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Beiträge zur Politik  









Hans-Jürgen Schönamsgruber

Wie sollten Sozialisten sich organisieren - oder das Ende des Demokratischen Zentralismus?

(Diskussionspapier 1991)

Jeder, der in einer Partei arbeitet oder gearbeitet hat, wird folgende Beobachtungen nicht leugnen können. Es existiert in jeder Partei ein unerklärlicher Anpassungsdruck zur "Mehrheit" und nach "oben". In vielen Fällen haben die oberen Parteigremien genau das Gegenteil von dem realisiert, was die Mehrheit der Parteibasis beschlossen hatte. Dies führt an der Basis immer wieder zu Frustrationen, Ohnmachtsgefühlen und schließlich zur Resignation. Man erinnere sich an den Koalitionswechsel der F.D.P. 1982, das Verhalten der Berliner SPD im Kita-Streik, bei der Aufhebung der Mietpreisbindung durch Abschaffung des Weißen Kreises usw. Minderheiten (auch qualifizierte) haben sich über Jahre engagiert, ohne jemals Einfluß auf die Politikgestaltung nehmen zu können. Sie seien eben nicht "mehrheitsfähig" und sind deshalb von der Mitgestaltung der Politik zu Recht ausgeschlossen, wird argumentiert.

Es geht nicht darum, diese Zustände zu beklagen, sondern ihre praktischen Auswirkungen darzustellen und die Ursachen zu analysieren, um Abhilfe zu schaffen.

Wie sieht es nun in der Praxis aus? Nur eine Minderheit (etwa 4,5 %) der Bevölkerung sind in Parteien organisiert. Davon sind wiederum nur etwa 20 % aktiv. Innerhalb der Parteien werden die Minderheiten durch das Delegationsprinzip auf jeder Ebene ausgesiebt. So entsteht eine Atmosphäre, in der nur diejenigen Einfluß erringen - egal aus welchen Gründen (ob sie politisch motiviert sind oder nur Karriere machen wollen) -, die in der Lage sind, auf jeder Ebene von der jeweils herrschenden Mehrheit getragen zu werden. Als Alternative bleibt nur die Organisierung neuer Mehrheiten, die dann die gleiche Atmosphäre reproduzieren, da auch diese ihre Mehrheit behalten will.

Wie wird man nun von der herrschenden Mehrheit getragen? Dies hängt im wesentlichen von zwei Faktoren ab:

a) Von dem Zustand und den Interessen der herrschenden Mehrheit und b) von der Beurteilung, ob der Einzelne für die herrschende Mehrheit "nützlich" erscheint.

Dadurch entsteht ein Mechanismus, der es der herrschenden Mehrheit erlaubt, Einzelne in den Kreis der Mehrheit aufzunehmen. Dies geschieht nur dann, wenn jemand die herrschende Mehrheit anerkennt und sich für ihre Interessen engagiert, oder wenn die Chancen bestünde, durch eine neue Mehrheit die alte zu kippen.

Im ersten Fall gewinnt die Mehrheit ein neues angepaßtes Mitglied. Im zweiten Fall wird jemand in die Mehrheit aufgenommen, um ihn von seiner Basis zu trennen oder seine Basis für die Stabilisierung der alten Mehrheit zu gewinnen. Er wird wie es im Parteijargon heißt "in Verantwortung genommen". Dieser Mechanismus ist es, der die Parteien für Außenstehende besonders abstoßend macht und der unter Bezeichnungen wie Filz, Opportunismus, Seilschaft, Parteiverdrossenheit usw. traurige Berühmtheit erlangt hat.

Wie funktioniert dieser Mechanismus nun psychologisch und welche Folgen hat dies für die praktische Politik? Bereits auf der unteren Ebene der Parteihierarchie beginnt dieser Mechanismus wirksam zu werden. Nur diejenigen sind gewählt, die eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können. Mehrheiten erringt man, indem der Kandidat die psychologische Stimmung der Wahlversammlung trifft - ihr also mehr oder weniger nach dem Munde redet - oder sie von seinen Zielen überzeugt. Es liegt auf der Hand, daß der erstere der einfachere Weg ist, da sich der überwiegende Teil der Anwesenden in der Regel passiv verhält und konfliktscheu ist. Hat der Kandidat auf diesem Wege die Mehrheit erreicht, so entwickelt sich bei ihm naturwüchsig das Interesse, diese Mehrheit zu erhalten. Dies erreicht er meist dadurch, indem er versucht, die psychologische Grundstimmung der Basis nach Harmonie aufrechtzuerhalten, also ihr nur über Erfolge berichtet. Beunruhigende Nachrichten werden ihr vorenthalten, um ihren passiven und konfliktscheuen Zustand zu erhalten - oder wenn dies nicht möglich ist, wird ihr suggeriert, daß die Probleme für sie gelöst werden können. Andersdenkende werden meist als Störer beim Erreichen der gemeinsamen Ziele empfunden und gebrandmarkt, um sie auf diese Weise auszugrenzen. So schließt sich der Kreis von Machterhalt und Entmündigung der Basis, der am Ende jede produktive Kreativität absterben läßt und die Parteibasis zu Statisten der Politk degradiert.

