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1991-12-16

Gorbatschow tritt zurück

Moskau (ADN).  Die Rede des ehemaligen sowjetischen
Staatschefs Michail Gorbatschow im Moskauer Fernsehen hat
folgenden Wortlaut:

"Verehrte Landsleute! Mitbürger!

Angesichts der Situation, die nach der Gründung der
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten entstanden ist, beende ich
meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR. Diese Ent-
scheidung treffe ich auf Grund meiner Prinzipien. Ich trat
immer fest ein für die Selbständigkeit und die
Unabhängigkeit der Völker, die Souveränität der Republiken.
Aber gleichzeitig war ich auch für die Erhaltung des
Unionsstaates und des ganzen Landes. Die Ereignisse haben
sich in eine andere Richtung entwickelt. 

Die Linie der Zerstückelung und Auflösung des Landes hat
sich durchgesetzt. Damit kann ich mich nicht einverstanden
erklären. Auch nach dem Treffen in Alma Ata und den dort
gefaßten Beschlüssen hat sich meine Position in dieser Frage
nicht geändert. Darüber hinaus bin ich der Überzeugung, daß
Entscheidungen von solchem Ausmaß auf Grundlage einer
Willenserklärung des Volkes getroffen werden müssen.
Ungeachtet dessen werde ich alle meine Möglichkeiten aus-
schöpfen, daß die dort unterzeichneten Vereinbarungen zu
einer wirklichen Verständigung in der Gesellschaft führen
sowie den Ausweg aus der Krise und den Reformprozeß
erleichtern. Ich spreche zu Ihnen das letzte Mal als
Präsident der UdSSR. Deshalb halte ich es für notwendig,
meinen seit 1985 gegangenen Weg einzuschätzen.  Und dies um
so mehr, da es darüber nicht wenig oberflächliche,
widersprüchliche und nicht objektive Wertungen gibt. Das
Schicksal hat es so gefügt, daß es sich bereits bei meiner
Amtsübernahme zeigte, daß es im Land Probleme gab. Gott hat
uns viel geschenkt: Land, Erdöl, Gas und andere
Naturreichtümer. Und auch viele talentierte und kluge
Menschen. Und dabei leben unsere Menschen schlechter als in
den anderen entwickelten Ländern. Wir bleiben sogar immer
weiter hinter ihnen zurück. Der Grund dafür war schon zu
sehen - die Gesellschaft befand sich in der Schlinge eines
bürokratischen Kommandosystems. Die Gesellschaft mußte
der Ideologie dienen und dabei die furchtbare Last des
Wettrüstens tragen. Die Gesellschaft gelangte an die Grenze
ihrer Möglichkeiten. Alle Versuche von halbherzigen
Reformen - und ihrer gab es nicht wenige - scheiterten
nacheinander. Das Land verlor immer mehr an Perspektive.
So konnte man nicht weiterleben. Es mußte alles grund-
legend verändert werden. Ich habe es deshalb niemals
bereut, daß ich meine Funktion als Generalsekretär dafür
nicht mißbrauchte, nur um ein paar Jahre zu 'herrschen'.  Das
hätte ich als verantwortungslos und unmoralisch angesehen.
Mir war klar, daß die Einleitung von solchen großen Reformen
in einer solchen Gesellschaft wie der unseren eine äußerst
schwere und auch in bestimmter Hinsicht eine riskante Sache
ist. Und auch heute bin ich noch von der historischen
Richtigkeit der demokratischen Reformen überzeugt, die im
Frühjahr 1985 eingeleitet wurden.  

Der Prozeß der Erneuerung des Landes und der grundlegenden
Veränderungen in der Weltgemeinschaft hat sich
komplizierter erwiesen, als man das voraussagen konnte.
Trotzdem muß man das Vollbrachte gebührend einschätzen.
Die Gesellschaft wurde frei. Und das in politischer und
geistiger Hinsicht. Und das ist die größte
Errungenschaft. Sie wird bei uns noch nicht bis zum Ende
gebührend gewertet. Und wahrscheinlich deshalb, weil wir
es immer noch nicht gelernt haben, die Freiheit richtig zu
nutzen.  

Trotzdem wurde eine Arbeit von historischer Bedeutung
geleistet: Es wurde ein totalitäres System beseitigt, das
ein weiteres Aufblühen und Wohlergehen des Landes ver-
hinderte. Es wurde ein Durchbruch zu demokratischen
Veränderungen vollzogen. Freie Wahlen, eine freie Presse,
Religionsfreiheit, wirkliche Machtorgane, ein
Mehrparteiensystem wurden zur Realität. Die
Menschenrechte wurden als oberstes, Prinzip anerkannt.  Es
wurde mit dem Übergang zu einer vielseitigen Wirtschaft
begonnen. Alle Formen des Eigentums werden als
gleichberechtigt anerkannt. Im Rahmen der Bodenreform ist
die Bauernschaft wiedererstanden. Farmen wurden gegründet.
Millionen Hektar Land werden an Land- und Stadtbewohner
übergeben. Die wirtschaftliche Freiheit des Produzenten
wurde gesetzlich verankert. Das Unternehmertum, die
Gründung von Aktiengesellschaften und die Privatisierung
gewannen immer mehr an Kraft. Es muß daran erinnert
werden, daß der Übergang zur Marktwirtschaft im Interesse
des Menschen erfolgt. In dieser schweren Zeit muß alles für
seinen sozialen Schutz getan werden. Das gilt vor allem
für die alten Menschen und die Kinder.  

