Bundestagsdebatte über den Bundeswehr- und NATO-Einsatz in
Mazedonien am 29.09.2001
(Auszug aufbereitet von GLASNOST)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Bundeskanzler Gerhard Schröder
das Wort.
Gerhard
Schröder, Bundeskanzler (von der SPD mit Beifall
begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin heute nicht
an Polemik interessiert.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deswegen, Herr Westerwelle, will ich nicht nachzeichnen, wie sich der Entscheidungsprozess
gestaltet hat, von dem Sie gesprochen haben.
Ich bin und war immer an einem Ergebnis
interessiert. Das Ergebnis, an dem ich immer interessiert war, ist
eine möglichst breite Mehrheit im gesamten Deutschen Bundestag
für diesen Einsatz. Das war mein Interesse. Ich denke, dass
dieses Interesse verständlich ist. Wie es aussieht, wird dieses
Ergebnis auch erreicht werden. Deshalb interessieren mich die
unterschiedlichen Beiträge zu diesem Ergebnis nur nachrangig.
Sie sind unterschiedlich, aber sie müssen nicht Gegenstand
unserer Diskussion sein, weil das Ergebnis, das erzielt werden wird,
stimmt. Das liegt im Interesse der Soldaten, die einen schwierigen
Einsatz vor sich haben, wofür sie die Unterstützung des
gesamten Hauses brauchen und im Übrigen - da bin ich mir ganz
sicher - auch wollen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Sehr viele Menschen in Deutschland, weit über den Kreis derjenigen hinaus,
die hier versammelt sind und die sich zu Recht für Fachfrauen und Fachmänner
halten können, stellen sich ein paar wesentliche Fragen, zunächst
folgende: Was tut ihr eigentlich auf dem Balkan? Was wollt ihr da? Diese Fragen
stellen sich zumal ältere Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt
und Erinnerungen daran haben, anders als ich und andere meines Alters sowie
diejenigen, die jünger sind.
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Seine Cousinen!)
Sie fragen: Was tut ihr da? Auf diese Frage müssen wir ihnen eine Antwort
geben. Wir müssen ihnen sagen: Wir sind dort, weil wir als Deutsche daran
interessiert sind, dass in dieser Region Europas Stabilität herrscht. Stabilität
heißt, dass es eine Chance für Frieden und Wohlfahrt der Menschen
in dieser Region gibt.
Es ist mir wichtig, dass das klar wird.
Die Deutschen sind auf dem Balkan, weil sie ein eigenes nationales
Interesse an der Stabilität in der Region haben;
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
denn Instabilität in der Region bedroht uns vielleicht nicht unmittelbar
und gegenwärtig, aber potenziell schon. Deswegen ist es so wichtig, dass
wir den Menschen, die sich nicht jeden Tag mit Politik beschäftigen können
und wollen, klarmachen, dass es ein nationales Interesse Deutschlands an der
Stabilität in dieser Region gibt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Das bedeutet zugleich, dass Investitionen für den Frieden, aber auch der
Einsatz, um den es hier geht, keineswegs nur den Interessen der Mazedonier und
der Menschen in der Region, sondern auch uns selbst dienen. Leisteten wir diese
Investitionen nicht, würde das früher oder später sowohl politisch,
aber - angesichts der Verflochtenheit Europas - mit Sicherheit auch ökonomisch
auf Deutschland zurückwirken, und zwar negativ.
Die zweite Frage, die gestellt wird,
ist: Warum dauert die Herstellung vernünftiger politischer und
ökonomischer Strukturen so lange? Ich glaube, das fragen sich
ganz viele Leute. Die Antwort darauf findet man vielleicht dann, wenn
man sich - ganz kurz nur - mit jener Stabilität beschäftigt,
die vor dem Zerfall Gesamtjugoslawiens dort herrschte. Wenn man sich
die Geschichte anschaut, erkennt man, dass es sich dort zu großen
Teilen zunächst um eine Scheinstabilität handelte, die
feudalistisch-autoritär garantiert war, und später um eine
Scheinstabilität, die - jedenfalls nach unseren Wertmaßstäben
-, diktatorisch hergestellt war.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Das stimmt!)
Jetzt geht es auf dem Balkan darum, politisch und ökonomisch eine Stabilität
herzustellen, die demokratisch organisiert ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Der Blick in die Geschichte, auch Westeuropas, unsere eigene - von Mittel-
und Osteuropa will ich in diesem Zusammenhang erst gar nicht reden -, müsste
einem klarmachen - und einen ein bisschen bescheiden werden lassen -, dass es
auch bei uns verdammt lange gedauert hat, bis wir die demokratisch organisierte
Stabilität als einen Normalfall unseres Zusammenlebens hergestellt hatten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des
Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])
Die Menschen werden sich fragen, was der Unterschied zwischen dem ist, was
vorher auf dem Balkan getan werden musste, und dem, was jetzt in Mazedonien
möglich und notwendig ist. Der Unterschied ist: Damals ging es - ich will
es so ausdrücken - um die Beseitigung der Diktatur von Milosevic, also
jener Stabilität, die diktatorisch hergestellt wurde, und den Neuaufbau
demokratisch legitimierter Stabilität. In Mazedonien - das müssen
sich all diejenigen sagen, die Schwierigkeiten mit der Zustimmung haben - müssen
wir nicht abwarten, bis wir neu anfangen können. In Mazedonien gibt es
noch - so muss man sagen - die Chance, dass die Stabilität, die demokratisch
organisiert ist und die einzig dort - ich sehe jetzt von Serbien, das einen
Neuanfang macht, ab - noch existiert, bewahrt und entwickelt wird. Das ist der
positive Unterschied, und zwar sowohl in Bezug auf das, was von uns verlangt
wird, als auch bezüglich dessen, was wir leisten können.