Nur so ist es erklärbar, daß z.B. der CDU-Wirtschaftrat mehr Einfluß auf die Politik der CDU erhalten konnte als der Rest der Partei, daß Politiker je nach Bedarf exportiert, importiert und der Parteibasis einfach vorgesetzt werden. Man denke an Bangemann als Lückenbüßer-Wirtschaftsminister, Hans Apel und Richard von Weizecker als Bürgermeisterkandidaten in Berlin, Guido Brunner als Wirtschaftssenator sowie die zahlreichen Westimporte in den neuen Bundesländern usw.

Die praktischen Folgen einer solchen Politk sind, daß die Personalpolitk gegenüber der Sachauseinandersetzung in den Vordergrund rückt (man denke nur zurück, wenn früher im Ostblock Personalentscheidungen anstanden, wie die ganzen Nomenklaturaorakel der bürgerlichen Presse in Bewegung gesetzt wurden). Qualifizierte Minderheiten, die sich nicht "in Verantwortung nehmen" lassen, werden von der politischen Mitgestaltung ausgeschlossen. Die Partei beraubt sich damit selbst eines wichtigen Teils ihrer Innovationfähigkeit. Mit der Dominanz der Personal- über die Sachpolitik entstehen neben den offiziellen Parteigremien inoffizielle (Kungelrunden, Seilschaften, Gesprächskreise (Donnerstagskreis, Frankfurter Kreis in der SPD), Wirtschafsräte usw.), die die Personalpolitik organisieren und die Informationspolitik gegenüber den offiziellen Parteigremien absprechen. Damit entsteht die Herrschaft einer Minderheit von Funktionären, die mit der Verfügung über Personal- und Informationspolitik die passive Mehrheit der Partei von sich abhängig machen kann. Die Abhängigkeit der Basis von den Funktionären wird noch dadurch verstärkt, daß über die Masse der Finanzmittel nicht die Basis, sondern die Führung verfügt.

Zum Beispiel verbleiben in der SPD, neben den direkten Spenden für die jeweilige Ebene, etwa 5 % der Einnahmen an der Basis. Dies bedeutet bei einer durchschnittlichen Einnahme von etwa 10,-- DM pro Mitglied und Monat, daß pro Mitglied 0,50 DM zur Verfügung stehen - das reicht nicht einmal, um jedem Mitglied eine Einladung zu schicken. Aus diesem Grund spenden die Mandatsträger generös an die Basis, um ihre Solidarität mit der "armen" Partei zu demonstrieren, die aber auf der anderen Seite Millionen für nutzlose Wahlkämpfe zum Machterhalt ihrer Funktionäre verbraten kann.

So wird im Laufe der Zeit aus der psychologischen Abhängigkeit der Basis von der Führung ein zentralistischer Machtapparat der Funktionäre über die Partei.

Wie haben nun die Parteien auf diese unrühmlichen Erscheinungen bislang reagiert?

Die CDU/CSU, SED und die F.D.P. reagierten in der Vergangenheit darauf überhaupt nicht, da sie davon ausgehen, daß diese Zustände so in Ordnung sind und der "Leistungsgesellschaft" voll entsprechen.

Die SPD hat zumindest partiell ein schlechtes Gewissen gezeigt und durch Einführung der Quotenregelung eine Minderheit in die Mehrheit einzubinden versucht.
Ein Teil der Jusos fordert seit Jahren vergeblich das imperative Mandat, um auf diese Weise Abhilfe zu schaffen.
Eine weitere Reaktion auf diese unhaltbaren Zustände ist die Modernisierungs- Debatte innerhalb der SPD im Vorfeld des Bremer Parteitages.1

Die Grünen und AL haben dieser Schamregelung noch die Basisdemokratie (Urabstimmung durch Mitgliedervollversammlung) und das Rotationssystem und die Trennung von Amt und Mandat hinzugefügt, was sie jedoch aus "Effektivitätsgründen" - bis auf die Tennung von Amt und Mandat - wieder rückgängig gemacht haben.

Die PDS konnte sich dieser Schamregelung auch nicht entziehen, hat aber bei ihrer Erneuerung wenigstens Arbeitsgemeinschaften, Initiativen und anderen aktiven Gruppen neben den Basisgruppen ein Wahlrecht eingeräumt.

Aber alle diese Regelungen sind im Grunde unbefriedigend, wenn man eine demokratische und innovative Partei mit aktiver Basis organisieren will, die eine wirkliche Ausstrahlungskraft (außer auf Wahlplakaten) auf die Bevölkerung haben soll.
Die Ursache für diese unbefriedigenden Lösungen liegt bei allen Parteien darin, daß sie sich von einem emotionalen Unbehagen haben leiten lassen und versuchten, diesem gerecht zu werden, ohne eine Analyse vorzunehmen.

