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18.10.1989 Honecker tritt auf der 9. ZK-Tagung der SED von allen Aemtern zurueck 03.12.1989 Ausschluss aus der SED 08.12.1989 DDR-Staatsanwaelte werfen Honecker Vertrauens- missbrauch und Korruption, spaeter auch Hochverrat vor 29.01.1990 Festnahme bei Entlassung aus der Charite nach Krebsoparation. Inhaftierung im Gefaengnis Rummelsburg. 30.01.1990 Freilassung wegen Haftunfaehigkeit. Pfarrer Holmer nimmt das wohnungslose Ehepaar in Lobethal auf. 03.04.1990 Uebersiedlung ins sowjetische Militaerhospital Beelitz bei Berlin 01.12.1990 Haftbefehl der Berliner Justiz 13.03.1991 Mit einer sowjetischen Militaermaschine wird das Ehepaar Honecker nach Moskau ausgeflogen 14.03.1991 Bonn uebermittelt der UdSSR ein Auslieferungsersuchen 18.11.1991 Honecker beantragt Asyl 09.12.1991 Russlands Regierung: Honecker muss das Land bis zum 13.12.1991 verlassen. 11.12.1991 Flucht des Ehepaars in die chilenische Botschaft in Moskau 19.02.1992 Chiles Aussenminister Vargas erkllaert, Honecker koenne in sein Land kommen, wenn Russland zustimmt. 15.05.1992 Berliner Justiz legt 783 Seiten lange Anklageschrift wegen 49fachen Totschlags vor. 29.07.1992 Von russischen Beamten wird Honecker gezwungen, Chiles Botschaft zu verlassen. Flug nach Berlin-Tegel. Inhaftierung im Gefaengnis Alt-Moabit 12a 30.07.1992 Honecker werden zwei Haftbefehle verkuendet: wegen 49fachen Totschlags und Veruntreuung oeffentlicher Gelder zur Versor- gung der Funktionaerssiedlung Wandlitz 16.08.1992 Ein aerztliches Gutachten attestiert Honecker Leberkrebs 12.10.1992 Gutachter: Honeckers Lebenserwartung bestenfalls noch 18 Monate 16.10.1992 Haftverschonung wird abgelehnt 12.11.1992 Prozesseroeffnung ohne Stoph. Wenig spaeter scheidet Miehle aus. 03.12.1992 Honecker verliest vor Gericht seine ERKLAERUNG/s.unten 17.12.1992 Gutachter schaetzen, dass Honecker nur noch 3 bis 6 Mon. lebt. 21.12.1992 27. Strafkammer beschliesst: Prozess gegen Honecker geht weiter 05.01.1993 Richter Braeutigam muss wegen Befangenheit aus dem Prozess ausscheiden. 07.01.1993 Verfahren gegen Honecker wird von dem gegen die Mitange- klagten Kessler und Albrecht abgetrennt. 12.01.1993 Berliner Verfassungsgerichtshof: Prozess-Fortsetzung und weitere Haft ist Verstoss gegen Menschenwuerde. 27. Strafkammer stellt Verfahren ein, hebt den Haftbefehl wegen Totschlags auf. 13.01.1993 Aufhebung des zweiten Haftbefehls 13.01.1993 Honecker wird nach 169 Tagen Untersuchungshaft entlassen und nach Chile ausgeflogen.
Ich werde dieser Anklage und diesem Gerichtsverfahren nicht da- durch den Anschein des Rechts verleihen, dass ich mich gegen den offensichtlich unbegruendeten Vorwurf des Totschlags verteidige. Verteidigung eruebrigt sich auch, weil ich Ihr Urteil nicht mehr erleben werde. Die Strafe, die Sie mir offensichtlich zudenken, wird mich nicht mehr erreichen. Das weiss heute jeder. Ein Prozess gegen mich ist schon aus diesem Grunde eine Farce. Er ist ein po- litisches Schauspiel. Niemand in den alten Bundeslaendern, einschliesslich der Frontstadt Westberlin, hat das Recht, meine Genossen Mitangeklagten, mich, oder irgendeinen anderen Buerger der DDR wegen Handlungen anzukla- gen oder gar zu verurteilen, die in Erfuellung staatlicher Aufga- ben der DDR begangen worden sind. Wenn ich hier spreche, so spreche ich allein um Zeugnis abzulegen fuer die Ideen des Sozialismus, fuer eine gerechte politische und moralische Beurteilung der von mehr als einhundert Staaten voel- kerrechtlich anerkannten Deutschen Demokratischen Republik. Diese jetzt von der BRD als "Unrechtsstaat" apostrophierte Republik war ein Mitglied des Weltsicherheitsrates stellte zeitweise den Vor- sitzenden dieses Rates und stellte auch einmal den Vorsitzenden der UN-Vollversammlung. Die gerechte politische und moralische Beurteilung der DDR er- warte ich nicht von diesem Prozess und diesem Gericht. Ich nehme jedoch die Gelegenheit dieses Politschauspiels wahr, um meinen Standpunkt meinen Mitbuergern zur Kenntnis zu geben. Meine Situation in diesem Prozess ist nicht ungewoehnlich. Der deutsche Rechtsstaat hat schon Karl Marx, August Bebel, Karl Liebknecht und viele andere Sozialisten und Kommunisten angeklagt und verurteilt. Das Dritte Reich hat dies mit den aus dem Rechts- staat der Weimarer Republik uebernommenen Richtern in vielen Pro- zessen fortgesetzt, von denen ich selbst einen als Angeklagter erlebt habe. Nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus und des Hitlerstaates brauchte die BRD nicht nach neuen Staatsanwael- ten und Richtern zu suchen, um erneut Kommunisten massenhaft strafrechtlich zu verfolgen, ihnen mit Hilfe der Arbeitsgerichte Arbeit und Brot zu nehmen und sie mit Hilfe der Verwaltungsge- richte aus dem oeffentlichen Dienst zu entfernen oder sie auf an- dere Weise zu verfolgen. Nun geschieht uns das, was unseren Ge- nossen in Westdeutschland schon in den 50er Jahren geschah. Es ist seit ca. 190 Jahren immer die gleiche Willkuer. Der Rechts- staat BRD ist kein Staat des Rechts, sondern ein Staat der Rech- ten. Fuer diesen Prozess wie fuer andere Prozesse, in denen andere DDR- Buerger wegen ihrer "Systemnaehe" vor Straf-, Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichten verfolgt werden, muss ein Argument herhalten. Die Politiker und Juristen sagen, wir muessen die Kommunisten ver- urteilen, weil