Damit bin ich bei dem nächsten
Punkt, den ich erklären möchte: Wir dürfen nicht
warten, bis wir wieder dort angelangt sind, wo es um einen Neuanfang
demokratisch organisierter Stabilität geht. Wir haben jetzt noch
eine Chance - auch ich weiß nicht, ob wir sie realisieren
können; es hängt ja nicht allein von uns ab -, das
vermeiden zu helfen, was wir sonst in absehbarer Zeit tun müssten,
wenn das schief gehen sollte, was nach meiner Meinung nicht schief
gehen darf.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Bewahren und Entwickeln jener demokratisch organisierten Stabilität
ist keineswegs vor allem eine militärische Aufgabe, weswegen - das ist
wichtig - der militärische Teil nur ein Ausschnitt von dem ist, was wir
dort zu tun haben. Er ist - wenn ich das so sagen darf - eine notwendige, aber
keineswegs hinreichende Bedingung. Wenn man politische Stabilität will,
muss das weitergeführt werden, was hier als politische Lösung von
allen angedeutet wird. Ich werde dazu noch ein paar Bemerkungen machen.
Die nächste Frage - mit der sich
weniger die Menschen draußen befasst haben, mit der man sich
aber zu Recht hier im Parlament beschäftigt hat - betrifft die
Reichweite des Mandats. Dabei geht es nicht darum, dass die
Bundesregierung sich nicht ein anderes, ein zeitlich anders
gestaltetes, ein anders ausgestattetes Mandat hätte vorstellen
können;
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Hat sie das?)
ich sage gleich etwas zu der Frage "robust oder nicht robust". Vielmehr
geht es einzig um die Frage: Welches Mandat konnte man überhaupt bekommen?
Wenn man voraussetzte, dass dieses Mandat auf der Bitte des demokratisch gewählten
Präsidenten einerseits und der Zustimmung der Konfliktparteien andererseits
zu basieren hatte, wenn das eine der notwendigen Bedingungen des Mandats war,
dann ist das, was erreichbar war, auch erreicht worden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Im Übrigen war bei den Partnern selber der Wille zu einem anderen Mandat
nicht vorhanden, weswegen in ihm lediglich von hinreichenden Fähigkeiten
zum Schutz der eigenen Soldaten, aber auch von hinreichenden Fähigkeiten
zur Nothilfe die Rede ist. Diese Fähigkeiten sind vorhanden. Darauf kann
sich jeder verlassen. Zum anderen müssen im Fall des Scheiterns der politischen
Voraussetzungen des Mandats hinreichende Fähigkeiten zu einem Rückzug
gegeben sein, wie SACEUR gesagt hat. Beides ist erfüllt.
Deswegen führt es niemanden weiter, wenn wir jetzt darüber diskutieren,
ob man ein anderes Mandat gebraucht hätte. Es war kein anderes zu bekommen.
Im Übrigen verbinden diejenigen, die das fordern, mit dem Begriff "robust"
wohl etwas, was sie in anderen Zusammenhängen häufig abgelehnt haben.
Das kann man nicht bestreiten. Man muss schon bei der Linie bleiben, die man
sich selber vorgestellt hat, wenn man ernst genommen werden will.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will auch auf das eingehen, was Herr Gysi gesagt hat. Jetzt gestatte ich
mir doch eine kleine Polemik. Bei seinen juristischen Erörterungen hatte
ich wirklich das Gefühl, er glaube noch immer, dass die Weltgeschichte
ein Amtsgericht sei.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber, Herr Gysi, das ist wirklich nicht so. Das werden auch Sie noch merken.
Was war nämlich mit dem VN-Mandat? Es geht um die Bitte eines demokratisch
gewählten Präsidenten und die Zustimmung der Konfliktparteien. Beides
war vorhanden. Deswegen brauchte man kein Mandat der Art, wie Sie es haben wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Im Gegenteil, die Partner, diejenigen, die im Sicherheitsrat und in den VN
mehr als wir zu sagen haben, haben sehr deutlich gemacht, dass sie es als einen
Präzedenzfall ansehen würden, wenn man angesichts der klaren Situation
- Bitte des Präsidenten und Zustimmung der Konfliktparteien - auf einem
VN-Sicherheitsrats-Mandat bestehen würde. Diesen Unterschied dürfen
Sie wirklich nicht juristisch wegzudiskutieren versuchen.