Worin liegen nun die Ursachen? Jedem wird einsichtig sein, daß der moralische Appell an die Funktionäre, sich ihrem eigenen Machterhalt zu enthalten auf die Dauer nicht fruchten wird. Subjektive Kritik kann demnach kein durchschlagendes Mittel für eine dauerhafte strukturelle Änderung sein. Hier gilt es vielmehr, diesem Herrschaftmechanismus seine objektive Grundlage zu entziehen. Diese objektive Grundlage ist das Mehrheitswahlsystem innerhalb der Parteien, das alle Parteien von CSU bis PDS bewußt oder unbewußt kritiklos anwenden. Deshalb sollte eine Partei, die vor allem die Kreativität und Innovationsfähigkeit der Gesellschaft in sich aufnehmen will und sich als demokratischer Ausdruck der Mehrheit versteht sich vom Mehrheitswahlsystem trennen und das Verhältniswahlrecht (Listenwahl mit Mandatsverteilung nach %- Anteil) einführen. Dann könnten wirklich alle Kräfte entsprechend ihrer Stärke und Aktivität an der Gestaltung der Politik mitwirken. An Stelle der Personalpolitik träte die Sachdebatte. Die inoffiziellen Strukturen würden wirkungslos und niemand bräuchte sich mehr nach Quoten wählen zu lassen, um dann am Ende doch nur eingebunden zu werden. Dadurch würde eine wirklich demokratische Gesprächs- und Streitkultur entstehen, die die Basis aus ihrer Passivität führte und sie aktiv mitgestalten läßt.

Nur eine Partei, die in ihren Strukturen das Verhältniswahlrecht konsequent durchführt, wird eine wirkliche demokratische Alternative zu unserer Gesellschaft organisieren können, denn sie wäre auf längere Sicht am ehesten imstande, die kreativsten Teile der Gesellschaft in sich aufzunehmen.

Wie würde dies praktisch funktionieren?
Auf jeder Parteiebene könnte, wenn das gewünscht würde, eine Listenwahl zur nächst höheren Ebene statuarisch zugelassen werden. Zum Beispiel eine Basisorganisation wählt ihre Delegierten zur Keisebene. Nehmen wir an, es gebe in der Basisorganisation drei Gruppierungen (eine 60%, eine 30% und eine 10% stark), die sich nicht auf gemeinsame Kandidaten einigen können. Nach dem Mehrheitswahlsystem könnte die 60%-Gruppe durchwählen und alle (100%) Delegierten für sich verbuchen. Nach dem Verhältniswahlsystem könnte jede Gruppe eine Liste (mit Rangordnung) ihrer Kandidaten zur Wahl stellen, wobei die Nominierung innerhalb der Liste nach wie vor nach dem Mehrheitswahlsystem erfolgen könnte. Wären in diesem Fall zehn Delegierte zu wählen, würde selbst die 10%-Gruppe noch einen Delegierten stellen, die anderen Gruppen erhielten drei und sechs. Damit könnte auch eine solche Minderheit auf der nächst höheren Ebene vertreten sein und ihre Argumente einbringen. Nach demselben Verfahren könnten die Kreis- ihre Landesdelegierten, die Landes- ihre Bundesdelegierten usw. wählen.

Hier wird auch einsichtig, daß unter solchen Bedingungen eine Quotenregelung überflüssig wird, da die Frauen auf jeder Ebene, wenn sie sich in den Listen ungenügend vertreten sehen, eine eigene Liste aufstellen können. Das Verhältniswahlrecht hätte auch noch den Vorteil, daß sich jeder Kandidat konkret zu den Inhalten seiner Liste stellen muß und sich somit innerparteilich klar positionieren müßte.
Zu diskutieren wäre weiterhin, ob dieses Verfahren auch auf Vorstandswahlen anwendbar ist, dann könnten nur die Mitglieder des Vorstandes per Liste gewählt werden. Die konkrete Geschäftsverteilung innerhalb des Vorstandes müßte dieser dann selbst vornehmen (z.B.: wer Vorsitzender, Schatzmeister usw. wird) oder man bildet einen Vorstand von gleichberechtigten Mitgliedern, der die Geschäfte gemeinsam führte und der nur eine Arbeitsverteilung vornähme.

Konsequenzen für Sozialisten

Für bürgerliche Politiker, die auf das Parlament fixiert sind und sich für staatstragend halten (auch in der SPD werden Stimmen laut, daß die SPD das bundesrepublikanische Gesellschaftssystem grundsätzlich bejaht und dies auch deutlicher machen sollte.), hat eine Partei nur noch zwei Funktionen:

a) Sie hat die Aufgabe eines Wahlvereins, um Wahlkämpfe zu führen und b) die Funktion, durch den oben beschriebenen Ausgrenzungsmechanismus, eine Auslese zu treffen, um "brauchbares" Personal für den bürgerlichen Staat zu stellen.

Ihre erste Funktion können die Parteien nur noch unzureichend erfüllen. Längst haben Werbeagenturen die Gestaltung und Organisation der Wahlkämpfe übernommen, die die Parteibasis nur noch als Hilfstruppe benutzen. Selbst in der SPD werden Forderungen erhoben wie "Die Partei braucht eine professionelle PR-Arbeit" - "professionelles Management und gute Verkaufsstrategien" - "Serviceleistungen" usw.