wir die Nazis nicht verurteilt haben. Wir muessen diesmal die Vergangenheit aufarbeiten. Das leuchtet vielen ein, ist aber ein Scheinargument. Die Wahrheit ist, dass die westdeut- sche Justiz die Nazis nicht bestrafen konnte, weil sich Richter und Staatsanwaelte nicht selbst bestrafen konnten. Die Wahrheit ist, dass die bundesdeutsche Justiz ihr derzeitiges Niveau, wie immer man es beurteilt, den uebernommenen Nazis verdankt. Die Wahrheit ist, dass die Kommunisten, die DDR-Buerger heute aus den gleichen Gruenden verfolgt werden, aus denen sie in Deutschland schon immer verfolgt wurden. Nur in den 40 Jahren der Existenz der DDR war das umgekehrt. Dieses Versaeumnis muss nun "aufgearbeitet" werden. Das alles ist natuerlich rechtsstaatlich. Mit Politik hat es nicht das geringste zu tun. Die fuehrenden Juristen dieses Landes, gleich ob Angehoerige der Regierungsparteien oder der SPD, erklaeren beschwoerend, unser Pro- zess sei ein ganz normales Strafverfahren und kein politischer Prozess, kein Schauprozess. Man sperrt die Mitglieder eines der hoechsten Staatsorgane des Nachbarstaates ein und sagt, das hat mit Politik nichts zu tun. Man wirft den Generalen eines gegneri- schen Militaerbuendnisses militaerische Entscheidungen vor und sagt, das hat mit Politik nichts zu tun. Man nennt die heute Verbre- cher, die man gestern ehrenvoll als Staatsgaeste und Partner in dem gemeinsamen Bemuehen, dass nie wieder von deutschem Boden ein Krieg ausgeht, begruesst hat. Auch das soll mit Politik nichts zu tun haben. Man klagt Kommunisten an, die, seit sie auf der politischen Buehne erschienen sind, immer verfolgt wurden, aber heute in der BRD hat das mit Politik nichts zu tun. Fuer mich und, wie ich glaube, fuer jeden Unvoreingenommenen liegt auf der Hand: Dieser Prozess ist so politisch, wie ein Prozess ge- gen die politische und militaerische Fuehrung der DDR nur sein kann. Wer das leugnet, der irrt nicht, sondern der luegt. Er luegt, um das Volk ein weiteres Mal zu betruegen. Mit diesem Prozess wird das getan, was man uns vorwirft. Man entledigt sich der politi- schen Gegner mit den Mitteln des Strafrechts, aber natuerlich ganz rechtsstaatlich. Auch andere Umstaende lassen unuebersehbar erkennen, dass mit dem Prozess politische Ziele verfolgt werden. Warum war der Bundes- kanzler, war Herr Kinkel, der fruehere Geheimdienstchef, spaetere Justizminister und noch spaetere Aussenminister der BRD, so darauf aus, mich, koste es, was es wolle, nach Deutschland zurueckzuholen und wieder nach Moabit zubringen, wo ich unter Hitler schon ein- mal war? Warum liess mich der Bundeskanzler erst nach Moskau flie- gen, um dann Moskau und Chile unter Druck zu setzen, mich entge- gen jedem Voelkerrecht auszuliefern? Warum mussten russischen Aerzte die richtige Diagnose, die sie auf Anhieb gestellt hatten, ver- faelschen? Warum fuehrt man mich und meine Genossen, denen es ge- sundheitlich nicht viel besser geht als mir, dem Volke vor wie einst die roemischen Caesaren ihre gefangenen Gegner vorfuehrten? Ich weiss nicht, ob das alles noch rational zu erkaeren ist. Viel- leicht bewahrheitet sich hier das alte Wort: Wen Gott vernichten will, den schlaegt er zuvor mit Blindheit. Es ist doch wohl jedem klar, dass alle diejenigen Politiker, die sich einst um eine Audi- enz bei mir bemuehten und die sich freuten, mich bei sich begruessen zu duerfen, von diesem Prozess nicht unbeschadet bleiben. Dass an der Mauer Menschen erschossen wurden, dass ich der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates, der Generalsekretaer, der Vorsit- zende des Staatsrates der DDR war, der fuer diese Mauer als hoechster lebender Politiker die groesste Verantwortung trug, wusste jedes Kind in Deutschland und darueber hinaus. Es gibt demnach nur zwei Moeglichkeiten: Entweder haben die Herren Politiker der BRD bewusst, freiwillig und sogar begierig Umgang mit einem Totschlae- ger gesucht, oder sie lassen jetzt bewusst und genussvoll zu, dass Unschuldige des Totschlags bezichtigt werden. Keine dieser beiden Moeglichkeiten wird ihnen zur Ehre gereichen. Eine dritte Moeglich- keit gibt es nicht. Wer dieses Dilemma in Kauf nimmt, so oder so ein Mensch ohne Charakter zu sein, ist entweder blind oder ver- folgt ein Ziel, das ihm mehr gilt als die Bewahrung seiner Ehre. Nehmen wir an, dass weder Herr Kohl noch Herr Kinkel noch all die anderen Herren Ministerpraesidenten und Parteifuehrer der Bundesre- publik Deutschland blind sind (was ich dennoch nicht ausschliessen kann), dann bleibt als politisches Ziel dieses Prozesses nur die Absicht, die DDR und damit den Sozialismus in Deutschland total zu diskreditieren. Die Niederlage der DDR und des Sozialismus in Deutschland und in Europa allein genuegt ihnen offenbar nicht. Es soll alles ausgerottet werden, was diese Epoche, in der Arbeiter und Bauern regierten, in einem anderen als furchtbarem, verbre- cherischem Licht erscheinen laesst. Total sollen der Sieg der Marktwirtschaft (wie man den Kapitalismus heute euphemistisch nennt) und die Niederlage des Sozialismus sein. Man will, wie es Hitler einst vor Stalingrad sagte, "dass dieser Feind sich nie mehr erheben wird". Die deutschen Kapitalisten hatten eben immer schon einen Hang zum Totalen. Dieses Ziel des Prozesses, den totgesagten Sozialismus noch ein- mal zu toeten, offenbart, wie Herr Kohl, wie Regierung