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Buchveröffentlichungen  











Bruno Mander

Rezension

Schattenseiten des DDR-Antifaschismus

Annette Leo/Peter Reif-Spirek (Hrsg.): Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus Metropol Verlag, Berlin 2001, 319 Seiten


Zwei Jahre nach "Helden, Täter und Verräter" (ArSti Nr. 130, Dezember 2000, S. 38) gaben Leo und Ralf-Spirek einen weiteren Sammelband mit 15 Beiträgen von 13 Autorinnen und Autoren über Schattenseiten des Antifaschismus in der DDR heraus. Für sich genommen steht das einer ausgewogenen Würdigung des Gesamtkomplexes entgegen. Doch wurden diese Seiten in der Vergangenheit verschwiegen oder geschönt, weshalb Nachholbedarf besteht. Ohne sie lässt sich kein richtiges Gesamtbild gewinnen.

Thema der Einleitung Jürgen Danyels vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam ist die zehnjährige Diskussion und Kontroverse über den DDR-Antifaschismus. Es ist interessant, wird aber vom Autor oberflächlich abgehandelt. Sehr konkret werden hingegen Reif-Spirek, Vizechef der Thüringer Landesstelle für Politische Bildung, und die Leiterin der Gedenkstätte für Opfer der "Euthanasie" Bernburg, Ute Hoffmann. Ersterer befasst sich mit Jussuf Ibrahim (1877-1953), einem "Verdienten Arzt des Volkes", der noch vor kurzem als "Retter der Säuglinge und Wohltäter der Menschheit" galt. (S. 23) Forschungen erst in West-, nun auch in Ostdeutschland ergaben, dass dieser wackere Kinderarzt und Liberaldemokrat in der Nazizeit junges "lebensunwertes Leben" vernichten ließ. Viele Einwohner Jenas, der Oberbürgermeister und die bürgerlich-sozialdemokratische Stadtratsmehrheit sträubten sich bis zuletzt dagegen, ihm die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. Weitergehender Erörterung des Problems brauner "Euthanasie"-Verbrecher im Arztkittel, denen insgesamt in Deutschland über 100 000 Kranke, Behinderte und Fürsorgebedürftige, mindestens 5000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche zum Opfer fielen, dient die Arbeit Hoffmanns. Sie schildert die kurze Phase strafrechtlicher Verfolgung solcher Verbrechen nach 1945, besonders aber Fälle, in denen ehemalige NS-MedizinerInnen  in der DDR Karriere machten, Orden empfingen und von den Behörden einschließlich Staatssicherheit vor der Aufdeckung ihrer Vergangenheit geschützt wurden. Nach außen wurde mittels Schweigen und Vertuschen der Schild des "konsequent antifaschistischen deutschen Staates" reingehalten. Historikerin Leo stellt in ihrem ersten Artikel die zum gleichen Zweck errichtete Hemmschwelle der DDR-Justiz bei  Rechtshilfe für BRD-Gerichte in westdeutschen Prozessen gegen Naziverbrecher dar. Beeindruckend ist demgegenüber die Ernsthaftigkeit, mit der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann (1922-1984), ehemals SA-Mann und Soldat der Luftwaffe, dem Literaturwissenschaftler Martin Straub zufolge seine Mitverantwortung für den Faschismus bekundete. Übrigens gab es eine Zeit, in der Fühmann – wie hier nicht mitgeteilt wird – in seiner eigenen Partei, der ostdeutschen NDPD, seiner Haltung wegen beargwöhnt wurde, während manche SED-Genossen ihn schätzten.

