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Beiträge zur Theorie  







Thieß Petersen

Karl Marx’ Vorstellungen vom »guten Leben«

Im Heft IV/2002 vom HINTERGRUND erschienen zwei Beiträge, die sich mit dem Thema des »guten Lebens« auseinander setzen (Braun 2002 und Krauss 2002). Beide Aufsätze greifen, wenn auch zum Teil nur am Rande, auf einige Gedanken von Karl Marx zurück. Der vorliegende Beitrag stellt Marx’ Konzeption vom guten Leben systematisch dar.

Vorbemerkungen

Die Konzeption des guten Lebens ist bei Marx eng verknüpft mit seinen Vorstellungen vom ‚Wesen des Menschen’ und vom ‚wahreren Mensch’. Mit dem ersten Ausdruck umschreibt Marx seine Vorstellungen vom Idealtyp des Menschen. Das Wesen des Menschen besteht aus den Eigenschaften, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden und die in jedem menschlichen Individuum vorhanden sind. Der wahre Mensch ist der Mensch, der diesen anthropologischen Idealvorstellungen entspricht (vgl. Schaff 1965, S. 110f.). Marx nennt den wahren Menschen an einer anderen Stelle auch den „eigentlichen Menschen“ (MEW 1, S. 366, 370). Das gute Leben ist schließlich ein Leben, in dem der Mensch als wahrer Mensch lebt und somit die anthropologischen Idealvorstellungen von Marx realisiert hat.

Marx legt diese Vorstellungen in seinen bis zum Jahre 1846/47 geschriebenen Frühwerken offen. Selbst wenn diese Vorstellungen in den späteren Werken nicht mehr explizit erwähnt werden, so liegen sie diesen dennoch zugrunde. Ohne Übertreibung kann die Marxsche Anthropologie als Schlüssel für das Verständnis seines Gesamtwerkes angesehen werden. So basiert beispielsweise seine Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft „auf einem normativen Fundament, einer bestimmten Auffassung vom ‚wirklichen’ menschlichen Wesen“ (Heinrich 1991, S. 244). Auch der Begriff der Entfremdung lässt sich bei Marx letztlich verstehen als eine Abweichungen der wirklich lebenden Menschen von seinen Idealvorstellungen über das gute Leben (vgl. Petersen 2002). Ebenso ist die Marxsche Gesamtkonzeption der angestrebten postkapitalistischen Gesellschaft die logische Konsequenz einer ganz bestimmten anthropologischen Theorie samt der mit ihr verknüpften spezifischen Theorie des menschlichen Glücks (vgl. Gollwitzer 1957, S. 189).

Im Folgenden soll ein Überblick über die Marxsche Anthropologie und die damit verknüpfte Vorstellung vom »guten Leben« gegeben werden. Zum guten Leben gehören vier grundsätzliche Elemente: die produktive menschliche Tätigkeit, die freie Entwicklung der menschlichen Kräfte im Sinne einer Selbstverwirklichung, eine spezielle Ausprägung der menschlichen Bedürfnisse und schließlich der Umstand, dass der Mensch als gesellschaftliches Beziehungswesen lebt.

Die produktive menschliche Tätigkeit

Die produktive Tätigkeit nimmt in Marx’ Bild vom Menschen eine zentrale Position ein. Hierbei geht es im Kern um die freie Ziel- und Zwecksetzung der Tätigkeit durch das handelnde Subjekt. Diese Selbstbestimmung ist es, die den wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier ausmacht: „Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben ... In der Art der Lebensthätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Thätigkeit ist der Gattungscharakter d[es] Menschen ... Die bewußte Lebensthätigkeit unterscheidet d[en] Menschen unmittelbar von der thierischen Lebensthätigkeit“ (Marx 1844, S. 136f.)

