Beiträge zur Theorie |
Hartmut KraussZum kritisch-emanzipatorischen Gehalt der Marxschen Theorie als Ausweis ihrer ZukunftsfähigkeitMit dem Untergang des "Realsozialismus", der ihn begleitenden bürgerlichen Triumphpropaganda und dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Neoliberalismus gilt für viele die Theorie von Marx und Engels als endgültig erledigt. Mittlerweile aber hat sich auf nachdrückliche und dramatische Weise herausgestellt, dass die Geschichte nicht zu Ende ist, sondern die antagonistisch vergesellschaftete Menschheit in ein neues Stadium globaler Widerspruchsbewegung und sich akkumulierender Krisen eingetreten ist. Angesichts weltweit ausufernder Massenarbeitslosigkeit, dramatischer Armutsverschärfung, ökologischer Problemverdichtung sowie der Wiederauferstehung einer totalitären Massenbewegung in religiösem Gewand dämmert zumindest einigen klarsichtigeren Vertretern der kritischen Intelligenz, dass einmal mehr Totgesagte geistig überlebt haben. Und nicht nur das: Ohne Marx' und Engels' zahlreiche Einsichten in die Anatomie nicht nur der bürgerlich-kapitalistischen, sondern auch der prämodern-feudalistischen Herrschaftsverhältnisse lässt sich die dialektische Beschaffenheit der heutigen Weltzustände nicht adäquat begreifen. Die folgenden Ausführungen verstehen sich in diesem Sinne als skizzenhafter Beitrag zur Freilegung des tragfähigen Potentials der Theorie von Marx und Engels, die für das nach wie vor gültige Projekt einer herrschaftsfreien Menschheit das unverzichtbare Fundament bildet. Dabei ist freilich zunächst die aussagewidersprüchliche Konstitution des "klassischen Marxismus" zu reflektieren. Aussagewidersprüchliche Inhalte des "klassischen Marxismus"Nach der bis vor kurzem weithin dominierenden Auslegungsvariante handelt es sich bei dem marxistischen Lehrgebäude um eine eindeutige, geschlossene, sich aus drei Teilen zu einer homogenen Ganzheit vereinigenden Theorie, die lediglich - zwecks Plausibilitätssteigerung - im Nachhinein einige aktualempirisch bedingte Veränderungen seitens ihrer epigonalen Träger erfordert. Im Sinne einer kritischen Reflexion der marxistischen Theorieentwicklung ist gegenüber diesem monolithisch-legitimatorisch konstruierten (Partei-)Marxismus aber hervorzuheben, dass die Marxsche Theorie in ihrer "klassischen" Gestalt ein offenes, unvollständiges, partiell Irrtümer und Aussagewidersprüche aufweisendes, entwicklungsbedürftiges System von wissenschaftlichen Erklärungen, Begriffen und methodischen Regulativen darstellt. Aufgrund dieses teilweise inkonsistenten und damit mehrdeutigen Charakters des "klassischen Marxismus" ergeben sich "objektiv" Ansatzpunkte für unterschiedliche (selektive) Lesarten, Akzentuierungen, (didaktische) Interpretationslinien etc. in Abhängigkeit von den subjektiven Beweggründen (Erkenntnisinteresse; Legitimationsinteresse) konkreter Rezipienten. Ein solcher aussagewidersprüchlicher Brennpunkt im Werk von Marx und Engels, der weiterführende Klärungsprozesse nachgerade provoziert und einen "schismatischen" Grundstein gelegt hat für gegenläufige "Marxismen", ist das Problem der revolutionären Subjektwerdung. So kommt zum einen an verschiedenen "prominenten" Stellen bei Marx und Engels eine teleologisch-deterministische Auffassung deutlich zum Ausdruck, wenn das "revolutionäre Proletariat" z. B. in der "Heiligen Familie" zunächst philosophisch im Kontext einer spekulativ-dialektischen Denkfigur deduziert wird. Demnach fällt die "Verworfenheit" der proletarischen Lebenslage mit der "Empörung über diese Verworfenheit" unvermittelt zusammen. Durch den "Widerspruch zwischen ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation" (MEW 2, S. 37) sehen Marx und Engels die Proletarier unmittelbar zu dieser Empörung getrieben. Später, im "Manifest der Kommunistischen Partei" von 1848, wird das "revolutionäre Proletariat" dann ökonomisch abgeleitet. "Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist", heißt es dort, "setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich" (MEW 4, S. 473f.). Diese deterministische ("zwangsgesetzliche") bzw. teleologische Ableitung des "revolutionären Proletariats" ist es, die in der Folgezeit im Diskurs der II. Internationale und im stalinisierten Parteimarxismus der kommunistischen Bewegung zum Fetisch erhoben worden ist, statt problemgegenständlicher Ansporn zu sein zur kritischen Weiterentwicklung des "vorgefundenen" (klassischen) Marxismus in Richtung auf eine eigenständig-ergänzende Analyse des subjektiven Faktors bzw. des Ausbaus einer materialistisch-dialektischen Theorie der menschlichen Subjektivität. Die deterministische Annahme einer zwangsläufig vorwärtsschreitenden revolutionären Bewusstwerdung/Radikalisierung des Proletariats infolge wachsender Verelendung, sich verschärfender Ausbeutungserfahrungen und der zunehmenden betrieblichen "Zusammenballung" der Lohnarbeit etc. steht nun aber in einem unvermittelten Aussagewiderspruch zu den im Marxschen "Kapital" entschlüsselten Mystifikationen der gesellschaftlichen Verhältnisse. In Gestalt dieser Mystifikationen ist nämlich gerade das Moment der sinnlichen Evidenz getilgt und das Wesen des antagonistischen Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital weitgehend "entsinnlicht". Die Agenten des kapitalistischen Reproduktionsprozesses bleiben im unmittelbaren Vollzug ihrer gesonderten Tätigkeiten in verkehrten Bewusstseinsformen befangen, in denen sowohl der Wesenszusammenhang der kapitalismusspezifischen Ausbeutung/Mehrwertabpressung z. B. in Gestalt des Lohnfetischs1, als auch der gesellschaftliche Charakter der unabhängig voneinander betriebenen privaten Produktionstätigkeiten unerkannt bleibt bzw., so Marx (1976, S. 86), die "phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt" (Warenfetischismus2). Indem nun der gesamtgesellschaftliche Reproduktionszusammenhang in seiner Wesensstruktur für die beteiligten (unmittelbar tätigen) Gesellschaftsmitglieder unerkannt bleibt und sich hinter ihrem Rücken vermittels der "selbstregulativen" Marktgesetze quasi naturwüchsig von selbst herstellt, werden die reproduktionsnotwendigen Praxisformen von den "gesellschaftlichen Individuen" realisiert, ohne dass ihnen der selbst vollzogene gesellschaftliche Bewegungsprozess bewusst wäre. "Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es" (ebenda S. 88). Zwar ist also das Kapital als sich selbst verwertender Wert keine subjektunabhängige Entität, sondern setzt die gegenständliche, durch Bewusstsein und Willen gesteuerte Tätigkeit der lebendigen Subjekte als notwendige Bedingung voraus. Andererseits aber herrscht es den unter seinen 'Bewegungszwängen? agierenden (Re-)Produktionsagenten eine unhintergehbar-strikte Handlungslogik auf, die in speziellen Aktivitätsmatrizen bzw. 'Charaktermasken? eine verfestigte Gestalt annimmt. Der kapitalistische (Re-)Produktionsprozess erhält auf diese Weise einen autonomen 'Bewegungsstatus? gegenüber den individuellen Zwecksetzungen der in ihre jeweils unmittelbare Lebenstätigkeit verstrickten Subjekte. "Als Kapital steht die objektivierte Subjektivität der Gattung in einem antagonistischen Verhältnis zur Subjektivität der Einzelnen. Die kapitalistische Form ihrer Vergesellschaftung schließt eine gemeinsame gesellschaftliche Zwecksetzung und Kontrolle der Produktion durch sie aus. Die Einzelnen sind als Vereinzelte dem allgemeinen Zweck der Produktion von akkumulierbaren Mehrwert unterworfen. ...Der als Kapitalist fungierende Kapitaleigentümer muss sein Kapital verwerten, der Arbeiter seine Arbeitskraft verkaufen. Weil und insofern sie Funktionäre ihres Eigentums sind, ist die Freiheit ihrer Willkür heteronom bestimmt" (Kuhne 1996, S. 138f.). Der Aufweis der Verselbständigung des kapitalbestimmten Reproduktionsprozesses gegenüber den individuellen Handlungslogiken der vergesellschafteten Subjekte ist nun wiederum seitens der "Althusser-Schule" als Alibi bemüht worden für die Behauptung, dass die Marxsche Theorie im Kern einen "theoretischen Antihumanismus" repräsentiere. Indem Marx im "Kapital" von den konkret-empirischen Menschen mit ihrer individualspezifisch geformten Subjektivität abstrahiert und sie lediglich als bloße 'Träger' von Verhältnissen behandelt habe, liege hier ein "epistemologischer Bruch" vor, der inhaltlich die Ausscheidung des humanistisch-anthropologischen Diskurses der jungen Marx als unhaltbaren ideologischen Ballast bedeute. Entgegen dieser einseitig-reduktionistischen, auf eine isolierte "Kapital"-Lektüre fixierten Sichtweise ist nun aber darauf hinzuweisen, dass die kapitalismustypische Verkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in Form der Subjektivierung des Kapitals und der Verobjektivierung der gesellschaftlichen Individuen in der Marxschen Theorie nicht einfach theoretisch rekonstruiert, sondern in kritisch-revolutionärer Absicht analysiert wird. D. h: Die fetischförmige Unmittelbarkeit/Dinghaftigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse wird als durch die beherrschten und entfremdeten Subjekte aufzuhebende Totalität