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Ehrenvorsitzenden der Partei des Demokratischen Sozialismus Hans Modrow Sehr geehrter Hans Modrow! Kürzlich habe ich aus der Presse erfahren, daß der Bun- desgerichtshof im Berufungsverfahren gegen die ehemali- gen Mitglieder des Verteidigungsrates der DDR, die Gene- rale Heinz Keßler und Fritz Streletz sowie das Mitglied des Rates Hans Albrecht, eine negative Entscheidung gefällt hat. Ich habe Ihre Erklärung dazu gelesen und teile Ihre Einschätzung. Das ist in der Tat eine tendenziöse Haltung zur Vergangenheit, die einen gefährlichen Präzedenzfall schafft. Auf dieser Grundlage können selbst einfache Bür- ger der Deutschen Demokratischen Republik Verfolgungen ausgesetzt werden. Brauchen die Deutschen tatsächlich schon wieder eine Hexenjagd? Wem soll eine Kampagne nützen, die, statt die Wunden der Vergangenheit zu heilen, die politischen Differenzen nur verschärfen kann? Die Logik derartiger Entscheidungen wie auch bereits des Gerichtsverfahrens gegen Erich Honecker geht im Grunde genommen davon aus, daß in der ganzen Zeit seit dem zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands kein Staat existierte und dieses Territorium in der Rechtshoheit der Bundesrepublik verblieb. Kann man denn aber die Tatsa- che aus der Geschichte streichen, daß die Souveränität der DDR von der ganzen Weltgemeinschaft anerkannt, daß sie Mitglied der Organisation der Vereinten Nationen war? Kann man einfach vergessen, daß die BRD und die DDR ei- nen Vertrag geschlossen haben, der die Beziehungen zwi- schen ihnen als gleichberechtigte Staaten sowie Fragen ih- rer Staatsbürgerschaft regelte? Ich muß sagen, daß dieses Thema in meinen Gesprä- chen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in den Tagen, als sich die Frage der deutschen Vereinigung entschied, mehr- mals besprochen wurde. Meine deutschen Partner versi- cherten, es werde keinerlei Diskriminierung der Bevölke- rung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer politischen Führung zugelassen werden, das Verhältnis zu den östlichen Bundesländern werde sich auf gar keinen Fall nach der Formel von Siegern und Besiegten gestalten. Selbst bei meinen jüngsten Reisen nach Deutschland hatte ich den Eindruck, daß der deutschen Gesellschaft der Sinn mehr nach nationaler Einigung und nicht nach Auseinan- dersetzungen und Spaltung steht. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen diese Gedanken mitzuteilen, denn ich glaube, dieses Problem ist nicht nur für Deutschland aktuell. Es hat für die Zukunft vieler Län- der enorme Bedeutung. Hier geht es darum, eine Wahl von historischen Dimensionen zu treffen, sich entweder für ei- nen Kurs der sozialen Revanche, der Vergeltung und des Hasses oder für einen Kurs der nationalen Eintracht, des ideologischen und politischen Pluralismus unter dem für alle gleichen Schutz des Rechts zu entscheiden. Ich bin überzeugt, die Völker werden keine neue Konfrontation zwischen Roten und Weißen, sondern den Bürgerfrieden wählen. Mit den besten Wünschen Michail Gorbatschow 18. August 1994Quelle: Neues Deutschland, 26.08.194, S. 5
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