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1994-05-26

Plötzlicher Druckabfall

Die Qual der Wahl: Aus den letzten Stunden meiner Kandidatur

Jens Reich

Pfingsten ist vorbei, die Präsidentenwahl auch und ebenso meine Kandidatur-Einmischung in diesen Vorgang. Nach all der medienerzeugten hektischen Anspannung der letzten Tage erlebe ich eine Art Caisson-Effekt, also analog dem plötzlichen Druckabfall, wenn eine Tiefseetauchkabine zu schnell an die Oberfläche geholt wird und die Insassen einen Kollaps erleiden. Mein Kollaps ist geistiger Natur, ich bekomme den Entzug, wenn in meinem Terminkalender plötzlich nur noch institutsdienstliche Termine stehen: weniger dicht gesetzt, aber jeder von ihnen von erheblich längerer Dauer als die vielen Telefoninterviews, Radio-Features, Journalistengespräche, TV-Porträts und Telefax-Anfragen.

Für eine Bilanz ist es etwas früh. Ich will jetzt lediglich frische Eindrücke der Pfingsttage wiedergeben.

Die Bundesversammlung, die einmal alle fünf Jahre, also selten, zusammentritt und aufgrund ihrer anteiligen Besetzung durch einmalig benannte Delegierte eigentlich eine gesellschaftliche Versammlung mit hohem Spontanitätsanteil sein müßte - diese Veranstaltung war für mich als Neuling eine endlose Tour aus knochentrockner Routine, alles andere als ein politisches Fest. Wer die Veranstaltung übers Fernsehen miterlebt hat oder die zahlreichen, hofstaatlich-betulichen Beschreibungen und Reportagen in den Zeitungen liest, mag einen kurzweiligeren Eindruck haben, zumal die Medien sich ja nach Kräften um Auflockerung bemühen und in den langen Unterbrechungen neben Kommentatoren auch Sportberichte und Filme servieren. Aber für mich drinnen war der Ablauf ein Erlebnis von eher der negativen Art. Nicht die Einleitung. Die Rede der Bundestagspräsidentin war würdevoll und ließ auch unangenehme Themen wie Gewalt gegen Ausländer, Behinderte, Alte und Obdachlose nicht aus. Parlamentarisches Protestgemurmel kam lediglich bei ihrer Aussage auf, daß wir uns ohne Politiker wie Gorbatschow, Bush, Kohl und ihre Mitstreiter nicht hier hätten versammeln können. Den Murmelnden fehlte hier je nach Sitzgeographie entweder Willy Brandt oder Hans-Dietrich Genscher. Meine Vorstellung der Rolle von Personen in der Geschichte ist ohnehin anders: Die deutsche Spaltung wurde in meinen Augen vor allem vom 15 Millionen DDR-Bewohnern beendet. Die kann man nicht alle aufzählen.

Aber danach die Geschäftsordnung! Ein Republikaner stellte den Antrag, daß sich die Kandidaten vorstellen sollten, was mit überwältigender Mehrheit innerhalb von zwanzig Sekunden abgelehnt war. Artikel 54 des Grundgesetzes untersagt lediglich eine Aussprache; eine Vorstellung wäre dem Wortlaut nach möglich. Es hätte dem Kandidaten der Republikaner, der offenbar im letzten Moment benannt wurde, unerwünschte Publizität gegeben. Andererseits ist es natürlich merkwürdig, wenn über Personen abgestimmt wird, von denen niemand mehr als den blanken Namen kennt. Die spärlichen Informationen, die im Reichstag über Bildtext zugänglich waren, waren in meinem Fall auch noch falsch: Ich bin protestantischer, sonder katholischer Konfession und habe das niemals verleugnet, bin auch nicht nach meinem Bekenntnis gefragt worden, als ich meine Bereitschaft zur Kandidatur unterschrieb. Nebenbei bemerkt, war ich überrascht, was bei der Organisation so alles passiert, welche Akte äußerte Genauigkeit erfordern und welche nicht: Als ich am Sonntag ohne Akkreditierungskarte zu einer Besprechung in den Reichstag wollte (ich glaubte, sie wäre erst am Montag notwendig), war das ein Sicherheitsproblem ersten Ranges, mit längerer Prüf-, Warte- und Nachdenkzeit der peniblen Beamten. Als ich nach dem ersten Wahlgang zurücktreten wollte und einen Mitarbeiter bat, doch einmal im Präsidium anzurufen, in welcher Form der Rücktritt zu erfolgen habe, vielleicht mündlich bei der Präsidentin oder schriftlich ans Präsidium - da kam die Antwort ,,Danke schön!``, und fertig war der Rücktritt. Wir hätten offenbar ebenso leicht Herrn Herzog telefonisch aus dem Verkehr ziehen können.