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Ausdruck ‚produktiv’ nicht im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs verwendet wird, der unter einer produktiven Handlung das auf ein bestimmtes Resultat abzielende Verhalten versteht. Marx hingegen geht es bei diesem Begriff gerade nicht um das Resultat, sondern vielmehr um die Qualität der betreffenden Aktivität. Die Aktivität ist, sofern sie produktiv ist, eine freie, bewusste und selbständige Tätigkeit eines Individuums. Deshalb ist auch eine Betätigung ohne ein materielles Resultat als eine produktive Tätigkeit einzustufen, z. B. ein Spaziergang. Entscheidend ist die Aufstellung von eigenen Handlungszielen an Stelle einer Übernahme fremder Ziele. Gleiches gilt für die Realisation der aufgestellten Handlungspläne, die ebenfalls von dem tätig werdenden Individuum selbständig geregelt und kontrolliert werden muss. Der wahre Mensch ist nicht das Produkt der Verhältnisse, sondern er kann sein Leben gemäß seines eigenen Willens führen.1 So weist Marx beispielsweise auf das Fehlen von äußeren Einflüssen bei der Zielauswahl der produktiven Tätigkeit hin, wenn er feststellt, dass „free activity ... nicht wie die labour durch den Zwang eines äußren Zwecks bestimmt ist“ (MEW 26.3, S. 253). Im Vorgriff auf das gesellschaftliche Wesen des Menschen ist darauf hinzuweisen, dass die genannte Freiheit des Menschen für Marx stets an die menschliche Vernunft und Einsicht gekoppelt ist. Marx geht es immer um die „Verwirklichung der vernünftigen Freiheit“, d. h. die von ihm angestrebte Freiheit des Individuums darstellt den Gegensatz zur „Willkür des Einzelnen“ (MEW 1, S. 54, S. 58, S. 103).

Eine weitere Eigenschaft der menschlichen produktiven Betätigung besteht darin, dass das eventuell anfallende Resultat der Aktivität dem ausführenden Individuum zufällt. Der Akteur eignet sich das Handlungsergebnis „für sein eignes Leben“ (MEW 23, S. 192) an. Wenn materielle Güter die Folge menschlichen Handelns sind, müssen sie für ihren jeweiligen Produzenten unmittelbar einen Genuss bereiten, also seine eigenen Bedürfnisse befriedigen. Damit ist aber keinesfalls nur die Eigenproduktion eine Produktionsweise, die dem Prinzip des guten Lebens gerecht wird. Zu denken ist auch an Handlungen, die zwar einer anderen Person einen Gegenstand für deren Bedürfnisbefriedigung verschaffen, die aber zugleich dem Produzierenden selbst eine Freude bereiten. Ein Austausch von Tätigkeiten kann daher grundsätzlich auch im Rahmen des guten Leben erfolgen, er muss dann aber die Form eines „gegenseitigen Schenkens“ annehmen, bei dem das Geben nicht an eine Gegenleistung gebunden ist (vgl. Gorz 1994, S. 239 f.).

Weiterhin beinhaltet die Vorstellung vom guten Leben neben den körperlichen die künstlerischen und intellektuellen Tätigkeiten, was die vollständige ‚intellektuelle Beherrschung’ der betreffenden Handlungsabläufe einschließt. Dass die geistige Tätigkeit zur produktiven Lebenstätigkeit des Menschen gehört, ist beispielsweise den Ausführungen der ÖPM zu entnehmen. Dort stellt Marx bezüglich des Menschen als „Gattungswesen“ fest, dass dieser „sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und bethätigen muß“ (Marx 1844, S. 196). Daher ist „auch das Denken ... als Wesensäusserung des Menschen“ (Marx 1844, S. 205) zu verstehen. Ein weiteres Element menschlicher Tätigkeiten besteht aus dem Umstand, dass der Mensch alle in ihm ruhenden Fertigkeiten benutzt, was einseitige Handlungsabläufe ausschließt. Die produktive menschliche Tätigkeit verlangt die Anwendung aller körperlicher und geistiger Fähigkeiten, denn die Kopf- und die Handarbeit bilden eine Einheit, die nicht auseinandergerissen werden darf (vgl. MEW 23, S. 531).