Wir leben in einer anderen Welt: Der 'kalte Krieg' ist
vorbei. Das Wettrüsten wurde gestoppt. Die wahnsinnige
Militarisierung unseres Landes, die unsere Wirtschaft, das
gesellschaftliche Bewußtsein und die Moral zu Grunde
richtete, wurde beendet. Die Gefahr eines Weltkrieges wurde
beseitigt. Ich möchte noch einmal betonen, daß von meiner
Seite in der Übergangsperiode alles für eine zuverlässige
Kontrolle der Kernwaffen getan wurde. Wir öffneten uns der
Welt und verzichteten auf die Einmischung in fremde
Angelegenheiten sowie auf den Einsatz von Truppen außerhalb
unseres Landes. Und man antwortete uns mit Vertrauen,
Solidarität und Respekt. Wir wurden zu einer der
wichtigsten Stützen bei der Umgestaltung der mo- dernen
Zivilisation auf friedlicher und demokratischer Basis.  Die
Völker und Nationen haben die reale Freiheit erhalten, den
Weg ihrer Entwicklung selbst zu bestimmen. Die Suche nach
einer demokratischen Reformierung unseres Viel-
völkerstaates führte uns an die Schwelle eines neuen
Unionsvertrages.  

Alle diese Veränderungen verlangten große Anstrengungen.
Sie verliefen in einem harten Kampf. Der Widerstand der
alten, überlebten und reaktionären Kräfte und des früheren
Partei-, Wirtschafts- und Staatsapparates wurde immer
stärker.  Aber auch die alten Gewohnheiten, ideologische
Vorurteile, Gleichmacherei und Schmarotzertum gewannen
immer mehr Stärke. Sie stießen auf unsere Ungeduld, auf
unsere niedrige politische Kultur und auf unsere Angst vor
Veränderungen. Deshalb haben wir viel an Zeit verloren.
Das alte System lag schon am Boden, bevor ein neues
entstanden war. Die Krise der Gesellschaft spitzte sich
immer mehr zu. Ich weiß, daß man mit der gegenwärtigen
schweren Lage nicht zufrieden ist. Mir ist auch die scharfe
Kritik an den Staatsorganen auf allen Ebenen und an mei-
ner persönlichen Tätigkeit bekannt. Aber ich möchte noch
einmal unterstreichen: Grundlegende Veränderungen in einem
derartigen riesigen Land und dazu noch mit einem solchen
Erbe können nicht schmerzlos, ohne Schwierigkeiten und
ohne Erschütterungen vollzogen werden.  

Der Putsch im August war der Höhepunkt der allgemeinen
Krise. Das Furchtbarste an dieser Krise war der Zerfall der
staatlichen Strukturen. Ich bin beunruhigt daß unsere
Menschen das Gefüge verlieren, Bürger eines großen Lan des
zu sein. Das kann noch für alle schwere Folgen haben. Als
lebens wichtig erachte ich die Erhaltung der demokratischen
Errungen schaften der letzten Jahre. Sie wur den unter den
Qualen unserer ge samten Geschichte hervorge bracht. Auf
sie darf unter keine Umständen verzichtet werden. Sonst
sind alle unsere Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zum Un-
tergang verurteilt. Ich spreche übe alles ehrlich und
offen. Das ist meine moralische Pflicht.

Ich möchte allen Bürgern danken, die die Politik zur
Erneuerung des Landes unterstützen und sich an der
Verwirklichung der demokratischen Reformen beteiligten.
Ich danke allen Vertretern der Politik und der
Öffentlichkeit sowie den Millionen Menschen im Ausland und
all jenen, die unsere Pläne verstanden und unterstützten und
die uns entgegenkamen, um mit uns ehrlich
zusammenzuarbeiten. Ich verlasse meinen Posten mit Un-
ruhe. Aber auch mit der Hoffnung und dem Glauben an Ihre
Klugheit und geistige Stärke. Wir sind die Nachkommen einer
großen Zivilisation. Und es hängt jetzt von uns allen und
von jedem Einzelnen ab, daß diese Zivilisation zu einem
neuen und ihr würdigen und zeitgemäßen Leben erwacht. Ich
möchte von ganzem Herzen all jenen danken, die in all
diesen Jahren mit mir für die gerechte und gute Sache
eingetreten sind. Sicherlich war eine Reihe von Fehlern
vermeidbar. Vieles hätte man besser machen können. Aber
ich bin überzeugt, daß unsere Völker in einer aufblühenden
und demokratischen Gesellschaft leben werden. Ich wün-
sche Ihnen alles Gute."
Quelle: Neues Deutschland, 17.12.1991, S.4




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