Ihre zweite Funktion ist somit die eigentliche Existenzberechtigung für bürgerliche Parteien und gleichzeitig ihre Hauptbeschäftigung (Dominanz der Personalpolitik). Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, daß ehrliche Sozialisten wie Wolfgang Roth, Klaus Uwe Benneter, die Hoffnungsträger vieler junger Genossen waren, die zwar in staatliche Ämter gelangt sind, jedoch aufgrund ihrer "Eingebundenheit" für die sozialistische Bewegung bisher nichts Wesentliches bewirken konnten.

Hier wird einsichtig, daß Parteien, die ihre Politik auf die Partizipation am bürgerlichen Staat orientieren, auf das Mehrheitswahlrecht innerhalb ihrer Reihen nicht verzichten können. Ihre jetzigen Machtstrukturen würden zerfallen und Interessen kämen zum Tragen, die mit den Wünschen der Herrschenden nicht konform gingen. Damit werden sie auf längere Sicht einen Großteil von qualifizierten Minderheiten aus ihren Reihen vertreiben.

Für Sozialisten ergibt sich hieraus, daß sie es sich nicht nur leisten können, das Verhältniswahlrecht einzuführen, da ihre Ziele über den bürgerlichen Staat hinausgehen, sondern daß es für die sozialistische Bewegung objektiv notwendig ist, um alle progressiven Kräfte der Gesellschaft in sich aufnehmen zu können. Nur so wird sich eine sozialistische Partei entwickeln können, die sich wirklich qualitativ von allen anderen Parteien unterscheidet. Nur durch diese qualitative Strukturveränderung werden die Sozialisten die kreativen, innovativen und progressiven Kräfte, die in der bürgerlichen Gesellschaft keine Entfaltung mehr finden, für sich gewinnen können.

Nur wenn in der sozialistischen Bewegung, sich die progressiven Kräfte der Gesellschaft entfalten können, wird es ihr gelingen, die Meinungsführerschaft für eine gesellschaftliche Alternative zu gewinnen. Dann wird aus der Partei eine politische Bewegung werden, in der die Unterdrückten aus einer Klasse ansich zu einer Klasse fürsich werden.
Es könnte eingewandt werden, daß unter solchen Strukturen die Partei in lauter Einzelinteressen zerfallen (Separatismus) und damit handlungsunfähig würde. Dem muß entgegengehalten werden, daß die Menschen in einem solchen demokratischen Prozeß lernen werden, daß ihre Einzelinteressen (Umwelt- und Tierschutz, AKW- und Kriegsdienstgegner, Vollbeschäftigung und Bildung, die Beseitigung der Wohnungsnot und des Zinswuchers usw.) - mit Ausnahme der separaten Kapitalinteressen - letztendlich nur im Sozialismus zu realisieren sein werden. Dies setzt allerdings die Annahme voraus, daß das Proletariat in den kapitalistischen Metropolen diese Lernfähigkeit besitzt. Nimmt man dies an, ist langfristig keine Zentrale mehr notwendig, die entscheidet was richtig und falsch ist, sondern dann wird in zunehmenden Maße die unmittelbare politische Praxis diese Funktion übernehmen. Es werden dann immer jeweils die Kräfte die größte Autorität besitzen, die mit ihren Vorstellungen die besten Antworten auf die jeweiligen Probleme geben.

Geht man allerdings davon aus, daß das heutige aber vor allem das zukünftige Proletariat (das heute schon die Masse der Intellektuellen stellt) diese Lehrnfähigkeit nicht besitzt, also in diesem Prozeß kein Klassenbewußtsein erlangen kann, dann sind nach wie vor autoritäre Strukturen, die von einer kleinen Minderheit geführt werden, notwendig.

Historischer Rückblick

Die sozialistische Bewegung ist in der Vergangenheit bei der Gestaltung ihrer inneren Strukturen nur selten über die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft hinausgegangen.

Hierfür gibt es vielfältige objektive und subjektive Ursachen.

Die Pariser Kommune stand bis zu ihrem Untergang ständig unter direkter militärischer Bedrohung. Trotzdem entwickelte sie demokratischere Strukturen als die vorherige Gesellschaft sie je gekannt hatte.

Die SPD (SDAP) in Deutschland praktizierte in ihren Reihen bereits ab 1875 (Gothaer Programm) das Mehrheitswahlsystem, nachdem sie das undemokratische Lassalle'sche Präsidialsystem (alle Anordnungen trifft der Vereinspräsident einschließlich der Ernennung der örtlichen Vereinsvorstände, der sog. Bevollmächtigten) überwunden hatte. In Preußen aber herrschte bis 1918 das Dreiklassen-Wahlrecht. Obwohl oder gerade deshalb, weil die SPD in ihren inneren Stukturen demokratischer war als der Bismarcksche Staat, ist sie aus den Verfolgung durch ihn (Sozialistengesetze) nicht geschwächt, sondern gestärkt hervor gegangen.