In einem nächsten Schritt geht Marx von der menschlichen Fähigkeit zur produktiven Tätigkeit über zum menschlichen Bedürfnis nach dieser Art der Tätigkeit. In den „Grundrissen“ konstatiert er, dass „das Individuum ‚in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit’ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat“ (Grundrisse, S. 505). In seiner „Kritik des Gothaer Programms“ geht Marx sogar soweit, dass in der kommunistischen Gesellschaft „die Arbeit ... selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ (MEW 19, S. 21) ist. Auch ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung sowie nach der Übernahme von Verantwortung gehört zum Lebensbedürfnis ‚Arbeit’ (vgl. Marx 1863/64, S. 135 f). Allerdings, und darauf muss mit Nachdruck hingewiesen werden, bezieht sich das Bedürfnis nach Arbeit nur auf die schöpferische, produktive und deshalb auch sinnvolle und befriedigende Tätigkeit. Nur wenn die menschliche Betätigung die hier genannten Eigenschaften aufweist, wird sie zur Tätigkeit als Selbstzweck und kann zu einer inneren Befriedigung führen, d. h. freude- und lustschaffend sein.

Der Umstand, dass die produktive Tätigkeit des Menschen als ein Selbstzweck aufgefasst werden kann, deutet auf ein weiteres Element des guten Lebens hin, nämlich auf das Ineinanderfließen von Mitteln und Zielen der menschlichen Betätigung. Wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine produktive menschliche Tätigkeit zulassen, werden die während der materiellen Produktion erbrachten Handlungen nicht mehr ausschließlich als Kosten angesehen, die für den Genuss der damit erarbeiteten Güter aufgewendet werden müssen. Statt dessen stellt die produktive Betätigung einen Wert an sich dar. Ein Beispiel dafür nennt Marx im zweiten Band des „Kapitals“, in dem er die produktive Tätigkeit eines Mitglieds der Urgesellschaft darstellt. Der dort behandelte „Wilde“, der seine erforderlichen Konsumtionsmittel bereits hergestellt hat, kann sich in der verbleibenden Zeit der schöpferischen und produktiven Tätigkeit widmen. Frei vom Diktat der zum Überleben notwendigen Konsumbedürfnisse, zählt er die mit produktiven Betätigungen verbrachten Momente nicht als Kosten. Die in diesem Bereich der Tätigkeiten anzutreffende „völlige Gleichgültigkeit gegen Zeitaufwand“ äußert sich beispielsweise darin, dass „der Wilde ... manchmal, wie Tyler erzählt, einen ganzen Monat zur Verfertigung eines Pfeils“ (MEW 24, S. 436 f.) benötigt. Weil ein wesentliches Kriterium der produktiven Tätigkeit aus der Unabhängigkeit von der Notdurft des biologischen Lebensprozesses besteht, nennt Hannah Arendt das Hobby als produktive Tätigkeit des Menschen im Sinne der Marxschen Vorstellungen. Das Hobby stellt als Tätigkeit, die nicht unter dem Zwang der Lebensnotwendigkeit steht, den Gegensatz zur entfremdeten Tätigkeit dar (vgl. Arendt 1994, S. 106, S. 116 f. sowie S. 343 f., Anm. 65, 75, 76).

Resümierend kann bezüglich der produktiven Tätigkeit folgendes Fazit gezogen werden: Wenn die menschliche Betätigung sämtliche hier aufgezählte Eigenschaften enthält, kann der tätige Mensch aus der geleisteten Handlung eine innere Befriedigung ziehen. Damit ist es möglich, diese Aktivität als Freude zu empfinden, wodurch der Gegensatz zwischen Arbeit und Freizeit verloren geht. Da die eigene Tätigkeit unter diesen Umständen als Genuss erfahren wird, können wir „sogar annehmen, daß Marx den Inbegriff des Glücks in der Tätigkeit, in der Aktivität, nicht im passiven Konsum erblickt“ (Fetscher 1979, S. 86). Die Arbeit, sofern sie sich als produktive Tätigkeit im oben beschriebene Sinn erweist, wird dann als anregend empfunden, und sie wird aus eigenem Antrieb unternommen, ohne dass dabei „Zeit und Mühe“ zählen.2

Die freie Entwicklung der menschlichen Kräfte

Ausgangspunkt dieses Teils des guten Lebens ist die Annahme, dass der Mensch über entwicklungsfähige Anlagen, Fähigkeiten und Potenziale verfügt. Zum Wesen des Menschen gehört die Realisation dieser Möglichkeiten, also die Entfaltung und Entwicklung der ihm innewohnenden Fähigkeiten und Anlagen. Das Wesen des Menschen ist die „Bestimmung, Aufgabe jedes Menschen, sich vielseitig, alle seine Anlagen zu entwickeln“, sodass die „originelle und freie Entwicklung der Individuen“ stattfindet (MEW 3, S. 273, S. 424). Da es sich darüber hinaus stets um die individuellen Anlagen und Potentiale handelt, ist das Ziel die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten - so wie bereits die produktive Tätigkeit - Selbstzweck ist und nicht bloß ein Mittel zur Erhöhung der materiellen Produktion oder anderer Ziele. Darüber hinaus äußert sich dieser Selbstzweck darin, dass ein Bedürfnis nach der Entwicklung und Ausübung dieser Fähigkeiten besteht.