und Opposi- tion der BRD die Lage einschaetzen. Der Kapitalismus hat sich oeko- nomisch genauso totgesiegt, wie sich Hitler einst militaerisch totgesiegt hat. Der Kapitalismus ist weltweit in eine ausweglose Lage geraten. Er hat nur noch die Wahl zwischen dem Untergang in einem oekologischen und sozialen Chaos und der Aufgabe des Privat- eigentums an Produktionsmitteln, d.h. dem Sozialismus. Beides be- deutet sein Ende. Nur der Sozialismus erscheint den Herrschenden der Bundesrepublik Deutschland offenbar als die akutere Gefahr. Dem soll dieser Prozess genauso vorbeugen wie der ganze Feldzug gegen das Andenken an die untergegangene DDR, wie deren Stigmati- sierung als "Unrechtsstaat". Der unnatuerliche Tod jedes Menschen in unserem Land hat uns immer bedruckt. Der Tod an der Mauer hat uns nicht nur menschlich be- troffen, sondern auch politisch geschaedigt. Vor allen anderen trage ich seit Mai 1971 die Hauptlast der politischen Verantwor- tung dafuer, dass auf denjenigen, der die Grenze zwischen der DDR und der BRD, zwischen Warschauer Vertrag und NATO, ohne Genehmi- gung ueberschreiten wollte, unter den Bedingungen der Schusswaffen- gebrauchsbestimmung geschossen wurde. Das ist sicher eine schwere Verantwortung. Ich werde spaeter noch darlegen, warum ich sie auf mich genommen habe. Hier, bei der Bestimmung des politischen Ziels dieses Prozesses, komme ich jedoch nicht umhin, auch fest- zustellen, mit welchen Mitteln das Prozessziel Verunglimpfung der DDR erreicht werden soll. Dieses Mittel sind die Toten an der Mauer. Sie sollen und werden diesen Prozess wie schon vorangegan- gene Prozesse medienwirksam gestalten. Es fehlen dabei die ermor- deten Grenzsoldaten der DDR. Wir und vor allem Sie haben bereits erlebt, wie ohne Ruecksicht auf Pietaet und Anstand die Bilder der Toten vermarktet wurden. Damit soll Politik gemacht und Stimmung erzeugt werden. Jeder Tote wird so gebraucht, richtiger miss- braucht, im Kampf der Unternehmer um den Erhalt ihres kapitali- stischen Eigentums. Denn um nichts anderes geht es bei dem Kampf gegen den Sozialismus. Die Toten sollen die Unmenschlichkeit der DDR und des Sozialismus beweisen und von der Misere der Gegenwart und den Opfern der sozialen Marktwirtschaft ablenken. Das alles geschieht demokratisch, rechtsstaatlich, christlich-human und zum Wohle des deutschen Volkes. Armes Deutschland. Nun zur Sache selbst. Die Staatsanwaelte der Frontstadt klagen uns als gemeine Kriminelle, als Totschlaeger an. Da wir nun offen- sichtlich keinen der 68 Menschen, deren Tod uns in der Anklage vorgeworfen wird, persoenlich totgeschlagen haben, da wir auch de- ren Toetung ebenso offensichtlich nicht vorher befohlen oder sonst veranlasst haben, wirft mir die Anklage auf Seite 3 woertlich vor: "...als Sekretaer des NVR und Sekretaer fuer Sicherheitsfragen beim Zentralkomitee der SED (angeordnet zu haben), die Grenzanlagen um Berlin (West) und die Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutschland auszubauen, um ein Passieren unmoeglich zu machen." Ferner wirft mir die Anklage vor, in 17 Sitzungen der NVR vom 29.11.1961 bis 1.7.1983 an Beschluessen teilgenommen zu haben, - weitere Drahtminensperren zu errichten (wobei das Wort "weitere" erkennen laesst dass die Streitkraefte der UdSSR vorher schon solche Sperren errichtet hatten), - das Grenzsicherungssystem zu verbessern, die Schiessausbildung der Grenzsoldaten zu verbessern, - Grenzdurchbrueche nicht zuzulassen, - am 3.5.1974 persoenlich erklaert zu haben, von der Schusswaffe muss ruecksichtslos Gebrauch gemacht werden, was im uebrigen nicht zu- trifft, - und dem Entwurf des am 1. Mai 1982 in Kraft getretenen Grenzge- setzes zugestimmt zu haben. Die Vorwuerfe gegen mich bzw. gegen uns richten sich gegen Be- schluesse des NVR, gegen Beschluesse eines verfassungsmaessigen Or- gans der DDR. Gegenstand des Verfahrens ist somit die Politik der DDR, das Bemuehen des NVR, die DDR als Staat zu verteidigen und zu erhalten. Diese Politik soll durch dieses Verfahren kriminali- siert werden. Damit soll die DDR als "Unrechtsstaat" gebrandmarkt und alle, die ihr dienten, zu Verbrechem gestempelt werden. Die Verfolgung von Zehntausenden und unter Umstaenden Hunderttausenden DDR-Buergern, von denen die Staatsanwaltschaft jetzt schon spricht, ist das Ziel dieses Verfahrens, das durch "Pilotverfahren" gegen Grenzsoldaten vorbereitet sowie von unzaeh- ligen, die DDR-Buerger diskriminierenden anderen Gerichtsverfahren vor Zivil-, Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsgerichten und von zahlreichen Verwaltungsakten begleitet wird. Es geht also nicht um mich oder um uns, die wir in diesem Prozess angeklagt sind. Es geht um die Zukunft Deutschlands, Europas, ja der Welt, die mit der Beendigung des Kalten Krieges, mit dem neuen Denken so glueck- lich zu beginnen schien. Hier wird nicht nur der Kalte Krieg fortgesetzt, hier soll ein Grundstein fuer ein Europa der Reichen gelegt werden. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit soll wieder ein mal endgueltig erstickt werden. Unsere Brandmarkung als Tot- schlaeger soll dazu ein Mittel sein. Ich bin der letzte, der gegen sittliche und rechtliche Massstaebe zur Be- oder auch Verurteilung von Politikern ist. Nur muessen drei Voraussetzungen erfuellt sein: Die Massstaebe muessen exakt vorher formuliert sein. Sie muessen fuer alle Politiker gleichermassen gelten. Ein ueberparteiliches Ge- richt, also ein Gericht, das weder mit Freunden noch Feinden der Angeklagten besetzt ist, muss entscheiden. Mir scheint, dass alles dies einerseits selbstverstaendlich, ande- rerseits aber in der heutigen Welt noch nicht machbar ist. Wenn Sie heute dennoch ueber uns zu Gericht sitzen, so tun Sie das als Gericht der Sieger ueber uns Besiegte. Dies ist ein Ausdruck der realen Machtverhaeltnisse, aber nicht ein Akt, der irgendeinen An- spruch auf Geltung vor ueberpositivem Recht oder ueberhaupt Recht fuer sich beanspruchen kann. Das allein koennte schon genuegen, um darzulegen, dass die Anklage ein Unrechtsakt ist. Doch da wir die Auseinandersetzung auch im Detail nicht scheuen, will ich im einzelnen darlegen, was die An- klage, sei es aus boeser Absicht, sei es aus Verblendung, nicht darlegt. Wie bereits zitiert, beginnt die Anklage die chronologische Auf- zaehlung der Vorwuerfe gegen uns mit den Worten: "Am 12. August 1961 ordnete der Angeschuldigte Honecker als Se- kretaer des NVR und Sekretaer fuer Sicherheitsfragen beim Zentralko- mitee der SED an, die Grenzanlagen um Berlin (West) und die Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutschland auszubauen, um ein Passieren unmoeglich zu machen." Diese historische Sicht der Dinge spricht fuer sich. Der Sekretaer fuer Sicherheitsfragen des ZK der SED ordnete 1961 ein welthisto- risches Ereignis an. Das uebertrifft noch die Selbstironie der DDR-Buerger, die die DDR als die groesste DDR der Welt bezeichneten. Wenn auch heute Enno von Loewenstern die DDR zu einem "grossen Land" machen will, um den Sieg der BRD entsprechend gewichtiger darstellen zu koennen, so versucht doch nicht einmal dieser Rechtsaussen des politischen deutschen Journalismus, die DDR zur Weltmacht hochzustilisieren. Das bleibt der "objektivsten Behoerde der Welt", der Staatsanwaltschaft, vorbehalten. Jeder macht sich vor der Geschichte so laecherlich, wie er will und kann. Wahr ist, dass der Bau der Mauer auf einer Sitzung der Staaten des Warschauer Vertrages am 5.8.1961 in Moskau beschlossen wurde. In diesem Buendnis sozialistischer Staaten war die DDR ein wichtiges Glied, aber nicht die Fuehrungsmacht. Dies duerfte gerichtsbekannt sein und braucht wohl nicht bewiesen zu werden. Da wir - wie ich schon sagte - offensichtlich niemand pesoenlich totgeschlagen noch den Totschlag eines Menschen unmittelbar be- fohlen haben, wird der Bau der Mauer, ihre Aufrechterhaltung und die Durchsetzung des Verbots, die DDR ohne staatliche Genehmigung zu verlassen, als Toetungshandlung angesehen. Mit Politik soll das alles nichts zu tun haben. Die deutsche Jurisprudenz macht das moeglich. Nur vor der Geschichte und dem gesunden Menschenverstand wird sie damit nicht bestehen. Sie wird nur ein weiteres Mal de- monstrieren, woher sie kommt, wes Geistes Kind sie ist und wohin Deutschland zu gehen im Begriff steht. Wir alle, die wir in den Staaten des Warschauer Vertrages damals Verantwortung trugen, trafen diese politische Entscheidung ge- meinsam. Ich sage das nicht, um mich zu entlasten und die Verant- wortung auf andere abzuwaelzen; ich sage es nur, weil es so und nicht anders war, und ich stehe dazu, dass diese Entscheidung da- mals, 1961, richtig war und richtig blieb, bis die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR beendet war. Eben diese politische Entscheidung und die Ueberzeugungen, die ihr zugrunde liegen, sind der Gegenstand dieses Prozesses. Man muss schon blind sein oder bewusst vor den Geschehnissen der Vergangenheit die Augen ver- schliessen, um diesen Prozess nicht als politischen Prozess der Sie- ger ueber die Besiegten zu erkennen, um nicht zu erkennen, dass er eine politisch motivierte Entstellung der Geschichte bedeutet. Wenn Sie diese politische Entscheidung fuer falsch halten und mir und meinen Genossen die Toten an der Mauer zum strafrechtlichen Vorwurf machen, dann sage ich Ihnen, die Entscheidung, die Sie fuer richtig halten, haette Tausende oder Millionen Tote zur Folge gehabt. Das war und das ist meine Ueberzeugung und, wie ich an- nehme, auch die Ueberzeugung meiner Genossen. Wegen dieser politi- schen Ueberzeugung stehen wir hier vor Ihnen. Und wegen Ihrer an- dersartigen politischen Ueberzeugung werden Sie uns verurteilen. Wie und warum es zum Bau der Mauer gekommen ist, interessiert die Staatsanwaltschaft nicht. Kein Wort steht darueber in der Anklage. Die Ursachen und Bedingungen werden unterschlagen, die Kette der historischen Ereignisse wird willkuerlich zerrissen. Erich Honec- ker hat die Mauer gebaut und aufrechterhalten. Basta. So einfach vermag der bundesdeutsche Jurist die Geschichte zu sehen und dar- zustellen. Hauptsache, der Kommunist wird zum Kriminellen gestem- pelt und als solcher verurteilt. Dabei kann doch jeder Deutsche wissen, wie es zur Mauer kam und warum dort geschossen wurde. Da die Anklage so tut, als sei es dem Sozialismus eigen, Mauern zu bauen und daran Menschen erschiessen zu lassen, und als truegen solche "verbrecherischen" Einzelpersonen wie ich und meine Genos- sen dafuer die Verantwortung, muss ich, ohne Historiker zu sein, die Geschichte, die zur Mauer fuehrte, rekapitulieren. Der Ursprung liegt weit zurueck. Er beginnt mit der Entstehung des Kapitalismus und des Proletariats. Der unmittelbare Beginn des Elends der deutschen Geschichte der Neuzeit ist das Jahr 1933. 