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Nicht gedacht soll seiner werden Nicht im Liede, nicht im Buche - Dunkler Hund im dunkeln Grabe, Du verfaulst mit meinem Fluche! Heinrich Heine Aus geistigem Geiz gerate ich in eine Gewissensfrage: Ist dieser hinreissend zornige Vierzeiler von Heinrich Heine nicht vielleicht doch zu schade fuer die banale Gelegenheit Honecker? Welcher von meinen treuen alten Feinden mit etwas groesserem Kaliber, dachte ich, wer koennte der naechste Sterbekandidat sein? Womoeglich wuerde ich, wenn der endlich auch tot ist, mich graemen, weil ich das schoene Heine-Zitat mit dem genialen Fluch dann schon verschleudert haette, verschwendet an einen Riesenzwerg. De mortuis nihil nisi bene. Gewiss, ich weiss, was jeder weiss: Man soll ueber Tote nur Gutes sagen. Mir wuerde gewiss auch irgendein kleinkariertes Gutes sogar ueber Erich Honecker einfallen, ohne dass ich dabei allzu schamlos luegen muesste. Aber diese Frage stellt sich im vorliegenden Falle nicht. Honecker ist naemlich gar nicht gestorben. Es steht zwar in allen Zeitungen - aber ich weiss es besser: Mein Erich ist nicht tot. Ob der gekreuzigte Wanderrebbe Jesus von Nazareth nach drei Tagen aus dem Grabe wirklich auferstand, mag man glauben oder bezweifeln. Aber das ist mir eine graessliche, eine boese Gewissheit: Der einstmalige Staatsratsvorsitzende der DDR und Erste Sekretaer der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erich Honecker, ist quicklebendig. Er, der weder an irgendeinen Gott noch an einen Menschen glaubte, dieser spiessige machtbesoffene Seelenkrueppel, er ist herrlich auferstanden, und zwar nicht erst drei Tage nach seinem Tode, sondern schon vorher. Erich Honecker lebt weiter in all den Ossis und Wessis, die sich jetzt am Kadaver der DDR maesten. Er lebt weiter in Stolpe und Egon Krenz, in de Maiziere und Gysi und Hans Modrow und Schalck-Golodkowski. Honney - his soul goes marchin' on auch in all seinen Bonner Gespraechspartnern aus der Zeit des Kalten Krieges. Honecker lebt weiter im unsterblichen Stumpfsinn seiner nostalgischen Untertanen. Er lebt im Gebruell der Neofaschisten, er lebt in den Seilschaften der Altstalinisten. Honecker lebt weiter in allen Farben der Fremdenfeindlichkeit und der Intoleranz. Was seine fuehrenden Kader sich jahrzehntelang realsozialistisch zusammenklauten, das haben sie jetzt, im buergerlichen Rechtsstaat, clever in kapitalistisches Eigentum verwandelt. Der gefuerchtete Parteisekretaer im Betrieb ist jetzt der Geschaeftsfuehrer und lacht. Die alten Stasiganoven haben sich mit den Rittern von der schnellen Mark aus dem Westen zu einer Mafia verbunden. Sie alle bereichern sich am Goldregen der Westmilliarden, sie sind ein Bandwurm im Gedaerm der neuen Bundeslaender. Fuer jede Rolle auf der Buehne des grossen politischen Theaters gibt es immer mehrere Schauspieler, die sie spielen koennten. Die traurige Rolle des sowjetischen DDR-Filialleiters haette nach Ulbricht gewiss auch irgendein anderer welthistorischer Fuzzi gespielt. Aber nun war es mal dieser analphabetische Dachdecker aus dem Saarland, der nie in seinem Leben irgendein Dach gedeckt hat. Mein Freund Robert Havemann sass, nachdem Freislers Volksgerichtshof ihn verurteilt hatte, im Zuchthaus Brandenburg in der Todeszelle. Zufaellig sass er