(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])
Lassen Sie mich einmal zu Ende reden. - Es geht dabei um eine politische Frage.
Deswegen ist die Zustimmung des Sicherheitsrates mit der Aufforderung an die
NATO, das, was die Vermittler vereinbart haben, umsetzen zu helfen, nun wirklich
alles, was man in dieser historischen Situation sinnvollerweise von der UNO
fordern und von ihr erwarten kann. Diese Erwartung wurde auch erfüllt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ihnen, Herr Westerwelle, der Sie die Rolle Deutschlands innerhalb der Partner
sehr stark herausgestrichen haben, und anderen, die kritisch über das diskutiert
haben, was man in diesen wie auch in anderen Fragen noch in alleiniger nationaler
Verantwortung nicht nur tun will, sondern auch tun kann - ich habe in der letzten
Zeit kräftig mitdiskutieren müssen -, möchte ich Folgendes sagen:
Wir müssen in dem Maße, wie wir daran arbeiten, dass es eine europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt, auch bereit sein, zu akzeptieren,
dass man nicht auf der einen Seite mehr Integration und auf der anderen Seite
weniger partnerschaftliches Verhalten fordern kann. Das geht nicht, meine Damen
und Herren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gerade wenn von Deutschland im Bereich der Europapolitik verlangt wird - das
unterstreichen wir -, Motor europäischer Integration nicht nur auf ökonomischem,
sozialem und ökologischem, sondern auch auf außen- und verteidigungspolitischem
Gebiet zu sein, dann hat das Konsequenzen für das, was man in eigener nationaler
Verantwortung noch tun und wollen darf.
(Zuruf von der FDP)
Das heißt nicht, dass wir uns "verstecken". Das ist die logische
Konsequenz der weiteren Integration Europas und nichts anderes.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Man kann, um das mit einem englischen Sprichwort zu sagen, den Kuchen nicht
haben wollen und ihn zugleich essen. So kam mir die Bemerkung vor. Das wird
nicht funktionieren.
Ich will abschließend sagen: Die Aufforderungen all derjenigen, die an
die Adresse der Bundesregierung gerichtet gesagt haben, sie müsse mehr
für den politischen Prozess der Stabilisierung der Region tun, sind ungerechtfertigt.
Es war vor allem der Bundesaußenminister, der während der Auseinandersetzung
mit Serbien und während der Auseinandersetzung mit Milosevic als Erster
und lange Zeit als Einziger die Idee des Stabilitätspaktes den Partnern
nahe gebracht und schließlich auch durchgesetzt hat. Dieser Stabilitätspakt
ist zu Recht mit dem Namen des Bundesaußenministers verbunden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Seine Weiterführung, für die ich plädiere, wird nicht das Ergebnis
nur einer nationalen, einer deutschen Anstrengung sein. Ich muss darauf hinweisen:
Dieser Stabilitätspakt ist noch nicht einmal von Europa alleine veranstaltet
worden und wird es auch in Zukunft nicht. Beim Stabilitätspakt sind auch
andere Länder, von Amerika bis Japan, beteiligt. Die Bundesregierung wird
sich aber auch künftig massiv dafür einsetzen, diesen politischen
Prozess weiterzuführen.
Ich komme zu Ihrer Forderung nach einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit.
Die Bundesregierung hat mit einer solchen Konferenz weniger ein Problem. Ich
bitte Sie aber zu verstehen, dass es den einen oder anderen Partner gibt, der
die europäische Geschichte nicht völlig aus dem Gedächtnis verloren
hat; das muss ich nicht näher ausführen. Diese Partnerländer
sind deswegen bei dieser Frage zurückhaltender als wir; denn sie fürchten
vielleicht, dass wir unsere enorme wirtschaftliche Stärke und den Bedeutungszuwachs,
den wir durch die Einheit in der Außen- und Sicherheitspolitik ohne Zweifel
bekommen haben, nicht eingebunden in die europäische Partnerschaft nutzen
könnten. Es liegt zwar jedem in diesem Hohen Hause fern: Aber es gibt Befürchtungen,
dass die historischen und gegenwärtigen Empfindsamkeiten unserer Partner
nicht richtig bedacht werden. Das ist die Aufgabe, die wir haben und die wir
auch sehen.
Was bleibt mir? - Mir bleibt, Sie zu
bitten - gleichgültig welcher Fraktion dieses Hohen Hauses Sie
angehören - zuzustimmen. Ich glaube, dass man dies wirklich
guten Gewissens tun kann, auch wenn der eine oder andere meint,
militärischen Missionen gegenüber prinzipiell gegnerisch
eingestellt zu sein. Hier kann man aus einem Grund zustimmen: Es geht
wirklich darum, Mazedonien, einem Land, das zurzeit noch über
demokratische Strukturen verfügt, dabei zu helfen, diese zu
erhalten und entwickeln zu können. Dieser Aufgabe sollte sich
niemand entziehen.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Quelle: Plenarprotokoll
des Deutschen Bundestages vom 29.08.2001
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