begriffen. Im Unterschied zum Althusserschen Strukturmarxismus3, der die Subjekt-Objekt-Verkehrung im Prinzip ontologisiert4, weist das Gesamtwerk von Marx und Engels neben der Aufdeckung der Bewegungsgesetze des Kapitals und im unvermittelten Kontrast zur deterministischen 'Ableitung' des "revolutionären Proletariats" einen humanistisch-tätigkeitstheoretischen ("praxisphilosophischen") Aussage- und Reflexionsstrang auf. Zum humanistisch-tätigkeitstheoretischen Grundgehalt der Marxschen TheorieDas Werk von Marx und Engels ist in seinem Kernbestand das herausragende Resultat der geistigen Verarbeitung a) des widersprüchlichen Formierungs- und Bewegungsprozesses der bürgerlich-(industrie-)kapitalistischen Gesellschaft im Lichte seiner Auswirkungen auf die 'Gattungspotenzen' der vergesellschafteten Menschen vermittels b) der selektiv-kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössisch vorgefundenen problemrelevanten Ideenmaterial insbesondere philosophischer (Hegel, Junghegelianer, Feuerbach etc.), ökonomischer (klassische englische Nationalökonomie) und politischer (utopischer Sozialismus, "Arbeiterkommunismus", Anarchismus etc.) Provenienz in der Perspektive c) der praktischen Revolutionierung der "emanzipationswidrigen" (die menschlichen Gattungspotenzen fesselnden) gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Die Einheit von kritisch-wissenschaftlicher (begreifender) Wirklichkeitsanalyse und gesellschaftsverändernder (eingreifender) Praxis ergibt sich demnach aus dem fundierenden revolutionär-humanistischen Grundcharakter dieser Konzeption. Die humanistische, d. h. aus der Perspektive der unterdrückten menschlichen Gattungspotenzen geübte Kritik der bestehenden Verhältnisse verlangt nach einer radikalen Überwindung dieser existierenden Unmenschlichkeit, also nach einer grundlegenden Revolution. Andererseits erfordert die Revolution, will sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben, die Schaffung einer wirklich menschlichen Gesellschaft, also eine radikale Humanisierung. Das bedeutet, "dass sowohl der wahre Humanismus ohne eine revolutionäre Haltung wie die wahre Revolution ohne Humanismus unmöglich ist. Der revolutionäre Humanismus ist der einzig vollkommene Humanismus und die humanistische Revolution ist die einzig wahre Revolution. Der revolutionäre Humanismus und die humanistische Revolution sind also im Wesen eins" (Petrovi? 1973, S. 84). Obwohl nun das Werk von Marx und Engels unvollständig geblieben ist5, wie bereits angeführt ungelöste Aussagewidersprüche enthält und aufgrund des Materialreichtums der vielschichtig-disziplinübergreifenden Aufarbeitungsprozesse (rezeptionsgeschichtlich freilich bedeutsame) Einseitigkeiten und Disproportionen aufweist6, kann dennoch von einem "wissenschaftstheoretischen Bruch" innerhalb der Marxschen Theorieentwicklung keine Rede sein. D. h. die frühen und späteren Arbeiten von Marx stehen nicht in einem inhaltlichen Ausschließungs- bzw. Negationsverhältnis, sondern vielmehr in einem Präzisierungs-, Ergänzungs- und Konkretisierungsverhältnis in Abhängigkeit von sich verändernden diskursiven/thematischen Problemgegenständen (Philosophie, Geschichte, Politik, Ökonomie etc.) und Schwerpunktsetzungen. Entsprechend lässt sich auch ein werkübergreifender Aussagekern identifizieren, ohne deshalb partielle Korrekturen - als allerdings trivialer Aspekt eines theoretischen Entwicklungsprozesses - zu leugnen. Grundvoraussetzung für die Herausarbeitung des Wesenskerns der neuen von Marx und Engels begründeten Wissenschaft ist, wie Sève (1973, S. 140) zutreffend festgestellt hat, die Zurückweisung der These, "daß sich der historische Materialismus unter Verzicht auf den theoretischen Menschenbegriff herausgebildet haben soll". Vielmehr besteht das konstitutive Prinzip dieses neuen Theorietypus als "Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer geschichtlichen Entwicklung" (MEW 21, S. 290) gerade in der untrennbaren Einheit von materialistisch-dialektischer Geschichtstheorie und wissenschaftlicher Anthropologie. So gehört der wissenschaftliche Menschenbegriff "zu den Grundbegriffen des historischen Materialismus, weil sich weder die Produktivkräfte (da die Menschen die Hauptproduktivkraft sind) noch die gesellschaftlichen Verhältnisse (die stets in letzter Instanz Verhältnisse zwischen den Menschen sind) ohne ihn denken lassen" (Sève 1973, S. 141). Ebenso ist er untrennbarer Bestandteil einer wissenschaftlichen Analyse der Klassenkämpfe sowie der gesamten gesellschaftsverändernden, "praktisch-kritischen" Tätigkeit innerhalb der antagonistischen Zivilisationsgeschichte. In diametralem Gegensatz zum herrschaftsapologetischen Essentialismus der 'negativen? Anthropologie, die den Menschen als zur Unfreiheit, Herrschaftlichkeit, irrationalen Getriebenheit etc. verdammtes Wesen hypostasiert, behauptet die Marxsche Konzeption keine ahistorisch-konstante, apriorisch festgelegte Eigenschaftsstruktur des Menschen als dessen "unveränderliches" und sich "naturgesetzlich" realisierendes 'Wesen?. Entsprechend sistiert sie mit dem Begriff des 'menschlichen Gattungswesens? nicht etwa ein fixes Ensemble von Beschaffenheitsmerkmalen, sondern reflektiert die gattungsspezifisch gegebene Potentialität zu (herrschafts-)freier Selbstvergesellschaftung. Diese fundamental kritische, d. h.
revolutionär-humanistische Substanz der Marxschen Theorie
manifestiert sich prägnant im kategorischen Imperativ "alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"
(Marx). Auf dieser Grundlage erfasst das kritisch-marxistische Denken
die gesellschaftliche Wirklichkeit unter dem Aspekt der Historizität,
also mit Blick auf deren Gewordenheit, Widersprüchlichkeit,
Vergänglichkeit und Überwindungsnotwendigkeit. Damit ist
die Marxsche Theorie in ihrer ursprünglichen Gestalt Kritik
antagonistischer Herrschaftsverhältnisse par exellence7;
dabei stets um das Aufdecken der objektiven und subjektiven
Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen der menschlichen
Emanzipation bemüht. Die Marxsche Theorie wäre demnach als
inhaltlich (begrifflich-methodisch) am höchsten entwickelte
Gestalt der kritischen Vernunft in der bürgerlich-kapitalistischen
Epoche der antagonistischen Zivilisation zu kennzeichnen. Ihr Signum
ist die Begründung der historisch-transitorischen
Überwindungsnotwendigkeit und -möglichkeit der
kapitalistischen sowie generell jeder herrschaftlichen
Vergesellschaftungsweise. Dabei ist ihr zentrales
Orientierungsprinzip das Aufdecken und geistig-praktische Verarbeiten
von realen Widersprüchen, d. h. ihr
materialistisch-dialektisches 'Herangehen'. Nur so kann ihr "die
kritische Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen
Resultate der wirklichen gesellschaftlichen Bewegung" (Marx) gelingen. Im Gegensatz zu objektivistischen, 'anti-humanistischen? und ökonomistischen Lesarten stehen die tätig-lebendigen, konkret-historisch vergesellschafteten und sich widersprüchlich reproduzierenden Menschen im Zentrum der Marxschen Werkes 8. Den Kerngedanken bildet hier die 'Selbsterzeugung der Menschen' durch gesellschaftliche Arbeit und gesellschaftsverändernde Praxis. Während in der idealistischen Tradition menschliche Tätigkeit auf geistige Tätigkeit reduziert und vom materiellen Lebensprozess abgelöst wird, verkennt der 'anschauende' Materialismus den aktiven Charakter der materiellen Lebenspraxis der Menschen und gelangt lediglich zu einer Auffassung der menschlichen Subjektivität als bloßer Reflex bzw. Produkt der äußeren Umstände. Marx akzentuiert demgegenüber in seiner kritisch-dialektischen Synthese den eingreifenden, umgestaltenden, wirklichkeitsverändernden, gegenständlichen Status der menschlichen Lebenstätigkeit. Wirklichkeitsveränderung und Selbstveränderung werden als tätig vermittelte Einheit begriffen: "Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden" (MEW 3, S. 534). In derselben "heiligen Familie", in der Marx und Engels einerseits ein deterministisches Modell der 'revolutionären Subjektwerdung? formulieren, finden sich andererseits vorwärtsweisende Einsichten für den Aufbau einer materialistisch-dialektischen Geschichts- und Subjekttheorie. So wird gegen die idealistische Teleologie als Basisprinzip der hegelianischen Geschichtsphilosophie folgendermaßen argumentiert: "Die Wahrheit ist für Herrn Bauer wie für Hegel ein Automaton, das sich selbst beweist. Der Mensch hat ihr zu folgen. Wie bei Hegel ist das Resultat der wirklichen Entwickelung nichts anderes als die bewiesene, d. h. zum Bewußtsein gebrachte Wahrheit. ... Die Geschichte wird daher, wie die Wahrheit, zu einer aparten Person, einem metaphysischem Subjekt, dessen bloße Träger die wirklichen menschlichen Individuen sind" (MEW 2, S. 83). Marx? und Engels? Kontraposition lautet: "Die Geschichte tut nichts, sie 'besitzt keinen ungeheuren Reichtum?, sie 'kämpft keine Kämpfe?! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht die 'Geschichte?, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen" (ebenda, S. 98)9 Während Hegel die Weltgeschichte als dialektischen Selbstfindungsprozess des verobjektivierten Geistes rekapituliert und darin den 'Endzweck der Welt? erblickt, sieht Marx im Menschen als sozial verbundenem, tätigen Naturwesen die Substanz der Geschichte. Als Teil der Natur bzw. 'lebendige Naturwesen? sind die Menschen einerseits mit natürlichen Lebenskräften in Form von Anlagen, Fähigkeiten, Trieben ausgerüstet und insofern zur aktiven Naturaneignung auf spezifische Weise prädisponiert. Indem aber die Gegenstände ihrer Triebe/Bedürfnisse außer ihnen als von ihnen unabhängige und überwiegend auch nur virtuelle Gegenstände (zu bearbeitende 'Gegenstandsvoraussetzungen?) existieren, sind die Menschen - wie alle Organismen - 'leidende?, 'bedingte? und 'beschränkte? Wesen, die ihren bedürfnisgespeisten Widerspruch zur äußeren Natur aktiv-tätig lösen müssen. Die dialektische Konstitution der menschlichen Lebensreproduktion ist folglich fundiert durch die Erfahrung/Antizipation von Leiden/Mangelzuständen als Antriebsquelle aktiver Widerspruchsverarbeitung10. Insofern erschlüsselt sich die Geschichte als 'die wahre Naturgeschichte des Menschen?. Arbeit als spezifisch-menschliche Lösungsform des Widerspruchs zur äußeren Natur ist nicht nur (a) ein objektiv-gegenständlicher Prozess, sondern zugleich (b) ein bewusst-zweckmäßiger (werkzeugvermittelter) und (c) ein kooperativ-kommunikativer Vorgang. "Also ist der gesellschaftliche Charakter der allgemeine Charakter der ganzen Bewegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert" (MEW Ergänzungsband, S. 537). Als strukturelles Wesensmerkmal der menschlichen Naturaneignung in Gestalt gesellschaftlicher Arbeit ist somit deren Doppelcharakter hervorzuheben: Zum einen ist Arbeit - zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form betrachtet - "ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert" (MEW 23, S. 192). Als System 'künstlicher Mittler' dieses produktiven Stoffwechselprozesses fungieren die Arbeitswerkzeuge (Arbeitsmittel): Diese "sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der Verhältnisse, worin gearbeitet wird" (ebenda, S. 195). Damit ist zum anderen darauf hingewiesen, dass die Menschen, indem sie materielle Güter produzieren, gleichzeitig ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse produzieren: "In der Produktion wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet die Produktion statt" (MEW 6, S. 407). Die gesellschaftliche Vermitteltheit menschlicher Lebensreproduktion manifestiert sich nun aber nicht nur als aktual-synchroner, sondern zugleich als tradiert-diachroner Zusammenhang. Damit ist der Fokus der materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels als Reflexion des Verhältnisses von objektiver Bestimmtheit (Determination) und subjektiver (Selbst-)Bestimmung (Autonomie) erreicht: Die gesellschaftlich vermittelten Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber stets nicht unter frei gewählten Umständen, sondern unter konkret vorgefundenen, von den vorangegangenen Generationen überlieferten Umständen. D. h.: Die materialistisch-dialektische Geschichtsauffassung zeigt, "daß die Geschichte nicht damit endigt, sich ins 'Selbstbewußtsein' als 'Geist vom Geist' aufzulösen, sondern daß in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andererseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt - daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen. Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als 'Substanz' und 'Wesen des Menschen' vorgestellt, was sie apotheotisiert und bekämpft haben" (MEW 3, S. 38 Hervorzuheben ist nun, dass diese überlieferten/vorgefundenen Produktionsbedingungen, Sozialstrukturen, Institutionen und Denkformen/Ideologien, die ihrerseits eine spezifische Entwicklungslogik ('Gesetzmäßigkeit') aufweisen, zwar einerseits den determinierenden Tätigkeitsrahmen setzen, aus dem man nicht voluntaristisch herausspringen kann, aber andererseits den konkret-historischen Akteuren durchaus einen Möglichkeitsraum für alternative Entscheidungs- und Handlungsprozesse offen lassen. Aufgrund dieser konstitutiven subjektgebundenen Alternativität ist die Geschichte prinzipiell nicht als linear-deterministisches, sondern als relativ offenes Geschehen zu begreifen. "'Offenheit' pointiert die Nicht-Eindeutigkeit, die Nicht-Zwangsläufigkeit von Entwicklung und die Unmöglichkeit ihrer Vorausschau im Besonderen und Einzelnen" (Stiehler 1997, S. 18). "Teleologie" ist damit nicht mehr als vom Subjekt abgetrennte prozessimmanente Zwecksetzung und -erfüllung zu hypostasieren, sondern als von den gesellschaftlichen Individuen vollzogene 'bewusste Setzungsweise', die bestimmte subjektiv induzierte 'Kausalreihen' in Bewegung zu setzen vermag. "Wenn ... in früheren Philosophien die teleologische Setzung nicht als eine derartige Besonderheit des gesellschaftlichen Seins erkannt wurde, mußte einerseits ein transzendentes Subjekt, andererseits eine besondere Beschaffenheit der teleologisch wirkenden Zusammenhänge ausgeklügelt werden, um Natur und Gesellschaft Entwicklungstendenzen teleologischer Art zusprechen zu können" (Lukács 1995, S. 35) Geschichtliche Praxis lebendiger, raum- und zeitspezifisch positionierter Menschen ist folglich bewusste Tätigkeit in einem limitierten Aktionsfeld; wobei die Richtung der im begrenzten Möglichkeitsraum gewählten Handlungsoption wiederum vom Verarbeitungsresultat der subjektiv erfahrenen Lebenswidersprüche abhängt. Subjektive Widerspruchsverarbeitung in einem konkret-historisch bestimmten Möglichkeitsraum kann demnach als das adäquate materialistisch-dialektische Bewegungs- und Reflexionsprinzip des historischen Prozesses herausgehoben werden11. Dabei ist zu betonen, dass nach Marx die "soziale Geschichte der Menschen ... stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung (ist), ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht" (MEW 27, S. 453). Und indem Marx und Engels in der 'Deutschen Ideologie' hervorheben, dass die Proletarier den Staat stürzen müssen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen, dann ist hier ein 'starker' Topos gewählt worden, der zum einen die progressive Möglichkeit der subjektiven Widerspruchsverarbeitung beschreibt und zugleich die Verschlungenheit von Individualgeschichte und antagonistischer Vergesellschaftungsgeschichte widerspiegelt. Die Fähigkeit zu aktiv-tätiger Widerspruchsverarbeitung, deren paradigmatische Grundform die gesellschaftliche Arbeit darstellt, besitzt ihr gattungsspezifisches Fundament im menschlichen Vermögen a) objektive Zusammenhänge annähernd tätigkeitsadäquat zu kognizieren und b) aufgrund dieser "Sachkenntnis" und im Bewusstsein der eigenen Bedürftigkeit (selbstbezügliche Relationierung/Auswertung der "Sachkenntnis") sich "frei" zu entscheiden. Kategorial ist diese spezifische Verflechtung von Erkenntnisfähigkeit/Selbstbewusstsein/Entscheidungsfreiheit als "Vernunft" fixiert worden: "Vernunft ist das Allgemeine, das die Natur des Menschen als einer Naturmacht wesentlich kennzeichnet"(Tomberg 1978a, S. 49). Im Lichte der dialektisch strukturierten Daseinsweise der gesellschaftlich-menschlichen Naturwesen ließe sich 'Vernunft' näher bestimmen als gattungsspezifische Potenz, widersprüchliche Lebenssituationen (Problemkonstellationen) vermittels konkret-historisch vorgefundener Ressourcen interessenadäquat zu lösen. Hierbei ist allerdings die gegensätzliche Realisierungsweise (Formgebung) der Vernunft in den antagonistischen Gesellschaftsformationen in Abhängigkeit von (Klassen-)Standort, Interessenlage und Perspektive zu reflektieren. Zu insistieren ist folglich auf der Unterscheidung zwischen (herrschafts-)instrumenteller (konservativer/repressiver) Vernunft und kritischer (subversiver/progressiver) Vernunft sowie auf deren prinzipiellen Veränderlichkeit. Demnach hat, wie Eichhorn/Küttler (1989, S. 40) zu recht betonen, die Vernunft "keine außerweltlichen und übergeschichtlichen Quellen. Ihre Wurzeln liegen in der realen Geschichte selbst, in der widerspruchsvollen, im Entstehen und Vergehen konkreter Lebensformen und Stufen sich vollziehenden Höherentwicklung der Menschheit." In Wahrheit ist Vernunft deshalb immer die, so Marx, "gemeine Vernunft der in den verschiedenen Jahrhunderten auftretenden und handelnden Menschen" (MEW 4, S. 136). Und nur in dieser subjektgebundenen, auf konkret-historische Problemkonstellationen ausgerichteten und konfligierenden Modalität kann davon gesprochen werden, "daß Vernunft in der Geschichte sei" (Hegel). Zwar sind also die konkret-gesellschaftlichen Menschen de facto die bewegende Wirkkraft des historischen Prozesses. Aber sie agieren nicht im Sinne eines homogenen, souverän und planvoll Ziele setzenden und realisierenden Subjekts.12 Ein hervorstechendes Merkmal des bisherigen Verlaufs der Menschheitsgeschichte ist nämlich folgende eigentümliche Divergenz: Einerseits ist eine kognitive Höherentwicklung der Gattung in Form der Akkumulation von Erfahrungs- und Wissensbeständen insbesondere im Hinblick auf die äußere und innere Natur feststellbar (Werkzeugentwicklung/Technik/Naturwissenschaften: Agronomie, Physik, Biologie, Genetik; Medizin, Neurologie etc.). Andererseits ist aber der überschaubare Geschichtsverlauf als evolutionäre Modifikation antagonistischer Gesellschaftsformen mit ihren jeweils spezifischen zwischenmenschlichen Herrschafts-, Knechtschafts-, Unterdrückungs- und Konkurrenzverhältnissen zu begreifen. Aufgrund dieser antagonistischen Struktur und der damit gesetzten relativen 'Zerrissenheit' der vergesellschafteten Menschen kommt es zu einer 'gesetzmäßigen' Kollision der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen, so dass die bisherige Geschichte durch Bewusstlosigkeit bezüglich des Prozessresultats der gesellschaftlich-menschlichen Gesamtaktivität gekennzeichnet ist. Nach Marx, der die durchlaufenen antagonistischen Vergesellschaftungsstufen einschließlich des Kapitalismus als "Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" betrachtet, kann der gesellschaftliche Lebensprozess erst dann seinen mystischen Nebelschleier abwerfen, sobald er "als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht" (MEW 23, S. 94) und die alltäglichen Lebensverhältnisse "durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen" (ebenda). Voraussetzung hierfür ist folglich die Aufhebung der antagonistischen Zivilisation.13 Durch diese Inkongruenz von sich steigernder Naturbeherrschung (kognitive Höherentwicklung) und verharrender bewusstlos-chaotischer Bewegung des gesamtgesellschaftlichen Prozesses (geistig-moralische Stagnation) als Signum der antagonistischen Zivilisation erhält auch der sog. 'Fortschritt' seine janusköpfige Gestalt: "Solange die Herrschaft über Natur erkauft ist durch die über Menschen, solange wird aller Fortschritt antagonistisch sein und 'jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagner trinken wollte'" (Schmidt 1971, S. 129) Wenn aber aufgrund der bisherigen Nichtüberwindung der antagonistischen Zivilisation - und damit als Ausdruck der Beharrungskraft herrschaftlicher Subjekte - im "weltgesellschaftlichen" Maßstab die relative geistig-moralische Stagnation dominiert, so ist damit doch keinesfalls subversiv-widerständige Kreativität im Kontext der Evolution kritischer Vernunft und praktisch-kritischer Bewegungen ausgeschlossen. Denn im Zustand der Blockierung der "menschlichen Gesellschaft" (Marx) bleibt immer noch die Möglichkeit der "einsichtigen Imagination", die sich insbesondere in den progressiven Werken der "Zweiten Kultur" vergegenständlicht (vgl. Tomberg 1978a). In der Marxschen Perspektive vollzieht sich somit die materielle, durch gesellschaftliche Arbeit vermittelte Lebensreproduktion in einem konkret-historischen Geflecht von Beziehungsformen, die die vergesellschafteten Menschen untereinander eingehen, tradieren, reproduzieren und verändern. Insbesondere mit der Teilung der Arbeit wird ein System antagonistischer zwischenmenschlicher (Herrschafts-)Verhältnisse erzeugt, das in jeweils formationsspezifischer Konfiguration in Erscheinung tritt. Als Wirkungsresultat dieses antagonistisch konstituierten Tätigkeitssystems und als Bewegungs- und Austragungsform der damit gesetzten zwischenmenschlichen Widersprüche bildet sich die "revolutionäre", "praktisch-kritische" Tätigkeit als menschliche Praxisform sui generis Die "Selbstzerrissenheit" und das "Sich-selbst-Widersprechen" der antagonistischen menschlichen Gemeinwesen in ihrer jeweiligen historischen Konkretion ruft demnach einen eigenständigen Verarbeitungsmodus hervor, der gesellschaftskritisches Denken (in jeweils historisch limitierter Form) und widerständig-eingreifendes Handeln verbindet: Denn die "Selbstzerrissenheit" der antagonistischen Gesellschaftsform muss "erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden". (MEW 3, S. 534) Die gegenständliche Lebenstätigkeit der vergesellschafteten Menschen erschöpft sich folglich nicht in konstitutiven Akten erweiterter Selbstreproduktion (gesellschaftliche Arbeit als je formationsspezifisch organisierte kollektive Einwirkung auf die Natur). Sie umfasst als weitere wesentliche Dimension eben jene gesellschaftsverändernde "praktisch-kritische' Tätigkeit, die in Gestalt konkret-historisch organisierter kollektiver Praxis ("Geschichte der Klassen- und sozialen Interessenkämpfe') auf die progressive Umwälzung der gesellschaftlichen Regulierungsform des Stoffwechselprozesses mit der außermenschlichen Natur abzielt. Im Rahmen dieser spezifisch-menschlichen Tätigkeitsdimension entsteht nun eine besondere Vergegenständlichungs-/Aneignungslogik, die als "revolutionäres Sozialerbe" gekennzeichnet werden kann: In dem Maße, wie Teile der beherrschten und ausgebeuteten Volksmassen den "widerständigen" Kampf gegen die unterdrückenden Gewalten aufnehmen und sich damit als "praktisch-kritisches" (Kollektiv-)Subjekt formieren, schaffen und reproduzieren sie ein spezifisches Bedeutungsensemble, das als tradierbare "Zweite Kultur' die Möglichkeit kritisch-kämpferischer Individualentwicklung initiiert und fundiert. In inhaltlicher Hinsicht umfasst diese (geschichtlich evolvierende spezifische) Kulturform eine komplex strukturierte Totalität klassenspezifischer multiphänomenaler Bedeutungen: Bücher, Flugschriften, Pläne, Programme, Bilder, Lieder, literarische Werke, Kampfsymbole, Rituale, Normen etc. als besondere Vergegenständlichungen mit der funktionalen Qualität kognitiv-weltanschaulicher Orientierung, emotional-motivationaler Mobilisierung, willentlicher Stabilisierung und handlungsbezogener Identitätsbildung der "praktisch-kritisch' tätigen und vergemeinschafteten Individuen. In dieser tätigkeitstheoretischen Perspektive erscheint dann die revolutionäre Subjektwerdung der "Klasse der Lohnabhängigen' nicht mehr als vorherbestimmtes, teleologisches Wesensattribut, das mit zwangsläufiger Gesetzmäßigkeit zur schließlichen Entfaltung gelangt, sondern als konkret-historisch bedingte Möglichkeitsform kollektiver wie personaler Subjektentwicklung. Die Herausarbeitung des anthropologisch-tätigkeitstheoretischen bzw. emanzipatorisch-'praxisphilosophischen' Kerngehalts der Marxschen Konzeption bietet demnach die adäquate Grundlage und Voraussetzung für die überfällige Überwindung des (im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb institutionalisierten) Auseinanderreißens von gesellschaftlicher (objektiver) und individuell-menschlicher (subjektiver) Entwicklungslogik. Auf menschlichem Entwicklungsniveau bildet das von Marx in der dritten Feuerbachthese vermerkte Zusammenfallen des Änderns der Umstände, der menschlichen Tätigkeit und der Selbstveränderung der Menschen den primären Inhalt der Bewegung, Entwicklung und Differenzierung der mit der sozialhistorischen Subjekt-Objekt-Dialektik verbundenen Widersprüche: Es entsteht 'Kultur' als historisch sich bewegendes gegenständlich-bedeutungshaftes Ensemble von Lösungsmitteln zur Verarbeitung von Widersprüchen zwischen geschichtlichem Subjekt und äußerer (natürlicher und gesellschaftlicher) Realität. 'Leben' heißt 'Tätig-sein', und 'Tätig-sein' (Tätigkeit) erweist sich bei genauerer Betrachtung als subjektive Widerspruchsverarbeitung. Tätigkeit in Form der 'subjektiven Widerspruchsverarbeitung' ist demnach das zentrale Paradigma bzw. die konstitutive "Vermittlungskategorie" zwischen gesellschaftlichem System und individuellem sowie kollektivem Subjekt, mit deren Hilfe der erkenntnistheoretische Dualismus von 'Subjektivismus' und 'Objektivismus' durchbrochen werden kann. Die gesellschaftlich-menschliche Praxis ist kein Bewegungsprozess mit einer a priori eingebauten Fortschrittsgarantie. 'Fortschritt' als progressive Lösung konkret historisch gegebener Widersprüche mit dem Resultat der ganzheitlichen' d. h. materiellen und geistig-moralischen (kulturellen), Höherbewegung der Lebenstätigkeit ist eine kontingente Möglichkeitsform der Widerspruchsverarbeitung. Andererseits ist aber das 'Schicksal' der menschlichen Daseinsgestaltung auch keinem zwangsgesetzlichen Verfallsdeterminismus ausgeliefert. Es besteht also 'Hoffnung', aber nur in einem konsequent 'nichteschatologischen' Sinn. Ob es zu einer Höherentwicklung (Progression) oder einer Stagnation mit anschließender Regression kommt, ist eine offene subjekt-tätigkeit-objekt-dialektische Frage mit zahlreichen Unbekannten. Die Kontingenz menschlicher Lebenstätigkeit ergibt sich wesentlich aus der 'Bedeutungsvermitteltheit' und 'Eigensinnigkeit' des menschlichen Bewusstseins gegenüber der äußeren Realität. Demnach handelt der individuelle Mensch nicht 'bedingungsmechanistisch' aufgrund unmittelbar gegebener Umgebungsreize, sondern immer in gleichzeitig wirksamer Abhängigkeit von gespeicherten Erfahrungen, aktuellen Zielsetzungen und angeeigneten Wirklichkeitsinterpretationen/Bedeutungen als Ensemble von Aussagen, Wertungen und Normen. Die aktuellen 'Einwirkungen' werden folglich durch den individuell-spezifischen Gedächtnis-, Zielsetzungs- und Bedeutungshorizont "gebrochen". Ganz wesentlich für die konkrete 'Ausrichtung' der menschlichen Praxisgestaltung ist demnach die Beschaffenheit der konkret-historisch vorfindlichen bzw. kulturhistorisch gewordenen Bedeutungssysteme, die ihrerseits widersprüchlich zueinander koexistieren. Diese fungieren gewissermaßen als antagonistische "Tankstellen" subjektiver Sinngebungs- und Orientierungsprozesse. Konkret-politisch gesprochen geht es hierbei um die emanzipationswissenschaftlich entscheidende Schnittstelle zwischen Subjektentwicklung und ideologisch-kulturellem Kampf zwischen Herrschenden und Beherrschten. Zu fokussieren ist folglich der Prozess der praktisch-kritischen Subjektwerdung der beherrschten Individuen als eine zu realisierende Alternative im Möglichkeitsfeld subjektiver Realitätsverarbeitung. Die Art und Weise, wie Menschen im konkret-historischen Spannungsfeld zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Autonomie die erfahrenen gesellschaftlichen Widersprüche verarbeiten, rückt damit ins Zentrum. Dabei zeigt sich die ungebrochene Zukunftsfähigkeit der Theorie von Marx und Engels darin, dass sie diesem Prozess einen konsistent emanzipatorischen Zielhorizont verleiht, der folgende "Knotenpunkte aufweist: 1) Entherrschaftlichung/Überwindung antagonistischer Produktions- und Sozialbeziehungen. 