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Beiträge zur Theorie  










Morus Markard

Gramsci und psychologische Praxis oder:
Psychologische Praxis als Austragungsort ideologischer Konflikte

(unkorrigierter Beitrag zur Gramsci-Tagung des InkriT, 18.- 20. 04. 1997)

Was die Kritische Psychologie angeht, wie sie in Berlin von Holzkamp und seinem Arbeitszusammenhang, dem ich mich seit langem zurechne, entwickelt worden ist, so kann überhaupt keine Rede davon sein, daß Gramsci bzw. sein Werk bei der Ausarbeitung unseres Ansatzes irgendeine Rolle gespielt hätte, und das soll auch hier nicht vorgespiegelt werden.

Aber man kann wohl sagen, daß kritisch-psychologisch inspirierte professionelle Praxis auf Probleme stößt, die sich mit Gramsci, den wir zu rezipieren beginnen, vielleicht besser verstehen lassen. Es kann hier jedoch nur darum gehen, einen, allerdings, wie ich meine, wesentlichen Aspekt, psychologischer Praxis zu beleuchten, für den sich Gramsci - in größerem Rahmen als dem der Psychologie - interessierte: das Verhältnis wissenschaftlichen Wissens zum von ihm sogenannten "Alltagsverstand", insbesondere natürlich des wissenschaftlichen Wissens "demokratischer" WissenschaftlerInnen zum "Alltagsverstand", also jener Wissenschaftlernnen, die, mit Gramsci formuliert, sich in ihrer Arbeit nicht auf das "eigene physische Individuum beschränk(en)", sondern in einem "tätigen gesellschaftlichen Verhältnis zu Veränderung der kulturellen Umwelt" sehen ("Philosophie der Praxis [PP], 1336).

Ich nehme diese Spezifizierung "demokratische" PsychologInnen erstens deswegen vor, weil es für PsychologInnen nicht üblich ist und es ihnen in ihrer traditionellen Aus- und Weiterbildung nicht nahegelegt wird, ihre Arbeit in einem "tätigen gesellschaftlichen Verhältnis zu Veränderung der kulturellen Umwelt" sehen. Traditionelle Psychologie und ihre Praxis laufen ja im Gegenteil darauf hinaus, sich auf das Individuum und dessen Zurechtkommen in den bestensfalls bloß als abstrakter Rahmen fungierenden Verhältnissen zu fixieren; das gilt für die PsychologInnen selber wie ihre Klienten und die durch sie gebildete Dyade. Der Witz ist dabei nur, daß sie gerade darin auch ihre kulturelle Umwelt - systemfunktional freilich - tangieren. Das Zurechtkommen als Existenzform ist ja mit einer Denkweise verbunden, in der traditionelle Psychologie und Alltagsweisheit harmonieren, in der Ausblendung "widersprüchlicher und gegensätzlicher Interessen" nämlich, deren "Versöhnung" Gramsci als das gemeinsame Merkmal nicht-marxistischer "Ideologien" sieht (PP, 1325).
Ich nehme die Spezifizierung "demokratische" PsychologInnen zweitens deswegen vor, weil sie eine Voraussetzung dafür ist zu begreifen, daß ein emanzipatorisches Lernen aus der Praxis politische und theoretische Voraussetzungen erfordert - und die persönliche (und ggf.) konfliktgeladene Bereitschaft dazu. Wenn das so ist, bedeutet das auch, daß unser in Praxisforschungszusammenhängen von Holzkamp (1988) vorgeschlagenes Konzept des "gesellschaftlich-subjektiven Zusammenhangs- und Widerspruchswissen" revidiert, genauer: in seiner Geltung eingeschränkt werden muß. Mit diesem Konzept sollte nämlich faßbar werden, daß, obwohl offizielle psychologische Theorien und vor allem methodologische Vorstellungen den Zusammenhang von psychischem Leid oder psychischen Problemen und bürgerlichen Lebensumständen ausblenden, die, wenn man so will, an der Praxisfront arbeitenden PsychologInnen, mit eben diesem Zusammenhang konfrontiert sind, damit Erfahrungen machen und somit - zumindest rudimentär - ein Zusammenhangs- und Widerspruchswissen erwerben, das in Praxisforschung expliziert und entwickelt werden kann und muß - entwickelt werden kann, weil die Grundlagen dafür eben gegeben sind, entwickelt werden muß, weil diese Entwicklung unter Handlungsdruck und ohne wissenschaftliche Unterstützung zumindest unwahrscheinlich ist.

