vorwissenschaftlichen Selbstverständnisses
von sprach- und handlungsfähigen Subjekten
ein. Wenn wir einen Vorgang als die Handlung
einer Person beschreiben, wissen wir
beispielsweise, dass wir etwas beschreiben,
was nicht nur wie ein Naturvorgang erklärt,
sondern erforderlichenfalls auch gerechtfertigt
werden kann. Im Hintergrund steht das Bild
von Personen, die voneinander Rechenschaft
fordern können, die von Haus aus in normativ
geregelte Interaktionen verwickelt sind und
sich in einem Universum öffentlicher Gründe
begegnen.
Diese im Alltag mitgeführte Perspektive
erklärt die Differenz zwischen dem Sprachspiel
der Rechtfertigung und dem der bloßen
Beschreibung. An diesem Dualismus finden
auch die nicht-reduktionistischen
Erklärungsstrategien eine Grenze. Auch sie
nehmen ja Beschreibungen aus einer
Beobachterperspektive vor, der sich die
Teilnehmerperspektive unseres
Alltagsbewusstseins (von der auch die
Rechtfertigungspraxis der Forschung zehrt)
nicht zwanglos ein- und unterordnen lässt. Im
alltäglichen Umgang richten wir den Blick auf
Adressaten, die wir mit »Du« ansprechen. Nur
in dieser Einstellung gegenüber zweiten
Personen verstehen wir das »Ja« und »Nein«
der Anderen, die kritisierbaren
Stellungnahmen, die wir einander schulden
und voneinander erwarten.
Dieses Bewusstsein von
rechenschaftspflichtiger Autorschaft ist der
Kern eines Selbstverständnisses, das sich nur
der Perspektive von Beteiligten und nicht von
Beobachtern erschließt, aber einer
revisionären wissenschaftlichen Beobachtung
entzieht. Der szientistische Glaube an eine
Wissenschaft, die eines Tages das personale
Selbstverständnis durch eine objektivierende
Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern
ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern
schlechte Philosophie. Auch dem
wissenschaftlich aufgeklärten Commonsense
wird es keine Wissenschaft abnehmen,
beispielsweise zu beurteilen, wie wir unter
molekularbiologischen Beschreibungen, die
gentechnische Eingriffe möglich machen, mit
vorpersonalem menschlichem Leben
umgehen sollen.
Der Commonsense ist also mit dem
Bewusstsein von Personen verschränkt, die
Initiativen ergreifen, Fehler machen und
Fehler korrigieren können. Er behauptet
gegenüber den Wissenschaften eine
eigensinnige Perspektivenstruktur. Dieses
selbe, naturalistisch nicht greifbare
Autonomiebewusstsein begründet auf der
anderen Seite auch den Abstand zu einer
religiösen Überlieferung, von deren
normativen Gehalten wir gleichwohl zehren.
Mit der Forderung nach rationaler Begründung
scheint die wissenschaftliche Aufklärung einen
Commonsense, der im vernunftrechtlich
konstruierten Gebäude des demokratischen
Verfassungsstaates Platz genommen hat,
doch noch auf ihre Seite zu ziehen. Gewiss,
auch das egalitäre Vernunftrecht hat religiöse
Wurzeln. Aber diese vernunftrechtliche
Legitimation von Recht und Politik speist sich
aus längst profanisierten Quellen. Der
Religion gegenüber beharrt der demokratisch
aufgeklärte Commonsense auf Gründen, die
nicht nur für Angehörige einer
Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind.
Deshalb weckt der liberale Staat auf Seiten
der Gläubigen wiederum auch den Argwohn,
dass die abendländische Säkularisierung eine
Einbahnstraße sein könnte, die die Religion
am Rande liegen lässt.
