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1995-08-05
Der Feind von gestern ist der Freund von heute
Ansprache des französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand
anläßlich des 50. Jahrestages zum Kriegsende (Auszüge)
Francois Mitterrand
In seiner Rede waehrend des Staatsaktes in Berlin sagte Frankreichs
scheidender Staatspraesident Francois Mitterrand folgendes:
"Ich bin heute zu Ihnen gekommen als Praesident der Republik Frankreich.
Dies ist die letzte Handlung in dieser meiner Rolle, in diesem meinem
Amt. Es war wohl das mindeste, was ich als Schuld dem heutigen
Deutschland gegenueber abzutragen habe...
Geschichte, Geographie, Kultur haben dieses Deutschland unloesbar an
Frankreich gebunden. Es ist erstaunlich, in welch einem grausamen,
schoenen und starken Abenteuer diese zwei Bruedervoelker mehr als 1000
Jahre brauchten, um sich anzuerkennen, anzunehmen, sich zu vereinen,
die Lehren aus Geschichte, Wissenschaft und Politik zu ziehen, die auf
die eigenen Kraefte zurueckgehen. Ich habe dies schon oft gesagt, und
ich will nicht aufhoeren, dies immer wieder zu wiederholen...
Europa, das auf so vielen Toten und Ruinen erbaut wurde, muss immer
weiter gebaut werden. Und wir muessen erklaeren, dass dieses Europa
nicht nur als Ergebnis von gutem Willen und guten Absichten entstand-
en ist, sondern auch, weil vorangegangene Generationen das Gewicht von
zwei Weltkriegen getragen haben...
Am 8. Mai 1945 war ich noch Soldat und in Paris. Verlorene Schlacht,
gewonnene Schlacht, wofuer, gegen wen, warum? Es waere leicht gewesen,
alle Probleme durch das Gesetz des Staerkeren zu loesen. Es hat ein
Bewusstseinsprozess eingesetzt, der zur Veraenderung gefuehrt hat...
Unsere Soehne werden mit Erstaunen auf so viele Zusammenkuenfte, so
viele Feiern blicken. Sieg und Niederlage haben sich vermischt, jeder
hat seine Toten zu beweinen. Manchmal vergessen wir, dass diese Toten
dazu beigetragen haben, uns zu zeigen, was eine Zivilisation kann und
was sie nicht tun darf, was die Zukunft erwartet und was sie verbietet.
Sie haben uns den Triumph des Lebens gezeigt...
Ich muss an die immensen Anstrengungen und Bemuehungen denken, die von
vielen politisch Verantwortlichen unternommen worden sind. Nichts waere
beispielsweise moeglich gewesen ohne Churchill, ohne die zehn, zwoelf
Europaeer, die Europa gebaut haben, die zum gleichen Zeitpunkt die gleichen
Schlussfolgerungen aus dem Desaster gezogen haben. Der Feind von
gestern war der Freund von heute geworden... Nicht die Frage, ob Sieg
oder Niederlage, ist entscheidend. Es war der Sieg der Freiheit, der
Sieg der Unterdrueckten ueber ihre Unterdruecker. In meinen Augen war
es vor allem ein Sieg Europas ueber sich selbst...
Ich habe gesehen, welcher Beitrag von diesem oder jenem Volk, von diesem
oder jenem Land geleistet worden ist zur Errichtung Europas. Der
8. Mai war das Praeludium fuer das, was morgen zu bauen ist, wenn Europa
seinen wahren Sinn finden wird...
Ich habe alle Etappen der Erichtung der Europaeischen Gemeinschaft
miterlebt, ich habe auch den Krieg selbst erlebt, und ich weiss, dass wenn
der Sieg in mein Land zurueckgekommen, dann ist er auf Umwegen
zurueckgekommen. Auf Umwegen ueber den afrikanischen Kontinent, auf dem Umweg
ueber die Weite Russlands und des russischen Volkes, ueber den Umweg der
Amerikaner. Mein Land, das zunaechst besiegt und besetzt worden war, hat
dank der Alliierten, mit den Alliierten gemeinsam diesen Sieg errungen,
in einer Revolte des Herzens, des Geistes, des Koerpers angesichts der
Grausamkeiten des Holocaust..."
Quelle: Bulletin Nr. 38 vom 12.05.1995, S. 335f.
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