Das Problem dieser Konstruktion liegt nun darin, daß sie die Theoretizität der Erfahrung unterschätzt, d.h. den Umstand, daß die theoretischen Verkürzungen bis Ausblendungen des Mensch-Welt-Zusammenhangs auch dessen individuelle Ausblendung strukturieren. Dies wiederum wird dadurch begünstigt, daß die Gesellschaftlichkeit menschlicher Existenz ja kein Gegenstand unmittelbarer Erfahrung ist, sondern nur theoretisch rekonstruiert werden kann. Soziale Beziehungen sind zwar unmittelbar anschaulich, ihre gesellschaftliche Strukturiertheit hingegen nicht. Das ist übrigens einer der Gründe für die "Mehr-Deutigkeit" des Psychischen bzw. sozialer Beziehungen.

Damit sind wir bei dem Punkt, daß psychologische Praxis immer die Bildung von Theorien über Problemursachen und ­lösungen impliziert, in der Standardform also die Bildung von Wenn-Dann-Zusammenhängen. Meine weiteren Überlegen will ich nun von dem schon erwähnten Umstand aus entwickeln, daß in psychologischer Praxis - Diagnostik, Beratung, Intervention - die / der Professionelle mit der Theorienbildung nicht alleine steht, sondern immer auf ein personales Gegenüber trifft, das selber implizite oder explizite Theorien über seine Lage im Kopf hat, so daß ein wesentliches Moment psychologisches Praxis - formal gesehen - in der potentiellen Konkurrenz und Reformulierung von Theorien besteht. (Das hat übrigens die Implikation, wie Holzkamp 1998 unter Bezug auf unsere Praxisforschung gezeigt hat, daß der Theorie-Praxis-Bruch in der Psychologie eigentlich als spezifisches Theorie-Theorie-Verhältnis gefaßt werden muß, als ein Bruch zwischen akademischen und praxisbezogenen Theoretisierungen nämlich.) Daß dieser Bruch als Theorie-Praxis-Bruch erscheint, wäre demgemäß selber eine ideologische Form, in der sich eine Seite als "praktisch" und damit ja auch als empirisch in gewisser Weise überlegen setzt. Was aber empirisch der "der Fall" ist, ist gerade theoretisch umstritten und praktisch keineswegs klar.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist der spezielle Fall des Theorie-Theorie-Verhältnisses, in dem zwischen Professionellen und Nichtprofessionellen theoretisch umstritten ist, was der Fall ist, was Gründe, Ursachen, Konsequenzen und Lösungen problematischer Sachverhalte sind oder sein können. Wenn man nun erstens bedenkt, in welchem Ausmaße individuelles Denken die Reproduktion gesellschaftlicher Denkformen ist, und zweitens, daß es hier um lebenspraxis-bezogene Probleme geht, wird deutlich, daß es im psychologischen Theorienstreit zwischen Professionellen und Nichtprofessionellen auch um ideologische Auseinandersetzungen geht, daß also dabei Ideologien gegeneinander stehen, und insofern die Professionellen nolens volens in politische Auseinandersetzungen verwickelt sind.

Ich finde, daß Gramscis Überlegungen zur Änderung der "Volksmentalität" (PP 1334), zu Ideologien, die "geschichtliche Fakten" sind, die "man bekämpfen und in ihrem Wesen als Herrschaftsinstrumente enthüllen muß" (PP 1325), und seine Polemik, es sei "Hirngespinst verknöcherter Intellektueller zu glauben, eine Weltauffassung könne durch Kritiken rationaler Art zerstört werden" (PP 1301), sehr dazu anregen, sich mit dem politischen Charakter psychologischer Praxis, die ja über Lebenspraxiskritiken bloß rationaler Art hinausgeht, auseinanderzusetzen, ihn praktisch - und psychologie-kritisch zu befördern. Dies auszubauen, würde übrigens auch einschließen müssen, auf die Überlegungen der Handlungsforschung aus der und infolge der Studentenbewegung zurückzukommen, für die ja die Einheit von Erkennen und Verändern auf Lebenspraxis und deren politische Dimensionen gerichtet war. Diese Fragen sind zwar im subjektwissenschaftlichen Bezug der Kritischen Psychologie auf die Handlungsfähigkeit der Menschen als Forschungsfragen im Verhältnis von Forschern und sog. Mitforschern angetippt worden, m.E. aber noch zu wenig, allemal zu wenig bezogen auf diejenige psychologische Praxis, die nicht Forschung im engeren Sinne ist, in der also Veränderungsprozesse nicht so systematisch beschrieben, reflektiert, methodisch kontrolliert, auf ihre Geltung hinterfragt und auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin befragt werden wie in Forschungskontexten i.e.S.

