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Beiträge zur Theorie  










Werner Seppmann

Die "Postmoderne" als Realität und Ideologie

Die Zeit der Illusionen ist zu Ende, der Traum von einer kontinuierlichen Wohlstandsentwicklung und einem sozial domestizierten Kapitalismus ausgeträumt.

Durch die verschärften Verwertungsbedingungen der Ware Arbeitskraft sind die sozialen Risiken unkalkulierbar geworden. Weder "Bildung und Ausbildung" noch "Mobilität und Umstellungsbereitschaft", die von der affirmativen Sozialforschung als "Kompetenz für Modernität"(1) definiert und als Garanten sozialer Selbstbehauptung angesehen werden, bewahren vor beruflichen Sackgassen, Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. In einer Situation des massenhaften Arbeitsplatzabbaus und unkalkulierbarer Zukunftsperspektiven erhält auch die "Konkurrenz der Arbeitenden untereinander" (Marx) einen veränderten Stellenwert. Ehemals mehr oder weniger dem Beschäftigungsverhältnis vorgelagert, ist durch die Unsicherheit verbreitenden betrieblichen Umgestaltungen die Konkurrenzorientierung allgegenwärtig geworden. Die Erfahrung des ersatzlosen Arbeitsplatzabbaus zwingt die Beschäftigten, sich auch gegenüber den unmittelbaren Arbeitskolleginnen und -kollegen zu profilieren, in der Hoffnung, bei der nächsten Rationalisierungswelle noch einmal "davonzukommen".

Durch den Abbau der sozialen Sicherungssysteme "prosperieren" Ausgrenzungs- und Armutsformen, die schon als überwunden galten. Unübersehbar sind die sozialen Spaltungstendenzen: Den Beschäftigten in den prosperierenden "Kernen" steht eine rasch anwachsende Gruppe mit entwerteten Qualifikationen und sinkenden Realeinkommen gegenüber. Für immer mehr Arbeitskraftverkäufer ist es fraglich, wie lange sie überhaupt noch einen Platz im Berufsleben finden.

Leben in der "Postmoderne": Oberflächlich betrachtet ist das Leben "postmodern" geworden. Traditionelle "Gewißheiten" haben sich verbraucht und perspektivische Entwürfe ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Gesellschaftsrelevante Interpretetionsmuster sind den Menschen abhanden gekommen; das Individuum ist auf seine Vereinzelung, die eine Faktizität und gleichzeitig eine ideologische Spiegelung ist, zurückgeworfen.(2) Ihm fehlt nicht nur ein Verständnis, seiner aktuellen Lebensbedingungen, sondern schon der Ansatz eines historischen Bewußtseins. Ohne realistische Orientierungsmöglichkeiten konzentriert sich das Lebensinteresse auf den isolierten Alltagshorizont und den flüchtigen Augenblick. Die "postmodernen" Menschen "wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt."(3) Obwohl nicht ursächlich durch ihn hervorgerufen, wird der soziale Gedächtnisverlust durch den Medienapparat und die anderen Formen kommerzieller "Zerstreuung" perpetuiert: Erfahrung wird von "Erlebnissen" überlagert und verdrängt.

Die Objektivität löst sich für das entfremdete Alltagsbewußtsein in zersplitterte Einheiten, in disparate Elemente ohne sichtbaren Zusammenhang auf. Alles scheint möglich, jedoch ist die soziale Existenz und Entwicklungsrichtung "kontingent", was in der Alltagswirklichkeit diffus und unkalkulierbar bedeutet. Jeder muß seinen eigenen Weg finden, sein Leben jenseits verläßlicher Anhaltspunkte und solidarischer Beziehungsstrukturen gestalten. Ethische Indifferenz und soziale Verantwortungslosigkeit sind wichtige Voraussetzungen erfolgreicher "Lebensgestaltung". Die Menschen richten sich in einer Welt ohne Wahrheit, Maßstäbe und Perspektiven ein. Die Maxime "Es ist, wie es ist", "fundiert" einen lebensweltlichen "Realismus", der weder Hoffnung noch Visionen zuläßt.

Der Alltag ist durch die Erfahrung sozialer Beziehungslosigkeit und fehlender Sinnhaftigkeit geprägt: Auf der Oberfläche spielen zwischenmenschliche Kontakte eine große Rolle, organisiert sich das Leben in dichten "Kommunikationsnetzen" - ohne, daß wirklich miteinander geredet wird oder die eigentlichen Bedürfnisse zur Sprache kommen. Durch den permanenten Zwang, seine soziale Position zu verteidigen und sich gegenüber den Arbeitsmarktkonkurrenten zu profilieren, entwickelt sich ein "instrumentalistisches" Verhältnis zu den Mitmenschen; sie werden primär als Gegenprinzip zu den eigenen Lebensansprüchen wahrgenommen. Bis in die privaten Beziehungen herrscht die Angst, mißbraucht und übervorteilt zu werden. Trotz einer äußeren "Wohlhabenheit" (die aber immer fragwürdiger wird) leiden viele Menschen an einer inneren Leere, dem Gefühl der Sinnlosigkeit ihres Lebens und der Vergeblichkeit ihres Tuns. Durch seine weltanschauliche bzw. politische Hilflosigkeit ist der "postmoderne" Mensch widerstandslos gegen die zunehmende Fremdbestimmung, wird "die Persönlichkeit auch hier zum einflußlosen Zuschauer dessen ..., was mit seinem Dasein, als isoliertem, in ein fremdes System eingefügtem Teilchen geschieht".(4)

Durch die sozio-strukturell produzierte Bewußtlosigkeit können sich handfeste Klasseninteressen problemlos hinter ideologisch konstruierten Sachzwängen verbergen. Mythisch überladene Begriffe, wie der "Markt" oder neuerdings die "Globalisierung", transportieren eine Weltsicht, die das Verständnis des Geschehens erschwert und die Möglichkeit einer rationalen Einflußnahme auf soziale Prozesse verleugnet.

