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Beiträge zur Theorie  










Hartmut Krauss

Konturen der postmodernen Wissenschaftszerstörung

Eine kritische Skizze

Die eigentliche Gefahr, die gegenwärtig vom postmodernen Denken ausgeht, liegt nicht so sehr in seiner (verblassenden) Durchdringung des feuilletonistischen Zeitgeistes, sondern viel mehr in seiner Wirkung als institutionell gestützte geistige Disziplinarmacht. Insofern sich der vom postmodernen Denken durchdrungene Typus in den sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten als themen- und normsetzender, diskurskontrollierender, zertifikatskompetenter, die Karrieren des Wissenschaftsnachwuchses bestimmender 'Gesinnungsclan' festgesetzt hat, fungiert er als epistemologische Machtinstanz bzw. als personell zurechenbarer akademischer Diskurswächter über Wahrheitsfragen, Methoden, Forschungsinhalte und Mittelvergabe. Kernaspekt dieser sich in den letzten 20 Jahren im Gefolge der "geistig-moralischen Wende" sukzessive etablierenden postmodernen "Geistesbürokratie" ist die normative Durchsetzung eines neuen "Wissenschaftsverständnisses", daß de facto auf die Zerstörung der Gesellschaftswissenschaften nicht nur als kritisch-humanistisch ausgerichtete Disziplinen, sondern generell auf die 'Entwissenschaftlichung' gesellschafts- und subjektbezogener Denktätigkeit hinausläuft.

Als zentrale Momente dieser neuen epistemologischen Dogmenlehre des Postmodernismus sind folgende Postulate/Leitorientierungen anzuführen:

1) An die Stelle einer seriösen Reflexion über die konzeptionellen Standards und Geltungsansprüche sowie die Möglichkeiten, Grenzen/Verantwortlichkeiten und Notwendigkeitspotentiale 'moderner' Wissenschaft frönt das postmoderne Wissenschaftsverständnis mit einer scheinbar subversiv-anarchischen Attitüde dem Dogma der Beliebigkeit bzw. des verabsolutierten Relativismus. Gedacht als "Entzauberung der Entzauberung" zielt der postmodernistische Angriff nicht einfach auf die sinnbezogene und funktionale Relativierung der wissenschaftlichen Leistungskraft, sondern auf die Aushebelung der binären Unterscheidung/Unterscheidbarkeit von wahr und falsch als Grundlage des wissenschaftlichen Kommunikationsprozesses. "Wissenschaft besitzt von nun an keine höhere Wahrheitsgewähr als zum Beispiel das Kartenlegen, die Zahlenmystik oder die Schlagzeilen der Boulevardpresse...Ob man sein Wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Kneipengesprächen oder Horoskopen zieht, wird somit zu einer Frage des subjektiven Geschmacks bzw. der persönlichen traditionalen Vorlieben" (Schmidt-Salomon 1999, S.347). Vermittels dieser Entspezifizierung der Wissenschaft und dem damit korrespondierenden "Verlust der Wahrheit" als Leitwert, wird nicht nur das erkenntnisinteressierte Subjekt a priori desavouiert, sonder zugleich esoterischer Obskurantismus unterschiedlichster Spielart als "gleichberechtigt" inthronisiert.