1933 haben bekanntlich sehr viele Deutsche in freien Wahlen die NSDAP gewaehlt, und der Reichspraesident Hindenburg, der schon 1932 ebenfalls frei gewaehlt worden war, hat Adolf Hitler dann ganz de- mokratisch zum Reichskanzler berufen. Anschliessend haben die po- litischen Vorlaeufer unserer etablierten Parteien mit Ausnahme der SPD dem Ermaechtigungsgesetz zugestimmt, das Hitler diktatorische Vollmachten verlieh. Nur die Kommunisten hatten vor den genannten Wahlen gesagt: "Wer Hindenburg waehlt, waehlt Hitler, wer Hitler waehlt, waehlt den Krieg." Bei der Abstimmung zum Ermaechtigungsge- setz waren die kommunistischen Abgeordneten bereits aus dem Reichstag entfernt. Viele Kommunisten waren inhaftiert oder leb- ten illegal. Schon damals begann mit dem Verbot der Kommunisten der Untergang der Demokratie in Deutschland. Kaum war Hitler Reichskanzler, erlebte Deutschland sein erstes Wirtschaftswunder. Die Arbeitslosigkeit wurde ueberwunden, die An- rechtsscheine auf Volkswagen wurden verkauft, die kochende Volks- seele fuehrte zur Vertreibung und Ermordung der Juden. Das deut- sche Volk war in seiner Mehrheit gluecklich und zufrieden. Als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war und die Fanfaren die Siege in den Blitzkriegen gegen Polen, Norwegen, Daenemark, Bel- gien, Holland, Luxemburg, Frankreich Jugoslawien und Griechenland vermeldeten, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Die Herzen fast aller Deutschen schlugen fuer ihren Kanzler, fuer den groessten Fuehrer aller Zeiten. Kaum einer dachte daran, dass das Tausendjaeh- rige Reich nur zwoelf Jahre bestehen wuerde. Nachdem 1945 alles in Scherben lag, gehoerte nicht die ganze Welt Deutschland (wie es in einem bekannten Nazilied vorausgesungen wurde), sondern Deutschland gehoerte den Alliierten. Deutschland war in vier Zonen geteilt. Freizuegigkeit gab es nicht. Dieses Menschenrecht galt damals bei den Alliierten noch nicht. Es galt nicht einmal fuer die deutschen Emigranten, die wie Gerhart Eisler aus den USA nach Deutschland zurueckkehren wollten. In den USA gab es damals Plaene (z.B. den Morgenthauplan), Deutschland fuer dauernd in mehrere Staaten aufzuteilen. Diese Plaene gaben Stalin Veranlassung zu seinem oft zitierten Satz: "Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der deutsche Staat bleiben." Die damals von der UdSSR angestrebte Erhaltung der Einheit Deutschlands kam jedoch nicht zustande. Deutschland wurde im Ergebnis des 1947 von den USA ausgerufenen Kalten Krieges auf dem Weg ueber die Bildung der Bizone, der Trizone, die separate Waehrungsreform und schliesslich die Bildung der Bundesre- publik im Mai 1949 fuer lange Zeit zweigeteilt. Diese Teilung war, wie die zeitliche Abfolge beweist, nicht das Werk der Kommuni- sten, sondern das Werk der westlichen Alliierten und Konrad Adenauers. Die Bildung der DDR war eine zeitliche und logische Folge der Bildung der BRD. Nunmehr existierten zwei deutsche Staaten nebeneinander. Die BRD war jedoch nicht gewillt, die DDR anzuerkennen und mit ihr friedlich zu leben. Sie erhob vielmehr fuer ganz Deutschland und alle Deutschen den Alleinvertretungsan- spruch. Sie verhaengte mit Hilfe ihrer Verbuendeten ueber die DDR ein Wirtschaftsembargo und versuchte so, die DDR wirtschaftlich und politisch zu isolieren. Es war eine Politik der nichtkriege- rischen Aggression, die die BRD gegen die DDR fuehrte. Es war dies die Form des Kalten Krieges auf deutschem Boden. Es war diese Politik, die zur Mauer fuehrte. Nachdem die BRD der NATO beigetreten war, schloss sich die DDR dem Warschauer Vertrag an. Damit standen sich beide deutschen Staaten als Mitglieder feindlicher Militaerbuendnisse feindlich gegenueber. Die BRD war der DDR nach der Zahl ihrer Bevoelkerung, nach ihrer Wirtschaftskraft und nach ihren politischen und oekonomischen Ver- bindungen in vielfacher Hinsicht ueberlegen. Die BRD hatte durch den Marshallplan und durch geringere Reparationsleistungen weni- ger an den Kriegsfolgen zu tragen. Sie hatte mehr Naturreichtuemer und ein groesseres Territorium. Sie nutzte diese vielfache Ueberle- genheit gegenueber der DDR in jeder Hinsicht, besonders aber da- durch aus, dass sie DDR-Buergern materielle Vorteile versprach, wenn sie ihr Land verliessen. Viele DDR-Buerger erlagen dieser Ver- suchung und taten das, was die Politiker der BRD von ihnen erwar- teten: Sie "stimmten mit den Fuessen ab". Der wirtschaftliche Er- folg verlockte die Deutschen nach 1945 nicht weniger, als er sie nach 1933 verlockt hatte. Die DDR und die mit ihr verbuendeten Staaten des Warschauer Ver- trages gerieten in eine schwierige Situation. Die Politik des Roll back schien in Deutschland zum Erfolg zu fuehren. Die NATO schickte sich an, ihren Einflussbereich bis an die Oder zu erwei- tern. Durch diese Politik entstand 1961 eine Spannungssituation in Deutschland, die den Weltfrieden gefaehrdete. Die Menschheit stand am Rande eines Atomkrieges. In dieser Situation also beschlossen die Staaten des Warschauer Vertrages den Bau der Mauer. Niemand fasste diesen Entschluss leichten Herzens. Er trennte nicht nur Fa- milien, sondern er war auch das Zeichen einer politischen und wirtschaftlichen Schwaeche des Warschauer Vertrages gegenueber der NATO, die nur mit militaerischen Mitteln ausgeglichen werden