also im selben Knast, in dem Erich Honecker als Kalfaktor wirkte. Als die Front immer naeher kam, als in den letzten Kriegswochen immer mehr Haeuser in Potsdam und Berlin in Schutt und Asche fielen, da wurden Brandenburger Haeftlinge in Arbeitskolonnen zusammengefasst und unter Bewachung in die Truemmer zu Aufraeumarbeiten geschickt. In einer solchen Kolonne war natuerlich nicht Robert Havemann, denn die Vollstreckung des Todesurteils schwebte ueber ihm. Havemann erzaehlte mir oft ueber diese Zeit - ein romanhaftes Thema. Die Haeftlinge hatten begruendete Angst, dass sie alle noch kurz vor dem Ende der Naziherrschaft von der SS umgebracht werden. Von Havemann weiss ich, dass ein einziges Mal etwas Wunderbares und Aufregendes im oeden Parteispiesserleben des Erch Honecker passierte: Bei einem dieser Einsaetze im zerbombten Berlin gelang es ihm, mit Hilfe einer Aufseherin, die sich vielleicht in ihn verknallt hatte, abzuhauen. Er versteckte sich bei dieser Frau und schaffte es, bis zum Zusammenbruch der Naziherrschaft unentdeckt zu bleiben. So kommt es, dass am Tage der Befreiung des Zuchthauses Brandenburg durch die Rote Armee Erich Honecker nicht dabei war. Bei den jaehrlichen Traditions-Treffen der ehemaligen politischen Haeftlinge dieses Gefaengnisses, die sich "Die Brandenburger" nannten, nahmen in den Jahren nach 1945 regelmaessig auch Robert Havemann und Honecker teil. Aber es war ein streng gehuetetes Staatsgeheimnis und durfte von keinem "Brandenburger" ausgeplaudert werden, dass "der allerwichtigste Brandenburger, unser Kamerad Honecker" am Tage der Befreiung nicht unter den Kameraden im Knast Brandenburg war, denn er sass ja gar nicht mehr in seiner Zuchthauszelle, sondern lag im Schlafzimmer seiner Aufseherin. Im Grunde laecherlich! Sollten doch alle heilfroh sein, dass es wenigstens diesem Menschen gelungen war, sich selbst zu befreien. Aber dieser Alleingang galt als schwarzer anarchistischer Fleck auf Honeckers roter Parteiweste. Ein individualistischer Verstoss gegen die Parteidisziplin! Der sonst so parteifromme Genosse hatte sich davongemacht: ohne Wissen, ohne Billigung, ohne Beschluss seiner kommunistischen Parteigruppe im Zuchthaus. So wurde diese Episode seiner politischen Karriere aengstlich verschwiegen, obwohl sie in dem sinistren Leben dieses Kaderhelden wahrscheinlich einer der selten intelligenten Momente war, in denen er frei und auf eigene Faust etwas Vernuenftiges gewagt hatte. Am Ende faellt mir doch noch etwas Gutes ueber diesen Menschen ein. Er hat sich nicht seine Memoiren von einem Kretin der Bildzeitung schreiben lassen, so wie es sein schwachsinniger Kronprinz Krenz nach der Wende tat. Honecker kroch ein Leben lang vor der Knute des grossen Bruders in Moskau, aber vor den Siegern im Kalten Krieg kroch er nicht zu Kreuze. Er beharrte kindisch auf seinen verwelkten Wahnideen. Er hatte natuerlich nicht das geistige Format, sich kritisch zu sehen. Schon gar nicht fand er die moralische Kraft, sich zu wandeln. Er besass auch nicht die menschliche Groesse, sich zu schaemen, denn er war starr, stur, stumpfsinnig und stoerrisch. Aber eines war Erich Honecker gewiss nicht: ein Wendehals. Wenn ich manchmal in den dunklen Jahren des Verbots mit meinem frechfroehlichen Freund Robert Havemann draussen in Gruenheide