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Buchveröffentlichungen  











Bruno Mander

Rezension

Kampf um die DDR-Betriebeund und neue Arbeiterorganisationen

Bernd Gehrke/Renate Hürtgen (Hrsg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung, Berlin 2001. 551 Seiten, 9 Euro (zzgl. Porto)


Von den Veröffentlichungen über die unvollendete DDR-Revolution 1989 ist diese besonders wichtig. Sie gilt einem meist verschwiegenen Abschnitt, in dem Belegschaftsvertreter die Akteure waren. Enthalten sind das Protokoll einer von der Böll-Stiftung am 29. 11. 1999 ausgerichteten Tagung ehemaliger Teilnehmer des betrieblichen Aufbruchs, Darstellungen über das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Herrschenden, über den FDGB und neue Arbeiter- und Angestelltenvertretungen. Dazu kommen 120 Dokumente.

Beim Skizzieren des Buchinhalts beginne ich mit den zeitgeschichtlichen Texten. Renate Hürtgen, Mitgründerin der Initiative Unabhängiger Gewerkschaften (IUG), stellt den FDGB seit seiner Wandlung zum SED-Transmissionsriemen und die Entwicklung von Arbeitskonflikten dar. Der Mitinitiator der Vereinigten Linken Bernd Gehrke beschreibt, wie sich die Lage 1989 zuspitzte. Anlässe waren vor allem die gefälschten Kommunalwahlen und die Massenflucht. Die Opposition errang durch Hinzutreten von Betriebsangehörigen Erfolg. Gehrke skizziert die Geschichte der "Wende-Streiks" bzw. Streikdrohungen, die sich erst gegen Honecker/Krenz, dann gegen die Modrow-Regierung richteten, gegen Letztere u. a. wegen ihres Strebens nach neuen Geheimdiensten. Es herrschten Furcht vor einer Restauration der SED-Macht, vor einem möglichen Nomenklatura-Kapitalismus und soziale Ängste. (S. 295) Der Autor geht auch auf einen Generalstreikversuch mit Hilfe des Neuen Forum Karl-Marx-Stadt ein, der an Spitzenvertretern der Organisation und daran scheiterte, dass die Regierung ihren Kurs änderte. Dass sich mit dem  Kompromiss von Administration und Opposition im Januar 1990 die Gewichte "endgültig in Richtung Anschluss an die Bundesrepublik verschoben" hätten (S. 263), ist falsch. Der Anschluss war durch den SED-Entscheid zur bedingungslosen Maueröffnung vorprogrammiert, worauf die Montagsdemonstrationen sich zu nationalistischen Veranstaltungen wandelten und Modrow das mit dem Konzept "Für Deutschland, einig Vaterland" ungewollt sanktionierte. Er war es  nicht durch das Zusammengehen mit Bürgerrechtlern.

Der Versuch zur innerbetrieblichen Demokratisierung und Bildung unabhängiger Beschäftigtenvertretungen ist Gegenstand des Tagungsprotokolls, der Dokumentensammlung und eines weiteren Beitrags von Gehrke. Dessen Grundthese ist, "dass ein wesentlicher Teil der Demokratiebewegung von 1989 als Geschichte der Arbeiterschaft der DDR erzählt werden muss... Die Politisierung der Betriebe war der entscheidende Schritt für den erfolgreichen Verlauf der gesamten Bewegung zum Sturz der stalinistischen Diktatur." (S. 219, 233 und 246)

Teilnehmer an der Novembertagung 1999 berichteten, wie es den Akteuren  gelang, mittels Wandzeitungen und freier Rede die Meinungsführerschaft vor Ort zu erringen. Sie setzten die Auflösung der SED-Strukturen im Betrieb und der Kampfgruppen durch, stürzten Direktoren, wählten neue Betriebsgewerkschaftsleitungen oder Betriebs-, z. T. auch  Belegschafts- und Arbeiterräte. Radikaler als die Bürgerrechtler forderten sie den Rücktritt des Politbüros und übten Druck auf den FDGB-Vorstand aus. 10 Prozent der Mitglieder verließen den Gewerkschaftsbund. Wesentlich mehr stellten die Beitragszahlungen ein.

