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1992-11-11

Der Honecker-Prozess als justitielle Abrechnung mit der DDR


   Die Gruppe PDS / Linke Liste im Bundestag hat anlaesslich der
   Eroeffnung des Prozesses gegen Erich Honecker und weitere
   Mitglieder der Partei- und Staatsfuehrung der DDR
   mehrheitlich folgende Erklaerung beschlossen:


Der heute beginnende Prozess gegen Erich Honecker u.a. ordnet sich
in tausende von Ermittlungs- und Strafverfahren gegen ehemalige
Partei- und Staatsfunktionaere unterschiedlicher Verantwortungs-
ebenen, gegen Mitarbeiter des MfS, "Mauerschuetzen", vormalige
Richter und Staatsanwaelte und Polizeiangehoerige ein. Darueber
hinaus kommt diesem Prozess jedoch die besondere Rolle eines
Tribunals ueber die DDR zu.

Unsere kritische Stellungnahme zu diesem Prozess als Musterprozess
gegen 40 Jahre DDR schliesst die unzweideutige Distanzierung von
Erich Honecker ein. Als ehemaliger Generalsekretaer der SED war er
fuer die Politik der Verweigerung dringend notwendiger politischer
und oekonomischer Reformen verantwortlich. Die von ihm betriebene
Politik der Abschottung vom Volk und die Missachtung seiner
Forderungen sowie ein falsches Konzept der Machtsicherung, das
grobe Verletzungen elementarer Grundrechte einschloss, verschaerften
die Gesellschafts- und Staatskrise in der DDR und trugen
massgeblich zur Einverleibung der DDR mit all den negativen Folgen
bei. Insofern war Honecker fuer die politische Klasse der Alt-BRD
geradezu ein Gluecksfall und fuer die Reformsozialisten in der DDR
eine Katastrophe. Er war der Garant zur Niederhaltung des
Perestroika-Fluegels in der SED, in den anderen Parteien und
ueberhaupt in der politischen, wissenschaftlichen und
kuenstlerischen Intelligenz, in der ganzen Bevoelkerung.

In der Person des ehemaligen Staatsoberhauptes der DDR wird jedoch
heute die Masse derjenigen auf die Anklagebank versetzt und in
ihrer Wuerde angegriffen, die sich fuer die DDR eingesetzt, in deren
oeffentlichen Dienst gearbeitet oder auch nur deren Gesetze
beachtet haben. Dass der todkranke Erich Honecker in den letzten
Monaten wie ein Schwerverbrecher gejagt wurde und nunmehr wie
einst 1935 in Moabit einsitzt, hat offenbar Gruende, die mit der
Politik von Honecker wenig zu tun haben. Es geht um die prinzi-
pielle justitielle Abrechnung mit dem Sozialismusversuch auf
deutschem Boden, mit dem angeblichen "Verbrechen DDR". Die Sieger
im Kalten Krieg um Deutschland setzen gerade mit dem Honecker-
Prozess die Strafjustiz als Instrument abschliessender Vergan-
genheitsbewaeltigung in ihrem Sinne ein, um die DDR zum
"Unrechtsstaat von Anbeginn an" zu erklaeren.

Angesichts der Gnadenlosigkeit mit der dabei jede humanitaere
Ruecksichtnahme verweigert wird, waechst unsere Sorge ueber eine
bevorstehende Verfolgung von Hunderttausenden.
Ausgangspunkt fuer den Prozess ist nicht die Frage nach einer
tatsaechlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit Honeckers,
sondern die politische Absicht, um den Preis der Verletzung
rechtsstaatlicher Prinzipien eine derartige Verantwortlichkeit zu
konstruieren.

So droht ein politischer Schauprozess.

Das politische Handeln von Erich Honecker wie auch aller anderen
Funktionstraeger der DDR kann juristisch nur am Massstab des
seinerzeit in der DDR geltenden Rechts gemessen werden. Die These,
dass DDR-Recht durch ueberpositives Recht bzw. Naturrecht ausser
Kraft gesetzt war, die jetzt vom Bundesgerichtshof im
Grenzerurteil vom 3.11.1992 vertreten wurde, oeffnet der Willkuer
Tuer und Tor. Die Nichtanwendung von DDR-Recht - wie auch immer sie
begruendet wird - laeuft darauf hinaus, der DDR nachtraeglich die
Staatsqualitaet und damit den Anspruch auf eine eigene
Rechtsordnung abzusprechen. Bei der Grenze zwischen DDR und der
BRD ging es nicht um eine "innerdeutsche Grenze", sondern um
eine Grenze zwischen zwei Staaten und zwei Machtbloecken. Dass die
Rechtsordnung der DDR in manchem heutigen gesamtdeutschen
Massstaeben nicht entsprach, hatte sie mit der Rechtsordnung der
weitaus meisten Staaten dieser Welt gemein.

Wir sehen in dem Prozess die Mobilmachung fuer einen beispiellosen
Rachefeldzug in Deutschland.

Wir fordern die Anerkennung der Haftunfaehigkeit Honeckers. Wir
verlangen die Einstellung des Verfahrens.

Wenn wir fuer diese Forderungen eintreten, so plaedieren wir damit
zugleich fuer Rechtsfrieden und Aussoehnung als unabdingbare
Voraussetzung einer Politik der Vollendung der Einheit
Deutschlands und eine wirklich umfassende, die historischen
Zusammenhaenge beachtende politische und moralische Aufarbeitung
der Geschichte der DDR.

Bonn, 10. November 1992

                      * * *

Der Abgeordnete Bernd Henn (fraktionslos) hat sich der Erklaerung
angeschlossen.

 
Quelle: cl.gruppen.pds, PDS-Info, Nr. 620




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