Wirklich öde war der Ablauf der Abstimmung. Jeder Abgeordnetenname wird laut aufgerufen, was zusammen mit der Stimmabgabe und der anschließenden Auszählung für jeden Wahlgang mehrere Stunden dauert und dem Verfahren den festlichen Charakter restlost nimmt. Da es sich nicht um ein Konklave handelt, wo das Warten auf auf den Rauch die Spannung draußen herstellt, sondern um eine öffentliche Veranstaltung mit breitem Medieninteresse, sollte die Prozedur nach meiner Meinung so geändert werden, daß nicht für die zuschauende (oder ,,wegzappende``) Bevölkerung der Eindruck entsteht, hier werde höchst unfeierlich die Zeit totgeschlagen. Der Kaffee in der Wartelobby war übrigens von anerkannt schlechter Berliner Qualität.

Zum Abstimmungsergebnis der Kandidaten will ich auch jetzt nichts weiter sagen - als einem Beteiligten steht mir das aus Stilgründen nicht zu. Die Zahlen zeigen allerdings eindeutig, daß fast ausschließlich mit Fraktionsdisziplin abgestimmt wurde. Alle politischen Aussagen bestätigen, daß genau das beabsichtigt wurde. Ich finde, daß dadurch das Prestige des gewählten Präsidenten in der Bevölkerung eindeutig geschälert wird. Es müssen in Zukunft Wege gefunden werden, hier die Disziplin aufzuheben und die Wahl als gesellschaftliches Ereignis so zu gestalten, daß dem Sieger nicht der Sieg und den Unterlegenen nicht die Niederlage parteipolitisch schal werden kann. Gerade weil der Präsident nur geringe politische Macht hat und zudem zur Neutralität angehalten ist, ist es nicht einzusehen, daß seine Wahl mit derartiger partei- und koalitionspolitischer Hochspannung aufgeladen wird wie in diesem Jahr.

Mich hat der Ablauf der Honoratiorenveranstaltung in meiner Meinung bestärkt, daß das Staatsoberhaupt direkt gewählt werden sollte. Ich bin der Überzeugung, daß die Wahlbevölkerung mitentscheiden möchte. Ich glaube auch, daß das Prestige des Präsidenten durch direkte Wahl gestärkt würde, auch dann, wenn man den Namen der gewählten Person selbst gar nicht angekreuzt hatte. Demokratie wird durch gemeinsam getroffene, auch kontroverse Entscheidungen gestärkt. Das Argument, der Präsident müste dann legislativ oder exekutiv stärker ausgestaltet werden, erscheint mir nicht zwingend. Mit der größeren Legitimität einer Direktwahl könnte ihm allerdings eine höhere konzeptuelle Kompetenz zugeordnet werden.

Der gewichtigste Zweifel ist nach meiner Auffassung die Befürchtung, daß eine Wahl durch sechzig Millionen Menschen die parteipolitische Besetzung des überparteilichen Präsidentenamtes nicht aufheben könnte, weil der zugehörige Wahlkampf entsprechende Polarisierungen erzwingen würde. Kandidaten aus nichtparteimäßigen gesellschaftlichen Gruppen hätten dann aus technischen Gründen nur geringe Chancen, also genau das Gegenteil der Absicht. Hier könnte die gewählte Prozedur moderierend wirken (beispielsweise ist eine Fehlkonstruktion, wenn Präsidentenamt und Bundestagswahl zusammenfallen können). Letzten Endes aber wird der tatsächliche Wille der politischen Kräfte entscheidend sein, eine von Parteikonflikten weitgehend freien politischen Raum zu schaffen.

Ich will abschließend bekennen, daß ich mich den ganzen Pfingstmontag über in einer nicht unfreundlichen, aber doch auch nicht vertrauten Gesellschaft sozusagen zu Besuch fühlte. Immer noch das Ost-Syndrom. Ich wüßte gern von den ostdeutschen Delegierten, ob es ihnen auch so ergangen ist.

Quelle: FAZ, 26.05.1994


 




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