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Beiträge zur Politik  








Michael Zander

Was kann man von Bourdieu über die Intellektuellen lernen?

"Bildung, mein Lieber, das war es. Bildung war der neue Gott, der neue Plantagenbesitzer."

Charles Bukowski

1.

Um etwas darüber herauszufinden, wie wir als Intellektuelle wirksam in gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingreifen können, müssen wir zunächst mit zwei berufsmäßigen Gewohnheiten brechen. Die eine ist, lediglich die Lage anderer sozialer Gruppen zu analysieren und darüber die kritische Analyse unserer eigenen Gruppe zu unterlassen. Die zweite ist, sich nur als politische Gruppe, d.h. in unserem Fall, als Linke, kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende usw. zu begreifen und zu übersehen, dass wir eine Position in der gesellschaftlichen Struktur einnehmen. In den Arbeiten des am 23. Januar verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu finden sich Überlegungen, mit denen die Analyse vervollständigt werden kann.

Ähnlich wie Brecht versteht Bourdieu unter den Intellektuellen i.w.S. all diejenigen, die ihren Kopf "selbständig" oder in der Lohnarbeit einsetzen, Kopfarbeitende also. Zum einen sind sie Schriftstellende, Kunstschaffende oder Hochschullehrende; zum anderen bilden sie das sog. "neue Kleinbürgertum", dessen Lebenserhaltung in erster Linie von Erwerb und Verwertung intellektueller Qualifikationen abhängt. "Das neue Kleinbürgertum findet seinen vollendetsten Ausdruck in den Verkaufs- und Vertreterberufen (...) und in all den Institutionen, die den Verkauf von symbolischen Gütern und Dienstleistungen betreiben, sei es medizinisch-soziale Betreuung (...) oder die Produktion und Verbreitung von Kultur..." (Bourdieu 1987, 563).

Ein gewisses Maß an Subversion ist Bourdieu zufolge für bestimmte intellektuelle Aufgaben funktional und insofern antisubversiv. In der Hierarchie der Kulturproduktion blieben diese Gruppen untergeordnet, wodurch eine begrenzte und oft nur symbolische Opposition genährt werde. Die Konkurrenz, der die Intellektuellen unterliegen, kann diese sogar dazu verleiten, sich auf Kosten argumentativer Redlichkeit zu profilieren. Kritisch gemeintes Denken kann dann, worauf Holzkamp (2001) hinweist, umkippen in ein erkenntnisbehinderndes Ritual, das nur dazu dient, die Originalität der Denkenden zu unterstreichen.

Ob angestellt oder "selbständig", ob kritisch oder nicht, die Intellektuellen bleiben Leute, die davon leben, ihren Kopf zu vermieten. Dies ist die berufliche Situation, zu der die meisten derjenigen genötigt sein werden, die intellektuell arbeiten wollen. Sicher kann man sich zu dieser Situation sehr verschieden verhalten, aber die Voraussetzung dafür ist, sich diese Möglichkeit bzw. Notwendigkeit auch bewusst zu machen.1

Die Gruppe der Kopfarbeitenden ist ihrerseits in sehr verschiedene Gruppen unterteilt, was allerdings in den offiziellen Kategorien verschleiert wird. Es gibt selbstverständlich keineswegs "die" Studierenden, sondern massive Unterschiede in Herkunft und Aufstiegschancen, etwa zwischen dem Wirtschaftswissenschaftler aus wohlhabender Familie und der Erziehungswissenschaftlerin, die auf "Bafög" angewiesen ist. In der offiziellen Sozialstatistik werden recht nebulöse Einteilungen verwendet, "zur Kategorie der "Arbeiter" gehören etwa Meister wie Ungelernte, zur Gruppe "Selbständige" KioskbesitzerInnen ebenso wie Großindustrielle" (Kiel 2000, 334).


2.