konnte. Bedeutende Politiker ausserhalb Deutschlands, aber auch in der BRD, erkannten nach 1961 an, dass der Bau der Mauer die Weltlage entspannt hatte. Franz Josef Strauss schrieb in seinen Erinnerungen: "Mit dem Bau der Mauer war die Krise, wenn auch in einer fuer die Deutschen un- erfreulichen Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich auch abgeschlossen." (Seite 390) Vorher hat er ueber den geplanten Atombombenabwurf im Gebiet der DDR berichtet (Seite 388). Aus meiner Sicht haette es weder den Grundlagenvertrag noch Hel- sinki noch die Einheit Deutschlands gegeben, wenn damals die Mauer nicht gebaut oder wenn sie vor der Beendigung des Kalten Krieges abgerissen worden waere. Deswegen meine ich, dass ich ge- nauso wie meine Genossen nicht nur keine juristische, sondern auch keine politische und keine moralische Schuld auf mich gela- den habe, als ich zur Mauer ja sagte und dabei blieb. Es ist in der Geschichte Deutschlands sicher nur am Rande zu ver- merken, dass jetzt viele Deutsche sowohl aus dem Westen wie aus dem Osten sich die Mauer wieder wuenschen. Fragen muss man aber auch, was geschehen waere, wenn wir uns so verhalten haetten, wie das die Anklage als selbstverstaendlich vor- aussetzt. Das heisst, wenn wir die Mauer nicht gebaut, die Aus- reise aus der DDR jedem zugebilligt und damit freiwillig die DDR schon 1961 aufgegeben haetten. Man muss nicht spekulieren, um sich die Ergebnsse einer solchen Politik vorzustellen. Man muss nur wissen, was 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR geschehen ist. Genauso wie dort haetten auch 1961 in der DDR die ohnehin anwesen- den sowjetischen Truppen interveniert. Auch in Polen rief 1981 Jaruzelski das Kriegsrecht aus, um eine solche Intervention zu verhindern. Eine derartige Zuspitzung der Ereignisse, wie sie von der Anklage als selbstverstaendliche politische, moralische und juristische Aktion von uns verlangt wird, haette das Risiko eines dritten Weltkrieges bedeutet. Dieses Risiko wollten, konnten und durften wir nicht eingehen. Wenn das in Ihren Augen ein Verbrechen ist, so werden Sie sich vor der Geschichte mit Ihrem Urteil selbst richten. Das waere an sich nicht bedeutungsvoll. Bedeutungsvoll ist jedoch, dass Ihr Urteil ein Signal sein wird, das die alten Fronten erneut aufreisst, statt sie zu schliessen. Sie demonstrie- ren damit im Angesicht eines drohenden oekologischen Kollapses der Welt die alte Klassenkampfstrategie der 30er Jahre und die Macht- politik, die Deutschland seit dem eisernen Kanzler beruehmt ge- macht hat. Wenn Sie uns wegen unserer politischen Entscheidung von 1961 bis 1989 verurteilen, und ich gehe davon aus, dass Sie das tun werden, so faellen Sie Ihr Urteil nicht nur ohne rechtliche Grundlage, nicht nur als ein parteiisches Gericht, sondern auch unter voelli- ger Ausserachtlassung der politischen Gepflogenheiten und Verhal- tensweisen derjenigen Laender, die als Rechtsstaaten Ihren hoechsten Respekt geniessen. Ich will und kann in diesem Zusammen- hang nicht alle Faelle aufzaehlen, in denen politische Entscheidun- gen in diesen 28 Jahren Menschenleben gefordert haben, weil ich Ihre Zeit und Ihre Sensibilitaet nicht ueberstrapazieren will. Auch kann ich mich nicht mehr an alles erinnern. Nur folgendes will ich erwaehnen: 1964 entschied der damalige Praesident der USA, Kennedy, Truppen nach Vietnam zu entsenden, um anstelle der besiegten Franzosen bis 1973 Krieg gegen die um ihre Freiheit, ihre Unabhaengigkeit und ihr Selbstbestimmungsrecht kaempfenden Vietnamesen zu fuehren. Diese Entscheidung des Praesidenten der USA, die eine eklatante Verletzung der Menschenrechte und des Voelkerrechts beinhaltete, wurde von der Regierung der BRD in keiner Form kritisiert. Die Praesidenten der USA Kennedy, Johnson und Nixon wurden vor kein Gericht gestellt, auf ihre Ehre fiel, zumindest wegen dieses Krieges, kein Schatten. Dabei hatte kein US-amerikanischer und kein vietnamesischer Soldat die Freiheit, zu entscheiden, ob er sich wegen dieses ungerechten Krieges in Lebensgefahr begeben wollte oder nicht. 1982 setzte England Truppen gegen Argentinien ein, um die Falk- landinseln als Kolonie fuer das Empire zu erhalten. Die "Eiserne Lady" sicherte sich damit einen Wahlsieg, und ihr Ansehen wurde dadurch, auch nachdem sie abgewaehlt worden ist, nicht beschaedigt, von Totschlag keine Rede. 1983 befahl der Praesident Reagan seinen Truppen die Besetzung von Grenada. Niemand geniesst in Deutschland hoeheres Ansehen als die- ser Praesident der USA. Keine Frage dass die Opfer dieses Unterneh- mens rechtens zu Tode gekommen sind. 1986 liess Reagan die Staedte Tripolis und Bengasi in einer Stra- faktion bombardieren, ohne zu fragen, ob seine Bomben Schuldige oder Unschuldige trafen. 1989 ordnete Praesident Bush an, General Noriega aus Panama mit Waffengewalt zu entfuehren. Tausende unschuldige Panamesen wurden dabei getoetet. Wiederum fiel auf den Praesidenten der USA kein Ma- kel, geschweige denn, dass er wegen Totschlags oder Mordes ange- klagt wurde. Die Aufzaehlung liesse sich beliebig erweitern. Von dem Verhalten Englands in Irland ueberhaupt nur zu sprechen, duerfte als unan- staendig gelten. Nachdem, was die Waffen der Bundesrepublik Deutschland unter tuerkischen Kurden oder der schwarzen Bevoelkerung Suedafrikas an- richten, werden zwar rhetorische Fragen gestellt, doch niemand zaehlt die Toten, und niemand nennt die Schuldigen. Ich habe hier nur die als besonders rechtsstaatlich anerkannten Staaten mit nur einigen ihrer politischen Entscheidungen aufge- zaehlt. Jeder kann vergleichen, wie sich diese Entscheidungen zu der Entscheidung verhalten, an der Grenze des Warschauer Vertra- ges und der NATO eine Mauer zu errichten. Sie werden sagen, dass Sie ueber die Handlungen in anderen Laendern nicht entscheiden koennen und duerfen. Sie werden sagen, dass Sie das alles nicht interessiert. Doch ich meine, das Urteil der Ge- schichte ueber die DDR kann nicht gefaellt werden, ohne dass die Er- eignisse Berucksichtigung finden, die sich in der Zeit der Exi- stenz der DDR auf Grund der Auseinandersetzung zwischen den bei- den Bloecken in anderen Laendern abspielten. Ich meine darueber hin- aus auch, dass politische Handlungen nur aus dem Geist ihrer Zeit zu beurteilen sind. Wenn Sie die Augen davor verschliessen, was von 1961 bis 1989 in der Welt ausserhalb Deutschlands passierte, koennen Sie kein gerechtes Urteil faellen. Auch wenn Sie sich auf Deutschland beschraenken und die politi- schen Entscheidungen in beiden deutschen Staaten einander gegen- ueberstellen, wuerde eine ehrliche und objektive Bilanz zugunsten der DDR ausfallen. Wer seinem Volk das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnung verweigert, wie das in der BRD der Fall ist, nimmt in Kauf, dass zahlreichen Menschen ihre Existenz genommen wird und sie keinen anderen Ausweg sehen, als aus dem Leben zu scheiden. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Drogenmissbrauch, Be- schaffungskriminalitaet, Kriminalitaet ueberhaupt sind alle das Er- gebnis der politischen Entscheidung fuer die soziale Marktwirt- schaft. Selbst anscheinend so politisch neutrale Entscheidungen wie die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen sind Folgen ei- ner Staatsverfassung, in der nicht die frei gewaehlten Politiker, sondern die nichtgewaehlten Wirtschaftsbosse das Sagen haben. Wenn die Abteilung Regierungskriminalitaet des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht ihre Aufmerksamkeit einmal hierauf richten wuerde, haette ich bald die Moeglichkeit, den Repraesentanten der Bundesrepublik wieder wie frueher die Hand zu schuetteln. - Diesmal allerdings in Moabit. Das wird natuerlich nicht geschehen, weil die Toten der Marktwirtschaft alle rechtens ihr Leben verloren. Ich bin nicht derjenige, der die Bilanz der Geschichte der DDR ziehen kann. Die Zeit dafuer ist noch nicht gekommen. Die Bilanz wird spaeter und von anderen gezogen werden. Ich habe fuer die DDR gelebt. Ich habe insbesondere seit Mai 1971 einen betraechtlichen Teil der Verantwortung fuer ihre Geschichte getragen. Ich bin also befangen und darueber hinaus durch Alter und Krankheit geschwaecht. Dennoch habe ich am Ende meines Lebens die Gewissheit, die DDR wurde nicht umsonst gegruendet. Sie hat ein Zeichen gesetzt, dass Sozialismus moeglich und besser sein kann als Kapitalismus. Sie war ein Experiment, das gescheitert ist. Doch noch nie hat die Menschheit wegen eines gescheiterten Experiments die Suche nach neuen Erkenntnissen und Wegen aufgegeben. Es ist nun zu pruefen, warum das Experiment scheiterte. Sicher scheiterte es auch, weil wir, ich meine damit die Verantwortichen in allen europaeischen sozialistischen Laendern, vermeidbare Fehler begangen haben. Sicher scheiterte es in Deutschland unter anderem auch deswegen, weil die Buerger der DDR wie andere Deutsche vor ihnen eine falsche Wahl trafen und weil unsere Gegner noch uebermaechtig waren. Die Erfahrungen aus der Geschichte der DDR werden mit den Erfahrungen aus der Geschichte der anderen ehemaligen sozialisti- schen Laender fuer die Millionen in den noch existierenden soziali- stischen Laendern und fuer die Welt von morgen insgesamt nuetzlich sein. Wer seine Arbeit und sein Leben fuer die DDR eingesetzt hat, hat nicht umsonst gelebt. Immer mehr "Ossis" werden erkennen, dass die Lebensbedingungen in der DDR sie weniger deformiert haben, als die "Wessis" durch die "soziale" Marktwirtschaft deformiert worden sind, dass die Kinder in der DDR in Krippen, in Kindergaer- ten und Schulen sorgloser, gluecklicher, gebildeter und freier aufwuchsen als die Kinder in den von Gewalttaten beherrschten Schulen, Strassen und Plaetzen der BRD. Kranke werden erkennen, dass sie in dem Gesundheitswesen der DDR trotz technischer Rueckstaende Patienten und nicht kommerzielle Objekte fuer das Marketing von Aerzten waren. Kuenstler werden begreifen, dass die angebliche oder wirkliche DDR-Zensur nicht so kunstfeindlich war wie die Zensur des Marktes. Staatsbuerger werden spueren, dass die DDR-Buerokratie plus der Jagd auf knappe Waren nicht soviel Freizeit erforderte wie die Buerokratie der BRD. Arbeiter und Bauern werden erkennen, dass die BRD ein Staat der Unternehmer (sprich Kapitalisten) ist und dass die DDR sich nicht ohne Grund einen Arbeiter-und-Bauern- Staat nannte. Frauen werden die Gleichberechtigung und das Recht, ueber ihren Koerper selbst zu bestimmen, die sie in der DDR hatten, jetzt hoeher schaetzen. Viele werden nach der Beruehrung mit dem Ge- setz und dem Recht der BRD mit Frau Bohley, die uns Kommunisten verdammt, sagen: "Gerechtigkeit haben wir gewollt. Den Rechts- staat haben wir bekommen." Viele werden auch begreifen, dass die