Lenin hat seine Organisationsprinzipien entwickelt unter den Erfordernissen und Bedingungen des damaligen Rußland. Die Ziele waren damals, die Zersplitterung aufzuheben und eine "gesamtrussische Organisation"2 zu schaffen, die durch eine zentral erscheinende Zeitung überall denselben Diskussionsstand gewährleisten sollte, um die Handwerkelei und die Spontanität zu überwinden. Er schreibt, daß die Partei "sich endgültig von der engen lokalen Zersplitterung freimachen" muß und wir uns "als nächstes Ziel stellen müssen, ein regelmäßig erscheinendes und mit allen lokalen Gruppen eng verbundenes Parteiorgan zu schaffen."3
Man muß sich wirklich klarmachen, was die Lösung dieser Ziele unter den damaligen Bedingungen ohne moderne Kommunikations- und Verkehrsmittel (kein Telefon und Telefax, kein Radio und Fernsehen, keine Computernetze und keine Satellitentechnik, keine Flugverbindungen und Straßen) bedeutete. Erschwerend kam zu den technischen Unzulänglichkeiten noch hinzu, daß der größte Teil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand und alle Arbeiterorganisationen verboten waren und von der Geheimpolizei verfolgt wurden.
Unter solchen Bedingungen war klar, daß eine flächendeckende Verbindung nur von Menschen hergestellt werden konnte, da andere Mittel fehlten. Diese Menschen mußten als Kuriere für die gemeinsame Zeitung fungieren. Gleichzeitig mußten sie - auf sich alleine gestellt - vor Ort genügend Autorität gewinnen, um die Akzeptanz der eigenen Organisation und Ideen zu erreichen. Hier wird auch verständlich, warum Lenin zu der Überzeugung gelangte, daß diese Aufgaben unter diesen Bedingungen nur von Menschen mit besonderen Fähigkeiten - für die damalige Zeit (die Lesen und Schreiben konnten, die ein Mindestmaß an politischer Bildung besaßen und die Methoden der Polizei kannten) - gelöst werden könnten. So kam er zu der Forderung - "eine Organisation von Revolutionären zu schaffen, die fähig ist, dem politischen Kampf Energie, Zähigkeit und Kontinuität zu verleihen."4 Er hat dies aber ausdrücklich mit den besonderen Verhältnissen im damaligen Rußland begründet: "aber gerade der Kampf gegen die politische Polizei erfordert besondere Eigenschaften, erfordert Berufsrevolutionäre"... "in einem autokratischen Land".5
Deshalb hat er auch betont, daß unter anderen Bedingungen auch andere Prinzipien gelten müssen. "Aber die Notwendigkeit des Übergangs zum Prinzip der Wählbarkeit unter neuen Verhältnissen, beim Übergang zur politischen Freiheit, haben wir Bolschewiki immer anerkannt."6

Ein weiteres Argument war, daß das sozialistische Bewußtsein in die Arbeiterklasse hineingetragen werden müsse, da sie von den Bildungseinrichtungen - insbesondere den Universitäten - der Gesellschaft ausgeschlossen seien, und deshalb kein wissenschaftlich begründetes Denken entwickeln könne. Aus diesem Grunde bedarf es der Aufkärung durch bürgerliche Intellektuelle, die auf die Seite der Arbeiterbewegung gewechselt haben.
Nach der Revolution wurde aus der Kaderpartei sehr schnell eine Massenpartei. Es wurde nicht der "Demokratische Zentralismus" eingeführt, sondern ein "Bürokratischer Zentralismus" praktiziert, der an die Stelle der demokratischen Wahl und Diskussion von unten und Anweisung nach unten, nur die Administration von oben setzte. Andersdenkende wurden ausgegrenzt (Fraktionsverbot) und später auch verfolgt (Stalinismus).

Auch in bürgerlichen Parteien wird der Demokratische Zentralismus faktisch praktiziert, wobei dies von offizieller Seite selbstverständlich bestritten wird. Auch sind in der bürgerlichen Gesellschaft Pervertierungen dieses Prinzips nicht unbekannt. Zum Beispiel das "Führerprinzip" während der NS-Zeit, in der auf geistigem Gebiet mit einer Gleichschaltung der Presse und bis dahin unbekannten flächendeckenden Einsatz von Film und Radio (Volksempfänger) durchgesetzt wurde.

Theoretische Schlußfolgerungen

Hier wird einsichtig, daß der Demokratische Zentralismus ein Prinzip der bürgerlichen Epoche ist, wobei auch von der sozialistschen Bewegung versucht wurde, dieses Prinzip bewußt anzuwenden, um ihre Macht zu organisieren. Da der Versuch, den Sozialismus zu organisieren bisher auf relativ unterentwickelte Gesellschaften beschränkt blieb, die nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich der demokratischen Freiheiten hinter den kapitalistischen Metropolen zurückblieben, konnten sie auch den Demokratischen Zentalismus nicht dialektisch überwinden.