Ich halte das Problem (der Reflexion) des Politischen in der psychologischen Praxis aus mindestens zwei Gründen für wichtig: erstens, weil die Psychologie sowohl als Fach im allgemeinen als auch in ihrer aktuellen Entwicklung im besonderen dazu neigt, Probleme zu entinhaltlichen, sie von gesellschaftlicher Bezüge zu reinigen, und zweitens, weil, sich dazu bewußt zu verhalten, Voraussetzung dafür ist, kapitalistische Lebensumstände als Teil psychologischer Probleme zu begreifen, sich selber als Teil gesellschaftlicher Veränderungen zu verstehen und so dafür erforderliches "gesellschaftlich-subjektives Zusammenhangs- und Widerspruchswissen" erwerben, entwickeln und verbreiten zu können.

Dies alles bedeutet auch, daß die für die Kritische Psychologie sozusagen klassische Frage nach der Relevanz der Psychologie, also danach, wieweit sie emanzipatorisch-praktisch bedeutsam sein kann, wegen der Entwicklung des Faches, seiner gesellschaftlichen Funktionalität und gegenüber damit sich entwickelnden ständischen Interessen der PsychologInnen immer wieder neu (selbst­) kritisch gestellt werden muß.

In der zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich das Gemeinte noch an einigen Beispielen veranschaulichen und konkretisieren, wobei ich mich auf meine eigenen Praxisforschungs-Erfahrungen in unterschiedlichen Projekten stützen kann.

1. Es ist durchaus offen und potentiell umstritten, was ein psychologisches Problem ist, anders: wann und von wem ein problematisch empfundener Sachverhalt als psychologisches Problem definiert wird. Die Frage gewinnt natürlich in dem Maße an Aktualität und Bedeutung, in dem die Zahl der PsychologInnen steigt, die Arbeit und damit Fälle und damit psychologische Probleme, das heißt also Probleme brauchen, die als psychologische definierbar sind. Ich muß hier ermutlich nicht lange begründen, daß die hier bestehende Falle die der Psychologisierung ist, der Reduktion gesellschaftlicher auf psychologische Fragen. Selbstkritisch zu fragen ist also immer, wie es eigentlich zustande kommt, daß ein Problem als sinnvollerweise einer psychologischen 'Bearbeitung' anheimzugeben erklärt wird. Die damit verbundenen Fragen und Antworten sind sowohl innerpsychologisch theorieabhängig und dementsprechend umstritten und, wie unsere Erfahrungen zeigen, auch zwischen Professionellen und Nichtprofessionellen, die ja auch Theorien über Psychologie im allgemeinen und deren Geltungsbereich im Kopf haben. Zu hinterfragen ist dabei u.a., wer wessen Problem wie definiert. Wo etwa werden Sachverhalte wie Wohnungsgröße und Familienbeziehungen, organisatorische Fragen in der ambulanten Versorgung körperlich Behinderter und die Beziehungen zwischen Helfern und Behinderten lediglich auf psychologische Probleme zwischen Personen verkürzt? Wo dies geschieht, finden politisch und ideologisch anti-emanzipatorische Problemverschiebungen statt.
Ein aktueller, potentieller Sonderfall dieses Problems ist m.E. übrigens die sozialarbeiterisch-psychologische Verschiebung faschisticher Jugendgewalt.

2. Massiv treten derartige Verkürzungen in Erwartungen an psychologische Beratung, insbesondere an Therapie auf. Hier können Aufgaben, die an psychologische Praxis herangetragen werden, die darin bestehen, PsychologInnen für die Versäumnisse von Auftraggebern einzuspannen, um die Bedeutung realer Behinderungen unter Ausklammerung und in Überspringen (der Veränderbarkeit) problematischer Lebensumstände zu lindern; es können aber auch die Betroffenen selbst mit der Hoffnung an PsychologInnen herantreten, ihre eigene Lebensführung innerhalb problematisch werdender Situationen an Fachleute delegierenn zu können, was mit einer von gesellschaftlichen Bezügen losgelösten abstrakten und letztlich unerfüllbaren Kompetenzerwartung harmoniert. Diese gedankliche Ausgrenzung des Zusammenhangs individueller und gesellschaftlicher Reproduktion bedeutet gleichzeitig eine Entgrenzung der Psychologie und ihrer Praxis.
Dabei begünstigt die subjektive Unverfügbarkeit von Situationen einerseits das sog. "Bedingtheitsdenken", also ein Denken, wonach je ich quasi Spielball der Bedingungen bin, ein Denken, das in der experimentell-statistischen Psychologie auf den methodologischen Begriff gebracht ist. Therapeutisches Denken kann als bloß abstrakte Alternative dazu gefaßt werden, wenn eine frei flottierende Subjektivität sich in Interpretationen und Selbst- und Umdeutungen erschöpft - sich also gerade nicht in einem "tätigen gesellschaftlichen Verhältnis zu Veränderung der kulturellen Umwelt" sieht, um Gramscis Formulireung von oben noch einmal aufzugreifen.
Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß sich gerade diese Unerfüllbarkeit der erwähnten Kompetenzerwartung in ein sich perpetuierendes Bemühen um ihre Erfüllung verkehrt, Therapie also zur mehr oder weniger selbstverständlichen Lebensbegleitung im individualisierten Modus des interpretatorischen Zurechtkommens wird: Therapie als Religionsersatz, ähnlich wie Modereligionen sich psychologischer Mätzchen bedienen; aber auch - in der Formulierung von Jochen Kalpein, der einen Therapieverlauf untersuchte - : Therapie als "Erlebnis für Gesunde", als der Versuch, sich seiner selber als Monade klar zu werden, der es darum ankommt, die unveränderte Welt nach wechselnden Bedürfnissen zu interpretieren.