Ihre Qualifikationen müssen die Intellektuellen im Bildungssystem erwerben. Diese Titel eröffnen Zugang zu Berufspositionen oder schließen von diesen aus. Bourdieu konnte zeigen, dass das Bildungssystem die bestehende Hierarchie reproduziert, d.h. dass Kinder aus den höheren gesellschaftlichen Klassen zugleich auch tendenziell über größere Chancen verfügen und daher die exklusiveren Abschlüsse erzielen. Daran hat die "Öffnung der Hochschulen", die auf einer Entwicklung in der Produktion und einem erhöhten Bedarf des Kapitals an intellektuellen Arbeitskräften beruht, nichts grundsätzlich geändert. Die soziale Ungleichheit wurde auf höherem Niveau reproduziert, davon zeugt sogar die Statistik des Deutschen Studentenwerks (DSW 1999; s.a. Kiel a.a.O.). Immerhin hat der Erfolg der Bildungsexpansion erneut die Auffassung widerlegt, schulisch attestierte intellektuelle Fähigkeiten seien biologisch fixiert (s.u.).

Die Funktion des Bildungssystems für die Gesellschaftsordnung besteht nicht darin, allen gleichermaßen das Lernen zu ermöglichen, sondern darin, eine Hierarchie der Leistungsunterschiede, d.h. "gute" und "schlechte" Schülerinnen und Schüler herzustellen. Holzkamp (1993) und Kalthoff (1996) haben einen wesentlichen Mechanismus der schulischen Differenzierung aufgedeckt. Art des Unterrichts, Verteilung der Noten und Schwierigkeitsgrad der Prüfungen werden stets so ausgerichtet, dass, ganz egal, wieviel die Beschulten lernen, nicht alle erfolgreich sein können, sondern es am Ende jeder Prozedur wenige "sehr Gute", viele "Befriedigende" und wenige "Mangelhafte und Ungenügene" gibt.

Können gesellschaftliche Gruppen einen Abschluss erreichen, von dem sie bisher ausgeschlossen waren, so wird dieser "entwertet" (vgl. Bourdieu & Champagne 1997): Obwohl die Anforderungen dieselben geblieben oder sogar gestiegen sind, eröffnet der Bildungstitel nicht mehr dieselben Möglichkeiten wie bisher. Verliert ein Titel durch allgemeinen Zugang seine Exklusivität, dann machen sich politische Interessengruppen daran, neue Hindernisse und damit neue Abstände in die Hierarchie einzuführen.

Genau dies bahnt sich in der neoliberalen "Hochschulreform" an: Nachdem das Abitur als Rechtsanspruch auf einen wählbaren Studienplatz angegriffen worden war (v.a. Herzog 1997), gingen die "Reformkräfte" daran, neue Barrikaden gegen den Hochschulzugang zu errichten. Mit der durchgesetzten "Profilierung" der Universitäten wird der Anspruch auf die qualitative Gleichwertigkeit der Studienplätze aufgegeben. Durch die Einführung einer Schranke nach dem Grundstudium - in Gestalt eines "berufsqualifizierenden" Bachelor - sollen etwa nur 1/3 der Studierenden den "Master"-Abschluss erreichen können (diese Zahl brachte der Deutsche Bundestag schon 1997 unter Verweis auf die "angelsächsisch geprägten Länder" ins Spiel), der mittelfristig das Diplom relativieren bzw. zu einem exklusiven Gut machen wird. Die partielle Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen trägt dazu bei, den mit dem Abitur bisher verbundenen Rechtsanspruch aufzulösen in einen "Leistungsstandard", der von den Bewerbenden zu erfüllen und von den Prüfenden beliebig verschärfbar ist. Der Abbau von Studienplätzen besiegelt schließlich diesen Prozess.


3.

Der Versuch, Bildungstitel durch Ausgrenzung aufzuwerten, wird nicht selten von Biologismus begleitet, so z.B. in der berüchtigten "Bildungsrede" des Ex-Bundespräsidenten (vgl. Herzog a.a.O.), in der dieser eine verschärfte Auslese forderte und dies mit unterstellten und schulisch zu ermittelnden Begabungsunterschieden rechtfertigte (zur Kritik s. Markard 1998). Bourdieu nennt derartige Auffassungen ohne Umschweife rassistisch. "Der Rassismus der Intelligenz (...) ist das, was den Herrschenden das Gefühl gibt, in ihrer Existenz (...) gerechtfertigt zu sein; das Gefühl, Wesen höherer Art zu sein. Jeder Rassismus ist ein Essentialismus, und der Rassismus der Intelligenz ist die charakteristische Form der Soziodizee der herrschenden Klasse, deren Macht zum Teil auf dem Besitz von (...) Bildungstiteln beruht, die als Gewähr für Intelligenz gelten..." (1993, 252).