Wenn die Erkenntnis, daß die sozialistische Bewegung nur ihre Ziele erreichen kann, wenn sie ihre lokale Beschränktheit aufheben kann, sprich sich europaweit - weltweit organisiert, dann wird klar, daß unter den heutigen komplexen Bedingungen keine Zentrale imstande wäre, bei der Flut von Problemen und neuen Erkenntnissen all dies zu verarbeiten und hierfür die richtigen Anweisungen bis in den letzten Winkel der Welt zu geben.

Vielmehr muß ein Weg gefunden werden, wie alle lokalen Gruppen auf denselben Informations- und Bewußtseinsstand gebracht werden können, um dann vor Ort mit derselben Sachkenntnis entscheiden zu können, wie dies irgend eine Zentrale tun würde. Mit den modernen Kommunikationsmitteln ist dies auch ohne eine besondere Gruppe von Revolutionären möglich. Auch ist das Proletariat nicht mehr von der Analysetätigkeit bürgerlicher Intellektueller abhängig wie noch im letzten Jahrhundert, sondern das Gros der Wissenschaftler (Millionen) stammt heute aus dem Proletariat und ist lohnabhängig beschäftigt. Der Prozeß hat sich in den Metropolen längst dialektisch umgekehrt. Nicht abtrünnige bürgerliche In- tellektulle entwikkeln heute die sozialistische Theorie, sondern lohnabhängig beschäftigte proletarische Intellektuelle produzieren die bürgerliche Ideologie.

Historisch bedeutet dies, daß das Proletariat sich endgültig von der bürgerlichen Herrschaft befreien kann, da sich der größte Teil des geistigen Potentials der Gesellschaft bereits in seinen Händen befindet. Die Aufgabe einer sozialistischen Partei besteht deshalb heute darin, dieses Potential für die sozialistische Bewegung zu gewinnen. Dies ist nur möglich, wenn die sozialistische Bewegung demokratischer organisiert ist, dem Einzelnen mehr Entfaltungsmöglichkeiten seiner geistigen Potenzen ermöglicht als die bürgerlichen Einrichtungen. Kein selbstbewußter, qualifizierter Wissenschaftler (oder anderer Mensch) mit einem demokratischen Selbstverständnis wird sich heute den Anweisungen irgend einer Zentrale (die auch nicht besser Bescheid weiß - z.B. das Politbüro unter Honecker) freiwillig fügen, es sei denn, sie bezahlt ihn. Da die Menschen in der sozialistischen Bewegung aber nur freiwillig mitarbeiten werden, wenn sie ihre eigenen Interessen und Überzeugungen einbringen und umsetzen können, sie selbst entscheiden können, werden sie sich auf Dauer engagieren.

Deshalb besteht heute nicht mehr die Aufgabe den Demokratischen Zentralismus richtig anzuwenden, sondern er muß dialektisch überwunden werden. Wenn alle Gruppen die gleiche qualifizierte Information erhalten und ihre Ideen den anderen zugänglich machen, dann wird kein Zentrum oder mehrere (Polyzentrismus) mehr notwendig sein, um die Anweisungen für alle zu erarbeiten, sondern alle werden mit optimaler Sachkompetenz in ihrem Bereich arbeiten und entscheiden. An die Stelle des Demokatischen Zentralismus wird der Demokratische Universalismus treten. Die Aufgabe einer sozialistischen Partei besteht heute darin, diesen Prozeß zu organisieren, zu koordinieren und die Bewegung nach außen zu verteten (Parlament, Medien usw.).

Dieser Übergang vom Demokratischen Zentalismus zum Demokratischen Universalismus muß als ein historischer Prozeß verstanden werden, der sich über viele Zwischenstufen entwickeln könnte. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die Einführung des Verhältniswahlrechtes in den sozialistischen Organisationen und die Installierung eines rechnergestützten Informationsnetzes.

Nur in einem solchen Prozeß wird das Individium seine lokale Borniertheit überwinden können und das von Marx gefordete universelle Individium die Arena der Geschichte betreten. Er schreibt: "Diese 'Entfremdung', um den Philosophen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie eine 'unerträgliche' Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus 'Eigentumslos' erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft - einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt - und andererseits diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandene empirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel, die Notdurft verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher einerseits das Phänomen der 'Eigentumslosen' Masse in allen Völkern gleichzeitig erzeugt (die allgemeine Konkurrenz), jedes dersel- ben von den Umwälzungen der anderen abhängig macht, und endlich weltge- schichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat."7

Man denke nur an die weltweite Abhängigkeit jedes Einzelnen von bei der Umweltzerstörung (Ozonloch, Klimaveränderung, Abholzung des Regenwaldes usw.).

Weiter schreibt er: "Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als 'weltgeschichtliche' Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen, d.h. Existenz der Induviduen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist."8

Nur wenn es der sozialistischen Bewegung gelingt, den Demokratischen Zentralismus in einer dialektischen Negation hin zum Demokratischen Universalismus weiterzuentwickeln, wird sich diese internationale Solidarität entwickeln lassen, die die Forderung des Kommunistischen Manifests "Proletarier aller Länder vereinigt euch" Realität werden läßt.