Jenseits der Solidarität

Die programmatischen Fixierungen der "Moderne" scheinen im sozio-kulturellen Selbstbewußtsein der 90er Jahre keine Gültigkeit mehr zu besitzen: Die Überzeugungskraft der Fortschrittslogik ist verbraucht, die Aufklärung sprachlos geworden; solidarische Problemlösungskonzepte und soziale Emanzipationsvorstellungen sind von der politischen Tagesordnung verschwunden.

Durch die realen Isolations- und Vereinzelungstendenzen ist der Eindruck entstanden, nur noch den eigenen Kräften und Fähigkeiten vertrauen zu können. Durch den Krisendruck schwinden die Skrupel die "Ellenbogen zu benutzen", den anderen auszugrenzen und kompromißlos den eigenen Vorteil im Existenzkampf zu suchen. Die Radikalisierung der Kapitalakkumulation hat zu einer zunehmenden Sozialdifferenzierung und einem verschärften Konfrontationsklima geführt. Gewachsen ist die Bereitschaft, Ungleichheit und Unterprivilegierung zu akzeptieren: Entstanden sind Lebensverhältnisse, in denen "jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann."(5) Die Menschen ziehen sich in das Private als einen vermeintlichen Schutzraum zurück; ihre Haltung zum gesellschaftlichen Geschehen ist "indifferent", weil die Verdrängung der sozialen Widersprüche und Gefährdungen zum psycho-sozialen Überlebensprinzip geworden ist. Denn es erweisen sich "jene Menschen als lebenstüchtiger, denen es gelingt, sich durch Illusionen gegen alle Informationen zu schützen, die ihr Bild von Stärke und Kompetenz und ihre [individualistischen] Zukunftserwartungen gefährden."(6) Fatale Konsequenz dieses Bestrebens, "den Schein einer menschlichen Existenz" (Marx) aufrecht zu erhalten, ist die Versöhnung mit den Konsequenzen entfremdeter Sozialbeziehungen, mit der Zerstörung von Sensibilität und der Betäubung von Widerspruchsbedürfnissen.

Die Hoffnungen auf ein besseres Morgen haben sich verflüchtigt; perspektivische Orientierungen werden von einem diffusen Gefühl der Beklommenheit, wenn nicht gar handfesten Existenzängsten verdrängt, zumal die sozialen Anforderungen, mit denen die Menschen konfrontiert werden, in sich selbst widersprüchlich sind. Denn im Widerspruch zu den sozialtheoretischen Mythen vom Beginn eines "postindustriellen Zeitalters" und dem "Ende der Arbeitsgesellschaft" besitzen die traditionellen Orientierungsmuster eine ungebrochene Gültigkeit. Der Platz des Individuums in der Gesellschaft vermittelt sich nach wie vor über den beruflichen Status, sein Selbstwertgefühl über die sozial anerkannte Leistungsfähigkeit. Weil es aber durch die sozialen Ausgrenzungsprozesse immer weniger Menschen gelingt, den verinnerlichten Leistungsorientierungen zu genügen, hat die ökonomische Krise sich zu einem sozio-kulturellen Erosionsprozeß verdichtet. Der Ausschluß großer Bevölkerungsgruppen aus dem sozio-ökonomischen Reproduktionsrahmen bewirkt auf der individuellen Ebene psychische Instabilitäten und normative Diffusionen; Gefühle der Bedrohung und der Ratlosigkeit bilden einen fruchtbaren Nährboden für Ressentiments und Haßsyndrome. Gesamtgesellschaftlich schwindet das schon erreichte Niveau der Realitätswahrnehmung und gewährt regressiven Reaktionsformen einen ungestörten Entfaltungsraum.(7) Die Zunahme von Irrationalität und Gewalt, die Ausbreitung von Wunderglauben und obskuren Erlösungserwartungen sind die Symptome eines zunehmenden Zivilisationsverlustes.(8)

Es haben sich Lebensverhältnisse entwickelt, in denen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit zum Normalzustand geworden sind. Aber trotz der sozialen Gefährdungen und einer verstärkten Konfrontationsbereitschaft von Seiten der Herren über die Arbeitsplätze und Lebensperspektiven formiert sich nur verhaltener Widerstand, fügen sich die Mehrheit der "individualisierten" Krisenopfer sprachlos ihrem "Schicksal". Trotz zunehmender Massenarbeitslosigkeit, trotz Demontage des sozialstaatlichen Regulationssystems und einer eklatanten Verschärfung der sozialen Gegensätze hat sich bisher nur eine punktuelle, und kanalisierbare Auflehnungs- und Widerspruchsbereitschaft artikuliert