Man mag sich fragen, ob Rassismus die richtige Bezeichnung ist für die Ideologie der "Begabung". Zweifellos ist der Ethnorassismus brutaler, weil er den Stigmatisierten nicht die geringste Chance lässt und mit einer Vertreibungs- oder Vernichtungsdrohung einhergeht. Dies ist ja für die Ideologie der Begabung nicht unbedingt der Fall. Worauf es ankommt, ist, dass es außer dem offiziell (mehr oder weniger) verurteilten Rassismus noch einen anderen Biologismus gibt, dem die Selbstverständlichkeit kaum streitig gemacht wird und der mittels einer quasi-magischen Bewertungspraxis die gesellschaftliche Struktur legitimiert.2 Die durch ihn Verurteilten sind gezeichnet und genötigt, das Urteil mehr oder weniger anzuerkennen. "Die Klassifizierung durch die Schule ist eine euphemisierte, also naturalisierte (...) Klassifizierung, die bereits eine Zensur durchlaufen hat (...), die auf die Umwandlung von Klassenunterschieden in (...) "Begabungsunterschiede" hinausläuft, also in Unterschiede der Natur. (...) Der numerus clausus ist genauso eine protektionistische Maßnahme wie die Einwanderungsbeschränkungen, eine Reaktion auf die "Überfüllung", die eine wahnhafte Vorstellung von der großen Zahl (...) an die Wand malt" (ebd., 254f).

Den Intellektuellen empfiehlt Bourdieu, ihren eigenen Beitrag zu diesem Rassismus zu untersuchen, also "auch die Rolle der Psychologen (...) bei der Produktion von Euphemismen, mit denen man Kinder von Subproletariern oder Ausländern so charakterisieren kann, dass soziale Fälle zu psychologischen Fällen werden, soziale Defizite zu mentalen Defiziten usw." (ebd., 255f).


4.

Nach eigenem Bekunden hat sich Bourdieu "lange Zeit" dem "Ideal weltanschaulicher Neutralität" (1998, 7) untergeordnet, das ihm heute "als Weltflucht im Namen der Wertfreiheit" erscheine. Die Lektüre mancher seiner Texte macht geneigt, dieser selbstkritischen Diagnose zuzustimmen. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass er bereits früh eine bestimmte Auffassung wissenschaftlicher Parteilichkeit vertrat: "Die wissenschaftliche Funktion des Soziologen besteht (...) darin, die Gesellschaft in Frage zu stellen und sie dadurch zu zwingen, sich selbst zu verraten. Diejenigen aber, die im Namen des Ideals der ethischen Neutralität (...) darauf verzichten, der Gesellschaft jene Fragen zu stellen, die sie in Frage stellen könnten, verraten die Wissenschaft: (...) Die Behauptung, der Soziologe könne seine Einstellung zur Gesellschaft frei wählen, verschweigt, dass die Sozialwissenschaften nur solange in der Illusion der Neutralität leben können, wie sie nicht wahrhaben wollen, dass ihre Enthüllungen oder ihr Verschweigen immer jemandem dienen: entweder den Nutznießern oder den Opfern der Sozialordnung" (Bourdieu & Passeron 1971, 15).

Man muss hinzufügen, dass kritische Wissenschaft allein unfähig ist zur gesellschaftlichen Veränderung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind u.U. selber Opfer der Verhältnisse, sie bedürfen der massiven Hilfe durch die Beherrschten, um sich produktiv und kritisch betätigen zu können.

Bourdieu (2000a) betont, dass fachliche Kompetenz und politisches Engagement einander keineswegs ausschließen, sondern einander bedürfen. Während die "Medien-Intellektuellen" davon leben, dass sie "ideologische Dienstleistungen gegen Machtpositionen eintauschen" (Bourdieu 1998, 62), zeichnen sich die wirklichen Intellektuellen aus durch "die Freiheit gegenüber der Staatsmacht, die Kritik der hergebrachten Ideen, die Verwerfung simplifizierender Schwarz-Weiß-Schemata und die Rekonstruktion der anvisierten Probleme in ihrer ganzen Komplexität..." (ebd., 107).3 Zu der soziologischen Bestimmung der Intellektuellen ist also eine fachliche hinzugetreten.

