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1997-03

Duma-Erklärung

Zu den politischen Prozessen und außergerichtlichen Verfolgungen in der Bundesrepublik Deutschland

Seit langem verfolgt die russische Öffentlichkeit die politischen Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, wo ehemalige führende Vertreter und Mitarbeiter von Staatsorganen der DDR sowie Funktionäre und Aktivisten der SED verfolgt werden. Welchen Umfang diese Verfolgungen angenommen haben, zeigt sich darin, daß bisher insgesamt etwa 3500 Strafverfahren wegen »SED-Unrechts« eröffnet wurden. In 6300 Fällen wurden Ermittlungen eingeleitet. Eine Gruppe der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, die sich mit »geringfügigeren Straftaten« befaßt, hat in 12 500 Fällen Ermittlungsverfahren eröffnet.

Besonders besorgniserregend ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Justiz der BRD Mitarbeiter des Staats- und Parteiapparates von DDR und SED auch dann vor Gericht stellen und aburteilen darf, wenn die Beschuldigten lediglich nach den Gesetzen der DDR zum Schutze der Staatsgrenze gehandelt haben. Damit hat das Verfassungsgericht faktisch solche allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze wie »Keine Strafe ohne Gesetz« und »Keine rückwirkende Anwendung von Gesetzen« ignoriert, die im Einigungsvertrag zwischen der DDR und der BRD vom 31. August 1990 enthalten sind.

Beunruhigend sind auch zahlreiche Fälle außergerichtlicher Verfolgung. In den neuen Bundesländern werden Menschen wegen »Staatsnähe« zur DDR aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Mit dieser Begründung haben bereits 4500 Lehrer ihre Arbeit verloren. Der Begriff der »Staatsnähe« ist juristisch nicht definiert, womit für politische Säuberungen Tür und Tor geöffnet werden. Nicht zufällig ist diese Praxis der deutschen Behörden von der UNO-Menschenrechtskommission kritisiert worden.

Wir haben nicht die Absicht, uns in innere Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland einzumischen. Zugleich halten wir uns an die internationale Praxis, daß Menschenrechtsverletzungen, die in einem Lande vorkommen, von anderen Staaten und auf internationalen Foren debattiert werden. So ist man jahrelang mit der UdSSR umgegangen. Wir sehen keinen Grund, weshalb man in diesen Fragen nicht auch Länder wie die BRD aufmerksam beobachten sollte.

Die Staatsduma ist darüber beunruhigt, daß in der Politik der westlichen Staaten in der Menschenrechtsfrage immer häufiger doppelte Standards angewandt werden. So beschuldigte man die Serben aller Sünden, während die Kriegsverbrechen der kroatischen Seite im Jugoslawienkonflikt verschwiegen wurden.

Von den NATO-Staaten, einschließlich der BRD, stillschweigend unterstützt werden auch die Verfolgung politisch Andersdenkender, die massenhafte Verletzung von Menschenrechten und Rechten nationaler Minderheiten im Baltikum, wo Apartheid-Systeme entstehen.

Die Pläne für die Osterweiterung der NATO lassen Erinnerungen an das Vorgehen der westlichen Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg wiederaufleben, als diese den berüchtigten deutschen »Drang nach Osten« förderten.

Das Recht unseres Landes, das im Kampf gegen den deutschen Faschismus Millionen seiner Bürger verloren hat, auf derartige Entwicklungen besonders besorgt zu reagieren, wird sicher niemand in Zweifel ziehen.

Die Staatsduma der Föderationsversammlung der Russischen Föderation appelliert an die Behörden der Bundesrepublik Deutschland, ihren Erklärungen über die Einhaltung der Menschenrechte Taten folgen zu lassen, die gerichtliche und außergerichtliche Verfolgung von Mitarbeitern des Staatsapparates der DDR und des Parteiapparates der SED einzustellen.

Die Staatsduma ruft die BRD, die ihren Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen zur Russischen Föderation erklärt hat, ebenfalls auf, die notwendigen Schritte zu tun, um Komplikationen in den Beziehungen zwischen unseren Staaten zu vermeiden, zu denen es unvermeidlich käme, wenn die NATO sich nach Osten ausdehnt.

Der Vorsitzende der Staatsdoma der Versammlung der Russischen Föderation

Quelle: Neues Deutschland,15./16.03.97, S. 6


 




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