Regressionsformen des Denkens

Die ideologische Selbstunterwerfung funktionierte bisher weitgehend reibungslos, weil die Kräfte alternativer Orientierung schwach entwickelt sind und die kapitalismusspezifischen Deutungsmuster massenwirksam nicht in Frage gestellt werden. Dominant ist das herrschaftskonforme Bild eines restaurativen Epochenumbruchs, in dem historische Fortschritts- und soziale Gerechtigkeitsorientierungen keinen Platz mehr haben. Fetischisierte Bewußtseinsformen, die unmittelbar aus der kapitalistischen Lebenspraxis resultieren, können sich in diesem weltanschaulichen Klima ungestört entfalten und die Vorstellungen von der Unerschütterlichkeit der bestehenden Verhältnisse zusätzlich festigen: Obwohl in der gegenwärtigen Krise die vielschichtigen Widersprüche einer kapitalistischen "Modernisierung" zu Tage treten, wird durch die ideologische Hegemonie des herrschenden Blocks die Verarbeitung dieser Erfahrungen in einem machtkonformen Sinne gewährleistet. Obgleich die Protest- und Streikaktionen der letzten Zeit auch eine Vorstellung von den "Grenzen der Globalisierung" und der Fragwürdigkeit der These vom "Ende der Geschichte" vermittelt haben, wird die Widerstands- und Handlungsbereitschaft durch eine politische und weltanschauliche Hilflosigkeit gegenüber der verwertungsorientierten Umwälzung der Arbeits- und Lebensbedingungen gelähmt: Während die meisten Krisenopfer sich resignativ zurückziehen, weil sie sich aufgrund des herrschenden psycho-sozialen Regulationssystems für ihr berufliches "Versagen" verantwortlich fühlen und Scham empfinden(9), und die "sozialpartnerschaftlich" orientierten Interessenvertreter der Arbeitenden in ihren Reaktionen zwischen hilflosem Protest und nur mühsam überdeckter Resignation schwanken, haben große Teile der Intelligenz im Schatten der sozio-kulturellen Umbrüche ihr kritisches Selbstverständnis gegen soziale Gleichgültigkeit, intellektuellen Relativismus und Verfallsmythologien eingetauscht. Die Deutungsmuster des herrschenden Denkens werden von ihrer Mehrheit akzeptiert und in den Kanon ihres "diskursiven Wissens" integriert. Vernunftorientierte Gesellschaftskritik und historische Rationalitätsorientierungen sind in die Defensive geraten.

Einschneidende Veränderungen des kulturell-ideologischen Profils haben sich schon seit den 80er Jahren abgezeichnet: Ein vordem naiver Fortschrittsoptimismus ist im Windschatten des neo-konservativen Terraingewinns in Skepsis gegenüber planender Weltveränderung und nicht selten auch in eine Aversion gegen Rationalität und Vernunft umgeschlagen, Die Rede ist vom "Scheitern der Moderne" und vom Beginn eines "postmodernen Zeitalters". Das Bemühen, Gleichheit und Gerechtigkeit zu realisieren, sei vergeblich gewesen, alle Versuche, verändernd in den gesellschaftlichen Prozeß einzugreifen, hätten ihr Ziel verfehlt; statt dessen habe der Fortschrittswille bloß neue Widersprüche und verschärfte sozio-kulturelle Disproportionen hervorgebracht.

Die Ursache für das Scheitern der Emanzipationsbestrebungen wird vom "postmodernen Diskurs" in gern der Aufklärungstradition verpflichteten Denken und dessen Insistieren auf Zusammenhänge und Strukturbeziehungen verortet. Weil kulturelle und soziale Phänomene sich nach den postmodernistischen Glaubenssätzen durch eine kaum vermittelbare Singularität auszeichneten, konstituiere jeder Erkenntnisanspruch und jeder Versuch, die Unmittelbarkeit theoretisch zu überschreiten, ein "Zwangsverhältnis". Der Wahrheit verpflichtete Denkanstrengungen und ihre konstitutiven "Kategorien Einheit und Identität" seien "selbst die Quelle der Zerrissenheit und des Leidens".(10) Philosophische und wissenschaftliche Rede solle deshalb von der "Inkommensurabilität der Wirklichkeiten"(11) ausgehen und sich mit der Vorstellung eines rein subjektivistischen Status jeder Erfahrung bescheiden. Referenzpunkte sind weder Wahrheit noch die verständige "Übereinkunft" mit den "Diskurspartnern", sondern das Bewußtsein der Partikularität und Relativität aller Wissensformen. Fiktion und Realität gleichen sich nach den für das "postmoderne Denken" richtungsweisenden Worten Baudrillards an, weil die "Wirklichkeit" imaginär geworden sei und sich die Spannung zwischen subjektiven Bedürfnissen und der objektiven Welt aufgelöst habe.(12) Durch einen fundamentalen Relativismus werden "Täuschung und Selbsttäuschung zum methodischen Prinzip erhoben".(13)

Ein "verbreitetes Katastrophengefühl"(14) - nur kurz von der Euphorie über den Zusammenbruch des sozialistischen Machtblocks unterbrochen - hat den überwiegenden Teil der Intellektuellen erfaßt. Zu beobachten ist zwar eine breite Verunsicherung über die sozio-kulturelle Krisenentwicklung, aber auch, daß von deren Unvermeidbarkeit ausgegangen wird, weil Gegenentwürfe undenkbar geworden seien und - selten in dieser Deutlichkeit ausgesprochen, aber bei allen postmodernistischen Utopieverboten immer mitgedacht - "es zum Kapitalismus keine globale Alternative gibt".(15) Weil ein wirkungsvolles politisch-weitanschauliches Gegengewicht fehlt, können rückwärtsgewandte Sichtweisen sich nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in den intellektuellen Reproduktionssphären ungestört entfalten: Die weltanschaulichen Orientierungssysteme perpetuieren. eine Auffassung von Geschichte als immergleichen Vorgang menschlicher Schicksalsverfallenheit; Anfang und Ende werden unter negativen Vorzeichen als identisch begriffen. Parallel dazu breitet sich als subjektives Sinn-Surrogat eine modifizierte Lebensphilosophie aus; Unmittelbarkeitsphantasien und Illusionen einer individualistischen Lebenserfüllung jenseits sozialer Bindungen machen Karriere.