zusammensass, und wir spotteten gelegentlich und schimpften ueber eine neue Eskapade unseres allmaechtigen Feudalfuerschten im Politbuero, dann waren wir selten einer Meinung. Ich sagte dann meistens sowas wie: Du, der Towarisch Honnakow ist schlecht. Aber Robert widersprach: Nee, nee, Wolf, der Erich ist dumm. Am 1. Dezember 1989 sang ich in Leipzig in der eiskalten Messehalle II zum ersten Male nach langen Jahren in der DDR. Honecker war grad zurueckgetreten worden, und das ewig lachende Gebiss wurde sein Nachfolger. Krenz versuchte als deutscher Gorbatschow, die Kurve zu kriegen. Ich bin mindestens so rachsuechtig wie der getaufte Jude Heinrich Heine. Aber an diesem Abend in Leipzig sang ich fuer Honecker eine fast christliche, eine versoehnliche Strophe in der BALLADE VON DEN VERDORBENEN GREISEN: Hey Honney, du gingst aus Gesundheitsgruenden Ich glaube dir nichts und auch nicht dies Die schlimmste Krankheit hattest du immer: Die stalinistische Syphilis Ich hab dich verachtet und hab dich gefuerchtet Und trotzdem bleibt da ein Rest von Respekt Es haben dich die verfluchten Faschisten Elf Jahre in Brandenburg eingesteckt Wir wollen dich doch nicht ins Verderben stuerzen du bist schon verdorben genug Nicht Rache, nein, Rente im Wandlitzer Ghetto und Friede deinem letzten Atemzug Nun ist dieser verdorbene Kommunist so tot wie der Kommunismus. Ist er ein dunkler Hund im dunkeln Grabe? Es gibt zwei irre Saetze aus dem Munde des Sozialdemokraten Gustav Noske. Als der die Novemberrevolution 1918 unbarmherzig niederschlug, praegte er ein gefluegeltes Wort: "Einer muss den Bluthund machen." Als aber sein Kaiser abdankte, Wilhelm II., da sonderte Noske diesen Satz ab: "Man soll einem toten Loewen keinen Fusstritt verpassen." Hund oder Loewe, egal - ich werde nach dem Kadaver in Chile nicht treten. Zu DDR-Zeiten haette man im Jargon der Herrschenden die Standardfloskel gebraucht: Er ist eingeschreint im grossen Herzen der Arbeiterklasse. Ich sage heute, was jeder weiss: Honecker ist eine historische Muecke, unsterblich eingeschlossen im Bernstein meiner Ballade.
Den wohl vernuenftigsten Satz zum Tode Honeckers schrieb jener Journalist, der bemerkte, dass Nachrufe gerade auf diesen Verstorbenen in der gegenwaertigen Situation der niedervereinigten Deutschlands mehr ueber den jeweiligen Verfasser als ueber den Toten aussagen wuerden. Allerdings ist das wohl bei Nachrufen fast immer der Fall - eben dies (neben dem angenehmen Gefuehl, selbst noch am Leben zu sein) ist ja an solchen journalistischen Grabreden so lustig. Der, um den es hier gehen soll - Nachruf wie Autor - ist freilich eher peinlich als lustig. Das geschriebene Wort - anders als in seinen besseren Zeiten das gesungene - war so recht nie die Staerke Biermanns - zu sehr schien das Aufgesetzte im Pathos, das Schielen nach dem Applaus in der zur Schau getragenen Emotionalitaet, die philistroese Betulichkeit in der kraftprotzenden Machogeste durch. Die Anforderungen an Intellektualitaet und analytischem Verstand, besonders aber an Selbstdistanzierung, wie sie der Essay stellt, stehen quer zur Unmittelbarkeit der Selbstdarstellung in Chanson und Ballade, jener Kunstform, die Biermann zweifellos beherrschte. Ein richtiger Mann wie Biermann laesst sich nun durch Mangel an Talent keinesfalls abschrecken - ohnehin ist es gewiss nicht einfacher, einen Graphomanen vom Schreiben als einen Trinker von der Flasche fernzuhalten (man betrachte nur dieses Medium sowie den Autor dieser Zeilen). Und so zogen die Ausfluesse solcher Unbeherrschtheiten des armen W.B. eine etwas klebrige Spur durch den Blaetterwald deutscher Publikationen: von links nach rechts im Laufe der Jahre, genauer von Pardon und konkret ueber die taz, Frankfurter Rundschau und Zeit sowie den Spiegel endlich bis in die FAZ. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieses bislang letzte Elaborat wenn schon nicht einen Nachruf auf Biermanns essayistische Bemuehungen, so zumindest einen Endpunkt seiner politischen Drift darstellt und man nicht in einigen Jahren seine stets selbstaehnlichen Rekurse auf seine dahingeschiedenen Eltern, Freunde, Feinde, Ueberzeugungen und Einnahmequellen in Criticon oder der Jungen Freiheit finden wird. Mit der fuer ihn und das Publikationsorgan seiner (womoeglich nicht ganz freien) Wahl typischen nonkonformistischen Unerschrockenheit wirft sich Biermann auf das kontroverse Thema. Dabei unterlaeuft ihm gleich zu Anfang das erste sprachliche Missgeschick: er "geraet in eine Gewissensfrage". Dass man in Fragen geraet und Konflikte sich stellen, gehoert wohl zum vor Kraft nicht mehr gehfaehigen Neudeutsch des Literaturpreistraegers. Anstatt aber dort - in der Frage (in welcher er den Part des Fragezeichens eher denn den des Gewissens haette spielen koennen) und im Clinch mit dem Sprachstil - zu verweilen und vom Weiterschreiben Abstand zu nehmen, loest jener seinen Konflikt mit dem fuer ihn so typischen mannhaft-entschiedenen Sowohl-als-auch. Si tacuisses .. so siehste aus. Biermann ringt mit sich naemlich in epischer Breite darueber, ob er den von ihm zitierten Vierzeiler Heines zur Schmaehung Honeckers missbrauchen soll oder nicht - nicht anders, als wuerde ich meinen Konflikt oeffentlich ausbreiten, ob ich Biermann nun einen eitlen opportunistischen alternden Schlagersaenger nennen oder dem gaenzlich unwichtigen alten Mann sein Gnadenbrot aus der FAZ-Redaktion goennen soll. Diese Methode der Herabsetzung (das umstaendliche und oeffentliche Raesonieren, ob man nun Herrn X ein Arschloch nennen soll) ist so abgedroschen, dass sie ihren Weg schon in StGB-Kommentare zu Ehrver- letzungsdelikten gefunden hat. Wie so vieles ist sie Biermann nicht zu peinlich. Schliesslich findet W.B. aus der "Gewissensfrage" mittels der im Essaytitel vorweggenommenen Behauptung, Honecker lebe fort. Und zwar selbstverstaendlich in allem, was in Ost und West boese und schlecht ist, in Neonazis und Altstalinisten, den dummen Ossis, einer Mafia von geschaeftstuechtigen Stasis und gierigen Wessis, jenes "Bandwurms im Bauch der neuen Bundeslaender", der schuld hat an deren Problemen, nicht etwa die Niedervereinigungspolitik, Inkompetenz und Grosstuerei der Regierung Kohl und ihrer Erfuellungsgehilfen und Schoenredner, zu denen sich Biermann hier nicht zum ersten Mal gesellt. Der schon zu Lebzeiten angeblich auferstandene Honecker spielt dabei die Rolle des Oberteufels jenes Pandaemoniums, das nichts auslaesst, was man ohne Risiko einer Missbilligung durch Kohl-Regierung oder FAZ-Redaktion mutig kritisieren kann. Nun ist ja gegen Polemik nicht einmal soviel einzuwenden, wenn sie gut