2) Als undifferenziert-regressive Reaktion auf unterschiedliche Spielarten eines deterministischen Fortschrittsglaubens (Technologischer Optimus, Hegelianismus, mechanistischer Parteimarxismus) artikuliert und mobilisiert das postmoderne Denken einen aggressiven/pauschaldenunziatorischen "Affekt gegen das Allgemeine" (Honneth). Nicht nur, daß aufgrund der Nichterfüllung der fortschrittsdeterministischen Verheißungen auf die prinzipielle Aussichtslosigkeit praktisch-kritischer Wirklichkeitsveränderung "kurzgeschlossen" wird, sondern darüberhinaus wird das gesamte Konstitutionsensemble der 'kritischen Vernunft', d.h. die kognitiven Funktionsmomente begreifenden Denkens als Prämisse emanzipatorischer Praxis zur Wurzel aller "modernen" Übel erklärt (vgl. Lyotards "paradigmatische" Ableitung des Phänomens Auschwitz aus der Aufklärung). Die Weigerung bzw. das Unvermögen, zwischen instrumenteller und kritischer Vernunft zu unterscheiden, führt im postmodernen Denken zur Tabuisierung, ja Verteufelung des Denkens von Zusammenhängen, der Aufschlüsselung des Verhältnisses von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem sowie der Vermittlung von Analyse und Synthese. Der erklärte Feind des postmodernistischen Beliebigkeitsdogmas ist somit das begreifende Erkennen als begriffliche Analyse der Entstehungsursachen, Entwicklungszusammenhänge und konstitutiven Beschaffenheitsmerkmale von Realitätsstrukturen. Nicht etwa nur die fortschrittsdeterministischen Zukunftsentwürfe, sondern generell jedwede nichtsingulären theoretischen Erkenntnisabsichten, noch dazu in Verbindung mit einem kritisch-emanzipatorischen Interesse, werden in das "Schmähbild" der "Großen Erzählungen" hineingezogen und entsprechend abgewehrt.

3) Die Kehrseite des postmodernen "Affekts gegen das Allgemeine" bildet die Fetischisierung des Einzelnen und der damit korrespondierende Kult der Differenz. Die als "methodischer Individualismus" zum Prinzip erhobene "Zerschneidung" der Interdependenz von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem verengt den Erkenntnisprozeß a priori auf die Erfassung des unvermittelt Singulären, das nur noch in seiner isolierten Einzigartigkeit betrachtet werden darf, würde doch bereits die Einnahme eines vergleichenden, kategorial-methodisch unterlegten Analyseblickwinkels sofort den Verdacht "totalitärer Vergewaltigung" nach sich ziehen. Damit wird einer verzerrten Ontologie Vorschub geleistet, in der nur noch das lediglich singulär beschreib-, aber nicht mehr hinterfragbare 'Unvergleichlich-Heterogene' existiert. Zutreffend hat Werner Seppmann darauf hingewiesen, daß dieses singularistische Vorurteil nicht nur eine erkenntnistheoretische Involution markiert, sondern "einen unmittelbar legitimatorischen 'Gebrauchswert' bei der Verschleierung der Ursachen sozialer Krisenprozesse (besitzt), sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene: Wenn ein Ereignis nur noch 'in seiner einschneidenden Einzigartigkeit' betrachtet werden soll, wird systematisch der Blick von den Ursachen - beispielsweise von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit - aber auch von den Gründen globaler Katastrophen- und Ungleichheitsentwicklung abgelenkt" (2000, S.47).

Die Behauptung der Inkommensurabilität und damit letztendlich unantastbaren Fundamentalität der "Differenz" eskamotiert nicht nur die progressiv-kritische Bedeutung von Vergleichs- und Bewertungsmaßstäben (z. B. im Sinne des Marxschen kategorischen Imperativs), sondern bewirkt eine Immunisierung für herrschaftsförmige, auf Herrschaftserhalt bzw. Herrschaftseroberung bedachte Partikularitäten (Bewegungen, Parteien, Nationen, Ethnien, Religionen etc.) gegenüber in Frage stellender und wertender Kritik. Auf diese Weise fungiert das postmoderne Denken als "methodologischer" Verharmloser und tendenzieller Apologet reaktionärer/fundamentalistischer Gegenwartbewegungen. (1)

4) Der "Affekt gegen das Allgemeine", die Dämonisierung des Zusammenhangsdenkens sowie die Verabsolutierung des Einzelnen und der "Differenz" läßt als kognitiven Modus nur noch die Haltung der unreflektiert-undistanzierten Unmittelbarkeit zu. Damit wird das subalterne Alltagsbewußtsein, dem die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz entgeht (Holzkamp), diskurstheoretisch vordergründig überhöht, tatsächlich aber in seiner subordiniert-entfremdeten Position und Gestalt befestigt. Mit dieser unkritisch-affirmativen Verdoppelung des unmittelbarkeitsfixierten Alltagsbewußtseins als kognitiver Regulierungsform systemangepaßter (und damit begriffsloser) Lebenstätigkeit ratifiziert das postmoderne Denken den herrschenden Zustand der spätkapitalistischen Entfremdung. Das gegenüber dem kritisch-analytischen 'Ganzheitsdenken' verhängte Verdikt sowie der generelle erkenntnistheoretische Destruktivismus läßt als Alternative nur noch die euphemistische Stilisierung der weit verbreiteten spätkapitalistischen Orientierungslosigkeit zu: "In der Tat geht es nicht darum Irrtümer zu entlarven und aufzulösen, sondern sie als eigentliche Quelle des Reichtums zu sehen, der uns ausmacht und der Welt Interesse, Farbe und Sein verleiht" (G.Vattimo) .. (2)