2) Entverdinglichung/Überwindung des Waren- und Konsumfetischismus. 3) Aufhebung der Entfremdung/Überwindung der destruktiven (bzw. "sozialentropischen") Anarchie der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen der atomistischen Privatakteure). 4) Reharmonisierung der Mensch-Naturbeziehung/Überwindung der profitlogisch konstituierten Stoffwechselkrise. 5) Implementierung und Pflege einer in sich pluralistischen humanistischen Werte- und Bildungskultur in strikter Bekämpfung herrschaftlicher, verdinglichender, entfremdungsfördernder, naturausbeuterischer ('anti-nachhaltiger') und antihumanistisch-gegenaufklärerischer (religiöser und reaktionärer) Bedeutungssysteme. Damit wäre eine Bedingungskonstellation geschaffen, die subjektseitig eine gelingende Lebensführung bzw. ein Höchstmaß an Lebenszufriedenheit zuließe; und zwar in Anbetracht der objektiven weitestgehenden Ausschaltung von sozialen Aggressions-, Hass- und Neidauslösern (bzw. gesellschaftlichen Stimulatoren negativer Emotionalität). Freie individuelle Zielsetzung und gesellschaftlich optimierte Möglichkeiten der Zielerreichung im Rahmen einer chancengleichen Solidargemeinschaft wäre die Voraussetzung für die erweiterte Reproduktion einer emanzipatorischen Gesellschaft auf kulturell stets wachsender Stufenleiter. Zur aktuellen Erklärungspotenz der Marxschen TheorieIm Hinblick auf ihre räumliche und zeitliche Verortung waren Marx und Engels 'Denker des Übergangs', die den spezifischen Transformationsprozess des europäisch-abendländischen Feudalismus zur bürgerlich-industriekapitalisti-schen Gesellschaft reflektierten. Der Übergang von der allseitig religiös über- und durchformten prämodernen Ständegesellschaft zur modernen, d. h. säkularisierten, auf unpersönlich-sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen beruhenden Klassengesellschaft erscheint ihnen hier als diachroner Vorgang, der drei wesentliche revolutionäre Seiten aufweist: 1) Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals und die Herausbildung des klassendialektischen (Re-)Produktionsverhältnisses von Kapital- und Lohnarbeit im Zuge der 'industriellen Revolution' (Englische Revolution) 2) Die politische Entmachtung des geistlichen (kirchlich-religiösen) und weltlichen Feudaladels (Französische Revolution) 3) Die Auflösung der gottzentrierten Weltanschauung sowie der religiös dominierten ideologischen Denk- und Bewusstseinsformen im Zuge wissenschaftlicher, politischer und alttagskultureller Aufklärungsprozesse und -bewegungen (Philosophie der Aufklärung, deutscher Idealismus, Feuerbachsche Religionskritik etc.). "Alle Emanzipation", so Marx (MEW 1, S.370), "ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst." Das bedeutet insbesondere auch: Bei aller Kritik an der kapitalistischen Entfremdung sowie den Aporien der kapitalistischen Systemreproduktion bleibt "die Kritik der Religion" (samt der mit ihr verbundenen prämodernen/feudalen Herrschaftskultur) "die Voraussetzung aller Kritik" (MEW 1, S.378). Infolgedessen ist für Marx und Engels der Prozess der Auflösung und Beseitigung prämoderner Herrschaftsverhältnisse in all ihren Ausprägungs- und Legitimationsformen ein emanzipatorisch not-wendiger Akt der Höherentwicklung zwischenmenschlicher Vergesellschaftung, eine unhintergehbare Prämisse der globalen menschlichen Emanzipation. Die kapitalistische Gesellschaftsentwicklung stellt somit gegenüber allen prämodernen, religiös legitimierten und auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen basierenden Herrschaftsverhältnissen eine historische Progressionsstufe dar. Ein Bündnis zwischen emanzipatorisch-kapitalismuskritischen und reaktionär-antikapitalistischen (religiös-feudalen) Kräften ist deshalb in jeder Hinsicht ausgeschlossen. Ganz in diesem Sinne heben Marx und Engels die "höchst revolutionäre Rolle" der klassischen Bourgeoisie in zweierlei Hinsicht hervor: Zum einen hat die Bourgeoisie in ihren europäischen Stammländern in gründlichster Weise die Zerstörung aller 'prämodernen', 'traditionalen' Sozialverhältnisse in gründlichster Weise vollzogen.Gegenüber offenem und verdecktem, sozialromantisch gespeistem Wehklagen hierüber ist nachdrücklich zu betonen, dass diese Destruktion im Kern die Beseitigung vorkapitalistischer Herrschaftsstrukturen, also nicht etwa die Zerstörung harmonisch-menschlicher Beziehungen, sondern die radikale Auflösung persönlicher Abhängigkeits-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse bedeutet und damit überhaupt erst einen neuen, zukunftsoffenen Möglichkeitsraum für menschliche Lebensgestaltung 'aufschließt'. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört ... Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen" (Marx/Engels 1980, S. 464f.). Zum anderen hat die Bourgeoisie - "zum großen Bedauern der Reaktionäre" - eine enorme Umwälzung der Produktionskräfte vollzogen, die ökonomischen Austauschverhältnisse globalisiert und den bornierten Erfahrungs- und Lebenshorizont der agrarischen Reproduktionsweise aufgerissen. "Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen" (ebenda S. 467). Sie "reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation" (ebenda, S. 466). Nicht zuletzt hat die Bourgeoisie "das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht" (ebenda). Allerdings muss diese im Kommunistischen Manifest so 'großartig' beschriebene Rolle der Bourgeoisie als Zerstörerin der 'prämodernen'/feudalen Sozialverhältnisse und Umwälzerin der gesellschaftlichen Produktivkräfte bei näherer Betrachtung doch deutlich relativiert werden. In dieser 'Monumentalität? ist die revolutionäre Wirksamkeit der Bourgeoisie nämlich nur haltbar für jene Länder, in denen der Übergang zur kapitalistischen 'Moderne'auf revolutionäre Art vollzogen wurde, d. h. das Resultat einer erfolgreichen Aufstandsbewegung bürgerlich-antifeudaler Kräfte gewesen ist. Hier - in den Niederlanden, England und Frankreich14 - drangen progressiv-antifeudale, gegen die 'prämoderne Herrschaftskultur' gerichtete, 'kritische Bedeutungen' ins Massenbewusstsein und bildeten die Grundlage für eine tiefer gehende geistig-kulturelle 'Katharsis'. Die "kulturelle Moderne' schlug so stärkere ideelle und institutionelle Wurzeln in der nationalen 'Popular-Kultur' und vermochte deshalb breite Teile der subalternen Klassen gerade dann kämpferisch zu inspirieren, als die jeweiligen Bourgeoisien sich als herrschende Subjekte etabliert und von ihren progressiven Idealen losgesagt hatten und die aus dem 'allgemeinmenschlichen Geist' der antifeudalen Umwälzungsperiode hervorgegangenen Institutionen gemäß ihren 'neuen' Herrschaftsinteressen instrumentalisierten. Ein wesentlich anderes Bild zeigten jene Länder wie Deutschland, in denen der Übergang zur kapitalistischen Moderne nicht vermittels einer erfolgreichen antifeudalen Revolution "von unten" unter Beteiligung breiter Teile der Bevölkerung vollzogen wurde, sondern als "konservative Modernisierung" unter der Vorherrschaft prämoderner Herrschaftsklassen "von oben" zustande kam. Hier war nicht die Zerschlagung der feudalen Hegemonie Voraussetzung für die Durchsetzung der kapitalistischen Industrialisierung, sondern die kapitalistische Industrialisierung wurde unter der fortbestehenden Vorherrschaft der Aristokratie realisiert. Kennzeichnend hierfür ist eine spezifische 'Statur' der Handels- und Industriebourgeoisie, "die zu schwach und abhängig ist, die Macht zu übernehmen und selbst zu regieren, und sich deshalb der grundbesitzenden Aristokratie und der königlichen Bürokratie in die Arme wirft und das Recht zu herrschen gegen das Recht, Geld zu verdienen, eintauscht" (Moore 1969, S. 501). Unter diesen Bedingungen eines herrschaftskulturell 'gebrochenen' bzw. reduzierten Übergangs zur ökonomisch-technisch-bürokratischen Moderne bei Fortbestehen zentraler Konstitutionsmomente der tradierten'prämodernen Herrschaftskultur (monarchistisch-aristokratischer