Weiterhin gehört es zum guten Leben, dass jedes Individuum die Fähigkeiten, die es entwickeln möchte, frei und bewusst selbst auswählt. Eng verbunden mit der Entwicklung menschlicher Anlagen ist der Begriff der Selbstverwirklichung. Dieser Ausdruck umschreibt die Verwirklichung der Möglichkeiten eines Individuums, also die Möglichkeit, den individuellen Fähigkeiten und Talenten Ausdruck zu verleihen.3 Bei Marx wird das menschliche Bedürfnis nach Selbstverwirklichung wie folgt umschrieben: „Der Mensch, in dem seine eigne Verwirklichung, als innere Nothwendigkeit, als Noth existirt“ (Marx 1844, S. 169). Erreicht wird die Selbstverwirklichung im Rahmen der menschlichen Tätigkeit. Dies setzt wiederum voraus, dass die Arbeit des Menschen einen produktiven und schöpferischen Charakter annimmt, „damit die Arbeit travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums sei“ (Grundrisse, S. 505).

In diesem Zusammenhang ist mit äußerstem Nachdruck auf die von Marx vertretene Idee des Individuums hinzuweisen. Wenn Marx von der vollen Entfaltung des Individuums spricht, meint er damit die Entfaltung der jeweiligen individuellen Anlagen eines bestimmten Menschen. Damit geht es Marx gerade nicht um die Entwicklung der Fähigkeiten eines kollektiven Subjektes, also um die Gesamtheit der Fähigkeiten einer Klasse oder der Gesellschaft, sondern immer um den einzelnen Menschen. Das Interesse Marx’ am Individuum durchläuft als Kerngedanke sämtliche seiner Werke, in denen er stets die „Entwicklung des einzelnen Individuums, ... also die höhere Entwicklung der Individualität“ (MEW 26.2, S. 111) anspricht und „die volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ (MEW 23, S. 618) bzw. „die volle Entwicklung der Individualität“ (MEW 25, S. 883) fordert. Nivellierungstendenzen bezüglich der Individuen sind bei Marx keinesfalls anzutreffen. Marx wen-det sich vielmehr gegen egalitäre Entwicklungen. Dies zeigt unter anderem das von ihm angestrebte System der Produktion und Distribution in einer entfremdungsfreien Gesellschaft, welches sich bekanntlich umschreiben lässt mit den Worten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (MEW 19, S. 21). Weil dadurch die Verschiedenheit der Fähigkeiten und Bedürfnisse anerkannt wird, handelt es sich hier nicht um einen egalitären Leitspruch (vgl. Wood 1981, S. 283, S. 296).

Allerdings geht es im Rahmen des guten Lebens nicht darum, dass jede Person alle nur denkbaren menschlichen Fähigkeiten bis zur perfekten Ausprägung entwickelt. Tatsächlich strebt Marx lediglich die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten an, die in einem bestimmten Menschen potentiell vorhanden sind. Dieser Standpunkt wird in der Auseinandersetzung mit Max Stirner verdeutlicht, in der Marx und Engels ihre Zielvorstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung wie folgt beschreiben: Es soll „nicht, wie Sancho sich einbildet, Jeder an Raffaels Statt arbeiten, sondern Jeder, in dem ein Raffael steckt, sich ungehindert ausbilden können“ (MEW 3, S. 377). Dementsprechend wird keine Ausbildung in allen existierenden Tätigkeitsbereichen angestrebt, sondern lediglich die „in jedem beliebigen Zweige“ (MEW 3, S. 33). Nicht jeder soll also z. B. jagen, aber wenn eine Person aufgrund ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse jagen kann und will, soll sie auch in die Lage versetzt werden, diese Tätigkeit auszuüben.