Bourdieu plädiert für die Bildung eines "intellektuellen Kollektivs", das in der Lage ist, "Gegenstand und Ziel seiner Handlungen selbst zu bestimmen (...). Diese Gemeinschaft (...) kann (...) den herrschenden Diskurs einer logischen Kritik unterziehen, die in erster Linie am öffentlichen Vokabular ("Globalisierung", "Flexibilisierung" usw.) ansetzt (...). Bei der Schaffung sozialer Rahmenbedingungen für eine kollektive Produktion realistischer Utopien vermag die Gemeinschaft der Intellektuellen eine unersetzbare Rolle zu spielen. Sie kann als Geburtshelfer politisch und sozial aktive Gruppen in ihrem Bemühen unterstützen, sich darüber bewusst zu werden, was sie sind, was sie sein könnten..." (Bourdieu 2000a).

Nach Bourdieus Vorstellung soll die intellektuelle Gemeinschaft sich auf die Kämpfe von (und seit) Seattle beziehen und Teil "einer neuen internationalen Bürgerinitiative (sein) oder, wenn das alte Wort noch gilt: einer neuen Internationalen" (ebd.). Um die Schaffung dieses Netzwerks der sozialen Bewegungen bemüht sich die Gruppe Raisons d'agir (2000), deren Programm die "Charta 2000" darstellt.

Ich glaube, dass dieses Programm schon veraltet ist, und zwar deshalb, weil die Bewegung gegen WTO, Weltbank und IWF sich längst weltweit entwickelt und organisiert hat, so dass die von Raisons d'agir in den Blick gefassten Grenzen Europas viel zu eng geworden sind. Die Bewegung ist wirklich eine globale. Bourdieus Forderungen wirken dagegen etwas verkürzt. Sie zielen auf eine Kapitalumlaufsteuer und einen vom Kapital weitgehend unabhängigen "europäischen Sozialstaat". Die Steuer, wenn sie möglich ist, wäre kein Universalheilmittel, der europäische Sozialstaat ist eine Illusion, die durchzusetzen niemand die Macht oder das Interesse hat. Dafür wird niemand über tausende Kilometer zu einer Demonstration fahren oder seine Freiheit und sein Leben riskieren. Bourdieus Forderungen konzentrieren sich auf bloße Umverteilung. Darin gleichen sie seinen Begriffen vom kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital - Begriffe, die insofern falsch sind, als sie nur Verteilungskämpfe ausdrücken, nie Produktion von Kapital; die Entstehung von "Profiten" bleibt bei Bourdieu rätselhaft; die Ausbeutung fremder Arbeitskraft und Aneignung von Mehrwert kommen meines Wissens in seiner Theorie nicht vor. 4

Allerdings muss man Bourdieu gegen den viel gehörten Vorwurf in Schutz nehmen, er wolle den alten Nationalstaat der fordistischen Ära restaurieren. Vielmehr formuliert er das Dilemma, dass "man in der politischen Auseinandersetzung gezwungen ist, Einrichtungen zu verteidigen, die man eigentlich verändern will: den Nationalstaat ebenso wie die Gewerkschaften oder auch das öffentliche Schulwesen, die es allesamt zu retten und gleichzeitig schonungslos zu kritisieren gilt" (Bourdieu 2000a). Ein anderer Vorwurf lautet, die Kämpfe gegen WTO, IWF und Weltbank seien per se nationalistisch. Es sind aber gerade die Nationalstaaten, die, eingeordnet in die überkommene ökonomische und politische Hierarchie, die globalistischen Maßnahmen z.B. der WTO beschließen. Der Kampf dreht sich nicht um die Nationalstaaten, sondern um die sozialen Rechte, die teilweise noch in nationalstaatlich bornierter Form garantiert sind. Der "Internationalismus" der Neoliberalen ist der des antiken Sklavenhalters, den Brecht folgende Worte sagen lässt: "Ich verwende Kelten beim Ölbau. Kelten und Dalmatier, aber ich stecke die Landsleute zusammen. Das hätte man vor zwanzig Jahren noch nicht machen können. Man musste mischen, um den Streit in Gang zu halten zwischen ihnen. Unruhige Zeiten. Jetzt mache ich ganz gute Erfahrungen mit Abteilungen, die aus der gleichen Gegend sind. Die Abteilungen konkurrieren sogar miteinander, aus Nationalstolz" (Brecht 1982b, 1313). 5


5.

