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1991-08-19

Erste Verlautbarungen der neuen sowjetischen Führung veröffentlicht

Appell an das sowjetische Volk

Moskau (ADN).  In dem Appell, den das Staatskomitee für den
Ausnahmezustand an das sowjetische Volk gerichtet hat,
heißt es unter anderem:

Landsleute!  In dieser für die Geschicke des Vaterlandes
und unserer Völker schweren und kritischen Stunde wenden
wir uns an Euch. Eine tödliche Gefahr hängt schwer über
unserem Vaterland. Die Politik der Reformen, eingeleitet
auf Initiative Michail Gorbatschows als ein Mittel zur
Sicherung der dynamischen Entwicklung und der
Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens, ist aus
unterschiedlichen Gründen in eine Sackgasse geraten. Die
Behörden auf allen Ebenen haben das Vertrauen des Volkes
verloren. Politikastertum hat im öffentlichen Leben die
Sorge um das Schicksal des Vaterlandes und der Bürger er-
setzt. Bösartige Verhöhnung gilt allen Institutionen des
Staates. Das Land ist praktisch unregierbar geworden.
Vorteil aus den gewährten Freiheiten ziehend und unter
Mißbrauch der ersten Triebe der Demokratie, haben sich
extremistische Kräfte auf den Weg gemacht, die Sowjetunion
zu vernichten, den Staat zu zerstören und um jeden Preis die
Macht an sich zu reißen. Die Ergebnisse des ersten landes-
weiten Referendums über die Einheit des Vaterlands wurden
mit Füßen getreten. Zynische Spekulationen auf
nationale Gefühle sind zu einem Deckmantel zur Befriedi-
gung persönlicher Ambitionen geworden. Die politischen
Abenteurer kümmert weder das heutige Unglück ihrer Völker
noch der morgige Tag. Indem sie eine Atmosphäre morali-
schen und politischen Terrors zulassen und sich hinter
einem Schutzschild öffentlichen Vertrauens verbergen,
vergessen sie, daß die Beziehungen, die sie verurteilen und
zerreißen, auf der Grundlage einer viel breiteren
öffentlichen Unterstützung gegründet worden sind, die dazu
noch die jahrhundertelange Bewährungsprobe der Ge-
schichte bestanden haben.

     Die Machtkrise hat katastrophale Auswirkungen auf die
Wirtschaft. Der chaotische und spontane Rutsch in die
Marktwirtschaft provozierte eine Explosion des Egoismus auf
regionaler, Bezirks-, Gruppen- und Persönlicher Ebene.  Der
Krieg um die Gesetze und die Ermutigung zentrifugaler Strö-
mungen hat die, Zerstörung der integralen
nationalökonomischen Mechanismen vorangetrieben, die in
Jahrzehnten aufgebaut worden sind. Das Ergebnis war ein
rapider Verfall des Lebensstandards der großen Mehrheit der
sowjetischen Menschen, Spekulation und Schattenwirtschaft
blühten auf. Es ist höchste Zeit, daß den Menschen die
Wahrheit gesagt wird: Wenn keine dringenden und
entscheidenden Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft
ergriffen werden, sind eine Hungersnot und eine Spirale der
Verarmung in naher Zukunft unvermeidlich, von denen es nur
ein Schritt zum massenhaften Ausbruch spontanen Unmuts mit
verheerenden Konsequenzen ist. Die zunehmende
Destabilisierung der politischen und wirtschaftlichen
Lage in der Sowjetunion untergräbt unsere Stellung in der
Welt. Mancherorts sind revanchistische Bemerkungen zu hö-
ren, Forderungen nach einer Revision unserer Grenzen
werden erhoben. Es werden auch Stimmen laut, die von der
Auflösung der Sowjetunion und der Möglichkeit sprechen,
einige Einrichtungen und Regionen des Landes unter
internationale Aufsicht zu stellen. Dies ist die bittere
Wirklichkeit. Wo sich noch gestern ein Sowjetbürger im
Ausland als würdiger Bürger eines einflußreichen und
geachteten Staates fühlte, findet er sich heute oft als
Ausländer zweiter Klasse wieder, dem man entweder Miß-
achtung oder Mitleid entgegenbringt.

     Wir beabsichtigen, Gesetz und Ordnung umgehend
wiederherzustellen, das Blutvergießen zu beenden, der
Welt des Verbrechens einen gnadenlosen Krieg zu erklären
und schändliche Erscheinungen auszumerzen, die unsere
Gesellschaft diskreditieren und die sowjetischen Bürger
entwürdigen. Wir werden die Straßen unserer Städte von
kriminellen Elementen säubern und der Willkür der Plün-
derer des Volkseigentums ein Ende - bereiten. Wir
befürworten unverfälschte demokratische Prozesse, eine be-
ständige Reformpolitik, die zur Erneuerung unseres
Vaterlands und seiner wirtschaftlichen und sozialen
Wohlfahrt führt, die es in die Lage versetzt, einen würdigen
Platz in der Weltgemeinschaft der Völker einzunehmen.  Die
Entwicklung des Landes darf nicht auf dem sinkenden
Lebensstandard des Volkes aufgebaut werden. Unsere
Hauptsorge gilt der Lösung des Lebensmittel- und Woh-
nungsproblems. Alle verfügbaren Kräfte werden mobilisiert,
um diese grundlegendsten Bedürfnisse des Volkes zu
befriedigen. Wir erklären entschlossen, daß es niemandem
jemals erlaubt werden wird, unsere Souveränität, Unab-
hängigkeit und territoriale Unversehrtheit zu verletzen.
Alle Versuche, zu unserem Land in der Sprache des
Diktats zu sprechen, gleich woher sie kommen, werden ent-
schlossen zurückgewiesen. 

Wir appellieren an alle wahren Patrioten und Menschen guten
Willens, das Staatskomitee bei seinen Bemühungen, das Land
aus der Krise zu führen, zu unterstützen.

Quelle: Neues Deutschland, 20.08.1991, S. 3




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