Zusammenfassend kann die Entwicklung menschlicher Kräfte und Fähigkeiten mit dem Begriff der Selbstverwirklichung gleichgesetzt werden, sofern die Selbstverwirklichung verstanden wird als die freie, befriedigende Entwicklung und Anwendung aller im Menschen existierenden individuellen Fähigkeiten, wobei die Entfaltung der menschlichen Kräfte einen Selbstzweck darstellt. Das gute Leben impliziert mithin ein vielseitig entwickeltes, ausgebildetes und befähigtes Individuum, welches seine Fertigkeiten sowie Kompetenzen ständig erweitert.

Die menschlichen Bedürfnisse im Rahmen des guten Lebens

In den „Bemerkungen zu James Mill“ definiert Marx die Bedürfnisse nach Gegenständen als die „Sehnsucht nach diesen ... Gegenständen“ (MEW 40, S. 452). Dabei ist zunächst auf die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Wünschen einzugehen. Wenn Menschen ein Bedürfnis nach etwas verspüren, dann benötigen sie - entsprechend dem englischen Begriff ‚need’ - diesen Gegenstand, sodass die nicht stattfindende Befriedigung eines Bedürfnisses als schwerwiegender Mangel empfunden wird. Der Terminus des Bedürfnisses hat für Marx demnach etwas mit Benötigen und Not zu tun. Dieser Zusammenhang wird bei Marx sichtbar, wenn er zusammen mit Engels für den Menschen feststellt: „... jeder seiner Lebenstriebe wird zum Bedürfnis, zur Not“ (MEW 2, S. 127). Wenn Marx von Bedürfnissen spricht, meint er damit das intensive Verlangen nach Gegenständen, im Gegensatz zu einem Wunsch. Die Bedürfnisse sind deshalb für ihn „eng mit dem Begriff der Notwendigkeit verbunden“ (Kusnezow 1988, S. 41).

In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass es Marx, so wie allen „großen Meistern des Lebens“, stets um die objektiv gültigen Bedürfnisse geht, d. h. um die Bedürfnisse, die zu einem wahrhaft guten Leben mit einem wirklichen ‚Wohl-Sein’ führen. Marx geht es um die wirklichen Bedürfnisse des Menschen, nicht aber die „synthetischen, künstlich hervorgerufenen“ (Fromm 1963, S. 64 f.). Die Bedürfnisse, die die Menschen in einer kapitalistischen Welt besitzen, sind als entfremdete Bedürfnisse einzustufen und entsprechen deshalb nicht den Bedürfnissen, die zum guten Leben gehören. Da Bedürfnisse nach Auffassung von Marx „aus der Gesellschaft“ (MEW 6, S. 412) entspringen, kann der genaue Inhalt der Bedürfnisse, die zum guten Leben gehören, auch erst innerhalb der neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herausgearbeitet werden (vgl. Bahro 1977, S. 508). Marx und Engels dokumentieren dies durch eine im Manuskript gestrichene Passage der „Deutschen Ideologie“: „Welche [Begierden] nun unter der kommunisti[schen Organ]isation bloß verändert und [welche aufgelöst] werden, läßt [sich nur auf prakt]ische Weise, durch [Veränderung der wirk]lichen, praktischen [»Begierden«, nicht durch] Verglei[chungen mit früheren g]eschichtlichen [Verhältnissen, entscheiden.]“ (MEW 3, S. 239).

Selbst wenn die konkreten Inhalte der entwickelten Bedürfnisse, die zum guten Leben gehören, gegenwärtig unbekannt sind, so können dennoch einige Aussagen über ihre Entwicklungsrichtung vorgestellt werden. So ist davon auszugehen, dass innerhalb des individuellen Bedürfnissystems des guten Lebens die materiellen Bedürfnisse nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Dies hängt primär damit zusammen, dass der Umfang der Gegenstände, die zur Kompensation des Arbeitsleids erforderlich sind, abnimmt, wenn mit der Ausdehnung des Bereichs der produktiven Tätigkeiten dieses Arbeitsleid reduziert wird. Eine gewichtigere Rolle werden dann die immateriellen Bedürfnisse einnehmen, d. h. unter anderem das Bedürfnis nach Freizeit und freier Betätigung, das Entwicklungsbedürfnis der Persönlichkeit sowie das Gemeinschaftsbedürfnis.4

