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Moskau (ADN). Die Rede des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow im Moskauer Fernsehen hat folgenden Wortlaut: "Verehrte Landsleute! Mitbürger! Angesichts der Situation, die nach der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten entstanden ist, beende ich meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR. Diese Ent- scheidung treffe ich auf Grund meiner Prinzipien. Ich trat immer fest ein für die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit der Völker, die Souveränität der Republiken. Aber gleichzeitig war ich auch für die Erhaltung des Unionsstaates und des ganzen Landes. Die Ereignisse haben sich in eine andere Richtung entwickelt. Die Linie der Zerstückelung und Auflösung des Landes hat sich durchgesetzt. Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären. Auch nach dem Treffen in Alma Ata und den dort gefaßten Beschlüssen hat sich meine Position in dieser Frage nicht geändert. Darüber hinaus bin ich der Überzeugung, daß Entscheidungen von solchem Ausmaß auf Grundlage einer Willenserklärung des Volkes getroffen werden müssen. Ungeachtet dessen werde ich alle meine Möglichkeiten aus- schöpfen, daß die dort unterzeichneten Vereinbarungen zu einer wirklichen Verständigung in der Gesellschaft führen sowie den Ausweg aus der Krise und den Reformprozeß erleichtern. Ich spreche zu Ihnen das letzte Mal als Präsident der UdSSR. Deshalb halte ich es für notwendig, meinen seit 1985 gegangenen Weg einzuschätzen. Und dies um so mehr, da es darüber nicht wenig oberflächliche, widersprüchliche und nicht objektive Wertungen gibt. Das Schicksal hat es so gefügt, daß es sich bereits bei meiner Amtsübernahme zeigte, daß es im Land Probleme gab. Gott hat uns viel geschenkt: Land, Erdöl, Gas und andere Naturreichtümer. Und auch viele talentierte und kluge Menschen. Und dabei leben unsere Menschen schlechter als in den anderen entwickelten Ländern. Wir bleiben sogar immer weiter hinter ihnen zurück. Der Grund dafür war schon zu sehen - die Gesellschaft befand sich in der Schlinge eines bürokratischen Kommandosystems. Die Gesellschaft mußte der Ideologie dienen und dabei die furchtbare Last des Wettrüstens tragen. Die Gesellschaft gelangte an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Alle Versuche von halbherzigen Reformen - und ihrer gab es nicht wenige - scheiterten nacheinander. Das Land verlor immer mehr an Perspektive. So konnte man nicht weiterleben. Es mußte alles grund- legend verändert werden. Ich habe es deshalb niemals bereut, daß ich meine Funktion als Generalsekretär dafür nicht mißbrauchte, nur um ein paar Jahre zu 'herrschen'. Das hätte ich als verantwortungslos und unmoralisch angesehen. Mir war klar, daß die Einleitung von solchen großen Reformen in einer solchen Gesellschaft wie der unseren eine äußerst schwere und auch in bestimmter Hinsicht eine riskante Sache ist. Und auch heute bin ich noch von der historischen Richtigkeit der demokratischen Reformen überzeugt, die im Frühjahr 1985 eingeleitet wurden. Der Prozeß der Erneuerung des Landes und der grundlegenden Veränderungen in der Weltgemeinschaft hat sich komplizierter erwiesen, als man das voraussagen konnte. Trotzdem muß man das Vollbrachte gebührend einschätzen. Die Gesellschaft wurde frei. Und das in politischer und geistiger Hinsicht. Und das ist die größte Errungenschaft. Sie wird bei uns noch nicht bis zum Ende gebührend gewertet. Und wahrscheinlich deshalb, weil wir es immer noch nicht gelernt haben, die Freiheit richtig zu nutzen. Trotzdem wurde eine Arbeit von historischer Bedeutung geleistet: Es wurde ein totalitäres System beseitigt, das ein weiteres Aufblühen und Wohlergehen des Landes ver- hinderte. Es wurde ein Durchbruch zu demokratischen Veränderungen vollzogen. Freie Wahlen, eine freie Presse, Religionsfreiheit, wirkliche Machtorgane, ein Mehrparteiensystem wurden zur Realität. Die Menschenrechte wurden als oberstes, Prinzip anerkannt. Es wurde mit dem Übergang zu einer vielseitigen Wirtschaft begonnen. Alle Formen des Eigentums werden als gleichberechtigt anerkannt. Im Rahmen der Bodenreform ist die Bauernschaft wiedererstanden. Farmen wurden gegründet. Millionen Hektar Land werden an Land- und Stadtbewohner übergeben. Die wirtschaftliche Freiheit des