Philosophie des "gesunden Menschenverstandes"

Nicht der soziale Zusammenhang ist nach den Maximen des Postmodernismus der relevante Bezugspunkt zum Verständnis von Wissensformen, Handlungsmustern oder Lebensentwürfen, sondern die Kenntnisnahme der von ihnen repräsentierten "Differenz" und ihres realen oder vermeintlichen "Eigensinns". Im Zentrum der "postmodernen" Kritik stehen deshalb die "großen Erzählungen", d.h. das Denken in Zusammenhängen und Kausalitätsbeziehungen, weil sie angeblich das Existenzrecht des einzelne Moments negieren und "dezentrierte Erfahrungen" verhindern,(16) Grundsätzlich wird bezweifelt, daß unter der chaotischen Oberfläche der Ereignisse eine dem Begriff zugängliche Struktur erkennbar wäre. Statt dessen werden das Fragmentarische und Unterschiedene als die eigentlichen Bedeutungsträger begriffen, wird faktisch der Verzicht auf theoretische Stringenz und Kohärenz zum Reflexionsideal erhoben.(17)

Die "Postmoderne" Konzentration auf die "Diskontinuität" und die Überbewertung des "Besonderen" sowie die Verabsolutierung von "Wahrnehmung" und Beschreibung führt zu einer Denkhaltung die sich mit dem Augenschein zufrieden gibt, nicht nach Zusammenhängen Ursachen und Wirkungen fragt. Es ist die Perspektive der unreflektierten Unmittelbarkeit, die schnell ihre "Bestätigung" findet, weil sie den "gesunden Menschenverstand" auf ihrer Seite hat. Der "Rettungsversuch" des Besonderen bleibt durch die weltanschauliche Fetischisierung der Totalität aber nicht nur vergeblich, sondern schlägt in die blinde Akzeptanz des kapitalismusspezifischen Totalitarismus um, der allen Lebensbereichen seinen negativen Stempel aufdrückt. Plädiert wird in den postmodernistischen Diskursen zwar für Vielheit und "Differenz" als Voraussetzung kultureller "Selbstbestimmung", ohne jedoch Rechenschaft darüber abzulegen, wie dieser Autonomieanspruch der Subjekte sich innerhalb des faktischen "Systemzusammenhangs" realisieren kann.

Die Weigerung, die sozialen Vermittlungsbedingungen der differenzierten Existenz- und Erlebnisweisen zur Kenntnis zu nehmen, führt zu einer Unverbindlichkeit des Fragens und kommt der Ablehnung eines interpretativen, ja überhaupt rationalen Verhältnisses zur gesellschaftlichen Realität gleich. Die "Individualisierung" des wissenschaftlichen Blicks führt nicht zu der reklamierten Sensibilität für individuelle Bedürfnisartikulationen; denn die systematische Abwendung von den Menschen in ihren konkreten Lebensverhältnissen "bestätigt" ihr entfremdetes Weltverständnis und ihre fetischisierten Selbstbilder. Das Resultat der postmodernistischen Denkbewegungen ist nicht die angestrebte intellektuelle Selbstermächtigung, sondern die fraglose Hinnahme der gesellschaftlichen Formierungsprozesse, die blinde Akzeptanz der real-existierenden Tendenz zur Vereinnahmung und Manipulation der "dezentrierten" Individuen. Anders als seine Protagonisten meinen, drückt sich in diesem Denken nicht die Spezifik des historischen Umbruchs aus, entwickelt es sich "nicht aus einem neuen Bedürfnis, sondern befriedigt nur mit Reizen alte Bedürfnisse".(18)

Zwar reklamiert das "postmoderne Denken" gegen die nivellierende Kraft der "Strukturen", gegen die Erfahrung einer geistigen und emotionalen Fremdbestimmung einen Geltungsanspruch des Individuums, jedoch drückt sich darin ein bloßes Unbehagen aus, das nicht einmal das Niveau der Revolte(19) erreicht. Denn für das "postmoderne Wissen" hat die Kritik ihren Gegenstand verloren ist angeblich "nichts überiggeblieben, wogegen man sich wenden könnte."(20) Weil ein kritisch-theoretischer Kontext fehlt, bleibt der "postmoderne" Auflehnungsversuch (bestenfalls) kraftloses Symbol eines subjektivistischen "Protestes" gegen die selbstzerstörerischen Konsequenzen der herrschenden Vergesellschaftungsbedingungen und gestaltlose Reaktion auf die Verunsicherungen durch die aktuellen Krisentendenzen.

Die postmodernistischen Vorstellungen vom "Besonderen" und dem "Eigensinn", den individuellen Geltungsansprüchen und subjektiven Selbstverwirklichungsmöglichkeiten bleiben diffus und widersprüchlich; nirgends wird eine aufklärende Konkretheit erreicht, die eine Gegenposition zum Abstraktions- und Vereinnahmungsprizip der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise darstellen könnte. Weil die Mechanismen, die das "Unbehagen an der Moderne" hervorrufen (im postmodernistischen Kontext) nicht thematisiert werden (auf der Grundlage der Maxime einer gleichen Gültigkeit von allem und jedem auch nicht kritisiert werden können!), bleiben die Ursachen der Fremdbestimmung und des Lebensüberdrusses unbegriffen, kann die symbolische Auflehnung dagegen problemlos in das Netz des machtkonformen Denkens integriert und an eine reduktionistische Individualitätsvorstellung (die Persönlichkeitsentfaltung und sozialen Zusammenhang als sich ausschließende Größen begreift), sowie an den Kult des Privaten gekoppelt werden., Das "postmoderne Denken" ist dadurch der kapitalistischen "Rationalität" noch in der spontanen Auflehnung gegen sie ausgeliefert: Der faktischen Ordnung und Rationalität wird Illusion einer freien Gestaltungsfähigkeit der Biographie qua "erlebnisorientierter" Lebensstilisierung und egozentrischem "Glücksstreben" entgegengesetzt. Weil das herrschende "Realitätsprinzip" als irreversibel erachtet und "die psychischen und physischen Anpassungs- und Koordinationsleistungen der Menschen an die Vorgaben des Systems ... als selbstverständlich vorausgesetzt"(21) werden, fällt der Selbstbestimmungsanspruch recht bescheiden aus: "Der Bezug auf sich selbst ... besteht weniger darin, mit sich selber identisch als sich selbst ähnlich zu sein, zu werden oder zu bleiben."(22)