Neben der These vom Rückgang der materiellen Bedürfnisse beim unentfremdeten Menschen vertritt Marx zusätzlich die Ansicht, dass der unentfremdete Mensch nur eine begrenzte Menge von materiellen Gebrauchsgütern benötigt. Über dieses Quantum hinaus bedeutet ein Mehr an Gütern keinerlei Verbesserung für den betroffenen Menschen. Anstatt zusätzliche materielle Güter zu konsumieren, ist es sinnvoller, die vorhandene Zeit dafür zu nutzen, Tätigkeiten zur eigenen Entwicklung und Entfaltung auszuüben. Einem anonymem Pamphlet aus dem Jahre 1821 zustimmend, finden wir bei Marx die folgende Feststellung: „Reichtum ist verfügbare Zeit, und sonst nichts“, d. h. der wahre Reichtum ist „disposable time, freie Zeit für ihre Entwicklung“ (MEW 26.3, S. 251 f.), wobei mit ‚ihre’ die Arbeiter gemeint sind. Der Begriff der ‚freien Zeit’ wird von Marx definiert als jene Zeit, die nicht für die Produktion der unmittelbaren Subsistenzgüter erforderlich ist und statt dessen für die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten genutzt wird. Daher gilt: „Aber free time, disposable time, ist der Reichtum selbst - teils zum Ge­nuß der Produkte, teils zur free activity, die nicht wie die labour durch den Zwang eines äußren Zwecks bestimmt ist ...“ (MEW 26.3, S. 253). Was der Mensch braucht, ist „Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse“ (MEW 23, S. 246). Darüber hinaus beinhaltet das gute Leben auch ein ausgeprägtes Interesse an der Entwicklung und Ausbildung der individuellen Anlagen sowie an der Ausübung genussvoller Aktivitäten. Der zeitverbrauchende Konsum materieller Güter verringert die Möglichkeiten dafür, sodass er aus diesem Grunde eingeschränkt wird.

Marx’ außerordentlich facettenreiche Theorie der Bedürfnisse lässt sich bezüglich jener Bedürfnisse, die dem guten Leben entsprechen, wie folgt zusammenfassen: Soweit Marx von Bedürfnissen spricht, bezieht er sich auf diejenigen Gegenstände, die ein Mensch benötigt, - dadurch unterscheidet sich ein menschliches Bedürfnis im Marxschen Sinn von einem Wunsch. Die zum Konzept des guten Lebens gehörenden Bedürfnisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie hinsichtlich materieller Gegenstände begrenzt sind, während die immateriellen Bedürfnisse umfangreich ausfallen. Es findet eine Verlagerung der Bedürfnisse „von der materiellen in die Sphäre der Selbstverwirklichung“ (Ignatieff 1993, S. 139) statt. Die materialistische Konzeption der Entstehung von Bedürfnissen sorgt schließlich dafür, dass die zum guten Leben gehörenden menschlichen Bedürfnisse erst bekannt sind, wenn alle Lebensbedingungen des Menschen ihren entfremdeten und entfremdenden Charakter verloren haben.

Der Mensch als gesellschaftliches Beziehungswesen

Ein letzter Aspekt des guten Lebens hängt mit der Tatsache zusammen, dass der Mensch auf das Zusammenleben in der Gesellschaft anderer Menschen angewiesen ist, und sich dieser Beziehung zu anderen Menschen bewusst ist. Engels umschreibt „die auf gegenseitige Neigung beruhenden Verhältnisse der Menschen zueinander“ unter anderem mit den Begriffen „Freundschaft, Mitleid, Aufopferung usw.“ (MEW 21, S. 284). Da „der Mensch von Natur gesellschaftlich ist“, verfügt er über die mit diesem gesellschaftlichen Wesen zusammenhängenden Eigenschaften, d. h. er ist z. B. mit „der ursprünglichen Güte“ (MEW 2, S. 138) ausgestattet. Zum Menschen, der „im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon“ (Grundrisse, S. 6) ist, gehören somit neben dem Streben nach Selbsterhaltung auch soziale Eigenschaften, wie die Opferbereitschaft, die Rücksichtnahme, die Toleranz, die Gewaltlosigkeit usw.