 Die HistorikerInnen Susanne zur Nieden, Annette Leo und Peter Erler, der Schriftsteller Reimar Gilsenbach, die Kulturwissenschaftlerinnen Katrin Greiser und Regina Scheer, Sozialforscher Andreas Herbst und Verlagslektor Joachim Meinert behandeln Fragen des Umgangs mit Naziopfern. Zur Nieden geht auf Auseinandersetzungen in Funktionärskreisen nach 1945 darüber ein, wer als NS-Verfolgter bzw. –Gegner zu gelten und dementsprechend Anspruch auf Sonderversorgung und Pension hätte. Hieraus ergab sich die Unterscheidung zwischen Opfern des Faschismus und Kämpfern gegen den Faschismus, wobei zur ersten Kategorie nachträglich Juden und zeitweise auch Zeugen Jehovas gerechnet wurden. Durch den Raster fielen "Asoziale", "Vorbeugungshäftlinge", "Sicherheitsverwahrte", Homosexuelle und solche, die als "minderwertig" oder "erbkrank" sterilisiert worden waren. "Tatsächlich grenzte man letztlich all diejenigen aus, die die Nationalsozialisten als ‚Gemeinschaftsfremde’ oder ‚Minderwertige’ stigmatisiert und fundamentaler humaner Rechte beraubt hatten." (S. 90) Gilsenbach beschäftigt sich mit einer weiteren Verfolgtengruppe, den Sinti und Roma, die in beiden deutschen Staaten fast gleich schlecht behandelt wurden und deren "Zigeunerakten" aus Nazizeiten auch die Volkspolizei übernahm. Wiederholt wurde gegen die Gruppe der Asozialen-Paragraph des DDR-Strafgesetzbuchs angewandt. Doch ist nach ihm 1976 auch Robert Havemann verurteilt worden. Auf das "Kleine Lager" in Buchenwald geht Greiser ein. Es war der vom übrigen KZ abgetrennte, fast immer mit Lebenden und Toten überfüllte Aufenthaltsort für Kranke, Invaliden, Sieche und Abzuschiebende, der selbst nach der Befreiung noch die höchste Sterbezahl wegen Hunger und mangelnder Hygiene aufwies. Politische Häftlinge diskriminierten diese Leidensgefährten häufig als "Banditen". Scheer berichtet in einem ihrer Beiträge über Wandlungen, denen politische Denkmäler in Brandenburg vor und nach dem Anschluss an die BRD ausgesetzt waren. Die Umbewertung eines von Sowjetsoldaten Erschossenen zum SS-Opfer zählte dazu ebenso wie der seit 1990 inflationär gewordene Gebrauch des Begriffes "Opfer der Gewaltherrschaft", mit dessen Hilfe NS-Verbrecher, im Krieg Gefallene und ermordete Faschismusgegner in einen Topf geworfen werden.

Ein weiterer Beitrag Scheers gilt der jüdischen Gruppe um Herbert Baum, die 1942 zusammen mit Kommunisten Brandanschläge auf die Nazi-Hetzausstellung "Das Sowjetparadies" verübte, hierauf verhaftet und fast ausnahmslos hingerichtet wurde. Die Autorin konstatiert, dass die Gruppenmitglieder ihres Judentums wegen sowieso todgeweiht  und daher oft waghalsiger als andere waren. Ihr abschätziges Urteil über kommunistische Widerständler, welche die mangelnde Konspirativität als auch andere gefährdend rügten und deshalb z. T. Kontakte abbrachen, ist ungerecht. (S. 247 f.)

Der schwerer einzuordnende Fall Lena Fischer betraf ein Mitglied der Berliner SED-Bezirksleitung und des ZK, das 1953 wegen angeblichen Verrats an die Gestapo aus der Partei ausgeschlossen, später intern rehabilitiert und wieder aufgenommen wurde. Fischer war 1935 einem ihr unbekannten, sich als Vertreter des illegalen KPD-Bezirks ausgebenden Geheimagenten der Nazis ins Netz gegangen. Sie hatte danach im Gefängnis mitgefangenen GenossInnen geraten, im Verhör Namen und Fakten zu nennen, welche die Gestapo kannte. Der Fall, von der KPD-Führung längst abgeschlossen, wurde während der Anti-Tito- und Field-Kampagne wieder ausgegraben.

Gegenstand des Beitrags von Meinert und eines zweiten Artikels von Leo ist die Unterdrückung von Erinnerungen zweier Faschismusgegner durch Vertreter des stalinistisch dominierten Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR. Meinert beschreibt, wie diese (nach Fania Fénelons "Mädchenorchester von Auschwitz") die Drucklegung des Hauptwerkes von Primo Levi, eines international bekannten jüdischen KZ-Häftlings aus Italien, verhinderten. Das geschah, weil Levi wahrheitsgemäß auch Brutalitäten mancher politischen Häftlinge darstellte und derart das offizielle Antifaschismusbild  beschädigte. Leo beschäftigt sich mit einem Cousin ihres Vaters, der Häftlingsarzt in Natzweiler/Struthof und Sachsenhausen gewesen war und nach der Pensionierung vergeblich versuchte, Erinnerungen ähnlich denen Levis bei DDR- und von der SED unterhaltenen westdeutschen Verlagen unterzubringen.