Auch wenn das "postmoderne" Wirklichkeitsbild realistische Züge enthält, schlägt es durch deren Verabsolutierung und die Verleugnung realer Gegentendenzen und Entwicklungsalternativen in herrschaftskonforme Ideologie um. Verdrängt wird durch einen geschichtsskeptischen Fundamentalismus die Tatsache, daß die sozio-kulturellen Regressionserscheinungen die Kehrseite einer mehrschichtigen Emanzipationstendenz darstellen: Denn es gilt ungebrochen, daß die entwickelte bürgerliche Gesellschaft die materiellen Voraussetzungen der menschlichen Selbstbefreiung im Weltmaßstab geschaffen hat. Gleichzeitig stößt die kapitalwirtschaftliche Produktivkraftentwicklung (die immer mehr lebendige Arbeit überflüssig macht) an ihre Grenzen und verlangt nach einschneidenden Veränderungen des sozio-ökonomischen Reproduktionsmodells(23), revolutionär veränderten Formen der Arbeit und des Lebens. Die Krisenerscheinungen sind als Symptome einer historischen Übergangsphase zu begreifen - ohne daß aber die zukünftige Entwicklungsrichtung schon festgeschrieben wäre! Eine neue historische Formation zeichnet sich am Horizont ebenso ab, wie eine lange Phase des sozio-kulturellen Verfalls und der Barbarei. Denn die fortschrittlichen Entwicklungspotenzen werden von dem Bemühen absorbiert, den überholten Vergesellschaftungsmechanismus funktionsfähig zu halten; immer größere psychische und ökonomische Energien werden auf die Perpetuierung der herrschenden Zustände konzentriert.

Das verbreitete Krisenbewußtsein ist nicht der Ausdruck "postmoderner Lebensverhältnisse", sondern des eklatant verschärften Widerspruchs zwischen der Produktivkraftentwicklung und den bornierten Produktionsverhältnissen: Die patriachalisch-kapitalistische Gesellschaft "hat eine Stufe in ihrer Entwicklung erreicht, die wiederholte, immer wieder erneute Zerstörung, Deformierung, Ausbeutung verlangt."(24) Der konkrete Ausdruck dieses Widerspruchs mit antizivilisatorischen Konsequenzen(25) ist die institutionalisierte Unfähigkeit des Kapitalismus, den technologischen Rationalisierungsgewinn anders als zur Vernichtung von Arbeitsplätzen und zum sozialen Kahlschlag einzusetzen. Die entfesselten Produktivkräfte wirken als Destruktivkräfte, weil sie dem abstrakten Verwertungszwang und der durch ihn mitgesetzten Konkurrenzorientierung unterworfen sind. Durch die Dominanz der Kapitalrendite gegenüber den menschlichen Selbstverwirklichungsansprüchen müssen die Individuen immer mehr Lebensenergie aufwenden, um in der Konkurrenzgesellschaft überleben zu können.

"System" und "Lebenswelt"

Auch das gesellschaftstheoretische Denken hat mit einer kaum verdeckten Panik auf die forcierte Krisenentwicklung reagiert. Auf die Ausweitung der ökonomischen zu einer sozio-kulturellen Krise und die Symptome des zivilisatorischen Verfalls "antworten" die meisten professionellen Gesellschaftsanalytiker mit theoretischer Agonie und intellektueller Indifferenz, denn ihre in der Vergangenheit akzeptierten Manipulationsbegriffe und herrschaftskonformen Interpretationsmuster haben sich verschlissen und ihre Überzeugungsfähigkeit eingebüßt. Weder kann eine kontinuierlich Fortschrittsentwicklung der "marktwirtschaftlichen" Gesellschaftsformation diagnostiziert werden (wie ihn die "Modernisierungstheorie" behauptet hat), noch haben sich die Klassenverhältnisse nach den Vorstellungen der diversen Nivellierungstheorien aufgelöst. Von einer Individualisierungstendenz im Sinne eines zunehmenden personalen Kompetenzgewinns kann angesichts der Krisenexzesse schon gar nicht mehr die Rede sein.

Doch hat die Widerlegung der sozialwissenschaftlichen Mythologien durch die Gesellschaftsentwicklung nicht zu radikalisierten (auf die Wurzel der Probleme zielenden) Analyseversuchen, sondern zu einer geschmeidigen Anpassung des affirmativen Denkens an die Krisenverhältnisse und die mit ihnen konformen "postmodernen" Weltanschauungsschablonen geführt. Um ihre Herrschaftsfunktionalität zu restituieren, wird in einem ersten Argumentationsschritt das eigene theoretische Versagen als Auflösung des Wissenschaftsobjektes "Gesellschaft" interpretiert. Behauptet wird der Zerfall abstrakter Totalitäten und mechanistischer Interpretationsmodelle, faktisch aber der Reflexionshorizont des Alltagsbewußtseins restituiert, das sich mit der Unmittelbarkeit seiner "Erlebniswelt" zufrieden gibt, und keinen Begriff von den objektiven Voraussetzungen individueller Lebensverhältnisse besitzt. Auf dieser reduktionistischen Grundlage aufbauend werden dann in einem zweiten Schritt die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche als disparate Ereignis- und Erlebnissphären interpretiert, die nur lose miteinander verbunden sind und deren "Eigensinn" angeblich nicht mehr hinterfragbar sei. "Fundierend" für diese systematische Blickverzerrung ist die Prämisse einer Zweiteilung der sozialen Welt in einen ökonomischen Handlungsbereich und einen praxisfernen "lebensweltlichen" Erfahrungshorizont, wie sie beispielsweise auch von der Habermas'schen "Kommunikationstheorie" propagiert wird.