© Hans-Jürgen Schönamsgruber, Berlin 1991




ANHANG

Modernisierung der SPD

In der SPD hat eine Debatte über die Erneuerung von Strukturen und Arbeitsweisen, Erscheinungsbild und politischer Identität der Partei begonnen. Der "Vorwärts" versucht einen Überblick über die zahlreichen Papiere. Die Gretchenfrage: Wie kommt man raus aus dem 33-Prozent-Turm?

Eine erste, gleichwohl richtungsweisende Antwort gaben die beiden SPD- Länderchefs Gerd Walter (Schleswig-Holstein) und Ulrich Maurer (Baden- Würtemberg). In ihrem Papier "Weichenstellen zur Mehrheitsfähigkeit" halten sie der SPD fundamentale organisatorische Schwächen vor: Die "Fähigkeit zum Management bundesweiter Kampagnen" und zur "geschlossenen Aktion" habe abgenommen, der Aufbau der Organisation in den neuen Ländern sei vernachlässigt worden, Landesverbände und Bezirke hätten sich verselbständigt, eine "Koordination der Medienpolitik" existiere nicht.

Als Therapie empfahlen die beiden Vordenker ein - inzwischen erfolgtes - "personelles Signal an der Spitze der Partei", einen - gleichfalls angebahnten - "Wechsel im Spitzenmanagement" und weitere "Veränderungen der Organisations- und Leistungsstruktur des Ollenhauerhauses". Außerdem solle man sich den Kopf zerbrechen über ein zeitgemäßes Organisations- und Management-Modell, über Personal-Entwicklung, Mitgliederwerbung und Wissens-Transfer.

Diese Orientierung auf moderne Managementstrategien fand viel Zustimmung - der Parteinachwuchs indes witterte "Technokraten" am Werk. Die Kopie noch so effektiver Personalentwicklungssysteme, so etwa das Juso-Blatt "Sozialist", übersehe "das Spezifikum politischer Parteien - die Notwendigkeit ehrenamtlicher Mitarbeit und den normativen Anspruch auf wirklich demokratische Entscheidungsprozesse". Auf deutsch: Effektivität ist für die SPD nicht alles, Demokratisierung mindestens ebenso wichtig.

Weit schärfer und öffentlichkeitwirksamer wurde die Modernisierungs-Debatte in Nordrhein-Westfalen geführt. Ausgangspunkt: ein von mehreren Landesvorstandsmitgliedern verfaßtes Thesenpapier ("Die Modernisierung der SPD"), das von der Problemstellung ausging, wie die SPD einerseits "Partei der Jüngeren und Modernen" sein, das "Lebensgefühl und die Problemsicht der Nach- 68er-Generation" repräsentieren und andererseits "TraditionswählerInnen" an sich binden könne. Die plakative Antwort hieß: "Modernisierung mit Bodenhaftung". Wer dachte da nicht an ein Gespann Oskar Lafontaine/Johannes Rau?!

Nach Ansicht der Autoren - allesamt der Generation der Vierzig- bis Fünfzigjährigen zugehörig - hat sich "die traditionelle gesellschaftspolitische Programmatik und die Problemsicht der Sozialdemokratie mit ihrem 125jährigen Geburtstag weitgehend erschöpft"; viele der "alten Ziele" seien erreicht. Das politische Credo der Poß, Hahn-Cremer, Kasperek, Behler, Hendricks, Hombach und Horstmann: "Wir identifizieren und mit dieser Gesellschaft." Die SPD solle sich deshalb von "ideologischen Altlasten" befreien, "die nicht mehr aktuell sind und für die niemand mehr wirklich zu kämpfen bereit ist". Im Wettbewerb mit anderen Parteien gehe es schließlich nicht mehr um die bessere Ideologie, sondern um die sozialere und intelligentere Problemlösung: "Zwischen dem schwedischen Modell und der Politik Thatchers gibt es viel Raum für Alternativen. Wir streiten um das Wie der konkreten Ausgestaltung der Marktwirtschaft."

Für NRW-Juso-Chef Ralf Krämer war die Botschaft eindeutig: "Es geht um den Abschied vom Sozialismus." Das Papier sei Resultat der "Kapitulation" vor dem neokonservativen Zeitgeist; auf die "Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit als Ziel der SPD" werde "verzichtet". Ein weiteres Kritikpapier, verfaßt von dem Autorenquartett Frey, Mernizka, Reinhard und Speth, haut in die gleiche Kerbe und unterstellt den Modernisierern, sie wollten die SPD offenbar in eine "sozialtechnokratische Variante der CDU" ummodeln.

Aus der Sicht des SPD-Landesgeschäftsführers Bodo Hombach sind solche Vorhaltungen "demagogisch" (siehe "Vorwärts" Nr. 3/91). Die Kritik an einigen Regelleistungen des Sozialstaats etwa diene "ausschließlich dem Ziel, solchen Bevölkerungsgruppen zu helfen, die dieser Hilfe auch tatsächlich bedürfen. Den Kindern von Eltern, die 10 000 Mark verdienen, muß der Staat nicht auch noch die Schulbücher bezahlen".