Unfähig, die kapitalistische Selbstnegation der Moderne als Ursache für die Nichteinlösung der aufklärerischen Versprechen zu erkennen, verdunkelt das postmoderne Denken die vielfältig aufscheinenden Aporien der 'Spätmoderne' und deutet die gesellschaftliche Widerspruchserfahrung in die Gnade eines Abenteuers um. "Angeblich fröhliche Vielfalt ersetzt die Ambivalenzen realer Zersplitterung, das Spiel ersetzt das Bewußtsein mangelnden Einflusses, die Lust an der Katastrophe die Angst vor ihr. Da wird dann der fragmentierten Welterfahrung nicht mehr zur Repräsentation verholfen - sie wird distanzlos perpetuiert. Die Postmoderne entlastet so vom Leiden an Gesellschaft, ohne deren Strukturen analytisch in Frage zu stellen" (Lang 1991, S.63).

Die als "Paradigmenwechsel" stilisierte Regression, die das postmoderne Denken in seiner epistemischen Gestalt ausdrückt, basiert inhaltlich auf einem "Zurück von Marx (3) zu Nietzsche". Diese substanzielle Adaption Nietzsches zeigt sich in allen wesentlichen Konstituenten des postmodernen Denkens: In der pauschalen Diffamierung der Aufklärung ebenso wie in der Verdammung des Fortschrittsbegriffs, in der nihilistischen Dekonstruktion des Wahrheitsproblems ebenso wie in einem bodenlosen ethischen Relativismus, in der Irrationalisierung des Geschichtsprozesses ebenso wie in der Übernahme eines solipsistischen Freiheitsbegriffs (4). So bewaffnet, wirkt das postmoderne Denken zugleich a) als Destruktivkraft gegenüber kritisch-emanzipatorischen Wissenschaftsansätzen und Theorieentwürfen, b) als ästhetisierende Verharmlosungs- und Verdunkelungsinstanz gegenüber antihumanistischen ("neobarbarischen") Ideen und Bewegungen sowie c) als Affirmator der neoliberalen Krisengesellschaft und der in ihr forcierten 'egomanischen' Subjektivität.

Seine ideologische Funktionalität besitzt das postmoderne Denken als Legitimationsfolie des neuen, neoliberalen Typus des käuflichen Dienstleistungsintellektuellen, für den die "traditionelle" Orientierung an Wahrheit und Weltverbesserung im Allgemeininteresse dysfunktional geworden ist. An die Stelle der Wahrheitsorientierung tritt hier die marktwirtschaftliche Orientierung am Interesse des kaufkräftigen Kunden von Beratungs-, Begutachtungs-, Therapie- und sonstigen intellektuellen Dienstleistungen. Für diese kapitalistisch-marktwirtschaftliche Penetration gerade auch des geisteswissenschaftlichen Sektors wirkt das postmodernen Denken wie eine geistige Gleitcreme; es befördert und "rationalisiert" die entskrupelnde Transformation von einer ehemals kritisch-humanistisch ausgerichteten Wissenschaftsausbildung zur Produktion von mietbaren Knechten und Mägden, "deren wissenschaftliche Erkenntnis parteilich verzerrt ist und als Ware gehandelt zur Stützung der Marktanteile der jeweiligen Auftraggeber mißbraucht wird" (Schmidt-Salomon, S.349). Unter diesen Bedingungen der neoliberalen Wissenschaftsformierung werden an Aufklärung interessierte, von kritischer Vernunft geleitete, gesellschaftliche Mißstände aufdeckende und auf praktisch-kritische Veränderung abzielende Theorien und Konzepte per se als kontraproduktiv mißachtet und diskursiv ausgegrenzt, wobei der Postmodernismus das spezielle Geschäft der epistemischen Exkommunikation besorgt. "Eine wissenschaftliche Gesellschaft, in der nicht wissenschaftliche Ergebnisse, sondern die 'richtige' Meinung zu haben für jeden einzelnen (akademische(n) Wissenschaftler(in), H.K.) zur Existenzfrage wird, kann sich keine wissenschaftliche Wahrheitsfindung mehr leisten" (Müller-Mohnssen, zit. n. Schmidt-Salomon, S.352).