Das soziale Wesen des Menschen äußert sich deshalb nicht in einem rein altruistisch motivierten Verhalten, sondern vielmehr in der Ablehnung des puren Egoismus. Zum sozialen Wesen der Menschen gehört es, dass sie „nicht als reine Ichs“ (MEW 3, S. 423) leben, sondern auf die Mitmenschen achten. Entscheidend ist die Abkehr von der Selbstsucht, also von einem Verhalten, das nur an der eigenen Person interessiert ist, alles für sich will und ohne jegliche Rücksichten auf die Mitmenschen ausgeübt wird.

Insgesamt lässt sich das soziale Element des Menschen dadurch beschreiben, dass der Mensch als gesellschaftliches Beziehungswesen auf andere Menschen angewiesen ist, sodass sein Dasein nur durch das Zusammenleben mit diesen anderen Personen möglich ist. Beim guten Leben empfindet der Mensch die Kooperation mit seinen Mitmenschen als genussbringend und sieht die kooperative Tätigkeit als Selbstzweck an. Altruistische Motivationen sind für diese Eigenschaft des Menschen hingegen nicht erforderlich. Gerade der Aspekt des sozialen Wesens des Menschen verdeutlicht, dass Marx im Rahmen seines Menschenbildes und seinen Vorstellungen vom guten Leben extreme, miteinander konkurrierende Wertvorstellungen verbindet. Einerseits geht es ihm um die freie Entfaltung der individuellen Persönlichkeit durch selbstbestimmte Handlungen sowie um den individuellen Lebensgenuss. Andererseits aber bedeutet diese Vorstellung nicht die maximale und ungehemmte Ausnutzung individueller Freiräume. Ebenso wenig geht es um die maximale Selbstverwirklichung und Bedürfnisbefriedigung. Statt dessen kommt es vielmehr zu einer sozialen Einbettung des Individuums, weil der wahre Mensch nach Ansicht von Marx auch über die Fähigkeit der Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle, der Rücksichtnahme und der Kooperation verfügt. Das von Marx vertretene Menschenbild und die damit verknüpfte Vorstellung vom guten Leben entsprechen folglich dem, was in der neueren Literatur als ‚Wertsynthese’, ‚Wertemischung’ oder ‚Wertkompromiss’ bezeichnet wird.5

Zusammenfassende Bemerkungen

Die Marxsche Vorstellung vom guten Leben lässt sich alternativ mit der Existenzweise des »Seins« in Abgrenzung zur Existenzweise des »Habens« beschreiben.6 Die Existenzweise des Habens besteht aus dem Besitzergreifen und dem Besitzen von Gegenständen, von denen andere Personen ausgeschlossen werden. Die heute wohl wichtigste Form des Habens ist die des konsumtiven Verbrauchens, was eine passive Art des Ver­gnügens darstellt. Im Gegensatz dazu ist das Leben gemäß des Prinzips des Seins mit Lebendigkeit und Aktivitäten verbunden. Das Sein ist zu verstehen als ein Aktiv-Sein im Sinne der produktiven, schöpferischen, kreativen und selbstbestimmten Anwendung der menschlichen Kräfte und bezieht sich auf Erlebnisse. Damit verbunden ist eine aktive Form der Freude. Das gute Leben erweist sich nach Ansicht von Marx als die selbstzweckhafte Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten samt deren aktiver Anwendung. Es ist ein Leben, in dem konsumorientierte Aktivitäten zurückgedrängt werden, und statt dessen ein subjektives Wohlbefinden durch die aktive Betätigung menschlicher Fähigkeiten erreicht wird. Entscheidend für die menschliche Zufriedenheit sind weniger die Aspekte des materiellen Konsums und der Freizeit - verstanden als Gegensatz zur Arbeitszeit -, sondern vielmehr die Qualität und Inhalte der individuellen Tätigkeiten.

© Thieß Petersen, 2003

Literatur

Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München 1994.

Bahro, Rudolf: Die Alternative, Köln / Frankfurt a.M. 1977.

Braun, Anneliese: Emanzipatorische Potentiale in Konzepten eines »guten Lebens«, in: HINTERGRUND, 2002, 15. Jg., Heft IV, S. 19-35.