Staatsapparat mit entsprechender Legitimationsideologie) wird die Entwicklung, Ausprägung und Tradierung emanzipatorischer Bedeutungen im Sinne der kulturellen Moderne und eine entsprechende politisch-rechtliche Institutionalisierung blockiert. An die Stelle einer progressiven Katharsis des Massenbewusstseins tritt hier die relativ ungebrochene 'geistig-moralische' Bindung breiter Kreise der Beherrschten an prämodern-reaktionäre Kräfte und ideologische Strömungen. Infolge dieser fortbestehenden Dominanz prämoderner Herrschaftskultur/Legitimationsideologie in Verbindung mit 'imperialistisch' gewordener bürgerlicher Ideologie (Sozialdarwinismus, Rassismus, Nationalismus) ist es nahe liegend, dass die aus dem Modernisierungsprozess hervorgehenden Krisen- und Widerspruchserfahrungen auf eine regressiv-reaktionäre Weise verarbeitet werden, d. h. große Teile der "Modernisierungsverlierer" zu einer leichten Beute der Reaktion werden und deren "Antikapitalismus von rechts" folgen. Hatte sich die geistig-politische Bewegung der französische Aufklärung vehement gegen die orthodoxe christliche Theologie als ideologische Bastion des Feudalismus gewandt, so machte die nachrevolutionäre Philosophie des deutschen Idealismus das Bedürfnis der geduckten deutschen (antinapoleonischen) Bourgeoisie an der Beibehaltung der Religion als ideologisches Herrschaftsmittel geltend. Insbesondere in Hegels Philosophie spiegelte sich die spezifisch deutsche Klassenkompromisspolitik des politisch schwachen Bürgertums in Gestalt der Herausarbeitung der angeblichen inneren Einheit von Philosophie und (den bürgerlichen Interessen angepasster) Religion. Erst mit dem Heranreifen der Vormärzbewegung in Deutschland konnte dann mit der Religionskritik Feuerbachs und der Linkshegelianer jene behauptete Einheit erneut in Frage gestellt und das reaktionär-restaurative Moment der Religion der schonungslosen Kritik unterworfen werden. Über Feuerbachs Projektionsthese15 hinausgehend fragt Marx nach dem gesellschaftlichen Grund für diese Projektion menschlicher Wesenskräfte auf eine abstrakt-überirdische Instanz (Gott als Ursprung/"Religion" als Rückwendung auf diesen fiktiven bzw. projizierten Ursprung). D. h. Marx geht es nicht nur um den Nachweis der Irrationalität/Vernunftwidrigkeit des Gottesglaubens, sondern um die Aufdeckung der gesellschaftlichen Ursache des "Gotteswahnsinns". Was treibt die Menschen dazu, ihre eigenen Bestimmungen auf transzendente Wesen zu projizieren? Zwar kann der folgenden Feststellung Feuerbachs zugestimmt werden: "Die tiefsten Geheimnisse liegen in den einfachsten natürlichen Dingen, die der jenseits schmachtende Spekulant mit Füßen tritt. Die Rückkehr zur Natur ist allein die Quelle des Heils" (zit. n. Post 1969, S.93). Aber damit ist noch nicht die Spezifik der menschlich-sozialen Bewegungsform der Natur erfasst. Indem die vergesellschafteten Menschen als nichtidentischer Teil der Natur der außermenschlichen Natur als spezifische Naturmacht gegenüber treten, erzeugen sie nämlich vermittels gesellschaftlicher Arbeit eine qualitativ neue Evolutionsdynamik in Gestalt der (Re-)Produktion überindividueller Bedeutungsstrukturen (Gegenstände/materieller Reichtum; Wissen speichernde Zeichensysteme/ideeller Reichtum). Die Dominanz der Phylogenese wird somit abgelöst von der Dominanz der gesellschaftlich historischen Entwicklung16; Naturdialektik (Selektion bestangepasster Individuen und deren genomische Informationsweitergabe) schlägt um in gesellschaftlich-historische Dialektik (vgl. hierzu ausführlich Holzkamp 1983, S.159-206.) In dem Maße, wie der gesellschaftlich-historische Lebensgewinnungsprozess der Menschen ein Effektivitätsniveau erreicht, das die Erzeugung eines beständigen Mehrprodukts ermöglicht und sich auf dieser Grundlage Formen des Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund- und Boden, Werkzeuge), klassengesellschaftliche und patriarchalische Strukturen sowie staatliche Repressionsgewalten herausbilden, findet nun auch innerhalb dieser neuen antagonistischen Vergesellschaftungsformen ein "Umbau" der spontan-naturreligiösen Bewusstseinsformen in doppelfunktionale religiöse Ideologien statt: Zum einen wird das Religiöse "von oben" eingesetzt als Instrument der Legitimierung der zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnisse. "Die sozialen Prinzipien des Christentums", so Marx in einem Artikel in der Deutsch-Brüsseler-Zeitung 1847, "haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen" (zit. n. Post 1969, S.190). Zum anderen fungiert das Religiöse als Mittel der (Selbst-)Vertröstung der Beherrschten, Erniedrigten und Unterdrückten auf ein erlösendes Jenseits bzw. als imaginärer Ausweg aus dem irdischen Jammertal. D. h. der durch irdische Leidenserfahrungen gespeiste Durst nach Erlösung öffnet das Subjekt für offenbarungsreligiöse Anrufungen "von außen". Die Religion entpuppt sich damit als selbstentmächtigende Versöhnungsdroge mit der schlechten Wirklichkeit oder anders formuliert: "Religion schmückt die Kette der Unfreiheit nur mit phantastischen Trostblumen" (Post 1969, S.170). Folglich reklamiert Marx nicht nur wie Feuerbach die Vertauschung von Subjekt und Prädikat (Projektionsthese), sondern findet darüber hinaus eine Begründung für diese Verkehrung: Das falsche, verdrehte Bewusstsein entsteht aus dem falschen, verdrehten Zustand der Welt: Weil die Welt verkehrt ist, muss das Bewusstsein religiös werden. Der durch antagonistische Herrschaftsverhältnisse zerrissene Mensch erzeugt die Religion als letztendlich regressiv-irreleitendes Mittel der Widerspruchsbewältigung. In diesem Sinne ist die Religion "nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt" (MEW 1, S.379). Die Überwindung der religiösen Entfremdung war für Marx und Engels folglich die conditio sine qua non der menschlichen Emanzipation und die Voraussetzung für die Aufhebung der wertzentrierten kapitalistischen Subjekt-Objekt-Verkehrung. Ohne Überwindung der Gottesreligion ist letztlich auch keine Überwindung der Marktreligion möglich. Andererseits gilt aber auch: Solange die kapitalistischen Fetischformen das gesellschaftlich-durchschnittliche Bewusstsein beherrschen, ist auch keine Überwindung der (bürgerlich adaptierten) Gottesreligion möglich. Heute nun, nach dem Übergang vom bipolaren Zeitalter des Ost-West-Gegensatzes zur Ära der globalen Verflechtung heterogener und multipolarer Herrschaftskulturen, zeigt sich, dass der europäische Übergang von der prämodernen Feudalgesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaftsformierung ein historischer Sonderfall gewesen ist. Was wir jetzt - jenseits des Erfahrungshorizonts von Marx und Engels - beobachten, ist die Herausbildung und Entwicklung kapitalistischer Strukturen ohne aufklärungshumanistisch gespeiste bürgerliche Revolutionen bzw. die Verflechtung prämoderner Herrschaftskultur mit kapitalistischer (ökonomisch-technisch-bürokratischer) Modernität bei gleichzeitiger Abwesenheit grundlegender Aspekte der kulturellen Moderne. Das, was Marx und Engels als 'diachronen' Prozess der Abfolge zweier qualitativ unterschiedener Gesellschaftsformationen rekapitulierten, tritt uns heute gegenüber als 'synchroner' Prozess der Verflechtung prämodern-religiöser und/oder feudal-patriarchalisch-absolutistischer und kapitalistischer Herrschaftskultur. Sowohl die bürgerlich-liberale Modernisierungstheorie als auch der ökonomistisch-mechanistische Parteimarxismus haben den Prozess der Säkularisierung als einen linear-gesetzmäßigen Vorgang betrachtet, der sich gewissermaßen 'automatisch' aus der gesellschaftlichen Durchsetzung technologischer, ökonomischer und bürokratischer Modernisierungsprozesse ergibt. Ungenügend begriffen blieb dabei die Eigenlogik und Ungleichzeitigkeit geistig-kultureller und ideologisch-weltanschaulicher Formierungsprozesse. Insbesondere wurde die Beharrungskraft nichtwestlicher prämoderner Herrschaftskulturen unterschätzt und die zivilisatorische Umgestaltungsmacht von außen eindringender Kapitalisierung überschätzt. So kam es vielfach zu einer bizarren Koexistenz von kapitalistischer Modernität und 'prämoderner' Herrschaftskultur unter Vorenthaltung der 'kulturellen Moderne'. (Kulturelle Moderne = Gesamtheit der Institutionalisierungsleistungen der antifeudalen europäischen Aufklärungsbewegung mit ihrem Höhepunkt in der französischen Revolution: Trennung von Staat, Religion und Privatsphäre, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Idee des freien Individuums etc.). Zugleich wurde im Rahmen der politischen und wissenschaftlichen Diskurse des Ost-West-Konflikts bzw. des Systemgegensatzes zwischen Kapitalismus und Realsozialismus alles 'Nichtwestliche' und 'Nichtsowjetische' als zweitrangig und nebensächlich hingestellt bzw. begrifflich entwichtigt und marginalisiert und somit auch die autonome Prägekraft religiöser Geltungsmacht kategorial ausgeblendet. Der US-Imperialismus wurde als ökonomisch-politisch-militärische Supermachtstruktur "rauf und runter" analysiert, aber der Einbau des Religiösen in die amerikanische Herrschaftskultur