Auf Basis dieser (im Kern system-funktionalistischen) Konstruktion, proklamiert die "postmodern" gewendete Soziologie den Ausbruch eines "postindustriellen Zeitalters" und behauptet, daß sich der sozio-strukturelle Zusammenhang in "eine Fülle relativ ökonomieferner sozio-kulturellen Milieus, Lebensstile und sozialer Bewegungen ... [aufgelöst hat], deren Lebensformen nicht primär von industriegesellschaftlichen materiellen Lebensbedingungen geprägt sind".(26) Es gibt in der Konsequenz dieser Sichtweise keinen gesellschaftlichen Zusammenhang mehr, sondern nur jeweils ihren eigenen Gesetzen unterworfenen soziale Teilbereiche und "sinnsuchende" Individuen. Der Mensch steht gewissermaßen hilf- und beziehungslos zwischen "System-" und Lebenswelt, nicht nur ohne zu wissen, was mit ihm geschieht, sondern fern jeder Möglichkeit, ein solches Wissen überhaupt noch realisieren zu können: "Wenn man unter Postmoderne das, Fehlen einer einheitlichen Weltbeschreibung, einer für alle verbindlichen Vernunft oder auch nur einer gemeinsamen Einstellung zur Welt und zur Gemeinschaft versteht, dann ist genau dies das Resultat der strukturellen Bedingungen, denen die moderne Gesellschaft sich selbst ausliefert. Sie erträgt keinen Abschlußgedanken, sie erträgt deshalb auch keine Autorität. Sie kennt keine Positionen, von denen aus die Gesellschaft für andere verbindlich beschrieben werden könnte. Es geht daher nicht um Emanzipation zur Vernunft, sondern um Emanzipation von der Vernunft diese Emanzipation ist nicht anzustreben, sondern bereits passiert."(27)

Ende der Gesellschaftstheorie?

Im Windschatten der postmodernen Schlagworte sollen auch die Sozialwissenschaften den "großen theoretischen Ordnungssystemen", also der Gesellschaftstheorie als Erklärungsversuch sozialer Bewegungsformen und der Interpretation des Zusammenhangs von Strukturkomplexen und mikro-sozialen Reaktionsmustern eine Absage erteilen; es soll "Abschied ... von der Idee eines einheitlichen Fundaments" des Vergesellschaftungsprozesses und der gesellschaftstheoretischen Reflexion genommen werden.(28) Mit rituellem Eifer wird statt dessen eine "alternative" Reflexionsform gefordert, "die Vielfalt betont, an Fragmenten verweilt und auf Entzauberung der großen Synthesen setzt".(29) Es geht bei dieser Vorgehensweise nicht vorrangig um eine größere theoretische Aufmerksamkeit für das "Besondere", die Berücksichtigung individueller Reaktionsformen und subjektiver Geltungsansprüche, von Gegentendenzen und Eigengesetzlichkeiten innerhalb des objektiven Vergesellschaftungsprozesses, sondern um die unreflektierte Umsetzung des traditionellen Programms des Positivismus. Das sozialwissenschaftliche Interesse soll sich mit der Unmittelbarkeit bescheiden und "an Fragmenten verweilen"(30) , wie es explizit heißt.

Das makrostrukturelle Umfeld fungiert in solchen Interpretationsmodellen, die nach ihrem eigenen Verständnis den Blick "von der gesamtgesellschaftlichen Determination zur Konstruktion von Institutionen und Kultur aus Interaktion und Kommunikation"(31) gewendet haben, nur als Kulisse für subjektivistische Existenzformen und Artikulationsweisen. Die Vermittlung zwischen den sozio-strukturellen Voraussetzungen und den individuellen Existenzbedingungen werden nicht thematisiert, weil nach den Vorgaben einer postmodernen "Selbstreflexivität" das Bild einer einheitlichen sozialen Welt obsolet geworden ist und es "keine Instanz (mehr) gibt, von der aus ein ... Ganzes gedacht oder gar bewirkt werden könnte."(32) Die "Individualisierung" (im Sinne von Vereinzelungs- und Entsolidarisierungserfahrungen) wird als konstitutives Moment eines Lebensraums begriffen, der aus Subjekten besteht, "die nicht mehr unproblematisch und sicher davon ausgehen dürfen, in ein und derselben Welt zu leben".(33) Der Gesellschaftskritik wird durch die Infragestellung der Möglichkeit des Wissen ihre Legitimität bestritten.

Dialektik der Anpassung

Das herrschende Legitimationsdenken in "postmoderner" Gestalt bemüht sich nicht mehr um eine direkte Verteidigung oder gar um die Idealisierung der etablierten Zustände. Weil die Menschen aller Klassen und Schichten die krisengeprägte Realität als beängstigenden Zustand erleben, sind direkte Formen der Apologie kaum noch möglich. Das machtfunktionale Bewußtsein erfüllt seine Rolle im ideologischen Klassenkampf deshalb durch die Verklärung der sichtbaren Widersprüche und des sozial erzeugten Mißbehagens als Ausdruck einer prinzipiellen Absurdität und Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz. Beispielsweise durch die theoretische Nivellierung des Gegensatzes von Vernunft und Unvernunft, durch die die sozio-kulturellen Krisenerscheinungen als Ausdruck menschlicher Schicksalsverfallenheit "relativiert" und die herrschenden Kräfte von ihrer Verantwortung für den tiefen Riß, der durch die Gesellschaft geht, entlastet werden sollen.