geschrieben und gedanklich konsequent durchgehalten wird. Leider trifft hier keines von alledem zu. Nachdem die Platitueden ueber dumme Ossis und boese Stasis verpufft sind, faellt Biermann zum angeblich wiederauferstandenen Staatsratsvorsitzenden nichts mehr ein - doch fehlt ihm der Anstand (oder braucht er zu noetig das Zeilenhonorar), um daraus die Konsequenzen zu ziehen und aufzuhoeren. Ohne Einsehen mit dem gequaelten Leser wechselt er unvermittelt das Thema und versucht sich daran, noch ein wenig Schmutz auf Honeckers Biographie zu werfen, des "analphabetischen Dachdeckers, der nie in seinem Leben irgendein Dach gedeckt hat". Er moechte damit darauf anspielen, dass Honecker seinen Beruf wohl nicht ausgeuebt hat, sondern nach der Lehre als KPD-Funktionaer taetig war, was allerdings wohl auch etwas mit der damals ausbrechenden Krise und den nicht besonders guten beruflichen Chancen kommunistischer Arbeiter zu tun gehabt haben duerfte. Aber auch darueber hinaus faellt der geworfene Schmutz auf den Werfer zurueck. Dass Honecker Analphabet gewesen sein soll, dafuer fehlt jeder Beleg. Und schon dadurch, dass er eine Lehre absolviert hat (gerade in jenen spaeten zwanziger Jahren), ist sicher, dass er mehr als ein Dach gedeckt hat, da zu jener Zeit Lehrlinge zuallererst billige Arbeitskraefte waren. Das passt zwar nicht in die Linie des Blattes mit dem langweiligen Layout, haette aber als triviales Faktum aus dem Arbeits- leben auch einem Exkommunisten bekannt sein koennen. Biermann laesst es damit nicht genug sein. Er kolportiert noch, dass Honecker nach Erzaehlungen "seines Freundes Robert Havemann" kurz vor Kriegsende aus dem Zuchthaus Brandenburg entkommen sei, und zwar mit Hilfe einer Waerterin. Er benutzt diese wenig interessante Anekdote fuer einige weitere Invektiven - man darf sich fragen, was "sein Freund Robert Havemann" von derlei Klatschjournalismus gehalten haette. Nun wenn schon: Im Knast hat E.H. immerhin jedesmal keine so schlechte Figur gemacht. Und die Justizposse, die er aus dem pathetischen Abrech- nungsversuch der Sieger machen konnte, war durchaus eine recht gelungene Vorstellung, was Biermann - als Kollege im Showbusiness - immerhin haette eingestehen koennen, so ihm das Format dazu nicht abginge. Nur sagt das Ganze wenig darueber, ob oder dass "Honecker lebt". Es demonstriert jedoch, wie wenig der real existierende Biermann noch lebt. Mit einer gehoerigen Portion schlechtem Gewissen gesteht er schliesslich Respekt fuer Honeckers "kindischen Starrsinn" ein, mit dem der "vor den Siegern im Kalten Krieg nicht zu Kreuze" gekrochen sei. Biermann ist das Thema offenkundig nicht angenehm. Wenn er von Eigenschaften schreibt, die er Honecker abspricht, naemlich dem "Format, sich kritisch zu sehen" oder der "moralische(n) Kraft, sich zu wandeln", klingt das sehr nach Selbstrechtfertigung. Die "menschliche Groesse, sich zu schaemen", fehlte und fehlt wohl nicht bloss Erich Honecker, der - hier ist Biermann zuzustimmen - gewiss kein Wendehals war. Biermann unterscheidet sich in dieser Beziehung von dem von ihm beschimpften Krenz insoweit, dass er seiner Zeit voraus war: ein Vorwendehals sozusagen. Mit Format und moralischer Kraft wandelte er sich kontinuierlich weiter in Richtung der Wertvorstellungen seiner honorarzahlenden und Preise