3. Die Ausblendung gesellschaftlicher Bezüge läßt sich sich auch an jener binnenpsychologischen bzw. innerprofessionellen Herangehensweise verdeutlichen, die "Supervision" genannt wird. Hier imponierte uns, wie Arbeitsprobleme von PsychologInnen doppelt entinhaltlich werden: Durch Ausblendung der konkreten Lebensbezüge der KlientInnen und der institutionellen und fachlichen Zwänge der PsychologInnen selber. Zunächst werden die auftretenden Probleme auf Beziehungsprobleme zwischen PsychologInnen und KlientInnen redziert, womit dann der Boden dafür bereitet ist, diese Beziehungsprobleme auf persönliche Probleme der PsychologInnen zurückzuführen, womit wiederum das Feld psychologischer Bearbeitung die PsychologIn selber ist, die auf diese Weise sozial darin bestärkt oder enthemmt wird, in ihrer Praxis konkrete Lebensproblem zu entwichtigen.

Bei diesen Veranschaulichungen stand im Vordergrund, wie das traditionell-psychologische Denken per se entpolitisierend wirkt. Ich möchte aber noch zumindest andeuten, daß dies alles zwar naheliegt, aber nicht zwingend ist. Wenn PsychologInnen bewußt gegen den Sog dieses Haupt-Stroms der psychologischen Praxis anschwimmen wollen, müssen sie sich aber, wie oben skizziert, im klaren sein, daß sie erstens mit den geschilderten Erwartungen konfrontiert werden, und daß sie zweitens, vor allem, sofern sie sich nicht darauf einlassen, in inhaltliche Kontroversen verwickelt werden, etwa in Fragen der Kindererzeihung und der darin enthaltenen entsubjektivierenden Planungs- und Anpassungszumutungen - bis hin zu der Frage, ab wann ein 'Ebenenwechsel' von psychologischer zu direkt administrativer oder politischer Praxis notwendig wird.

Ich komme zum Schluß. Bei seinen Überlegungen, wie unterschiedliche Schichten kritische Denkanstöße gegen können, spricht Gramsci von Berufen, die, "in ihrer spezialisierten Tätigkeit einen nicht unerheblichen kulturellen Anteil (umschließen)" (PP, 1392). Sicher gehört die Psychologie dazu. M.E. entwickeln sich nicht unerhebliche Teile der psychologischen Praxis funktional in die Richtung enthistorisierender, individualisierender und entpolitisierende Welterklärungen bzw. Verschleierungen des konkret-historischen Mensch-Welt-Zusammenhangs, in Richtung auf konstruktivistisch sich selbstbescheidende Eingemeindungen in die Welt, wie sie ist, im therapeutischen Extrem in Richtung auf die klassische Funktion der Religion, allerdings mit einem diesseitigen Heilsversprechen der Selbstkongruenz für die Therapie-Junkies. Psychologie als Lehre vom richtigen Leben im falschen, mit Adorno (1951, 42) gesprochen.
Es scheint mir für kritische PsychologInnen schwerer zu werden, sozusagen psychologie-immanent gegen die bürgerliche Konkurrenz emanzipatorisch anzuarbeiten und dabei Geld zu verdienen. Wir brauchen dringend - für psychologische Praxis wie für psychologische Forschungsprojekte - "linke" Diskussionszusammenhänge, in denen die aufgeworfenen Fragen - zwischen emanzipatorisch-wissenschaftlichem Anspruch, dem Sog des inner- und außerakademischen psychologischen mainstream und der Notwendigkeit materieller individueller Reproduktion - diskutiert werden können, und in denen psychologische Praxis als Moment politisch-kultureller Veränderung begriffen wird.



© Morus Markard, Berlin 1997












 

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