Auch wenn wir Intellektuelle universelle Interessen vertreten, ist uns durch unsere soziale Lage vor allem die Verwertung ihres Intellekts nahegelegt. Wir müssen das berücksichtigen, wenn wir nicht so enden wollen wie jene "einst nicht gesellschaftsfähige(n) Revolutionäre", die sich auf die "Höhen (...) politischen (...) Establishments katapultiert haben und deren jetzige Stellung wie selbstverständlich mit konservativen (...) Stellungnahmen einhergeht" (Bourdieu 1997, 101). Sie, deren Namen ich nicht zu nennen brauche, sind ja besonders unangenehme Beispiele dafür, dass der Ehrgeiz des Aufstiegs unter der Maske des Revoluzzertums ausgeübt werden kann.

Politisches Engagement heißt einerseits, spezifisches Fachwissen emanzipatorischen Bewegungen zur Verfügung zu stellen (was Infragestellung von Aspekten dieser Bewegungen einschließen muss), andererseits über das hinauszugehen, was ohnehin Beruf der Intellektuellen ist. Es geht ja nicht an, dass wir Intellektuellen nur Analysen und Pamphlete machen, während andere Gruppen in den Straßen gegen die knüppelnde Polizei kämpfen müssen.

Sofern die Intellektuellen über Privilegien verfügen, beruhen diese auf einem Bildungssystem, das ihnen hohe Anpassungsleistungen abverlangt hat. Jede wirklich linke Bildungsreform zielt mindestens auf Beschränkung der Auslese und benötigt wegen dieser Radikalität die Unterstützung anderer Gruppen. Allein können die Intellektuellen keine gesellschaftliche Veränderung bewirken, sie kommen erst in einer politisch-sozialen Bewegung buchstäblich zu Kräften. Die Bewegung gegen den Neoliberalismus, ist kämpferisch, in gewissem Maß antikapitalistisch und auf allen Kontinenten wirksam. Sie richtet sich gegen eine Herrschaft, die nicht mehr länger hingenommen wird, was sie in Städten wie Mexico City, Seattle, Prag, Göteborg, Genua, Nizza, Salzburg, München, Porto Alegre usw. der Welt demonstriert hat.


© Michael Zander, Berlin 2002


Anmerkungen:

1 Oder wie Brecht schreibt: "Wollen die Intellektuellen sich am Klassenkampf beteiligen, so ist es nötig, dass sie ihre soziologische Konstitution als eine einheitliche und durch materielle Bedingungen bestimmte intellektuell erfassen" (1982a, 53; s.a. Pickerodt 1976).

2 Im Anschluss an Balibar vermutet Haug (1999, 135) die Herausbildung eines "Neorassismus, der künftig herrschen wird" und sich "im Unterschied zum hergebrachten, nicht mehr vor allem dadurch charakterisieren wird, dass er bestimmte "Rassen" als "minderwertig" ansehen, sondern dadurch, dass er in allen Rassen die minderwertigen fallen lassen wird."

3 Unabhängigkeit von ökonomischer Macht, das ergibt sich aus dem Zusammenhang, ist ebenso nötig. Die Intellektuellen, so Bourdieu, sollten sich dadurch auszeichnen, dass sie der "Objektivität, Regeln der Nachprüfbarkeit und einer vorausgesetzten Unabhängigkeit von Sonderinteressen verpflichtet" (ebd.) sind.

4 Es mag sein, dass die Begrenztheit der Forderung auf einer politisch begründeten Vorsicht Bourdieus beruht. In einem Interview in der Schweizer Wochenzeitung (19/00) äußerte er, die Bewegung, die er im Blick habe sei eine europäische; zugleich sei jedoch zu beachten, dass "der Gegner (...) ja eben nicht auf Europa beschränkt, sondern weltweit präsent (ist). Die Aktion in Seattle hat das symbolisiert. Andererseits ist ein Kampf auf weltweitem Niveau häufig etwas abstrakt, während der Kampf in Europa für uns sehr konkret ist: Hier wird verhandelt, hier gibt es Maastricht, die Europäische Gemeinschaft, welche Entscheidungen trifft, ein europäisches Parlament, das seine Aufgabe nicht wahrnimmt und auch gar keine Macht hat. Hier gibt es Herrn Prodi, der einen Neoliberalismus reinster Art praktiziert und unglaubliche Reden hält. Hier gibt es einen unmittelbaren Gegner, unmittelbare Gefahren - und andererseits eine soziale Tradition: Europa ist ein Reservoir von wichtigen sozialkritischen Kräften, die es zu mobilisieren gilt. Zu den unmittelbaren Gefahren gehört die Konkurrenz zwischen den Ländern, das soziale Dumping, dafür ist das Beispiel der Lastwagenchauffeure sehr typisch: Die Chauffeure in Frankreich haben soziale Vorteile gegenüber den Chauffeuren in anderen Staaten, aber heute spricht man über diese Vorteile, als wären sie ein Fehler. Tatsächlich verfügen die Franzosen aus historischen Gründen sehr häufig über bessere soziale Errungenschaften als die Menschen in manchen anderen europäischen Staaten..." (Bourdieu 2000b).