Produzenten wurde gesetzlich verankert. Das Unternehmertum, die Gründung von Aktiengesellschaften und die Privatisierung gewannen immer mehr an Kraft. Es muß daran erinnert werden, daß der Übergang zur Marktwirtschaft im Interesse des Menschen erfolgt. In dieser schweren Zeit muß alles für seinen sozialen Schutz getan werden. Das gilt vor allem für die alten Menschen und die Kinder. Wir leben in einer anderen Welt: Der 'kalte Krieg' ist vorbei. Das Wettrüsten wurde gestoppt. Die wahnsinnige Militarisierung unseres Landes, die unsere Wirtschaft, das gesellschaftliche Bewußtsein und die Moral zu Grunde richtete, wurde beendet. Die Gefahr eines Weltkrieges wurde beseitigt. Ich möchte noch einmal betonen, daß von meiner Seite in der Übergangsperiode alles für eine zuverlässige Kontrolle der Kernwaffen getan wurde. Wir öffneten uns der Welt und verzichteten auf die Einmischung in fremde Angelegenheiten sowie auf den Einsatz von Truppen außerhalb unseres Landes. Und man antwortete uns mit Vertrauen, Solidarität und Respekt. Wir wurden zu einer der wichtigsten Stützen bei der Umgestaltung der mo- dernen Zivilisation auf friedlicher und demokratischer Basis. Die Völker und Nationen haben die reale Freiheit erhalten, den Weg ihrer Entwicklung selbst zu bestimmen. Die Suche nach einer demokratischen Reformierung unseres Viel- völkerstaates führte uns an die Schwelle eines neuen Unionsvertrages. Alle diese Veränderungen verlangten große Anstrengungen. Sie verliefen in einem harten Kampf. Der Widerstand der alten, überlebten und reaktionären Kräfte und des früheren Partei-, Wirtschafts- und Staatsapparates wurde immer stärker. Aber auch die alten Gewohnheiten, ideologische Vorurteile, Gleichmacherei und Schmarotzertum gewannen immer mehr Stärke. Sie stießen auf unsere Ungeduld, auf unsere niedrige politische Kultur und auf unsere Angst vor Veränderungen. Deshalb haben wir viel an Zeit verloren. Das alte System lag schon am Boden, bevor ein neues entstanden war. Die Krise der Gesellschaft spitzte sich immer mehr zu. Ich weiß, daß man mit der gegenwärtigen schweren Lage nicht zufrieden ist. Mir ist auch die scharfe Kritik an den Staatsorganen auf allen Ebenen und an mei- ner persönlichen Tätigkeit bekannt. Aber ich möchte noch einmal unterstreichen: Grundlegende Veränderungen in einem derartigen riesigen Land und dazu noch mit einem solchen Erbe können nicht schmerzlos, ohne Schwierigkeiten und ohne Erschütterungen vollzogen werden. Der Putsch im August war der Höhepunkt der allgemeinen Krise. Das Furchtbarste an dieser Krise war der Zerfall der staatlichen Strukturen. Ich bin beunruhigt daß unsere Menschen das Gefüge verlieren, Bürger eines großen Lan des zu sein. Das kann noch für alle schwere Folgen haben. Als lebens wichtig erachte ich die Erhaltung der demokratischen Errungen schaften der letzten Jahre. Sie wur den unter den Qualen unserer ge samten Geschichte hervorge bracht. Auf sie darf unter keine Umständen verzichtet werden. Sonst sind alle unsere Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zum Un- tergang verurteilt. Ich spreche übe alles ehrlich und offen. Das ist meine moralische Pflicht. Ich möchte allen Bürgern danken, die die Politik zur Erneuerung des Landes unterstützen und sich an der Verwirklichung der demokratischen Reformen beteiligten. Ich danke allen Vertretern der Politik und der Öffentlichkeit sowie den Millionen Menschen im Ausland und all jenen, die unsere Pläne verstanden und unterstützten und die uns entgegenkamen, um mit uns ehrlich zusammenzuarbeiten. Ich verlasse meinen Posten mit Un- ruhe. Aber auch mit der Hoffnung und dem Glauben an Ihre Klugheit und geistige Stärke. Wir sind die Nachkommen einer großen Zivilisation. Und es hängt jetzt von uns allen und von jedem Einzelnen ab, daß diese Zivilisation zu einem neuen und ihr würdigen und zeitgemäßen Leben erwacht. Ich möchte von ganzem Herzen all jenen danken, die in all diesen Jahren mit mir für die gerechte und gute Sache eingetreten sind. Sicherlich war eine Reihe von Fehlern vermeidbar. Vieles hätte man besser machen können. Aber ich bin überzeugt, daß unsere Völker in einer aufblühenden und demokratischen Gesellschaft leben werden. Ich wün- sche Ihnen alles Gute."Quelle: Neues Deutschland, 17.12.1991, S.4
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