blieb ausgeblendet oder wurde bestenfalls als merkwürdige Randerscheinung wahrgenommen. Ebenso blieb der Islam überwiegend ein folkloristisches Exotikum, umgeben mit der orientalistischen Aura von "Tausend-und-Eine-Nacht", während die Todesstrafe für Atheisten und Anhänger des Marxismus-Leninismus in Saudi-Arabien bestenfalls das Interesse von einigen ostdeutschen Dritte-Welt-Spezialisten erregte. Auch dieser epochenspezifischen Wahrnehmungstrübung ist es geschuldet, wenn der "Aufstieg des Religiösen" nach 1989 zum Teil übertrieben wahrgenommen wird. Sowohl die amerikanischen Fundamentalisten als auch die Islamisten waren schon längst da. Auch in Russland, Indien und China sehen wir jeweils spezifische Verflechtungsformen zwischen kulturhistorisch überlieferter vormodern-autoritärer und neokapitalistischer Herrschaftskultur, ohne dass durchsetzungsfähige progressiv-emanzipatorische Akteure in Sicht wären. Auch innerhalb der europäischen Herrschaftselite hat der zunehmende 'postmoderne' Verrat an den Ideen, Prinzipien und Leitbegriffen der 'kulturellen Moderne die Reaktivierung des Religiösen wieder zu einem herrschaftsideologisch relevanten Mittel werden lassen. So hat sich gerade aktuell herausgestellt, dass die Propagierung neoliberaler Marktreligion und die Allgegenwärtigkeit konsumistischer Massenkultur keine dauerhaft befriedigenden Antworten auf die menschlich-existenziellen Fragen nach Lebenssinn und -perspektive bereitzustellen vermögen. Deshalb auch die Bereitschaft breiter Teile der westlichen Herrschaftselite, das Religiöse aus kompensatorischen Gründen als Mittel der geistigen Desorientierung und Fehllenkung menschlicher Handlungsenergien zu reinstrumentalisieren. So erleben wir in der spätkapitalistisch-europäischen Kulturlandschaft eine abstoßende Wiederbeweihräucherungswelle des Religiösen, die zum Teil wie ein horrorartiger Rückfall in die geistige Vormoderne anmutet. Davon zeugte nicht zuletzt auch die gigantische Inszenierung des Medienkatholizismus anlässlich des Ablebens des alten und der Einsetzung des neuen Papstes. Strategisch durchaus konsequent, agieren die christlichen Kirchen in der ersten Reihe der 'Islamversteher' und 'Berufsdialogisten' und versuchen sich am Migrationsimport streng gottesgläubiger Menschen die Hände zu wärmen, d. h. als 'Integrationsexperten' verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Entsprechend agitiert der Vatikan für islamischen Religionsunterricht an europäischen Schulen und verkauft diese staatlich abgesicherte religiöse Indoktrination und Fehlsozialisation unmündiger Kinder als "Ausdruck des Respekts vor dem Menschen"17. Die Kritik an der Vorenthaltung von Menschenrechten in islamischen Ländern wird als "billige Gegenrechnung" denunziert und damit das Prinzip der Gegenseitigkeit in selbstzerstörerischer Weise außer Kraft gesetzt, wenn der Westen gegenüber dem Islam mit seinen grundrechtswidrigen Implikationen uneingeschränkte Religionsfreiheit gewährt, den Islam aber gleichzeitig aus der Pflicht entlässt, die Menschenrechte einzuhalten. In globaler und verallgemeinernder Perspektive betrachtet, ist es deshalb durchaus zutreffend, davon auszugehen, dass sich die gegenwärtige und zukünftige Weltpolitik nur noch unter Berücksichtigung der religiösen Komponente angemessen begreifen lässt (Röhrich 2004). Angesichts dieser synchronen und vielschichtigen Verflechtungsdynamik zwischen 'modern-kapitalistischer' und 'prämodern-religiöser' Herrschaftskultur enthält das Werk von Marx und Engels - unabhängig von seinen zahlreichen epigonalen und ideologisch-feindschaftlichen Entstellungen und Verkürzungen - einen reichhaltigen Fundus an Einsichten, Begriffen, Erklärungen und methodischen Konzepten, die eine begreifende Durchdringung der komplexen und widersprüchlichen Wirklichkeit im Interesse ihrer emanzipatorischen Veränderung ermöglichen. Ohne die eingehende Berücksichtigung und Aneignung dieses wissenschaftlich-methodischen 'Leitfadens' dürfte eine angemessene Analyse der gegenwärtigen welt- und gesellschaftspolitischen Problemkonstellationen kaum möglich sein. Im Einzelnen lassen sich hier insbesondere folgende zentralen Konzepte anführen: 1) Als radikaler Humanismus, der davon ausgeht, dass die Wurzel für den Menschen der Mensch selbst ist, beinhaltet das Werk von Marx und Engels ein begrifflich-methodisches Fundament für die wissenschaftliche Rekonstruktion und Kritik der historisch und gegenwärtig vorfindbaren Systeme zwischenmenschlicher Herrschaft und bildet somit das Grundgerüst einer kritisch-emanzipatorischer Gesellschaftstheorie. Leitgesichtspunkt ist hierbei der kategorische Imperativ, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (MEW 1; S.385).18 2) Aus dem Kontext dieser allgemeinen kritisch-emanzipatorischen Gesellschaftstheorie ergibt sich zunächst eine "Kritik der Religion" und der mit ihr unauflöslich verknüpften prämodernen/vorkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse. 3) Als dialektisch-kritische Erben der Aufklärung halten Marx und Engels einerseits an der antifeudal-revolutionären Ursprungsperspektive der allgemeinen "menschlichen Emanzipation" fest und weisen andererseits die strukturelle Gegensätzlichkeit zwischen emanzipatorischer Zielsetzung und realer (herrschaftsförmiger) Beschaffenheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach. Im Zentrum steht hier die Aufdeckung der widersprüchlich-aporetischen Bewegungsform der kapitallogisch bestimmten Vergesellschaftung (Kritik der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse) 4) Die kategorial-methodische Basis der herrschaftskritisch-gesellschaftstheo-retischen Emanzipationswissenschaft von Marx und Engels ist die materialistisch-dialektische Reflexion der entwicklungslogischen Einheit von Natur, menschlicher Subjektivität und Gesellschaft. Im Zentrum steht hier die Kategorie der 'Praxis' bzw. der 'gegenständlichen Tätigkeit' als vermittelnde (subjektive) Lösungsform der Widerspruchsverhältnisse zwischen Natur, vergesellschafteten Menschen und konkret-historisch überlieferter Kultur (Ensemble von materiellen und ideellen Bedeutungen)19. Auf dieser 'emanzipationswissenschaftlichen' Grundlage lassen sich dann folgende praktisch-kritischen Zielsetzungen im Interesse der Durchsetzung einer postantagonistischen (herrschaftsfreien) Zivilisation begründet in Angriff nehmen: A. Die Zurückdrängung und Überwindung religiös legitimierter (prämoderner) Herrschaftsverhältnisse in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen. B. Die Zurückdrängung und Überwindung westlich-kapitalistischer (spätmoderner) Herrschaftsverhältnisse. C. Die Zurückdrängung und Überwindung "synthetischer" Herrschaftsverhältnisse (Verflechtung prämoderner Herrschaftskultur mit kapitalistischer Modernität ohne kulturelle Moderne). Eine neue globale Emanzipationsbewegung auf der Höhe der aktuellen Widerspruchs- und Krisendynamik hätte sich unverkürzt und unreduziert an dieser Zielstruktur theoretisch- und praktisch-kritisch abzuarbeiten. Hartmut Krauss, Februar 2008 Literatur:Benedikt XVI.: Enzyklika Spe Salvi.http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/ documents/hf_ben-xvi_enc_20071130_spe-salvi_ge.html Eichhorn, Wolfgang, Küttler Wolfgang: "... daß Vernunft in der Geschichte sei". Formationsgeschichte und revolutionärer Aufbruch der Menschheit. Berlin 1989. 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Anmerkungen:1 Vgl. hierzu auch Heinrich 1996. 2 Dem Lohnfetisch liegt der wesensverkehrende Oberflächenschein zugrunde, "als ob ihm (dem Arbeiter, H. K.) sein Produkt gezahlt werde und nicht seine Arbeitskraft" (Marx 1976, S.582). D. h.: das Ausbeutungsverhältnis erscheint in der mystifizierten Form des "gerechten" Tauschs. 3 Zur Kritik des Strukturmarxismus vgl. z. B Schmidt 1971b, Tomberg 1978b und Seppmann 1993. 4 "Noch das Kapital", so ist mit Alfred Schmidt (1971, S. 74) angesichts strukturalistischer Interpretationen entschieden hervorzuheben, "enthält trotz (und infolge) seiner objektiv gerichteten Methode den gesamtmarxistisch tragenden Gedanken, es komme darauf an, die bestehenden Strukturen als geworden und werdend transparent zu machen, mit - praktischer - Subjektivität zu vermitteln." 5 So blieb nicht nur das Kapital unvollendet. Es konnte u. a. auch keine ausgearbeitete Klassentheorie, Staatstheorie und systematisierte Dialektikauffassung mehr fertiggestellt werden. 6 So vermerkt Engels
in einem Brief an
Mehring selbstkritisch: "Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch
in den Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist
und in Beziehung auf den uns alle gleiche Schuld trifft. Nämlich wir
alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen,
rechtlichen und
sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen
vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir
dann die formelle
Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie
diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat dann den Gegnern
willkommnen Anlaß zu Mißverständnissen resp. Entstellungen gegeben ..."