Die Kehrseite der Religionsfreiheit ist
tatsächlich eine Pazifizierung des
weltanschaulichen Pluralismus, der ungleiche
Folgelasten hatte. Bisher mutet ja der liberale
Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern
zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und
private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die
ihre religiösen Überzeugungen in eine
säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor
ihre Argumente Aussicht haben, die
Zustimmung von Mehrheiten zu finden. So
machen heute Katholiken und Protestanten,
wenn sie für die befruchtete Eizelle außerhalb
des Mutterleibes den Status eines Trägers
von Grundrechten reklamieren, den (vielleicht
vorschnellen) Versuch, die
Gottesebenbildlichkeit des
Menschengeschöpfs in die säkulare Sprache
des Grundgesetzes zu übersetzen. Die Suche
nach Gründen, die auf allgemeine
Akzeptabilität abzielen, würde nur dann nicht
zu einem unfairen Ausschluss der Religion
aus der Öffentlichkeit führen und die säkulare
Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen
Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden,
wenn sich auch die säkulare Seite ein Gefühl
für die Artikulationskraft religiöser Sprachen
bewahrte. Die Grenze zwischen säkularen und
religiösen Gründen ist ohnehin fließend.
Deshalb sollte die Festlegung dieser
umstrittenen Grenze als eine kooperative
Aufgabe verstanden werden, die von beiden
Seiten fordert, auch die Perspektive der
jeweils anderen einzunehmen.
Der demokratisch aufgeklärte Commonsense
ist kein Singular, sondern beschreibt die
mentale Verfassung einer vielstimmigen
Öffentlichkeit. Säkulare Mehrheiten dürfen in
solchen Fragen keine Beschlüsse
durchdrücken, bevor sie nicht dem Einspruch
von Opponenten, die sich davon in ihren
Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen,
Gehör geschenkt haben; sie müssen diesen
Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto
betrachten, um zu prüfen, was sie daraus
lernen können. In Anbetracht der religiösen
Herkunft seiner moralischen Grundlagen sollte
der liberale Staat mit der Möglichkeit rechnen,
dass die »Kultur des gemeinen
Menschenverstandes« (Hegel) angesichts
ganz neuer Herausforderungen das
Artikulationsniveau der eigenen
Entstehungsgeschichte nicht einholt. Die
Sprache des Marktes dringt heute in alle
Poren ein und presst alle
zwischenmenschlichen Beziehungen in das
Schema der Orientierung an je eigenen
Präferenzen. Das soziale Band, das aus
gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird,
geht aber in den Begriffen des Vertrages, der
rationalen Wahl und der Nutzenmaximierung
nicht auf.
Aus diesem Grund wollte Kant das
kategorische Sollen nicht im Sog des
aufgeklärten Selbstinteresses verschwinden
lassen. Er hat die Willkürfreiheit zur
Autonomie erweitert und damit das erste
große Beispiel für eine zwar säkularisierende,
aber zugleich rettende Dekonstruktion von
Glaubenswahrheiten gegeben. Bei Kant findet
die Autorität göttlicher Gebote in der
unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein
unüberhörbares Echo. Mit seinem Begriff der
Autonomie zerstört er zwar die traditionelle
Vorstellung der Gotteskindschaft. Aber den
banalen Folgen einer entleerenden
Deflationierung kommt er durch eine kritische
Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor.
Säkulare Sprachen, die das, was einmal
gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen
Irritationen. Als sich Sünde in Schuld
verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit
dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich
immer noch der unsentimentale Wunsch, das
anderen zugefügte Leid ungeschehen zu
machen. Erst recht beunruhigt uns die
Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens
jenes Unrecht an den unschuldig
Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten,
das über jedes Maß menschenmöglicher
Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene
Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine
spürbare Leere. Horkheimers berechtigte
Skepsis gegen Benjamins überschwängliche
Hoffnung auf die wiedergutmachende Kraft
humanen Eingedenkens »Die Erschlagenen
sind wirklich erschlagen« dementiert ja nicht
den ohnmächtigen Impuls, am
Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern.
Der Briefwechsel zwischen Benjamin und
Horkheimer stammt aus dem Frühjahr 1937.