Eine Arbeit Bernd-Rainer Barths, Literaturwissenschaftler und Historiker, gilt dem Leben und Wirken von Noel H. Field (1904-1970). Dieser, insgeheim Mitglied der KPUSA und kurzzeitig NKWD-Agent, machte sich mit seiner Frau Herta im zweiten Weltkrieg dadurch verdient, dass er als Vertreter des kirchlichen Hilfswerks Unitarian Service Committee in Marseille und der Schweiz Hunderten kommunistischer Kader, aber auch jüdischen Kindern und anderen nicht politischen Flüchtlingen das Leben rettete bzw. das Überleben sicherte, zudem Partisanen mit Waffen versorgte und Versuche zur Befreiung gefangener Widerstandskämpfer finanzierte. Nach Kriegsende half er Emigranten in ihre Heimatländer einschleusen. Bald nach Beginn des kalten Krieges wurde Field in den USA als verkappter Kommunist verdächtigt und vom Hilfswerk entlassen. Er wollte sich hierauf in einem volksdemokratischen Land Ostmitteleuropas eine neue Existenz aufbauen. Dadurch gerieten er sowie Frau und Bruder, die ihn nach seinem Verschwinden aus Prag suchten, in den Sog der Vorbereitungen stalinistisch-antikommunistischer Terrorprozesse, bei denen sich vor allem der ungarische Diktator Rákosi hervortat. Dessen Folterknechten gelang es nicht, dem nach Budapest verschleppten Genossen das "Geständnis" abzupressen, ein amerikanischer Agent zu sein. Doch blieben dieser und seine Angehörigen in Haft, wurden sie in Schauprozessen und Beschlüssen hoher Parteiorgane, auch solchen der SED, jahrelang als Abgesandte des USA-Imperialismus zum Torpedieren der neuen Ordnung in Osteuropa verleumdet. Von Interesse ist das Faktum, dass die äußerst detaillierten Angaben über Field in dem Artikel wesentlich auf dessen Nachlass und ungarische Geheimdienstakten zurückgehen. Alle anderen Staatsbestände mit Bezug auf politische Prozesse – zuletzt den gegen Imre Nagy 1958 – wurden erst unter Rákosi, dann unter Kádár weisungsgemäß vernichtet. (S. 198 und 205) Mit dieser Verfahrensweise übertraf Ungarn selbst die Stalinsche Sowjetunion.

Der Rapport Peter Erlers, einst Student in Krasnodar, gilt Remigranten aus der UdSSR, die dort verfolgt worden waren. In der DDR wurden ihnen alle hierauf bezüglichen Schriftstücke abgenommen und im Parteiarchiv begraben. Sie selbst mussten geloben, niemanden etwas über ihre Haft- und Lagererlebnisse mitzuteilen – ein Gebot, an das die  meisten sich gehalten haben. Andererseits sorgte der ZK-Apparat der SED für ihre Versorgung auch mit Wohnungen und die Wiedereingliederung ins Arbeitsleben, generell nicht in höheren Positionen. Die Einstufung vieler Stalin-Opfer als Verfolgte des Naziregimes oder Kämpfer gegen den Faschismus ist aufschlussreich, wurde dadurch doch stillschweigend die sonst verteufelte Totalitarismustheorie gerechtfertigt. Mit seiner Feststellung: "Susanne Leonhard floh mit ihrem Sohn Wolfgang im März 1949 aus der SBZ" (S. 190) hat Erler unrecht. Während Wolfgang tatsächlich auf abenteuerlichem Weg nach Jugoslawien flüchtete, war seine Mutter eine der ersten und ganz wenigen RemigrantInnen, die von Ostberlin nach Westdeutschland ausreisten.

Bruno Mander, Berlin 2001








 

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