(MEW 39, S. 96).
7 Vgl. hierzu ausführlich Krauss 2003. 8 Indem Marx den tätigen (und eben nicht den einseitig ökonomisch bestimmten) Menschen ins Zentrum rückt und dessen negativ-pessimistische Bestimmtheit als zur 'Erbsünde' oder zum Leben in antagonistischen Herrschaftsverhältnissen verdammtes Wesen bestreitet, konstruiert er keineswegs ein neues Paradies, sondern umreißt die Möglichkeit einer neuen (höheren) Qualitätsstufe menschlicher Selbstvergesellschaftung ohne Gott und Profitlogik, also ohne religiöse und kapitalistische Entfremdung. Damit gelangt weder die Geschichte an ihr Ende, noch werden die Menschen absolut 'gut' und moralisch 'rein'. Allerdings wird mit der Überwindung antagonistischer Sozialstrukturen und der darin eingelagerten Herrschaftspositionen die Reichweite moralischer 'Unreinheit' und menschlicher 'Boshaftigkeit' spürbar reduziert. Deshalb ist auch der jetzt von Papst Benedikt XVI. (2007) erneut aufgewärmte Vorwurf unhaltbar bzw. grob desorientierend, wonach Marx vergessen habe, dass der Mensch immer ein Mensch bleibe, dessen Freiheit immer auch die Freiheit zum Bösen einschließe. Vgl. Krauss 2001a. Zudem muss hier doch mit Nachdruck angemerkt werden, dass es ja gerade die menschliche Erfindung des Religiösen gewesen ist, die ihrerseits das 'Böse' in Gestalt der blutigen Bekämpfung der Anders- und Ungläubigkeit aus sich selbst hervor getrieben und gerechtfertigt hat. Vgl. dazu auch meine grundlegenden Ausführungen zur Entkoppelung von Religion und Moral in Krauss 2001b. 9 Auf weitere tätigkeitstheoretische bzw. subjektwissenschaftlich relevante Implikationen des Werkes von Marx und Engels wie z. B. die Bestimmung des 'menschlichen Wesens', den allgemeinen Arbeitsbegriff, Marx' Bedürfniskonzept u. a. kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu Krauss 1996, S. 66ff. 10 "Der Mensch als ein gegenständlich sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen" (MEW Ergänzungsband, S. 579). 11 Wenn Habermas (1969, S. 287) feststellt: "Wo Dialektik im strengen Sinne historisch (weil ihrem historischen Gegenstand angemessen) sein will, muß sie sich Kontingenz gefallen lassen", so eröffnet gerade die kategoriale Verknüpfung des 'limitierten Möglichkeitsraumes' mit der 'subjektiven Widerspruchsverarbeitung' diesen Ausweg der Befreiung des materialistisch-dialektischen Geschichtsdenkens vom Ballast der Prädestination, der 'Zwangsläufigkeitsmechanik' und der verkappten Teleologie. (Zur 'subjektiven Widerspruchsverarbeitung' vgl. ausführlich Krauss 1996.) 12 In einfacher Negation des subjektivistischen Herrschaftsbegriffs, in dessen Rahmen die herrschenden Kapitalisten als bewusstes (gestaltungssouveränes) Willenssubjekt des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses vorgestellt werden, gelangt Robert Kurz (1993) in Anlehnung an die Marxsche Kritik der kapitalismustypischen Fetischformen sowie mit Schützenhilfe von Luhmann, Althusser u. a. zur Auffassung der 'subjektlosen Herrschaft'. Der für die gesamte antagonistische 'Vorgeschichte der Menschheit' kennzeichnende - und mit der Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf die Spitze getriebene - Tatbestand, dass die vergesellschafteten Menschen nicht als souveränes Gestaltungs- und Steuerungssubjekt ihres gemeinschaftlichen Lebensprozesses fungieren, sondern vermittels der wechselseitigen Durchkreuzung ihrer unmittelbar bewussten Tätigkeitsziele im Resultat eine unbeherrschte Vergesellschaftungslogik mit bewusstseinsentzogenen Steuerungsregeln hervorbringen, wird in dieser Sichtweise dahingehend hypertrophiert, dass herrschaftliche und subalterne Subjektivität im Rahmen der 'allgemeinen Entfremdung' als irrelevantes Nichts ausgeschieden bzw. mindestens als krudes Etwas entwichtigt werden. Ausgeblendet bleiben damit aber zwei transformationsstrategisch relevante Grundaspekte: 1) Die bewusst-willentlich regulierte Behauptung (Ausbau und Verteidigung) von strukturellen Herrschaftspositionen seitens der privilegierten Positionsinhaber, die sich nicht nur im Rahmen der allgemeinen Entfremdung wohlfühlen, sondern den zur Entfremdung führenden antagonistischen Vergesellschaftungszusammenhang auf multiple Weise schützen. D. h. die Nichtexistenz eines omnipotenten Regulators des gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozesses dementiert keinesfalls die Existenz eines aktiv beharrenden, effektiv organisierten, multiinstrumentell ausgerüsteten und strategisch reflektierten Herrschaftssubjekts. (Nur angesichts dieser 'Entsorgung' herrschaftlicher Subjektivität lassen sich übrigens jedwede strategischen Ansätze außerhalb der Krisis-Gruppe als 'politizistisch' abwehren und die Illusion der Implementierung durchsetzungsfähiger 'wertfreier' Inseln im Schoße des Kapitalismus gedeihen). 2) Die Möglichkeit der Herausbildung eines Transformationssubjekts 'a posteriori', d. h. die Genese einer Aufhebungsbewegung der antagonistischen Zivilisation angesichts der multidimensionalen Verstrickungen der Subalternen in die 'Logik der Wertvergesellschaftung'. Mit der eliminatorischen Gleichsetzung des apriorischen (unbewusst konstituierten) Subjekts mit dem Subjekt schlechthin (S. 93) verstellt Kurz die Möglichkeit einer subjektwissenschaftlichen Rekonstruktionsperspektive, so dass letztlich auch der Ruf nach einer Theorie des bürgerlichen Subjekts im Kontext des Krisis-Ansatzes hilflos erscheint bzw. inkompatibel ist (vgl. Hildebrandt 1997, S. 147). 13 "Ungeschichtliches Denken bestünde, so gesehen, in der Unfähigkeit, das Bestehende im Hinblick auf künftige Beherrschbarkeit durch solidarisch handelnde Individuen zu untersuchen" (Schmidt 1971a, S. 132). 14 Amerika ist ein Sonderfall, da hier keine Überwindung autochton gewachsener Feudalverhältnisse zu vollziehen war. 15 Genauer betrachtet beinhaltet diese Projektion die Vertauschung von Subjekt und Prädikat, wobei "Gott" als Personifizierung der menschlichen Idee des Guten erscheint. 16 "Die gesellschaftlichen Lebensformen konnten überhaupt nur entstehen und sich weiterentwickeln, weil sie 'Selektionsvorteile' erbrachten, und die 'zwischenartliche' Konkurrenz, die zum Aussterben bestimmter Hominiden-Formen führte, hatte gleichzeitig den Effekt, dass die Hominiden-Formen mit den jeweils im Sinne der Lebenserhaltung 'besseren' gesellschaftlichen Organisationsweisen in der weiteren Phylogenese erhalten blieben" (Holzkamp 1983, S.179). 17 So der Vatikan Kardinal Renato Raffaele Martino. Vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 10. März 2006, S. 1. 18 Vgl. hierzu Krauss 2003. 19 Vgl. hierzu auch meinen Beitrag "'Widerspruchsverarbeitung' als Grundkategorie einer kritisch-emanzipatorischen Subjektwissenschaft" http://www.praxisphilosophie.de/krauswid.pdf |
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