Bundestagsdebatte über den
Bundeswehr- und NATO-Einsatz in Mazedonien am 29.09.2001 (Auszug
aufbereitet von GLASNOST)
Joseph Fischer, Bundesminister des
Auswärtigen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass Jugoslawien zerbrach und die
Reihe jugoslawischer Erbfolgekriege begann. Diese vier blutigen
Kriege haben unsägliches Leid über die Menschen gebracht,
Frieden und Stabilität gefährdet und Südosteuropa in
eine tiefe Krise gestürzt. Nur ein Nachfolgestaat Jugoslawiens
ist bisher von einem vergleichbaren Schicksal verschont geblieben,
nämlich Mazedonien.
Nun steht auch dieses Land am Rande
eines grausamen Krieges und droht in dessen Gefolge zu zerbrechen.
Bisher ist es dank erheblicher Anstrengungen gelungen, den Ausbruch
eines Bürgerkrieges zu verhindern. Aber allein die große
Zahl der Flüchtlinge zeigt, wie prekär die Lage ist. Ohne
äußere Hilfe, ohne den entschlossenen Einsatz der
Staatengemeinschaft wird der Frieden in Mazedonien kaum eine Chance
haben. Dabei kommt es in erster Linie auf Europa und damit als Teil
dieses wachsenden Europas auch auf Deutschland an.
Von der heutigen Entscheidung des
Deutschen Bundestages wird es daher mit abhängen, ob die
Entwicklung in Mazedonien in Richtung Krieg oder Frieden verläuft.
Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, um
diesmal rechtzeitig den Konflikt präventiv zu verhindern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ein Krieg wäre nicht nur eine
Katastrophe für die Menschen in Mazedonien. Er könnte auch
ein politisches Erdbeben in seiner Umgebung auslösen und so die
Früchte jahrelanger internationaler Friedensbemühungen
zunichte machen. Ein Bürgerkrieg hätte zudem unabsehbare
Auswirkungen auf die gesamte Region, auf Kosovo und Albanien, auf die
Bundesrepublik Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina, aber auch auf
Bulgarien, Griechenland und die Türkei und damit direkt auf die
NATO und die EU.
Seit Mazedonien 1991 unabhängig
wurde, haben sich Europa, Deutschland und die USA dort aktiv um
Konfliktprävention bemüht. Es ging dabei immer um eine
doppelte Herausforderung: Nach außen musste Mazedonien seine
von anderen infrage gestellte Existenz behaupten und verhindern, in
den Strudel der Balkankriege gerissen zu werden. Die
Staatengemeinschaft hat ihre Friedensbemühungen durch viele
Maßnahmen - von der Mission der Vereinten Nationen UNPREDEP und
internationaler Wirtschaftshilfe bis zu den Aktivitäten der OSZE
und des Stabilitätspakts - unter stützt. Nicht ohne Erfolg:
Mazedonien ist heute eine funktionierende Demokratie. Es ist
international respektiert und hat mit dem unterzeichneten
Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen bisher als einziges Land
in der Region neben Slowenien eine konkrete Perspektive für die
Europäische Union.
Im Innern ging es um eine gerechte und
gleichberechtigte Teilhabe der beiden großen Volksgruppen an
staatlicher Gewalt. Deutschland hat sich dabei immer für eine
Ausweitung der Rechte und eine angemessene Repräsentanz der
albanischen Minderheit im mazedonischen Staat eingesetzt im Rahmen
der territorialen Integrität und des multiethnischen Charakters
des mazedonischen Staates. Dieser innere Ausgleich gestaltete sich
weitaus schwieriger als die äußere Stabilisierung des
Landes.
Seit dem Gewaltausbruch zu Anfang des
Jahres hat sich die Bundesregierung zusammen mit ihren Partnern
massiv für eine politische Lösung engagiert. Dabei war von
Anfang an klar: Entscheidend für den Frieden in Mazedonien ist
eine neue Grundlage des Zusammenlebens, eine gerechtere demokratische
Verfassung.
Dem EU-Sonderbeauftragten François
Léotard ist es in einer beispielhaft engen Zusammenarbeit mit
dem amerikanischen Botschafter Pardew sowie mit Javier Solana und
Lord Robertson gelungen, in äußerst schwierigen
Verhandlungen ein politisches Rahmendokument auszuhandeln. Angesichts
der bis zuletzt weit auseinander liegenden Positionen grenzt dieses
Ergebnis fast an ein Wunder. Für diese bedeutende Leistung
gebührt den Vermittlern unser aller Dank und unsere Anerkennung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
FDP)
Es müssen jetzt alle Anstrengungen
unternommen werden, um das Rahmenabkommen so schnell wie möglich
zu implementieren. Die zentrale Verantwortung liegt bei den
politischen Führern in Mazedonien, und zwar auf beiden Seiten.