5 Brecht (1982a, 335f) spricht vom Missbrauch eines Ideals, "welches darin besteht, dass die Menschen über die ganze Erde hin sich als Menschen schlechthin behandeln sollten." Er konkretisiert das für seine Epoche: "Warum waren wir plötzlich gegen die Einigung der deutschen Arbeiter, als Hitler sie in seiner Arbeitsfront zusammenfasste? Gegen die Einigung Europas, als Hitler seine neue Ordnung verkündigte? Wir waren dagegen, dass das Ideal der Einigung missbraucht wurde. Hitler einigte die Arbeiter und die Wirtschaften des Kontinents, wie der Fischer im Netz die Fische einigt." Diese Analyse halte ich für zutreffend, auch wenn sie in einem von Brecht nicht veröffentlichten Fragment steht, das als Apologie des sowjetischen Vorwurfs des "Kosmopolitismus" gelesen werden kann oder muss.



Literatur:

Bourdieu, Pierre (1987/ 1992): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.
ders. (1993): Soziologische Fragen. Frankfurt a.M.
ders. (1997): Und dennoch... In: Ders., Hg., Liber 1997. Konstanz, 99-103
ders. (1998): Gegenfeuer. Konstanz
ders. (2000a): Die Internationale der Intellektuellen. In: Berliner Zeitung 10./ 11.1.2000
ders. (2000b): "Vernetzt euch" (Interview). In WoZ (19/00)
ders. & Jean-Claude Passeron (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart
ders. & Patrick Champagne (1997): Die intern Ausgegrenzten. In: Bourdieu u.a., Das Elend der Welt, Konstanz, 527-533

Brecht, Bertolt (1982a): Schriften zu Politik und Gesellschaft. GW 20. Frankfurt a.M.
ders. (1982b): Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar. GW 14, 1169-1379. Frankfurt a.M.

Deutscher Bundestag (1997): Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes. Drucksache 13/ 8796, 20.10.97

DSW, Hg. (1999): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland. Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse der 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Bonn

Haug, Wolfgang F. (1999): Politisch richtig oder richtig politisch? Berlin, Hamburg

Herzog, Roman (1997): Rede auf dem Bildungsforum. In: Die Zeit, 7.11.97

Holzkamp, Klaus (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a.M.
ders. (2001): Kritik der Vereinnahmung oder Vereinnahmung der Kritik? Anmerkungen zum "kritischen" Selbstverständnis des Intellektuellen. In: Forum Kritische Psychologie 43, 163-168

Kalthoff, Herbert (1996): Das Zensurenpanoptikum. Eine ethnografische Studie zur schulischen Bewertungspraxis. In: Zeitschrift für Soziologie, H.2, S. 106-129

Kiel, Sabine (2000): Studierende heute. Herkunft, soziale Lage, Lebensverhältnisse (Tendenzen). In: Barbara Nohr, Kritischer Ratgeber Wissenschaft, Studium, Hochschulpolitik. Marburg. 333-340

Markard, Morus (1997): Begabung, Motivation, Eignung, Leistung - politisch-operative Schlüsselbegriffe der aktuellen Hochschulregulierung. In: Forum Wissenschaft 1/98

Pickerodt, Gerhard (1976): Die Lehren der Tuis. In: W.F. Haug, Hg., Brechts Tui-Kritik. Berlin, S. 90-110

Raisons d'agir (2000): Charta 2000. Vorschläge für eine Charta der sozialen Bewegungen in Europa. In: Kritische Interventionen 4, 187ff











 

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