Offen blieb bei dieser Debatte, welche "ideologischen Altlasten" die Modernisierer denn - aus dem Berliner Programm? - streichen möchten, offen bleiben aber auch die Umrisse jener "neuen Ordnung", für die sich die linken Traditionalisten so vehement einsetzen. Offenbar wurde dagegen, wie groß das Bedürfnis nach identitätsstiftender Politik selbst in der modernen und bodenständigen NRW-SPD noch ist.

Eine Gruppe von Juso-Theoretikern hatte derweil ein eigenes Konzept-Papier vorgelegt. Zentrale These: "Die Partei spielt als Mitgliederorganisation kaum noch eine aktive Rolle für die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins und die Verschiebung politischer Kräfteverhältnisse." Statt "lebendiger Ortsverein", so die düstere Bestandsaufnahme, herrsche "tote Hose". Die Arbeitsgemeinschaften, beklagte die Juso-Crew um die Ex-Vorsitzende Susi Möbbeck weiter, würden "als politische Restgröße gehandelt", den "Fachleuten in Amt und Mandat" stände "keine fachlich orientierte demokratische Parteistruktur gegenüber", die Parteiflügel präsentieren sich als "inhaltsleere Seilschaften"; jüngere Parteimitglieder würden "ausgegrenzt".

Entsprechend radikal die vorgeschlagene Kur: Den Ortsvereinen sollten gleichberechtigte "gruppen- und themenbezogene Arbeitsgemeinschaften" an die Seite gestellt werden. Arbeitsgemeinschaften wie die der Jusos und der Frauen sollten zudem aufgewertet, mit Antrags- und Personalvorschlagsrechten ausgestattet und auf Parteitagen angemessen vertreten sein. Auf diese Weise fände die Vielfalt sozialer Gruppen und Themen Eingang in die SPD.

Auf dieses Konzept einer - unglücklicherweise - sogenannten "Partei neuen Typs" reagierte vorerst nur NRW-Stratege Bodo Hombach - negativ. Zwar habe der Ortsverein "seine Schwächen", die Arbeitsgemeinschaften würden aber - Beispiel Jusos - den "Zugang für bestimmte Zielgruppen" zur SPD oft "nicht leichter machen, sondern sogar erschweren". Eine Partei, so der zentrale Einwand, dürfe nicht in diverse mit Spezialinteressen ausgerüstete Gruppen zerfallen, sie müsse zu Integration und Konsensbildung fähig bleiben.

Ein weiteres Papier, das - unter dem Titel "Erneuerung und Modernisierung der SPD. 42 Thesen" - vom Präsidium auf dem Bundesparteitag zur Diskussion gestellt wird und auf Ausarbeitungen hauptamtlicher Vorstands-Referenten fußt, versucht - kurzgesagt - eine Synthese aus Effektivierung und Öffnung. Ziel ist eine moderne Massenpartei mit lebendigen, familienfreundlichen Arbeitsstrukturen und der Fähigkeit, strategisch bedeutsame Zielgruppen - Junge und Alte, Frauen und Arbeitnehmer - differenziert anzusprechen.

Ganz ähnliche Gedanken hat sich - last but definitely not least - auch Björn Engholm gemacht - niedergelegt in einem Neun-Seiten-Papier unter dem Motto: "Die SPD in den neunziger Jahren: Offen - Kompetent - Mehrheitsfähig". Er kündigt "moderne Führungsarbeit" - "nicht autoritär, aber bestimmt" - an, will ein "schlagkräftiges Team" um sich versammeln und dafür sorgen, daß sich die SPD auf die wirklich "wichtigen Themen" konzentriert. Der Einfluß der Mitglieder und der Gliederungen soll qua Stärkung des Parteirats vergrößert, das Zusammenspiel von Parteivorstand, Gliederungen und Fraktion gleichzeitig "wirksamer organisiert" werden. Erneuerung der SPD heißt schließlich auch für Engholm, "Grundsätze moderner Organisationsentwicklung und Personalführung" anzuwenden.

Michael Scholing (9)

Anmerkungen:

1 siehe Anhang: Modernisierung der SPD, Michael Scholing, Vorwärts, Juni 1991, S. 12

2 Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 439, Dietz Verlag Berlin 1974

3 Lenin: Ausgewählte Werke Bd. I, S. 303 - 307, Dietz Verlag Berlin 1974

4 Lenin: Ausgewählte Werke Bd. I, S. 445. Dietz Verlag Berlin 1974

5 Lenin: Ausgewählte Werke Bd. I, S. 450 - 476. Dietz Verlag Berlin 1974

6 ebenda Bd. II, S. 171

7 Marx Engels: Die deutsche Ideologie in Ausgewählte Werke Bd. I, S. 226. Dietz Verlag Berlin 1975

8 ebenda, S.227

9 Vorwärts Nr. 6, Juni 1991










 

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