Vorrangiger Effekt des "postmodernen" Verzichts auf komplexe gesellschaftstheoretische Interpretationsansätze ist die Ausklammerung der Frage nach den konkreten Machtverhältnissen. Herrschaftsstrukturen werden bestenfalls aus dem Blickwinkel subjektiver "Betroffenheit" reflektiert. Auch bei dem "Machttheoretiker" Foucault wird nicht die Komplexität der Herrschaft thematisiert, sondern der Blick auf die individuellen Verstrickungen in ein universales "Machtsystem" (für das keine sozio-strukturellen Ursachen benannt werden) gelenkt und das Bewußtsein für die vermeintlich irreversible Schicksalsverfallenheit der geschichtlich handelnden Menschen "geschärft": "Die Menschheit verankert alle ihre Gewaltsamkeiten in Regelsystemen und bewegt sich von Herrschaft zu Herrschaft fort."(34)

Das Ergebnis seiner die sozialen Strukturbeziehungen und Entwicklungslinien mißachtenden Vorgehensweise ist nicht ein objektiver Begriff der Machtvermittlung und Herrschaftsperpetuierung, sondern die Beschreibung von Machtbeziehungen, wie sie von den Akteuren erlebt werden.

Das (pseudo-erkenntniskritische) Pathos des alles-in-Frage-Stellens, mit dem der Postmodernismus auftritt, entlarvt sich als dekorative Hülle, mit der die fraglose Hinnahme der etablierten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Akzeptanz ihrer Wertmuster verborgen wird. "Überall versucht die Postmoderne [zwar] an Widerstandsbewegungen anzuknüpfen; aber nur, um ihnen den kritischen Stachel zu ziehen".(35) Es ist das herrschaftskonforme Geschäft der "postmodernen Diskurse", den skandalösen Charakter der sozialen Tatsachen zu verschleiern, d. h. sie vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen. ."(36)

Trotz aller rhetorischen Distanzierungsrituale akzeptiert das "postmoderne Wissen" die Reproduktionsdynamik der kapitalistischen Moderne, ihre immanente Gleichgültigkeit gegenüber den menschlichen Lebens- und Entfaltungsinteressen. Die von der herrschenden Vergesellschaftungsweise produzierte Sinn- und Perspektivlosigkeit, ein Leben ohne Wahrheiten, Maßstäbe und Ideale gilt den Zeitgeist-Verwaltern als unhintergehbarer Reflexionshorizont: "Im Zeitalter des Spektakulären verwischen sich die harten Gegensätze von Wahr und Falsch, Schön und Häßlich, von Wirklichkeit und Illusion, Sinn und Unsinn, die Gegensätze werden zu etwas 'Flottierendem', und so beginnt man allmählich zu begreifen .... daß es fortan möglich ist ohne Sinn und Ziel zu leben".(37)

Als Repräsentant des herrschenden "theoretischen und sozialen Zynismus"(38), scheint dem "postmodernen Denken" die Polarität von praktizistischer Lebensbewältigung und subjektivistischen ("lebensweltlichen") "Sinnressourcen" unaufhebbar. Deshalb verbiete sich a priori nicht nur die Suche nach konkreten Veränderungsmöglichkeiten, sondern jede Vorstellung einer anderen oder gar "besseren" Welt: "Man muß die Hoffnungslosigkeit als solche hinnehmen, von ihr im Denken ausgehen und sich leiten lassen. "(39)

Weil sie die verbreitete Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit der Alltagssubjekte "bestätigen" und ihnen eine pseudophilosophische Plausibilität verleihen, besitzen die postmodernistischen Konstrukte eine kaum zu unterschätzende Rolle bei der Stabilisierung herrschaftskonformer Denkmuster: Schon der Anspruch auf ein sozialorientiert-sinnhaftes Leben jenseits eines narzißtischen "Selbstverwirklichungsstrebens" gilt als vergeblich und illegitim. Denn es existiere "kein natürlicher Sinn",(40) der als praktikabler Orientierungshorizont oder gar zur Begründung von Lebensansprüchen taugen würde. Weil der Nihilismus das unentrinnbare Schicksal der Menschen sei(41), sind sie in postmodernistischer Sicht zur Fraglosen Hinnahme des gegeben Entfremdungszustandes verurteilt.

Alltag und Ideologie

Die "postmodernen Diskurse" weisen bei genauer Betrachtung eine größere Übereinstimmung mit dem Alltagsbewußtsein auf, als ihnen recht sein kann: "Nichts auf der Welt ist wirklich sicher, aber das Leben geht weiter. Und vergiß nicht: Die Hauptsache bist Du selbst." Diese Sätze aus einem beliebigen deutschen TV-Programm sind nicht nur repräsentativ für die alltägliche Form des Krisenbewußtseins, sondern korrespondieren auch mit dem Kern der postmodernistischen Diskurse.

Der "postmoderne" Denker macht sich - ebenso wie der Alltagsmensch - weder Illusionen über den krisenhaften Gesellschaftszustand, noch über die sozialen Gefährdungen und die Bedrohung der Lebensverhältnisse. Aber er hat es gelernt, sich dem "Schicksal" zu fügen, zumal er sich vom Postulat leiten läßt, daß man "der Modernität gerade da nicht entkommt, wo man sie durchschaut".(42) Entblößt von den unverzichtbaren intellektuellen Mitteln, um über den Tellerrand der herrschenden Vergesellschaftungsprinzipien hinaus zu blicken, unterwirft er sich dem ideologischen Schein, restituiert die Ideologie vom "Ende der Ideologie'' und reproduziert die machtkonforme Vorstellung, in Verhältnissen ohne Alterniative zu leben. Durch den Verweis auf die reale Katastrophenentwicklung gewinnt die Konstruktion einer schicksalhaften Ausweglosigkeit zusätzliche Überzeugungskraft.