Zu Beginn hegten manche Akteure Furcht vor SED, Kampfgruppen und Stasi. Das legte sich, als die Gewalten zerbröselten und Politbüro wie ZK zurücktraten. Die Bedrohung durch das BRD-Kapital war ernster. Interessanterweise hatte die jeweilige Gegenseite der Werktätigen vor diesen Angst. Mielke fürchtete einen neuen 17. Juni. Die DDR-Presse verweigerte den Abdruck des IUG-Aufrufs zur Bildung freier Arbeiterorganisationen. Die Veranstalter der Massenkundgebung vom 4. 11. gaben der IUG kein Rederecht. Als hierauf Heiner Müller während der Kundgebung den Aufruf verlas, zugleich die feudal-sozialistische Variante der Mehrwertaneignung in der DDR verurteilte und vor kommenden schwierigen Zeiten warnte, schlug ihm Hass entgegen. Hinreichend prominent, konnte er die Veröffentlichung seiner Antwort im ND durchsetzen und prophezeite darin: "Ohne die DDR als basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie in der BRD wird Europa eine Filiale der USA sein." (S. 169)

Bundesregierung, Bundestagsparteien und DGB sahen sich ebenfalls durch Standpunkte rebellierender ostdeutscher Betriebsaktivisten geschockt. So von Belegschaftsmitgliedern des VEB Bergmann-Borsig, die angesichts geheimer Treffen ihrer Direktion mit Abgesandten westlicher Firmen erklärten: "Wir sprechen der Betriebsleitung das Recht ab, ohne Beteiligung der Belegschaft in konkrete Verhandlungen einzutreten." (S. 424) So, als Werktätige der DDR das bundesdeutsche Betriebsverfassungsrecht für zu gering erachteten und echte Mitbestimmung in allen für den Betrieb wesentlichen Fragen einschließlich Ab- und Neuwahl der Direktoren forderten, als sie Interesse an der Umwandlung sogenannten Volkseigentums in Eigentum der arbeitenden Massen zeigten und es in einem im Berliner Werk für Fernsehelektronik verfassten Konzept hieß: "Nur wenn der Betriebsrat das letzte Wort hat, nur dann können wir erhoffen, dass sich echtes Eigentumsbewusstsein gegenüber dem Volkseigentum entwickelt" Im Funkwerk Köpenick, Teil Dabendorf, wurde proklamiert:  "Der Betriebsrat stellt die Wahrnehmung der Eigentümerfunktion der Werktätigen an ihrem Volkseigentum dar." (S. 417 bzw. 432)

Ähnlich drängten IUG, Freie Arbeiterunion und die Vereinigte Linke darauf, die DDR-Revolution weiterzuführen. Die VL propagierte einen Sozialismus, dessen Lebenselixier die  basisdemokratische Organisation der abhängig Beschäftigten sein sollte. (S. 108) Die Mehrheit der Arbeiter indes vertraute Kohl, dem DGB und der "sozialen Marktwirtschaft". Sie stimmte am 18. 3. 1990 für die CDU und nahm danach das Plattmachen der Betriebe und Zerstören der eben errungenen Mitbestimmung fast widerstandslos hin.

Die SED-Führung und ihre Helfer, so der FDGB, hatten den arbeitenden Massen jahrzehntelang Passivität eingebläut. Ansätze zur Bildung einer für sozialistische Ziele eintretenden eigenständigen Arbeiterbewegung 1989 wurden nicht nur von Vertretern des alten Regimes, sondern auch von Wendehälsen und Ex- Bürgerrechtlern befehdet. Den Garaus machten ihnen die Herrschenden der Bundesrepublik und deren Ost-Hiwis. Sie nutzten falsche Vorstellungen der Arbeitermehrheit über ihre Interessenlage aus.

  Der bitteren Bilanz ungeachtet stimmen folgende Erwägungen der Konferenzteilnehmer vom November 1999: Es sei zu bedenken, "dass erstmals 1989, also seit rund 60 Jahren, seit 1933, eine autonome Bewegung von Leuten aus den Betrieben überhaupt entstanden ist" und sich mit der Bevölkerungsmasse in Beziehung setzen konnte. (S. 151) Dass "Leute wirklich in Betriebsversammlungen ihre Meinung gesagt haben. Wer macht das heute noch?" (S. 143) Was geleistet wurde,  "wird auch wieder gebraucht werden". (S. 152)

Der Sammelband ist keine Geschichte des Kampfes um die DDR-Betriebe. Er ist aber ein Beitrag dazu, dass später diese Geschichte geschrieben werden kann. Bei den Herrschenden ist sie unbeliebt, für die Beherrschten notwendig.

Bruno Mander, Berlin 2001










 

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