verleihenden Sponsoren. Honi soit qui mal y pense: Ein starrer Honni sei, wer Boeses drueber denkt. Gegen Ende seines Artikels ist dem Autor das Thema eines angeblich fortlebenden Honecker endgueltig entglitten. Immerhin erspart er diesmal dem Leser, den an Biermann gaenzlich unschuldigen Villon oder seinen verstorbenen kommunistischen Vater zu beschwoeren bzw. in ueblicher nicht ganz geschmacksfester Manier im Traum erscheinen zu lassen. Dafuer sei ihm gedankt. Stattdessen schwelgt er leicht senil abschweifend in Erinnerungen an "seinen Freund", den toten oppositionellen Kommunisten Robert Havemann. Und am Ende kann er dem Leser nicht einmal das Zitat aus seiner "Ballade von den verdorbenen Greisen" ersparen, in der er Honecker einen friedlichen letzten Atemzug in Wandlitz gewuenscht hatte. Damals - im Dezember 1989 - gab es die (Nachwende-)DDR noch und Biermann hatte noch ein Publikum. Tempora mutantur. Dass "Honecker lebt", wie im Titel behauptet, ist schon vergessen: " Nun ist dieser verdorbene Kommunist so tot wie der Kommunismus." .. so sehr tot oder so wenig wie der so plakativ und kaum glaubwuerdig vom FAZ-Autor W.B. als "Freund" vereinnahmte oppositionelle Kommunist Havemann - und der oppositionelle Kommunist Biermann. Das Totsagen oppositioneller Ideen war stets ein vordergruendiges Anliegen siegreicher Gegenrevolutionen - egal ob 1815, 1849, 1919 oder 1933. Der "bekehrte" Exrevolutionaer als Kronzeuge der Sieger spielte dabei stets eine haesslichere Rolle als noch die Repraesentanten der "verdorbensten" emanzipatorischen Bewegungen. Auch der Zorn ueber die Entartung des Bona- partismus laesst das Uebergehen auf die Seite der Heiligen Allianz nicht minder veraechtlich erscheinen - dass ihnen derlei nie auch nur in den Sinn gekommen waere, scheidet die Villon, Buechner und Heine mehr noch als der himmelweite Unterschied an literarischer Kraft und Qualitaet von dem sich stets geschwaetzig mit ihnen auf eine Stufe stellenden Biermann. So geraet die nachrufende Beschimpfung des verschiedenen Kontrahenten zum Abgesang auf das Lebenswerk jenes Biermann, der sich mit Recht als Freund Havemanns und anderer Oppositioneller bezeichnen konnte, denen aber die Spalten der FAZ im allgemeinen nicht offenstanden. Der real existierende Biermann scheint den Ueberblick ueber den Artikel endgueltig verloren zu haben - dass er bloss die Auffassungsgabe der Leser testen wollte, dazu fehlt ihm dann doch - in seinen eigenen Worten - das "Format, sich kritisch zu sehen". Bar jedes Selbstzweifels schreibt er: ".. egal - ich werde nach dem Kadaver in Chile nicht treten." Soso, und was war der gesamte Nachruf? Jener Artikel von und mit dem verdorbenen Greis Wolf schliesst mit einer Selbstbeweihraeucherung: "Ich sage heute, was jeder weiss: Honecker ist eine historische Muecke, unsterblich eingeschlossen im Bernstein meiner Ballade." Und so bluehen die Metaphern ueber den Kadaphern und furchtsam reimt sich, wer oder was nicht vom boesen Wolf gefressen oder - schlimmer noch - in einer seiner Balladen "unsterblich eingeschlossen" werden mag. >(F.A.Z Feuilleton, Di., 31. Mai 1994, Seite 33) USENET Feuilleton, Di., 6. Juni 1994 "Politisch stand Biermann stets in der Naehe einer Fernsehkamera" (Wiglaf Droste) regards, es
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