Trotz aller Übereinstimmung dürfen aber die "Differenzen" zwischen dem Alltagsbewußtsein und den theoretischen "Diskursen" nicht vernachlässigt werden. Der modephilosophische Geist reagiert zwar ebenso "spontan" und intellektuell widerstandslos wie das Alltagsbewußtsein auf die sozio-kulturellen Krisenprozesse, jedoch bescheiden sich die herrschaftskonformen Weltbild-Konstrukteure nicht mit dessen "naiver" Unmittelbarkeit, sondern "systematisieren" die "lebensweltlichen" Gedankenformen mit Hilfe "bewährter" ideologischer Interpretationsmuster. Durch den Rückgriff auf tradierte Weltbildelemente und Konstruktionen des bürgerlichen Irrationalismus (Nietzsche spielt wieder einmal eine "fundierende" Rolle bei der "Umwertung" von Vernunft und Aufklärung) erhalten die spontanen "Erlebnisformen" den Status einer konzeptionellen Ideologie und zusätzliche Überzeugungskraft.

© Werner Seppmann, 1997

Quellenangabe:

1 W. Zapf u.a., Individualisierung und Sicherheit, München 1987, S. 138.

2 Vgl. W. Seppmann, Individualisierung und Desintegration. Reproduktionsformen der "modernen" Klassengesellschaft, in: Z 27 (September 1996), S. 70ff.

3 E.J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 17.

4 G, Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 101.

5 T.W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M 6 1969, S. 28.

6 C. Szszesny-Friedmann, Die kühle Gesellschaft. Von der Unmöglichkeit der Nähe, München 1991, S. 102.

7 Vgl. H. Heuermann, Medienkultur und Mythen. Regressive Tendenzen im Fortschritt der Moderne, Reinbek 1994.

8 Vgl. W. Seppmann, Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt, Köln 1995.

9 Vgl. S. Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit,

Frankfurt und New York 1991, und W. Seppmann, Ausgrenzung und Anpassung. Über die Formen psycho-sozialer Krisenregulation, in: Z 15 September 1993), S. 35ff.

10 H. Böhme, in: F. Rötzer (Hg.), Denken das an der Zeit ist, Frankfurt/M. 1987, S. 82.

11 W. Welsch, Topoi der Postmoderne, in: H.R. Fischer u.a. (Hg.), Das Ende der Entwürfe, Frankfurt/M. 1992, S. 52.

12 Vgl. J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982.

13 J. Wilke, Die Zeit der Phrase: Ein seltsamer Aufbruch in die Postmoderne, in: A. Gedö u.a., Moderne, Nietzsche, Postmoderne, Berlin 1990, S. 150.

14 G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 9.

15 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Wien und Graz 1985, S. 22.

16 Abstrahiert wird somit von der Prozeßhaftigkeit des gesellschaftlichen Geschehens und der antizipatorischen Qualität des menschlichen Denkens und Handelns: "Die Große Methode ermöglicht, in den Dingen Prozesse zu erkennen und zu benutzen. Sie lehrt Fragen zu stellen, welche das Handeln ermöglichen." (B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 20, Frankfurt/M. 1976, S. 475).

17 Vgl. J-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz und Wien 1986.

18 B. Brecht, zitiert nach: W. F. Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Hamburg und Berlin 1996, S. 11.

19 Vgl. H.H. Holz, Die abenteuerliche Rebellion. Bürgerliche Protestbewegungen in der 20 Philosophie, Darmstadt und Neuwied 1976.

20 Z. Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg und Berlin 1995, S. 6.

21 G. Gamm, Das metaphorische Selbst. Über Subjektivität in der modernen Gesellschaft, in: J, Georg- Lauer (Hg.). Postmoderne und Politik. Tübingen 1992, S. 80

22 Ebd., S. 90.

23 Vgl. H. Müller, Konkrete Praxisphilosophie und Theorie der ökonomischen Transformation, in VorSchein. Blätter der Ernst-Bloch-Assoziation, Nr. 15,1996.

24 H. Marcuse, in: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1978, S. 78.

25 Vgl. W. Seppmann, Dialektik der Entzivilisierung, a.a.0.

26 S. Hradil, Soziostrukturelle Paradoxien und gesellschaftliche Modernisierung, in: W. Zapf (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt und New York 1991, S. 366.

27 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 42.

28 B. Giesen, Entzauberte Soziologie oder Abschied von der klassischen Gesellschaftstheorie, in: W. Zapf (Hg.), a.a.O., S. 776.

29 Ebd., S. 775.

30 Ebd.

31 W. Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorien, in: W. Zapf (Hg.) a.a.O., S. 25f.

32 C. Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München und Wien 1995, s. 18.

33 M. Frank, in: F. Rötzer (Hg.), a.a.O., S. 120.

34. M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M 1978, s. 95.

35 B. Schmidt, Postmoderne Strategien des Vergessens, Frankfurt/M. 1994, S. 24.

36 K. Marx/F. Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 20.

37 G. Lipovetzky, Narziß oder Die Leere. Hamburg 1995, S. 53.

38 R. Kurz, Das Ende der neuen Weltordnung, in. Zeitschrift für kritische Theorie, H. 1, 1995,S.24.

39 J.-F. Lyotard u.a, Immaterialität und Postmoderne, Westberlin 1985, S. 38.

40 M. Frank, Conditio moderna, Leipzig 1993, S. 10.

41 Vgl. G. Vattinio, a.a.0.

42 G. Figal, Die eigentliche Modernität. Nietzsches antinomisches Denken, in: Sinn und Form, H. 1, 1995, S. 7.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus Z. 31, September 1997


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