Beides, der wahre Impuls und dessen
Ohnmacht, hat sich nach dem Holocaust in
der ebenso notwendigen wie heillosen Praxis
einer »Aufarbeitung der Vergangenheit«
(Adorno) fortgesetzt. Verstellt äußert sich
derselbe Impuls auch noch im
anschwellenden Lamento über das
Unangemessene dieser Praxis. Die
ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne
scheinen in solchen Augenblicken zu glauben,
einander mehr schuldig zu sein und selbst
mehr nötig zu haben, als ihnen von der
religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich
ist so, als seien deren semantische
Potenziale noch nicht ausgeschöpft.
Diese Ambivalenz kann auch zu der
vernünftigen Einstellung führen, von der
Religion Abstand zu halten, ohne sich deren
Perspektive aber ganz zu verschließen. Diese
Einstellung kann die Selbstaufklärung einer
vom Kulturkampf zerrissenen
Bürgergesellschaft in die richtige Richtung
lenken. Moralische Empfindungen, die bisher
nur in religiöser Sprache einen hinreichend
differenzierten Ausdruck besitzen, können
allgemeine Resonanz finden, sobald sich für
ein fast schon Vergessenes, aber implizit
Vermisstes eine rettende Formulierung
einstellt. Sehr selten gelingt das, aber
manchmal. Eine Säkularisierung, die nicht
vernichtet, vollzieht sich im Modus der
Übersetzung. Das ist es, was der Westen als
die weltweit säkularisierende Macht aus seiner
eigenen Geschichte lernen kann.
In der Kontroverse über den Umgang mit
menschlichen Embryonen berufen sich heute
immer noch viele Stimmen auf Moses 1,27:
Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum
Bilde Gottes schuf er ihn. Dass der Gott, der
die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen
schafft, die ihm gleichen, muss man nicht
glauben, um zu verstehen, was mit
Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe kann es
ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit
ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben.
Deshalb muss das Gegenüber in
Menschengestalt seinerseits frei sein, um die
Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz
seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch dieser
Andere noch als Geschöpf Gottes vorgestellt.
Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt
eine Intuition aus, die in unserem
Zusammenhang auch dem religiös
Unmusikalischen etwas sagen kann. Gott
bleibt nur so lange ein »Gott freier
Menschen«, wie wir die absolute Differenz
zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht
einebnen. Nur so lange bedeutet nämlich die
göttliche Formgebung keine Determinierung,
die der Selbstbestimmung des Menschen in
den Arm fällt.
Dieser Schöpfer braucht, weil er Schöpfer- und
Erlösergott in einem ist, nicht wie ein
Techniker nach Naturgesetzen zu operieren
oder wie ein Informatiker nach Regeln eines
Codes. Die ins Leben rufende Stimme Gottes
kommuniziert von vornherein innerhalb eines
moralisch empfindlichen Universums. Deshalb
kann Gott den Menschen in dem Sinne
»bestimmen«, dass er ihn zur Freiheit
gleichzeitig befähigt und verpflichtet. Nun
man muss nicht an die theologischen
Prämissen glauben, um die Konsequenz zu
verstehen, dass eine ganz andere, als kausal
vorgestellte Abhängigkeit ins Spiel käme,
wenn die im Schöpfungsbegriff
angenommene Differenz verschwände und ein
Peer an die Stelle Gottes träte wenn also
ein Mensch nach eigenen Präferenzen in die
Zufallskombination von elterlichen
Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne
dafür einen Konsens mit dem betroffenen
Anderen wenigstens kontrafaktisch
unterstellen zu dürfen. Diese Lesart legt die
Frage nahe, die mich an anderer Stelle
beschäftigt hat. Müsste nicht der erste
Mensch, der einen anderen Menschen nach
eigenem Belieben in seinem natürlichen
Sosein festlegt, auch jene gleichen Freiheiten
zerstören, die unter Ebenbürtigen bestehen,
um deren Verschiedenheit zu garantieren?
Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels