Start

Beiträge zur Theorie  










Michael Zander

Feuerbach, Wygotski und Co. - Buchbesprechung

Peter Keiler: Feuerbach, Wygotski und Co. Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen. Argument Verlag Berlin/ Hamburg 1997, 385 Seiten, 39 DM

1. Drei Gründe, Peter Keilers Buch über Feuerbach und Wygotski zu lesen

Der deutsche Philosoph Ludwig Andreas Feuerbach (1804-1872) und der sowjetische Psychologe Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1934) stehen im Mittelpunkt der vier Studien zur Geschichte der Psychologie. Gilt Feuerbach allgemein als ein "Wegbereiter" des Werkes von Karl Marx, so wird in Wygotski hauptsächlich ein Sprach- und Entwicklungspsychologe gesehen. Daß diese Sichtweisen als zu eng aufgegeben werden müssen, zeigt Keiler, indem er die "Feuerbach-Wygotski-Linie in der Psychologie" (a.a.O., 43) nachzeichnet. Dabei beschränkt sich Keiler selbstverständlich nicht darauf, das - z.T. recht zwiespältige - Urteil von Marx und Engels über Feuerbach zu referieren, sondern er läßt den allgemein als "vormarxistisch" gehandelten Philosophen ausführlich selbst zu Wort kommen und entwickelt aufgrund dessen eine eigene Einschätzung hinsichtlich des Gehaltes des Feuerbachschen Werkes. Keiler zeigt, daß Feuerbach aus gutem Grund nicht nur die Theorie von Karl Marx, sondern auch die von Lenin und Plechanow (dem "Begründer" des russischen Marxismus) entscheidend beeinflußte. Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht mehr verwunderlich, daß sich der sowjetische Psychologe L.S. Wygotski, der sich die Entwicklung einer marxistischen Psychologie zur Aufgabe gestellt hatte, mehrfach auf Ansätze Feuerbachs bezieht. Diese Bezüge mußte Wygotski später aufgrund einer stalinistischen Kampagne gegen den "Feuerbachianer" Deborin kaschieren.

Für KommunistInnen oder Linke ganz allgemein ergeben sich wesentlich drei Gründe, Keilers Buch zu lesen. Erstens enthält es eine Einführung in eine Philosophie, mit der sich ein Zeitgenosse von Marx und Engels das bemüht hat zu thematisieren, was in dem damaligen Forschungsprogramm für einen historischen und dialektischen Materialismus erst in Ansätzen entwickelt war: den "subjektiven Faktor". Dieses Bemühen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen muß natürlich nicht heißen, Feuerbachs Positionen kritiklos gegenüberzustehen. Zweitens behandelt Keiler die "antifeuerbachianische" Wende in der sowjetischen Philosophie, die für die stalinistische Obrigkeit ein erreichtes Teilziel bei der Durchsetzung ihres Konstrukts des "Marxismus-Leninismus" darstellte. Zur Beurteilung der Geschichte des "realen Sozialismus" von einem kommunistischen Standpunkt gehört es sicherlich, sich mit diesem Prozeß zu befassen. Drittens zeigt Keiler, wie Wygotski auf Grundlage der von Feuerbach entworfenen humanistisch-materialistischen Ethik eine behindertenpädagogische bzw. behindertenpolitische Konzeption entwickelt hat, die nach wie vor hochaktuell ist und die die Beschränktheit der bestehenden Verhältnisse auf diesem Gebiet erst voll kenntlich macht.

2. Feuerbach und die soziale Frage

Keiler problematisiert die Meinung vieler deutschsprachiger KommunistInnen, Feuerbach sei "in seinen sozial-politischen Ansichten idealistisch" gewesen (so die Kurzcharakteristik aus dem Personenregister MEW 28). Wenn Keiler dieser Meinung entgegenhält, daß es in Feuerbachs Philosophie bereits "Keime einer materialistischen Auffassung der Geschichte" gibt, so kann er damit an entsprechende Äußerungen von Plechanow und Lenin anknüpfen. Feuerbach bezieht sich ausdrücklich auf das Marxsche "Kapital" und die darin enthaltenen Schilderungen des Elends des Proletariats. Wolle man der Moral Geltung, d.h. allen Menschen die Möglichkeit zur Befriedigung ihres "Glückseligkeitstriebs" verschaffen, müsse man vor allem die materiellen Hindernisse beseitigen; die Moraltheorie, so Feuerbach, falle damit ins Gebiet der Privat- und Nationalökonomie.

Feuerbachs Sympathie galt den unteren Schichten; er vertrat daher einen Humanismus, der ihre Interessen zu reflektieren suchte. Obwohl er dringend auf Kolleggelder angewiesen war, bemühte er sich, durch eine "kommunistische" (d.h. hier: unentgeltliche) Lehrweise auch Arbeitern und Handwerkern Zugang zu seinen philosophischen, vor allem religionskritischen Arbeiten zu verschaffen. Daß Feuerbachs Wirken allgemein als ein politisches verstanden wurde, bezeugen einerseits Grußadressen von Arbeitern und andererseits die vielfältigen Repressalien der Obrigkeit gegen den Philosophen. In seinen letzten Lebensjahren war Feuerbach Mitglied der Nürnberger Sektion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Ihn beschäftigte aber nicht nur die "Arbeiter-und-Kapitalisten-Frage", sondern auch das Geschlechterverhältnis und der Kampf um die Frauenemanzipation. Entschieden sprach er sich dafür aus, Verhältnisse zu schaffen, in denen Frauen voll und ganz am öffentlich-politischen Leben teilnehmen können.

Daß über Feuerbach als politischen Menschen unter den deutschsprachigen KommunistInnen relativ wenig bekannt ist, führt Keiler unter anderem auf den "Feuerbach"-Aufsatz von Friedrich Engels zurück, aufgrund dessen ein bestimmtes Bild von dem "vormarxistischen" Philosophen festgeschrieben und tradiert wurde. Bei diesem Aufsatz handelt es sich eigentlich um die Besprechung eines Buches von C.N. Starcke über Feuerbach. Starcke hat, wie Keiler zeigt, in interessierter Weise Feuerbach-Zitate gefälscht, um seine eigenen Anschauungen abstützen zu können. Da Engels unwissentlich diese Fälschungen übernahm, konnte er auch in seinem eigenen Text der Philosophie Feuerbachs nicht gerecht werden. Ebenso wie Starcke zitiert Engels einen bestimmten Textabschnitt, in dem - im Unterschied zum Original - die ausführliche Bezugnahme auf Marx nicht mehr vorkommt.

Obwohl hier also einige Korrekturen nötig sind, warnt Keiler davor, Feuerbachs "Ansätze zu einem historischen Materialismus" mit dem historischen Materialismus selbst zu verwechseln. Feuerbach sei weit davon entfernt gewesen, Geschichte als die Geschichte von Klassenkämpfen zu begreifen. Meines Erachtens ist auch Feuerbachs Forderung nach Umgestaltung der ökonomischen Verhältnisse keineswegs eindeutig. Der wohlberechtigte Egoismus der jetzt unterdrückten Mehrheit der Menschheit solle, so Feuerbach, zu seinem Recht kommen und eine neue Geschichtsepoche begründen. Nicht einige sollten Adel und die übrigen Plebs sein, sondern alle sollten Zugang zu Bildung haben. Das Eigentum solle nicht aufgehoben werden, nur sollten nicht einige alles und die anderen nichts haben, sondern alle sollten Eigentum haben.

Diese zweite Forderung kann jedoch, weil sehr ungenau, verschieden interpretiert werden. Entweder handelt es sich bloß darum, den gesellschaftlichen Reichtum anders, gleichmäßiger zu verteilen oder darum, daß die Organisation der Produktion in die Hände der "assoziierten Produzenten" übergeht.

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß es gar nicht der Anspruch Feuerbachs war, mittels seiner Philosophie die herrschenden Produktionsverhältnisse zu analysieren und die Programmatik für eine soziale Revolution zu entwickeln. Sein Vorhaben war es, die psychologischen "Herz- und Kopfkrankheiten der Menschheit" zu untersuchen, wenn er auch durchaus einsah, daß diese aufs Engste mit den ökonomischen "Magenübeln" verknüpft waren - bzw. sind (vgl. Keiler a.a.O., 25f).

3. Feuerbachs Ethik und die psychologische Theorie L. S. Wygotskis

Zu jenen Herz- und Kopfkrankheiten der Menschheit zählt für Feuerbach zweifellos die Theologie. Ein wesentlicher Aspekt der feuerbachischen Ethik ist dementsprechend die entschiedene Zurückweisung theologischer Zumutungen. Für Feuerbach sind "die Lebensliebe, das Interesse, der Egoismus" die "natürlichen Beine... worauf Moral und Recht fußen" (zit. nach Keiler a.a.O., 8). Unter Egoismus versteht er dabei das "seiner Vernunft gemäße Sich-selbst-Geltendmachen, Sich-selbst-Behaupten des Menschen gegenüber allen unnatürlichen und unmenschlichen Forderungen, die die theologische Heuchelei, die religiöse und spekulative Phantastik, die politische Brutalität und Despotie an den Menschen stellen" (ebd.). Gemeint sei, so Feuerbach, nicht der Egoismus "des Philisters und Bourgeois", sondern der moralische, zweiseitige Egoismus, welcher nichts anderes sei, als die "durch die Anerkennung der Selbstliebe anderer sich selbst... Geltung verschaffende und sichernde Selbstliebe des Menschen" (a.a.O., 9). Feuerbach verteidigt hier also das individuelle Interesse, womit er bemerkenswerterweise zwei insgesamt sehr unterschiedliche Gegner trifft: einerseits die Theologie, andererseits aber auch den nihilistischen Individualismus, wie er später u.a. von Nietzsche formuliert werden sollte. Denn diese Gegner gehen ja beide von einem Dogma aus, gegen das Feuerbach scharf protestiert: dem Dogma von der angeblich naturwüchsigen Asozialität individueller Interessen. Allerdings wird in den von Keiler referierten Stellungnahmen nicht die Frage diskutiert, inwieweit der von Feuerbach vertretene moralische Egoismus unter den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen praktisch lebbar ist.

Die Konzeption einer "solidaristischen Ethik" ist nur ein Bestandteil des Einflusses Feuerbachs auf den sowjetischen Psychologen Wygotski. Keiler zeigt, daß Feuerbach bereits zahlreiche psychologische Probleme erörterte, die Wygotski später wieder aufgriff - so z.B. Feuerbachs Kritik einerseits am psychologischen Idealismus, andererseits an einem verkürzten Materialismus, der Psychologie auf Physiologie reduziert und so tut, als sei der Mensch gleich dem Tier nur ein biologisches Wesen in einer bloß natürlichen, bloß gegebenen und nicht veränderbaren Umwelt (vgl. Keiler a.a.O., 47f). Wygotski fordert in einem Aufsatz einen systematischen Anschluß an den "psychologischen Materialismus" Feuerbachs. Allerdings sei es, so Keiler, hinsichtlich des Zusammenhangs der Theorien von Feuerbach und Wygotski verfehlt, von "einer geradlinigen und bruchlosen Nachfolgebeziehung zu sprechen; vielmehr ist... das Verhältnis Wygotskis zu den Auffassungen Feuerbachs nicht nur sehr komplex und facettenreich, sondern weist durchaus auch paradoxe Züge auf" (a.a.O., 67f).

Ich will an dieser Stelle als Beispiel die Konzeption einer "solidaristischen Ethik" deshalb herausgreifen, weil sie - trotz ihrer problematischen Aspekte (s.u.) - das wesentliche und fruchtbare Vermittlungsstück zwischen Feuerbachs Philosophie und Wygotskis Behindertenpädagogik ist. Alle Moral, so Feuerbach, gründe sich letztlich auf die gegenseitige Anerkennung des jeweils eigenen Egoismus. Paradoxerweise sei aber das Geltend-Machen der eigenen Interessen wesentlich von der Unterstützung anderer abhängig. Dies gelte für nichtbehinderte und behinderte Menschen, nur sei der Grad der Abhängigkeit bei Behinderten i.d.R. größer. "Das eigentliche Problem liegt nicht in einer womöglich durch den körperlichen Mangel induzierten Verkrüppelung des ´Glückseligkeitstriebes´, sondern in der vollen Anerkennung des Glücksanspruchs des Krüppels durch seine unversehrten Mitmenschen..., die in ihm in erster Linie den Menschen zu sehen haben und erst in zweiter Linie den Krüppel" (a.a.O., 285; Hervorh. von mir). Als eines der "feuerbachischen Elemente" in Wygotskis Behindertenpädagogik nennt Keiler die Überlegung Feuerbachs, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur - also auch zu seinem eigenen Körper - durch sein Verhältnis zu den Mitmenschen vermittelt ist. Wygotskis großes Verdienst ist es, aufgrund dieser Überlegung vor allem soziale Dimensionen von Behinderung herausgearbeitet zu haben. Seine Behindertenpädagogik war damit in den 20er und 30er Jahren nicht nur weit ihrer Zeit voraus, sondern ist z.T. noch heute hochaktuell und implizit eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Sie ist folglich auch eine zum Teil behindertenpolitische Konzeption, wenngleich Fragen der Erziehung behinderter Kinder in ihr den größten Raum einnehmen.

4. Die behindertenpädagogische Konzeption Wygotskis

Statt von Behindertenpädagogik spricht Wygotski von Defektologie. Diesen Ausdruck, der nicht nur Pädagogik. sondern die "Wissenschaft von der Behinderung" überhaupt umfaßt, hatte man in der Sowjetunion aus der deutschen Fachsprache übernommen (vgl. Knox und Stevens 1993, 1). Ausführlich beschreibt Keiler den radikalen Perspektivenwechsel, für den Wygotski eintrat. Wygotski untersucht - vorwiegend am Beispiel von Gehörlosigkeit und Blindheit - die sozialen Verhältnisse, die zwar nicht die körperliche Abweichung, wohl aber Behinderung verursachen. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei sowohl den zwischenmenschlichen Beziehungen, als auch der Beziehung der (behinderten) Menschen zu den gesellschaftlich produzierten Gebrauchsgegenständen. Zunächst weist Wygotski darauf hin, daß ein behindertes Kind i.d.R. selbst seiner Familie vorrangig als besonderes Kind gilt. Wygotski zufolge, so Keiler, treffe dies "nicht nur für jene Familien zu, in denen man ein solches Kind ´als Last und Strafe´ empfinde, sondern auch dort, wo man es ´mit doppelter Liebe, mit verzehnfachter Fürsorge´ umgebe. Dabei seien, so Wygotski weiter, gerade die erhöhte Aufmerksamkeit und das Mitleid ´eine schwere Bürde für das Kind´ und bildeten gewissermaßen ´eine Sperrmauer´, die es von den übrigen Kindern isoliere" (Keiler a.a.O., 286). Für ein blindes Kind sei nicht die Blindheit selbst in erster Linie behindernd und bedrohlich, sondern vielmehr das es "begleitende Jammern und Wehklagen seiner Mitmenschen" (a.a.O., 290). Die Erziehung behinderter Kinder zur Selbständigkeit bedarf nach Wygotski keiner Sonderpädagogik, die zwar jedes "Körnchen" eines Defekts, darüber aber nicht die reichlichen Anteile an Gesundheit bemerke, und die die die Behinderung anbete, statt sie zu überwinden. Wygotski plädiert entschieden für Integration und gegen Aussonderung.

Die Behinderung besteht nach Wygotski aber nicht nur in einer bestimmten Art der Beziehung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, sondern insgesamt auch in der herrschenden Kultur, die einen bestimmten "biologischen Typus des Menschen" (zit. nach Keiler a.a.O., 297) voraussetzt, unterstellt und keine Abweichungen zuläßt. Eine Schrift z.B., die als visuelles System funktioniert, unterstellt Sehvermögen. Von den vermeintlichen Defiziten des Individuums lenkt Wygotski die Aufmerksamkeit auf die Defizite der Kultur. Ein zentrales Prinzip der defektologischen Praxis müsse das der "Schaffung von Nebenwegen der kulturellen Entwicklung" (ebd.) sein. Das Braille-System ersetze die herkömmliche Schrift, die Daktylologie (Zeichensprache) ersetze die Lautsprache und - wie man hinzufügen könnte - die Rampe ersetzt die Treppe. Das Wesentliche an dieser (bereits in den 20er Jahren veröffentlichten) Überlegung scheint mir, wie gesagt, zu sein, daß die eigentlichen Mängel eben nicht mehr beim Individuum verortet werden; vielmehr werden durch den Perspektivenwechsel erst die Unzulänglichkeiten der Kultur, der Architektur oder der gesellschaftlich produzierten Gebrauchsgegenstände deutlich. Noch immer ist diese Programmatik also eine aufrührerische Forderung, die Welt umzugestalten. Wygotski nimmt mit seinem Perspektivenwechsel ansatzweise die Kritik der Personalisierung vorweg, wie sie später von der Kritischen Psychologie entwickelt werden sollte und die einem Denken gilt, welches gesellschaftliche Beschränkungen in individuelle Beschränktheit uminterpretiert (vgl. Holzkamp 1983, 390ff; Fahl und Markard 1993, 20f).

Wygotski ging davon aus, die Menschheit werde Behinderungen eher sozial als medizinisch besiegen. "Möglicherweise ist die Zeit nicht mehr fern, da die Pädagogik es als peinlich empfinden wird, von einem defektiven Kind zu sprechen, da dies ein Hinweis darauf sein könnte, es handele sich um einen unüberwindbaren Mangel seiner Natur" (zit nach Keiler a.a.O., 291). Außerdem nahm er an, daß mit der russischen Oktoberrevolution auch die entsprechende Umgestaltung der Gesellschaft möglich geworden sei und nun auf der Tagesordnung stehe. Damit stand er nicht allein, wie die anfängliche Unterstützung seines Ansatzes durch die sowjetische Volkskommissarin für Erziehung Nadeshda K. Krupskaja beweist (vgl. Leithold 1979, 325). Doch es sollte sich in den folgenden Jahren eine ganz andere defektologische Richtung durchsetzen; Keiler zeigt dies am Beispiel der Behindertenpädagogik Alexander Meschtscherjakows. Bevor ich darauf genauer eingehe, möchte ich noch auf drei wesentliche Mängel in Wygotskis Konzeption hinweisen, die Keiler leider nicht thematisiert.

Erstens spricht Wygotski oft in problematischer Weise von "dem Blinden", "dem Gehörlosen", ja sogar von "dem Schwachsinnigen". Der falsch verallgemeinernde Unterton kommt m.E. daher, daß eben zu sehr über Behinderte geredet wird, anstatt daß sie sich selbst äußern. Man muß jedoch Wygotski zugute erhalten, daß er in seinen Schriften auch "Betroffene" zu Wort kommen läßt - darunter auch die blinde Schriftstellerin und Philosophin Helen Keller, die während ihrer Kindheit und Jugend auf die Unterstützung durch ihre Freundin Sarah Washington und ihre Erzieherin Anne Sullivan zurückgreifen konnte (siehe z.B. Keiler a.a.O., 362).

Zweitens übernimmt Wygotski vorschnell Begriffe wie "Reiz" und "Reaktion" aus der behavioristischen Psychologie und spricht, wenn er das Lehren der Braille-Schrift meint, von der "Anerziehung bedingter Reaktionen beim Blinden" (zit. nach Keiler a.a.O., 288). Über eine grundsätzliche und in sich schlüssige psychologische Theorie scheint er nicht zu verfügen. Schmerzlich vermißt man hier das Anknüpfen an Feuerbach oder Marx.

Drittens - und das ist der wohl gravierendste Mangel - befürwortet Wygotski in einem seiner Texte in ganz undifferenzierter Weise die Eugenik, also die gezielte Verhinderung der Geburt Behinderter (vgl. Wygotski 1975, 72). Angesichts katastrophaler wirtschaftlicher Verhältnisse, wie sie in der jungen SU infolge von Zarismus und Interventionskrieg herrschten, können die meisten derartigen Maßnahmen allenfalls ein mehr oder weniger notwendiges Übel sein; eine wirkliche Überwindung von Behinderung, wie es Wygotski nahelegt, sind sie nicht - zumal sie wieder einen bestimmten "biologischen Typus des Menschen" zum einzig gültigen erklären und somit die Beziehung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten stark belasten. Möglicherweise handelt es sich bei Wygotskis undifferenzierter Befürwortung der Eugenik schon um ein (unbewußtes) Zugeständnis an die angebliche "Realpolitik". Immerhin steht die diesbezügliche Äußerung seinem übrigen defektologischen Programm merkwürdig fremd gegenüber.

Der revolutionäre Gehalt dieses Programms konnte sich, wie gesagt, nicht durchsetzen. "Wygotskis Konzeption der kindlichen Defektivität repräsentierte weder zu seinen Lebzeiten noch irgendwann danach jemals den Stand ´der´ Defektologie in der Sowjetunion, vielmehr blieb Wygotski auch auf diesem Gebiet eher ein Außenseiter" (Keiler a.a.O., 302). Als Beispiel für den mainstream diskutiert Keiler die von A. Meschtscherjakow entwickelte "Taubblinden"-Pädagogik, der in den 70er Jahren parteioffizielle Ehrung der zuteil wurde. Meschtscherjakow und seine Mitarbeitenden wurden dadurch berühmt, daß vier gehörlos-blinde Diplom-PsychologInnen der von ihnen geleiteten Schule entstammten. Die Achtung vor diesen Erfolgen hindert Keiler nicht daran, Meschtscherjakows Konzept genauer zu untersuchen. Die Analyse zeige, so Keiler, daß es sich um einen sehr technizistischen Ansatz handele, der seinerseits mit dem Vergegenständlichungs-Aneignungs-Konzept von A. N. Leontjew verknüpft sei. Leontjew zufolge ist in den produzierten Dingen (z.B. einem Löffel) die "objektive Logik" ihres richtigen Gebrauchs "vergegenständlicht"; die sich das Kind "anzueignen" hat. Für Meschtscherjakows Pädagogik ist nun zentral, daß mit ihrer Hilfe auch ein behindertes Kind solche Aneignungen vollziehen können soll, d.h. lernen soll, Dinge so zu benutzen, wie es bei deren Herstellung vorgesehen war. Der Kritik des Vergegenständlichungs-Aneignungs-Konzepts hat Keiler eine ganze Studie gewidmet. Es geht ihm darin hauptsächlich um die "ideengeschichtlichen Quellen" des Konzepts. Diese sind, wie Keiler darlegt, entgegen den Behauptungen Leontjews nicht bei Marx, sondern in der idealistischen Theorie des "objektiven Geistes" von Lazarus und Steinthal zu suchen. Von dieser aus führe eine theoriegeschichtliche Linie zu Leontjew und Meschtscherjakow bis hin zur Kritischen Psychologie, die von Klaus Holzkamp und anderen entwickelt wurde (s.u.). In der Behindertenpädagogik Meschtscherjakows habe sich das Vergegenständigungs-Aneignungs-Konzept insofern verhängnisvoll ausgewirkt, als seine Anwendung darauf hinauslaufe, die Beziehung zwischen behinderten Kindern und den Erziehenden zu vernachlässigen bzw. zu vereinseitigen. Das Konzept, das die regelrechte Anwendung von Gegenständen als höchstes Ziel setze, mache die Erziehenden gegenüber den Kindern zu bloßen Vermittlern von angeblich in diesen Gegenständen hausenden "objektiven Logiken"; es mache sie zu inhumanen "´Funktionäre(n)´ des ´objektiven Geistes´" (a.a.O., 328). Angesichts eines derartigen "´technozentrierten´ Reduktionismus" (ebd.) lasse sich, so Keiler, der Erfolg der vier gehörlos-blinden Kinder, die später Diplom-PsychologInnen wurden, nicht wesentlich auf die Pädagogik Meschtscherjakows zurückführen. Viel wichtiger seien die Beziehungen gewesen, die die vier Kinder zu ihren Mitmenschen entwickelten, bevor sie die Schule Meschtscherjakows besuchten. Die Unterstützung, auf die sie hier hätten zurückgreifen können, sei eine äußerst wichtige Voraussetzung gewesen, die sie von den meisten ihrer gehörlos-blinden MitschülerInnen unterschied. Ihr Werdegang sei weniger vor dem Hintergrund der Pädagogik Meschtscherjakows zu interpretieren, als vielmehr im Licht der Auffassungen Wygotskis.

5. Die "antifeuerbachianische" Wende in der SU

Dafür, daß Wygotski seinem defektologischen Programm keine Geltung verschaffen konnte, macht Keiler z.T. die sich zuspitzende (wissenschafts-) politische Lage in der Sowjetunion verantwortlich. "Nicht zuletzt die bittere Einsicht, dass jene Zeiten endgültig vorbei waren, in denen das Wort ´Kommunismus´ ohne Umschweife mit der Vision einer entwickelteren (im weiteren Sinne ´humaneren´ und den Glücksansprüchen der Individuen adäquateren) Form der ´Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen´ assoziiert werden konnte, mag Wygotski bewogen haben, auch in der Behindertenproblematik von jener umfassenderen (einzelwissenschaftliche direkt mit gesellschaftspolitischen Fragen verknüpfenden) Perspektive Abstand zu nehmen..." (a.a.O., 302). Unter dem Druck der politischen Verhältnisse vermied Wygotski auch, wie Keiler zeigt, den offenen Bezug auf Feuerbach. Eingeleitet wurde dies durch die parteioffizielle Verleumdung des zeitgenössischen und durch Feuerbachs Werk inspirierten Philosophen Abram Moiseevic Deborin, der "der Durchsetzung des stalinschen Verständnisses des ´Leninschen Erbes´ und der... lancierten Vorstellung vom ´Marxismus-Leninismus´ im Wege" (a.a.O., 87) stand.

Ende 1930 fällte Stalin das ideologische Urteil gegen den "Feuerbachianer" Deborin. Keiler zitiert ein Dokument, in dem Stalin die Theorien Deborins als "Idealismus menschewistischer Prägung" und als "kleinbürgerliche Ideologie" (a.a.O., 90) beschimpft; Deborin habe, so Stalin, den "Weg des Antimarxismus" (ebd.) beschritten. Man warf Deborin insgesamt die "gleichzeitige(r) ´Verhegelung´ und ´Verfeuerbachung´ des Marxismus..." (a.a.O., 94) vor. Was man bei Deborin zum Anlaß genommen hatte, um ihn aus dem Wissenschaftsbetrieb zu drängen, lasse sich, so Keiler, auch bei Wygotski finden. "Wollte Wygotski sich bei der Revision und Fortentwicklung seiner psychologischen Konzeption... auch weiterhin... an den Auffassungen Feuerbachs orientieren, so konnte dies keineswegs in einer Weise geschehen, die ihn für jeden sofort erkennbar zum ´Feuerbachianer´ stempelt" (ebd.). Der weitere Gang, den Keilers Studie zu diesem Thema nimmt, braucht nicht nacherzählt, sondern sollte einfach gelesen werden. Keiler zeigt, wie Wygotski in seinen folgenden Arbeiten die inhaltlichen Bezugnahmen auf Feuerbach kaschiert und sie sozusagen zwischen den Zeilen versteckt. Damit liefert Keiler gleichzeitig eine klare und gehaltvolle Darstellung der Theorie Wygotskis, die sich seinerzeit hauptsächlich um Fragen der kindlichen Entwicklung drehte.

Um den Lesenden verständlich zu machen, worum es in Keilers Buch geht, hielt ich es für unvermeidbar, den Inhalt in dieser Ausführlichkeit wiederzugeben (wenngleich ich viele Punkte dabei noch nicht berührt habe). Meine Kritik an den in dem Buch transportierten psychologischen Positionen habe ich bisher weitgehend beiseite gelassen; m.E. können aber viele interessante Punkte erst in der Diskussion zutage treten. Darum will ich an dieser Stelle die Kritik nachholen und zunächst zur Philosophie Feuerbachs zurückkehren.

6. Kritik an Keilers Buch

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Keiler in seinem berechtigten Bemühen, dem Werk Feuerbachs und Wygotskis innerhalb der psychologischen (bzw. marxistischen) Diskussion mehr Geltung zu verschaffen, über das Ziel "hinausschießt". Über weite Teile versäumt Keiler es, die Positionen Feuerbachs selbst einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Entsprechend seiner Herangehensweise betont Keiler die ideengeschichtliche Herkunft einer Theorie, wodurch allerdings m.E. die Frage nach dem Erkenntnisgehalt zu sehr in den Hintergrund tritt. Daß Feuerbachs Positionen z.T. selbst recht problematisch sind, will ich an zwei Beispielen zeigen.

In der ersten Studie zitiert Keiler eine Äußerung Feuerbachs über die zeitgenössische Frauenbewegung. Obgleich, so Feuerbach, er die "Geschlechtsdifferenz" als eine "auch geistige" anerkannt habe, so habe er deswegen doch niemals auf eine Unterlegenheit des "weiblichen Geistes" geschlossen. Die Frauen, sagt Feuerbach, könnten ebenso wie die Männer Politiker sein, "nur Politiker anderer Art, vielleicht selbst besserer Art wie wir" (zit. nach Keiler a.a.O., 29). An anderer Stelle heißt es, man könne nur vom Geschlechtsunterschied abstrahieren, würde dieser sich auf die Geschlechtsteile beschränken; der Geschlechtsunterschied sei aber ein "Mark und Bein durchdringender, allgegenwärtiger, unendlicher..." (a.a.O., 53). Keiler weist in seinem Buch mehrfach auf diese Textpassagen hin, ohne jedoch ihren Inhalt eingehender zu kommentieren. Bei Marx und Engels, so Keiler, lasse sich schwerlich eine "so deutliche Stellungnahme zu Fragen der Geschlechterproblematik finden..." (a.a.O., 29). Unabhängig davon, inwieweit Keilers Kritik an Marx und Engels berechtigt ist, halte ich es für durchaus fraglich, ob es sich bei der Position Feuerbachs um ein so gutes "Gegenbeispiel" handelt. Denn letztlich geht Feuerbach - und darin unterscheidet er sich keinen Deut von den meisten anderen Philosophen -- von einem (biologisch bedingten) Unterschied zwischen "männlichem" und "weiblichem Geist" aus. Worum es Feuerbach lediglich geht, ist die Bewertung dieses Unterschieds. Für ihn erklärt sich folglich das Handeln der Menschen nicht aus einer bestimmten - durch Privilegien, Diskriminierungen und handfesten Machtverhältnissen gekennzeichneten - Prämissenlage, sondern aus dem Geschlecht. Inzwischen hat die gesellschaftliche Praxis ja wohl hinlänglich bewiesen, daß das Geschlecht der führenden Leute in Wirtschaft und Politik im buchstäblichen Sinne des Wortes gleichgültig ist, solange die konkreten Macht- und Eigentumsverhältnisse unverändert bleiben. Feuerbachs Position läßt sich unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sie entwickelt wurde, sicher entschuldigen. Bedauerlich finde ich nur, daß Keiler hier nicht selbst eine Stellungnahme abgibt.

Das zweite Beispiel, das ich herausgreife, um auf problematische Aspekte der Anschauungen Feuerbachs hinzuweisen, bezieht sich auf seine Theorie über die Entwicklung des menschlichen Gewissens. Feuerbach beginnt mit der Feststellung, das Gewissen sei ein "Produkt der menschlichen Gesellschaft" und entwickle sich in der individuellen Auseinandersetzung mit den Glücksansprüchen der jeweils anderen Menschen. Das Gewissen, so Feuerbach, sei das "vorgestellte..., vergegenwärtigte... Bild des andern" (zit. nach Keiler a.a.O., 58) im Individuum. Die Moral kenne schließlich keine eigene Glückseligkeit ohne fremde Glückseligkeit. Dort, wo Feuerbach genauer der Frage nachgeht, wie und warum das Bild des anderen verinnerlicht wird, ist allerdings nicht mehr von "dem" anderen schlechthin die Rede, sondern von Personen, von denen das Individuum abhängig ist bzw. denen das Individuum sich verpflichtet fühlt. Der Vater, so Feuerbach, sei das Gewissen des Sohnes, der Lehrer das des Schülers und der Jude das des Juden; das Gewissen sei etwas "oft selbst mit vieler Mühe Eingebläutes" (zit. nach Keiler, a.a.O., 132). Pflichten des Individuums gegen sich selbst, so Feuerbach, hätten nur dann moralischen Wert, wenn sie als Pflichten gegen andere erkannt werden; man habe nur Pflichten gegen sich selbst, weil man Pflichten gegen andere habe, d.h. "Familie... Gemeinde... Volk" und "Vaterland" (zit. nach Keiler a.a.O., 56). Komme man nicht zur Anerkennung seiner Pflichten gegen andere, so werde man "von Rechts wegen... durch Anwendung von Gewaltmaßregeln dazu gezwungen" (zit. nach Keiler, S.57).

Das Gewissen, so wie Feuerbach es entwirft, macht das Individuum vollkommen hilflos gegen die Ansprüche der anderen, insbesondere der jeweiligen Obrigkeit. Die Behauptung, die Pflichten gegen "die anderen" müßten jedenfalls mit den "Pflichten gegen sich selbst" in Einklang gebracht werden, nimmt dem Individuum die Möglichkeit, zwischen eigenen und fremden Interessen zu unterscheiden, und läuft letztlich darauf hinaus, Opportunismus mit Gewissenhaftigkeit gleichzusetzen. Feuerbachs Versäumnis ist es, in diesem Zusammenhang nicht nach den konkreten Verhältnissen zu fragen, welche erst die Interessen der Individuen in Gegensatz zueinander bringen. Aus Keilers Darstellung geht nicht hervor, was nach Feuerbach z.B. die "Pflichten gegen die Familie" oder das "Vaterland" unterscheidet von den "unmenschlichen Forderungen der Theologie" und der politischen Despotie, gegen welche das Individuum seinen "wohlberechtigten Egoismus" geltend zu machen hat.

Keiler kritisiert die Behauptung vieler (ehemaliger) Linker, man müsse das, was bei Marx und Engels hinsichtlich des "subjektiven Faktors" nicht zu finden sei, bei ihren direkten "Antipoden", also bei Schopenhauer, Nietzsche oder Freud suchen. Dieser Kurzschluß, so Keiler, resultiere aus der Unterschätzung der Bedeutung, die den Auffassungen Feuerbachs für eine erfolgreiche Durchführung des Projekts "Marxismus" zukomme.

So berechtigt, notwendig und überfällig eine solche Kritik an einer z.T. nietzscheanisch verdorbenen Salonlinken auch ist, sie ist dennoch nur die halbe Wahrheit. Denn was die Theorie der Entwicklung des Gewissens anbelangt, so findet man bei Sigmund Freud Positionen, die in bestimmten Aspekten deutlich über das von Feuerbach Gesagte hinausweisen. Wie Feuerbach auch, so sieht Freud den Ursprung des Gewissens darin, daß das Kind die Forderungen mächtiger Autoritäten verinnerlicht. Im Unterschied zu Feuerbach weist Freud jedoch auf die psychischen "Kosten" hin, die eine solche Verinnerlichung in ungünstigen, extremen Fällen bedeuten kann: die Neurose.

Tatsächlich repräsentieren Freud und Feuerbach zwei gegensätzliche Positionen in der Frage nach der Natur des Gewissens. Für Freud ist der Mensch - d.h. bei ihm: der Mann - ursprünglich eine individualistische Bestie, die ihre Triebe rücksichtslos und grundsätzlich auf Kosten Schwächerer befriedigt. Ganz dem Kitsch der Aufklärung verpflichtet unterstellt Freud, die Menschen hätten sich irgendwann, um sich voreinander zu schützen, einer mächtigen Obrigkeit unterworfen, die nunmehr darauf achtet, daß die Individuen einander ihre Pflichten erfüllen, um somit eine rationellere und weniger (selbst-) schädigende Triebbefriedigung zu ermöglichen. Dies bedeutet - in Freuds Worten - die historische Entstehung eines "Realitätsprinzips", welches in den Dienst des "Lustprinzips" gestellt wird. Auf diese Weise entwirft Freud das Bild eines unabänderlichen Konflikts zwischen unterdrückerischen Forderungen der Obrigkeit (oder "der Gesellschaft") und den vitalen, aber asozialen Interessen des Individuums. Psychische Erkrankungen sind nach Freud das ungünstige Ergebnis des angeblich ewigen Konflikts zwischen individueller Natur und gesellschaftlicher Kultur. Das Gewissen des Menschen ist für ihn nichts anderes, als die Summe der verinnerlichten Gebote des Vaters, der die Forderungen "der Gesellschaft" gegen seine Kinder durchsetzt.

Feuerbachs Anliegen ist es zunächst offensichtlich, den von der Religion (und schließlich auch von der Psychoanalyse) gepredigten starren Gegensatz zwischen "Egoismus" und "Altruismus" zu überwinden. Moral heißt für ihn, gleichzeitig eigene und fremde Glücksansprüche anzuerkennen und geltend zu machen. Zur Durchsetzung eigener Glücksansprüche ist das Individuum stets von anderen abhängig. Eine ideale moralische Situation stellt für Feuerbach die der sexuellen Betätigung dar. Hier könne man nur ganz sich selbst befriedigen, indem man den/ die andere(n) befriedigt (vgl. Keiler a.a.O., 56). Ein Naturzustand, wie ihn Freud konstruiert (und wie es ihn nach dem, was man über die Menschwerdung weiß, auch nie gegeben hat) kommt bei Feuerbach nicht vor; im Gegenteil - ihm zufolge entwickeln sich die Fähigkeiten des Menschen nur in der Gemeinschaft, denn: "Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich... weder als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten - eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt" (zit. nach Keiler a.a.O., 294f).

Von einem ideologiekritischen Standpunkt her gesehen sind die Auffassungen Feuerbachs und Freuds beide unbefriedigend. Feuerbach setzt zwar das individuelle Interesse wieder ins Recht; doch dadurch, daß er die Interessen der Menschen vorschnell gleichsetzt, weicht er der Erörterung massiv konflikthafter Situationen als Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse aus und nimmt einer Moraltheorie damit ihren wichtigsten Gegenstand. Freud hingegen thematisiert zwar - z.T. auf Grundlage der Beschreibung klinischer Fälle - die Konflikte und Machtgefälle in der bestehenden Gesellschaft; aber er stempelt die individuellen Interessen als grundsätzlich rücksichtslos und asozial ab und rechtfertigt damit ihre Unterdrückung. Eine Synthese der Auffassungen Feuerbachs und Freuds müßte, soweit sie überhaupt möglich ist, den kritischen Stachel beider Anteile enthalten.

Zum Schluß will ich noch kurz auf die massive und z.T. sehr polemische Kritik eingehen, die Keiler an der von ihm so genannten "Holzkamp-Gruppe" übt, also an jenem Berliner Kreis von Psychologinnen und Psychologen, der seit etwa 25 Jahren wichtige und zahlreche Beiträge zur Kritischen Psychologie liefert und dem Keiler früher selbst angehörte. Ich kann und will hier nicht darüber urteilen, inwieweit Keilers Vorwürfe im Detail inhaltlich berechtigt sind. Es ist jedoch ein Mangel des Buches, wenn Keiler sich in dieser Frage auf recht knappe und sehr allgemeine Äußerungen beschränkt, die man nicht verstehen und einschätzen kann, sofern man mit den Arbeiten der Kritischen Psychologie nicht aufs Engste vertraut ist. Ohne der notwendigen Diskussion vorzugreifen, kann man sagen, daß Keiler in seinem Buch ein recht unvollständiges und damit letztlich falsches Bild von der Kritischen Psychologie zeichnet. Ein zentraler Vorwurf Keilers lautet, Holzkamp habe sich bis zuletzt auf das Vergegenständlichungs-Aneignungs-Konzept Leontjews gestützt. Was dabei fehlt, ist die Berücksichtigung und Herausarbeitung wesentlicher Unterschiede zwischen den Auffassungen Leontjews und Holzkamps. Daneben wäre eine Prüfung des Holzkampschen Konzepts hinsichtlich seines Erkenntnisgehalts nötig. Aber auch ohne eine solche Analyse kann man jedenfalls feststellen, daß Holzkamp (1983; 1993) hinlänglich gezeigt hat, daß er pädagogischen Vorstellungen, wie z.B. Meschtscherjakow sie vertrat, durchaus fernstand. Keilers Darstellung erweckt den Eindruck, als sei das Vergegenständlichungs-Aneignungs-Konzept für die Kritische Psychologie absolut zentral. Dem würde ich entgegenhalten, daß die meisten kritisch-psychologischen Arbeiten nicht an Wert verlieren, selbst wenn sich das Konzept in einzelnen Punkten als unhaltbar erweisen sollte. Keilers Behauptung, daß mit der Kritik des Konzepts dem kritisch-psychologischen Ansatz "generell die Legitimation entzogen werden könnte" (a.a.O., XXIV), halte ich für abwegig.

Trotzdem sind Keilers Kritikpunkte ernstzunehmen, insbesondere dann, wenn sie die sinnentstellende Verwendung von Marx-Zitaten durch Leontjew und deren unreflektierte Übernahme durch die Kritische Psychologie betreffen (siehe auch Keiler 1985). Keilers Vorwürfe beziehen sich übrigens nicht nur auf inhaltliche Fragen, sondern auch auf Probleme der Politik und des zwischenmenschlichen Umgangs im herrschenden Wissenschaftsbetrieb; so spricht Keiler z.B. von seiner "sukzessiven Ausgrenzung aus der Konsensgemeinschaft der ´Holzkamp-Gruppe´" (1997, a.a.O., XXXVII).

Es bleibt zu hoffen, daß die Kontroverse bald ausgetragen wird. In ihrem Verlauf werden beide Parteien die Frage beantworten müssen, welchem Anspruch sie sich in Theorie und Praxis verpflichtet fühlen. Nach wie vor sollte es, meine ich, um die Entwicklung einer Psychologie gehen, die insofern kritisch ist, als sie die Beschränkung individueller Lebensqualität unter den jeweils herrschenden (derzeit den bürgerlich-kapitalistischen) Verhältnissen kenntlich zu machen versteht und sich darum bemüht, Möglichkeiten der Veränderung in Richtung einer humanistischen Alternative aufzuzeigen.



© Michael Zander, Berlin 1997



Literaturhinweise:

BUCHARIN, Nikolai und DEBORIN, Abram (1974): Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Frankfurt a.M.

FAHL, Renke und MARKARD, Morus (1993): Das Projekt "Analyse psychologischer Praxis" oder: Der Versuch der Verbindung von Praxisforschung und Psychologiekritik. In: Forum Kritische Psychologie 32, Berlin, S.4-35

HOLZKAMP, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt a.M./ New Yorck

ders. (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a.M./ New Yorck

KEILER, Peter (1985): Die Bedeutung der Marxschen Frühschriften für die Begründung einer materialistischen Psychologie. - Metatheoretische Anmerkungen zum Problem des Verhältnisses von Psychologie und Marxismus. In: K.H. Braun und K. Holzkamp (Hg.), Subjektivität als Problem psychologischer Methodik, Frankfurt a.M./ New Yorck, S.328-336

ders.: (1987): Die "Intelligenzprüfungen an Menschenaffen" und die "Funktionswert"-Problematik in der Gestaltpsychologie. In: Gestalt Theory 9, H.3/4, S.205-239

KNOX, Jane E. und STEVENS, Carol (1993): Vygotski and Soviet Russian Defectology. An Introduction. In: L.S. Vygotski, Collected Works, Vol. 2 (The Fundamentals of Defectology), New Yorck, S.1-25

LEITHOLD, Inna (1979): L.S. Wygotskis Beitrag zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Defektologie. In: Die Sonderschule, H.6, Berlin (DDR), S.321-335

WYGOTSKI, Lew Semjonowitsch (1924/1975): Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. In: Die Sonderschule, H.2, Berlin (DDR), S.65-72











 

GLASNOST, Berlin 1992 - 2019