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1994-08-18

Antwortbrief Gorbatschows an Modrow:

Brauchen die Deutschen wieder eine Hexenjagd?


Ehrenvorsitzenden
der Partei des Demokratischen Sozialismus
Hans Modrow

Sehr geehrter Hans Modrow!

Kürzlich habe ich aus der Presse erfahren, daß der Bun-
desgerichtshof im Berufungsverfahren gegen die ehemali-
gen Mitglieder des Verteidigungsrates der DDR, die Gene-
rale Heinz Keßler und Fritz Streletz sowie das Mitglied des
Rates Hans Albrecht, eine negative Entscheidung gefällt
hat. Ich habe Ihre Erklärung dazu gelesen und teile Ihre
Einschätzung. Das ist in der Tat eine tendenziöse Haltung
zur Vergangenheit, die einen gefährlichen Präzedenzfall
schafft. Auf dieser Grundlage können selbst einfache Bür-
ger der Deutschen Demokratischen Republik Verfolgungen
ausgesetzt werden. Brauchen die Deutschen tatsächlich
schon wieder eine Hexenjagd? Wem soll eine Kampagne
nützen, die, statt die Wunden der Vergangenheit zu heilen,
die politischen Differenzen nur verschärfen kann?

Die Logik derartiger Entscheidungen wie auch bereits
des Gerichtsverfahrens gegen Erich Honecker geht im
Grunde genommen davon aus, daß in der ganzen Zeit seit
dem zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands kein Staat
existierte und dieses Territorium in der Rechtshoheit der
Bundesrepublik verblieb. Kann man denn aber die Tatsa-
che aus der Geschichte streichen, daß die Souveränität der
DDR von der ganzen Weltgemeinschaft anerkannt, daß sie
Mitglied der Organisation der Vereinten Nationen war?
Kann man einfach vergessen, daß die BRD und die DDR ei-
nen Vertrag geschlossen haben, der die Beziehungen zwi-
schen ihnen als gleichberechtigte Staaten sowie Fragen ih-
rer Staatsbürgerschaft regelte?

Ich muß sagen, daß dieses Thema in meinen Gesprä-
chen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in den Tagen, als
sich die Frage der deutschen Vereinigung entschied, mehr-
mals besprochen wurde. Meine deutschen Partner versi-
cherten, es werde keinerlei Diskriminierung der Bevölke-
rung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer
politischen Führung zugelassen werden, das Verhältnis zu
den östlichen Bundesländern werde sich auf gar keinen
Fall nach der Formel von Siegern und Besiegten gestalten.  
Selbst bei meinen jüngsten Reisen nach Deutschland hatte
ich den Eindruck, daß der deutschen Gesellschaft der Sinn
mehr nach nationaler Einigung und nicht nach Auseinan-
dersetzungen und Spaltung steht.

Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen diese Gedanken
mitzuteilen, denn ich glaube, dieses Problem ist nicht nur
für Deutschland aktuell. Es hat für die Zukunft vieler Län-
der enorme Bedeutung. Hier geht es darum, eine Wahl von
historischen Dimensionen zu treffen, sich entweder für ei-
nen Kurs der sozialen Revanche, der Vergeltung und des
Hasses oder für einen Kurs der nationalen Eintracht, des
ideologischen und politischen Pluralismus unter dem für
alle gleichen Schutz des Rechts zu entscheiden. Ich bin
überzeugt, die Völker werden keine neue Konfrontation 
zwischen Roten und Weißen, sondern den Bürgerfrieden
wählen.

Mit den besten Wünschen

Michail Gorbatschow                       18. August 1994

Quelle: Neues Deutschland, 26.08.194, S. 5




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