Freiheit, zwischen CDU/CSU, SPD und FDP zu waehlen, nur die Frei- heit zu einer Scheinwahl bedeutet. Sie werden erkennen, dass sie im taeglichen Leben, insbesondere auf ihrer Arbeitsstelle, in der DDR ein ungleich hoeheres Mass an Freiheit hatten, als sie es jetzt haben. Schliesslich werden die Geborgenheit und Sicherheit, die die kleine und im Verhaeltnis zur BRD arme DDR ihren Buergern ge- waehrte, nicht mehr als Selbstverstaendlichkeit missachtet werden, weil der Alltag des Kapitalismus jetzt jedem deutlich macht, was sie in Wahrheit wert sind. Die Bilanz der 40jaehrigen Geschichte der DDR sieht anders aus, als sie von den Politikern und Medien der BRD dargestellt wird. Der wachsende zeitliche Abstand wird das immer deutlicher machen. Der Prozess gegen uns Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR soll ein Nuernberger Prozess gegen Kommunisten werden. Die- ses Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt. In der DDR gab es keine Konzentrationslager, keine Gaskammern, keine politischen Todesurteile, keinen Volksgerichtshof, keine Gestapo, keine SS. Die DDR hat keinen Krieg gefuehrt und keine Kriegs- oder Mensch- lichkeitsverbrechen begangen. Die DDR war ein konsequent antifa- schistischer Staat, der wegen seines Eintretens fuer den Frieden hohes internationales Ansehen besass. Der Prozess gegen uns als die "Grossen" der DDR soll dem Argument entgegengesetzt werden, "die Kleinen haengt man, und die Grossen laesst man laufen". Das Urteil ueber uns soll damit den Weg voellig freimachen, um auch die Klei- nen zu "haengen". Schon bisher hat man sich allerdings hierbei we- nig Zwang auferlegt. Der Prozess soll die Grundlage fuer die Brand- markung der DDR als "Unrechtsstaat" bilden. Ein Staat, der von solchen "Verbrechern" wie uns, von "Totschlaegern" regiert wurde, kann nur ein "Unrechtsstaat" sein. Wer ihm nahestand, wer ein pflichtbewusster Buerger der DDR war, soll mit einem Kainszeichen gebrandmarkt werden. Ein Unrechtsstaat kann natuerlich nur von "verbrecherischen Organisationen" wie dem MfS, der SED usw. ge- fuehrt und gestuetzt worden sein. Kollektivschuld, kollektive Ver- urteilung soll an die Stelle individueller Verantwortlichkeit treten, um das Fehlen von Beweisen fuer die behaupteten Verbrechen zu verschleiern. Pfarrer aus der DDR geben ihren Namen fuer eine neue Inquisition, fuer eine moderne Hexenjagd. Millionen werden so gnadenlos ausgegrenzt, aus der Gesellschaft ausgestossen. Vielen werden die Existenzmoeglichkeiten bis aufs aeusserste eingeschraenkt. Es reicht, als IM registriert worden zu sein, um den buergerlichen Tod zu erleiden. Der Journalist als Denunziant wird hoch gelobt und reich entlohnt, nach seinem Opfer fragt niemand. Die Zahl der Selbstmorde ist tabu. Das alles unter einer Regierung, die sich christlich und liberal nennt, sowie mit Duldung, ja sogar Unter- stuetzung einer Opposition, die diesen Namen ebensowenig verdient wie die Bezeichnung "sozial". - Das alles geschieht mit dem selbstverliehenen Guetesiegel des Rechtsstaats. Der Prozess offen- bart seine politische Dimension auch als Prozess gegen Antifaschi- sten. Zu einer Zeit, in der der rechte neonazistische Mob unge- straft auf den Strassen tobt, Auslaender verfolgt und wie in Moelln ermordet werden, zeigt der Rechtsstaat seine ganze Kraft bei der Verhaftung demonstrierender Juden und eben bei der Verfolgung von Kommunisten. Hier fehlt es auch nicht an Beamten und Geld. Das alles hatten wir schon einmal. Resuemiert man den politischen Gehalt dieses Prozesses, so stellt er sich als Fortsetzung des Kalten Krieges, als Negierung des neuen Denkens dar. Er enthuellt den wahren politischen Charakter dieser Bundesrepublik. Die Anklage, die Haftbefehle und der Be- schluss des Gerichts ueber die Zulassung der Anklage sind gepraegt vom Geist des Kalten Krieges. Die Praejudizien zu den Gerichtsent- scheidungen gehen auf das Jahr 1964 zurueck. Die Welt hat sich seitdem geaendert, aber die deutsche Justiz fuehrt politische Pro- zesse, als regiere noch Wilhelm II. Sie hat die voruebergehende liberale politische "Schwaeche", die sie nach 1968 ueberfiel, wie- der ueberwunden und ihre alte antikommunistische Hochform wieder- gewonnen. Uns schalt man "Betonkoepfe" und warf uns Reformunfaehig- keit vor. - In diesem Prozess wird demonstriert, wo die Betonkoepfe herrschen und wer reformunfaehig ist. Nach aussen ist man zwar aeu- sserst geschmeidig, wird Gorbatschow die Ehrenbuergerschaft von Berlin verliehen, wird gnaedig verziehen, dass er einst die soge- nannten Mauerschuetzen durch seinen Eintrag in ihr Ehrenbuch belo- bigte, aber nach innen ist man "hart wie Kruppstahl". Den einsti- gen Verbuendeten von Gorbatschow stellt man dagegen vor Gericht. Gorbatschow und ich gehoerten beide der kommunistischen Weltbewe- gung an. Es ist bekannt, dass wir in einigen wesentlichen Punkten verschiedener Meinung waren. Doch unsere Differenzen waren aus meiner damaligen Sicht geringer als unsere Gemeinsamkeiten. Mich hat der Bundeskanzler nicht mit Goebbels verglichen, und ich haette ihm das auch nicht verziehen. Weder fuer den Bundeskanzler noch fuer Gorbatschow ist dieses Strafverfahren ein Hindernis fuer ihre Duzfreundschaft. Auch das ist kennzeichnend. Ich bin am Ende meiner Erklaerung. Tun Sie, was Sie nicht lassen koennen.
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