© Hartmut Krauss, Osnabrück 2000





Anmerkungen:

1) In der Sicht Bassam Tibis dient die Kritik am Projekt der Moderne primär dazu, "die Revitalisierung des Religiösen zu rechtfertigen. Die Religionskritik der Aufklärung setzte kognitive Potentiale frei; diese gilt es nun zu bändigen und die Sicherheit des Glaubens bei der Welt- und Selbstdeutung wieder herzustellen. Die Leistung der kulturellen Moderne, den Glauben an das Absolute reflexiv zu machen und das religiöse Leben in eine Verkörperung des Prinzips der Subjektivität umzuwandeln, wird gegenwärtig von Vertretern der Postmoderne in Frage gestellt. Einer unter ihnen, Peter Koslowski, versteht die Postmoderne als eine Überwindung der ‚Schranke totalisierender...Vernunftherrschaft', um den Weg für die Wiederherstellung der ‚messianische(n) Hoffnung auf das Absolute' zu ebnen" (1991, S.206). ‚

2) Zit.n. Seppmann 2000, S.51.

3) Gemeint ist gerade auch im Kontext des postmodernen Denkens nicht der "authentische", bei aller Genialität unvollständige, partiell aussagewidersprüchliche und partiell irrtümliche ‚Marx' als tiefschürfender Analytiker der dialektischen Schattenseite der ‚Moderne', sondern der stalinistisch bzw. parteikommunistische verfälschte ‚Marx', dem die Glucksmann, Lyotard, Foucault etc. vormals selbst opferten.

4) Kennzeichnend für Nietzsche ist, wie Honneth (1995, S.16) ausführt, "daß er den menschlichen Lebensvollzug von jeder Bindung an eine übergreifende Zweckvorgabe abkoppelt und in der bloßen Steigerung seiner Möglichkeiten dessen eigentlichen Sinn ausmacht...Ein solches ästhetisches Modell der menschlichen Freiheit ist es, das in der einen oder anderen Weise allen Versionen einer Theorie der ‚Postmoderne' zugrunde liegt...Menschliche Subjekte werden darin als Wesen vorgestellt, deren Freiheitsmöglichkeiten sich dort am ehesten verwirklicht finden, wo sie unabhängig von allen normativen Erwartungen und Bindungen zur kreativen Hervorbringung immer neuer Selbstbilder in der Lage sind. Das Maß der Freiheit, zu dem der einzelne im experimentellen Sich-selber-Schaffen gelangen kann, bemißt sich daher an dem Abstand, zu dem er gegenüber dem kulturellen Wertehorizont seiner Zeit zu gelangen vermag." Nietzsches Entskrupelung des Herrenmenschen ("die blonde Bestie") wird so "zeitgemäß" zur postmodernen Faszination der Amoralität des neoliberalen "Yuppietums" sublimiert.



Literatur:

Honneth, Axel: Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose. Frankfurt am Main 1995.

Lang, Sabine: Ist die Postmoderne tot? Für Leo Löwenthal zum 90. Geburtstag. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft. (19) 1991, 1, S.55-67.

Tibi, Bassam: Die Krise des modernen Islams, Frankfurt am Main 1991.

Schmidt-Salomon, Michael: Erkenntnis aus Engagement. Grundlegung zu einer Theorie der Neomoderne. Eine Studie zur (Re-)Konstruktion von Pädagogik, Wissenschaft und Humanismus. Aschaffenburg 1999.

Seppmann, Werner: Das Ende der Gesellschaftskritik? Die 'Postmoderne' als Ideologie und Realität. Köln 2000.











 

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