Fetscher, Iring (Hrsg.): Grundbegriffe des Marxismus, 2. Auflage, Hamburg 1979.

Fleischer, Helmut: Sozialismus, Humanis­mus, Anthropologie, in: Ernst Bloch (Hrsg.): Marxismus und Anthropologie. Festschrift für Leo Kofler, Bochum 1980, S. 47-61.

Fromm, Erich: Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt a.M. 1963.

Fromm, Erich: Haben oder Sein, 22. Auflage, München 1993.

Gollwitzer, Helmut: Zum Verständnis des Menschen beim jungen Marx, in: Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Festschrift für Günther Dehn, Neukirchen 1957, S. 183-203.

Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft, Hamburg 1994.

Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg 1991.

Hepp, Gerd: Wertsynthese. Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1989, B 46, S. 15-22.

Ignatieff, Michael: Wovon lebt der Mensch, Nördlingen 1993.

Klages, Helmut: Wertorientierungen im Wandel, Frankfurt a.M. / New York 1984, S. 17-38, S. 164-176.

Kofler, Leo: Das Prinzip der Arbeit in der Marxschen und in der Gehlenschen Anthropologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1958, 78. Jg., 1. Halbband, S. 71-86.

Krauss, Hartmut: Thesen zur Thematik des »guten Lebens« aus kritisch-materialistischer Sicht, in: HINTERGRUND, 2002, 15. Jg., Heft IV, S. 3-18.

Kusnezow, Wassili: Zu den philosophischen Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels über das Wesen und die Arten der Bedürfnisse, in: Marx-Engels-Jahrbuch 11, Berlin 1988, S. 39-72.

Landshut, Siegfried: Einleitung, in: Karl Marx: Die Frühschriften, Stuttgart 1953, S. IX-LX.

Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke, Bd. 1ff., Berlin 1956ff. (im Folgenden: MEW)

Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte vom Jahre 1844, Einleitung und Anmerkungen von Joachim Höppner, 4. Aufl., Leipzig 1988 (im Folgenden: ÖPM).

Marx, Karl: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, 6. Kapitel des ersten Bandes des 'Kapitals', Entwurf 1863 / 1864, Berlin 1988.

Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt a.M. / Wien o. J (im Folgenden: Grundrisse).

Petersen, Thieß: Entfremdung: Begriff und Erscheinungsform, in: Z - Nr. 49, 13. Jg., 2002, S. 141 - 153.

Schaff, Adam: Marxismus und das menschliche Individuum, aus dem Polnischen übersetzt von Erna Reifer, Wien/Frankfurt/Zürich 1965.

Wood, Allen: Marx and Equality, in: Issues in Marxist Philosophy, 1981, Vol. 4, zitiert nach dem Wiederabdruck in: John E. Roemer (Hrsg.): Analytical Marxism, Cambridge 1986, S. 283-303.


Anmerkungen:

1 Vgl. Landshut, 1953, XLIII f.; Fleischer 1980, S. 48.

2 Vgl. Gorz 1994, S. 27-29, S. 218, S. 236-238, S. 311 f.

3 Bei Kofler findet sich dazu die folgende Charakterisierung: „Diese Selbstverwirklichung besteht also in der Verwirklichung, d. h. Aktivierung und Weiterentwicklung aller menschlichen Anlagen mit Hilfe der freien Tätigkeit, des Arbeits-Spiels zum Zwecke der ständigen Annäherung an das Ide-al der harmonisch ausgebildeten Persönlichkeit.“ (Kofler 1958, S. 85)

4 Vgl. Marx 1844, S. 158-169, S. 176-182; MEW 4, S. 157; MEW 26.3, S. 253.

5 Vgl. Klages 1984, S. 17-38, S. 164-176. Hepp spricht in diesem Zusammenhang von „autonomer Selbstbeherrschung“ bzw. davon, dass eine „’selbstbegrenzte Selbstentfaltung’“ vorliegt, die „Rücksichtnahme auf die Gemeinschaft, Kooperation, Mitmenschlichkeit, Toleranz, Dienst- oder Opferbereitschaft, Pflichtbewußtsein oder die Fähigkeit des Sich-Einordnen-Könnens“ beinhaltet, vgl. Hepp 1989, S. 19-21.

6 Vgl. Fromm 1993, vor allem S. 27-54, S. 73-126.











 

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