Aber auch eine Unterstützung von außen bleibt
unverzichtbar. Unsere Hauptaufgabe wird dabei weiterhin im
politischen Bereich liegen. Die Umsetzung der Vereinbarungen
erfordert jedoch auch eine militärische Komponente.
Beide Konfliktparteien haben auf einer
von der NATO durchgeführten Operation zur Entwaffnung der
NLA-Rebellen bestanden. Die Einladung ging an die NATO, weil diese
seit 1995 auf dem Balkan engagiert ist und sich in Mazedonien den Ruf
einer unparteiischen, aber auch durchsetzungswilligen Instanz
erworben hat. In der vergangenen Woche hat der NATO-Rat die
Ausführungsweisung für die Operation "Essential
Harvest" erlassen. Die Bundesregierung hat daraufhin die
Beteiligung deutscher Streitkräfte im Rahmen eines französischen
Bataillons beschlossen. Folgende Gründe sprechen unseres
Erachtens dafür:
Die Operation "Essential Harvest"
ist nur ein - allerdings unverzichtbarer - Teil der politischen
Gesamtstrategie zur Verhinderung eines Bürgerkriegs in
Mazedonien. Die Bestimmungen des Abkommens von Ohrid zur Waffenabgabe
und zur Ratifizierung der Verfassungsänderungen greifen
unauflösbar zeitlich ineinander. Durch diese enge Verzahnung
soll verhindert werden, dass sich die eine oder andere Seite
einseitig Vorteile verschafft. Nur durch eine parallele Erfüllung
beider Aufgaben hat der Frieden eine Chance. Entfällt oder
scheitert das Einsammeln der Waffen, dann bricht der mühsam
erreichte politische Kompromiss zusammen. Die NATO kann sich deshalb
der Bitte der Konfliktparteien nicht entziehen, ohne Verantwortung
für ein Scheitern des Friedensprozesses zu übernehmen.
Die von uns und unseren Partnern
geforderten Voraussetzungen für den Einsatz liegen heute vor:
eine Grundsatzvereinbarung über eine politische Lösung,
eine Einigung über den Waffenstillstand in Verbindung mit einer
Amnestie und eine Selbstverpflichtung der NLA zur freiwilligen
Waffenabgabe.
Für den Einsatz gibt es eine klare
Rechtsgrundlage, nämlich das Schreiben von Präsident
Trajkowski, das von allen Parteien der Koalitionsregierung gebilligt
wurde. Zusätzliche Unterstützung erhält er durch die
Erklärung des Vorsitzenden des VN-Sicherheitsrats vom 13.
August, die von allen seinen Mitgliedern mitgetragen wurde; gerade
die Einbindung Russlands ist dabei besonders wichtig. Die
Friedensbemühungen in Mazedonien beruhen damit auf einer
geschlossenen Haltung der internationalen Gemeinschaft, von EU, OSZE,
NATO und Vereinten Nationen.
Es wird nicht immer deutlich genug
gesehen, dass sich der Einsatz in Mazedonien grundsätzlich von
anderen NATO-Operationen, etwa in Bosnien oder im Kosovo,
unterscheidet. Anders als dort geht es in Mazedonien nicht darum,
einen voll entflammten Bürgerkrieg durch den Einsatz von
Friedenstruppen zu beenden, sondern es geht darum, dessen Ausbruch
präventiv zu verhindern. Prävention, nicht
Friedenssicherung, ist deshalb heute die Aufgabe in Mazedonien.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD)
Hiermit hängt der besondere
Charakter des Mandats zusammen. Die NATO ist auf Einladung beider
Parteien präsent und zu strikter Neutralität verpflichtet.
Sie kann deshalb nur das tun, worum sie gebeten wird. Das Bündnis
handelt im Rahmen eines robusten Mandats, soweit es den Selbstschutz
der Soldaten und die Möglichkeit zur Nothilfe zugunsten unserer
Partner betrifft; ansonsten wird die NATO nicht Konfliktpartei
werden. Zu dem Prinzip der freiwilligen Waffenabgabe gibt es - bei
allen Unzulänglichkeiten und Risiken des Mandats - gegenwärtig
allerdings keine sinnvolle Alternative.
