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Die Gruppe PDS / Linke Liste im Bundestag hat anlaesslich der Eroeffnung des Prozesses gegen Erich Honecker und weitere Mitglieder der Partei- und Staatsfuehrung der DDR mehrheitlich folgende Erklaerung beschlossen: Der heute beginnende Prozess gegen Erich Honecker u.a. ordnet sich in tausende von Ermittlungs- und Strafverfahren gegen ehemalige Partei- und Staatsfunktionaere unterschiedlicher Verantwortungs- ebenen, gegen Mitarbeiter des MfS, "Mauerschuetzen", vormalige Richter und Staatsanwaelte und Polizeiangehoerige ein. Darueber hinaus kommt diesem Prozess jedoch die besondere Rolle eines Tribunals ueber die DDR zu. Unsere kritische Stellungnahme zu diesem Prozess als Musterprozess gegen 40 Jahre DDR schliesst die unzweideutige Distanzierung von Erich Honecker ein. Als ehemaliger Generalsekretaer der SED war er fuer die Politik der Verweigerung dringend notwendiger politischer und oekonomischer Reformen verantwortlich. Die von ihm betriebene Politik der Abschottung vom Volk und die Missachtung seiner Forderungen sowie ein falsches Konzept der Machtsicherung, das grobe Verletzungen elementarer Grundrechte einschloss, verschaerften die Gesellschafts- und Staatskrise in der DDR und trugen massgeblich zur Einverleibung der DDR mit all den negativen Folgen bei. Insofern war Honecker fuer die politische Klasse der Alt-BRD geradezu ein Gluecksfall und fuer die Reformsozialisten in der DDR eine Katastrophe. Er war der Garant zur Niederhaltung des Perestroika-Fluegels in der SED, in den anderen Parteien und ueberhaupt in der politischen, wissenschaftlichen und kuenstlerischen Intelligenz, in der ganzen Bevoelkerung. In der Person des ehemaligen Staatsoberhauptes der DDR wird jedoch heute die Masse derjenigen auf die Anklagebank versetzt und in ihrer Wuerde angegriffen, die sich fuer die DDR eingesetzt, in deren oeffentlichen Dienst gearbeitet oder auch nur deren Gesetze beachtet haben. Dass der todkranke Erich Honecker in den letzten Monaten wie ein Schwerverbrecher gejagt wurde und nunmehr wie einst 1935 in Moabit einsitzt, hat offenbar Gruende, die mit der Politik von Honecker wenig zu tun haben. Es geht um die prinzi- pielle justitielle Abrechnung mit dem Sozialismusversuch auf deutschem Boden, mit dem angeblichen "Verbrechen DDR". Die Sieger im Kalten Krieg um Deutschland setzen gerade mit dem Honecker- Prozess die Strafjustiz als Instrument abschliessender Vergan- genheitsbewaeltigung in ihrem Sinne ein, um die DDR zum "Unrechtsstaat von Anbeginn an" zu erklaeren. Angesichts der Gnadenlosigkeit mit der dabei jede humanitaere Ruecksichtnahme verweigert wird, waechst unsere Sorge ueber eine bevorstehende Verfolgung von Hunderttausenden. Ausgangspunkt fuer den Prozess ist nicht die Frage nach einer tatsaechlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit Honeckers, sondern die politische Absicht, um den Preis der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien eine derartige Verantwortlichkeit zu konstruieren. So droht ein politischer Schauprozess. Das politische Handeln von Erich Honecker wie auch aller anderen Funktionstraeger der DDR kann juristisch nur am Massstab des seinerzeit in der DDR geltenden Rechts gemessen werden. Die These, dass DDR-Recht durch ueberpositives Recht bzw. Naturrecht ausser Kraft gesetzt war, die jetzt vom Bundesgerichtshof im Grenzerurteil vom 3.11.1992 vertreten wurde, oeffnet der Willkuer Tuer und Tor. Die Nichtanwendung von DDR-Recht - wie auch immer sie begruendet wird - laeuft darauf hinaus, der DDR nachtraeglich die Staatsqualitaet und damit den Anspruch auf eine eigene Rechtsordnung abzusprechen. Bei der Grenze zwischen DDR und der BRD ging es nicht um eine "innerdeutsche Grenze", sondern um eine Grenze zwischen zwei Staaten und zwei Machtbloecken. Dass die Rechtsordnung der DDR in manchem heutigen gesamtdeutschen Massstaeben nicht entsprach, hatte sie mit der Rechtsordnung der weitaus meisten Staaten dieser Welt gemein. Wir sehen in dem Prozess die Mobilmachung fuer einen beispiellosen Rachefeldzug in Deutschland. Wir fordern die Anerkennung der Haftunfaehigkeit Honeckers. Wir verlangen die Einstellung des Verfahrens. Wenn wir fuer diese Forderungen eintreten, so plaedieren wir damit zugleich fuer Rechtsfrieden und Aussoehnung als unabdingbare Voraussetzung einer Politik der Vollendung der Einheit Deutschlands und eine wirklich umfassende, die historischen Zusammenhaenge beachtende politische und moralische Aufarbeitung der Geschichte der DDR. Bonn, 10. November 1992 * * * Der Abgeordnete Bernd Henn (fraktionslos) hat sich der Erklaerung angeschlossen.Quelle: cl.gruppen.pds, PDS-Info, Nr. 620
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