Die kurze Frist von 30 Tagen soll Druck auf die
Konfliktparteien ausüben und einer schleichenden Ausweitung der Operation
vorbeugen. Die Festlegungen des Mandats, über das der Bundestag heute zu
beschließen hat, sind eindeutig und präzise. Einen "mission
creep" wird es nicht geben. Sollte eine Veränderung der Lage eintreten,
dann muss die NATO diese neu bewerten und der Deutsche Bundestag würde
gegebenenfalls konstitutiv neu befasst. Sollte es gar zu einem Zusammenbruch
des Waffenstillstands kommen, so wäre eine zentrale Voraussetzung für
die Mission nicht mehr gegeben.
Der SACEUR - Oberbefehlshaber der
NATO-, General Ralston, hat eindeutig erklärt, er werde in einem
solchen Fall nicht zögern, dem NATO-Rat die Rückverlagerung
der Truppen zu empfehlen.
Der Einsatz der NATO ist nur ein
Element aus einem viel weiter reichenden Bündel von Maßnahmen
zur politischen und ökonomischen Stabilisierung Mazedoniens. Die
Bundesregierung hat ein begleitendes präventives Konzept
entwickelt, das über die 30 Tage des NATO-Einsatzes
hinausreicht. Dazu gehört die Fortführung der politischen
Vermittlung sowie eine ökonomische Unterfütterung des
Friedensprozesses. Nach einem erfolgreichen Abschluss von "Essential
Harvest" und der Annahme der Verfassungsänderungen sollte
sofort eine internationale Geberkonferenz für Mazedonien
stattfinden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD)
Deutschland ist mittlerweile seit
vielen Jahren auf dem Balkan engagiert. Im Rückblick steht fest,
dass die Staatengemeinschaft in Bosnien und im Kosovo zu spät -
in Bosnien viel zu spät - gehandelt hat. Hunderttausende
Unschuldiger haben dies mit ihrem Leben bezahlt. Wir wissen heute,
dass die Probleme des Balkans letztendlich nicht einzeln und auch
nicht militärisch zu lösen sein werden - weder in Bosnien
noch im Kosovo oder in Mazedonien -, sondern nur im Rahmen eines
regionalen Gesamtansatzes. Mit dem Stabilitätspakt hat
Deutschland erstmals einen regionalen Handlungsrahmen formuliert, den
es heute in Richtung eines KSZE-ähnlichen regionalen Prozesses
fortzuentwickeln gilt. Seine Elemente müssen sein:
Vertrauensbildung, Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle,
wirtschaftliche Zusammenarbeit und ein wirksamer Minderheitenschutz.
Entscheidend ist dabei allerdings eine
Perspektive für Europa. Die gesamte Region an das Europa der
Integration heranzuführen wird ein langfristiges Engagement der
Europäer erfordern; aber es ist der einzige Ausweg man könnte
auch sagen: die einzige Exit-Strategie - aus dem Teufelskreis von
ethnischem Hass und Bürgerkrieg.
(Beifall bei Abgeordneten des
BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
In Mazedonien liegt die Hauptlast der
politischen Lösung wie auch der militärischen Komponente
heute bei den Europäern. Dabei geht es nicht um ein abstraktes
Solidaritätsbekenntnis gegenüber unseren Partnern, sondern
ganz konkret um eine neue Rolle Europas in der entstehenden
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Es wäre deshalb
höchst widersinnig, wenn sich gerade Deutschland, das zusammen
mit Frankreich immer der Motor der europäischen Integration
gewesen ist und in einer erweiterten Union auch bleiben muss,
ausgerechnet diesem für die Zukunft Europas besonders wichtigen
Einsatz verwehren würde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Der Einsatz, über den es heute zu
beschließen gilt, ist ganz gewiss nicht ohne Risiken und
Gefahren, vor allen Dingen für die eingesetzten Soldaten. Es
gibt auch keine Garantie für den Frieden. In der Abwägung
überwiegen je doch eindeutig die Argumente für eine
deutsche Beteiligung. Es geht um unsere Verantwortung für
Frieden und Stabilität auf dem Balkan und um die Solidarität
mit unseren wichtigsten Partnern in der Europäischen Union und
im transatlantischen Bündnis.
Dieser Verantwortung darf sich das
vereinte Deutschland nicht entziehen. Deshalb, meine Damen und
Herren, bitte ich das Haus um eine breite Unterstützung für
den Antrag der Bundesregierung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD)
Quelle: Plenarprotokoll
des Deutschen Bundestages vom 29.08.2001
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