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Beiträge zur Politik  








Hartmut Krauss

Der islamische Fundamentalismus als religiöser Totalitarismus.

Die globale Nachrichtenlage ist überwiegend und zunehmend durch Ereignisse bestimmt, die auf die gewalttätigen Handlungen religiös motivierter Fanatiker und Terroristen unterschiedlichster Couleur zurückzuführen sind. Nicht erst seit den spektakulären Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich innerhalb dieser weltweit vorfindbaren unheiligen Allianz von Religion und Terror der Islam als fruchtbarster Nährboden erwiesen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwelche islamistischen Gewalttäter im Namen und zum Wohlgefallen Allahs "Ungläubige" oder Andersdenkende in den Tod reißen. Allerdings wäre es nicht nur eine Vereinfachung, sondern sogar eine Verharmlosung, würde man den Islamismus bzw. islamischen Fundamentalismus auf seine terroristische Ausdrucksform reduzieren. Die interkontinental vernetzten Terrorgruppen fungieren lediglich als ein - wenn auch spektakuläres - Funktionsmoment innerhalb eines arbeitsteilig gegliederten und strategisch differenzierten Tätigkeitskomplexes. Im Rahmen dieses Gesamtzusammenhangs bildet die alltagspolitisch wirksame islamistische Massenbewegung mit ihren Wohltätigkeitseinrichtungen, Spendenvereinen, logistischen Strukturen, Koranschulen, Überwachungs- und Sanktionsmilizen etc. ein mindestens ebenso bedeutsames und bedrohliches Potential. So haben die Islamisten 2002 in Marokko, Pakistan und der Türkei große Wahlerfolge errungen; "in den meisten arabischen Ländern haben islamistische Parteien ... eine Wählerbasis von 15-30 Prozent oder mehr. Sie sind in jedem Fall ein ernstzunehmender politischer Faktor und dürften es auf einige Zeit bleiben" (Perthes 1999, S.144).

Unter der Wirkungsmacht des 'Blockdenkens' bzw. des Ost-West-Gegensatzes als dem herausragenden Analyse- und Bewertungsschema während des Kalten Krieges wurde die kulturelle Eigenständigkeit der islamischen Herrschaftslogik ebenso ignoriert, wie der schubweise Aufstieg des Islamismus zu einer autochthonen Massenbewegung verkannt wurde. Islamische Staaten, Bewegungen, Politiker etc. wurden gemäß dieser eindimensionalen Sichtweise entweder als pro-westlich oder pro-sowjetisch einsortiert, ohne in ihrer autonomen Herrschaftsausrichtung und 'unabhängigen' politisch-ideologischen Inspiration und Beschaffenheit ernst genommen zu werden. Fixiert auf offizielle Beschwörungsformeln wie die wohlfeile Phrase vom Islam als dem ultimativen Sozialismus oder die rhetorische Nachahmung der sowjetischen Propaganda durch Nasser und die Baath-Parteien in Syrien und Irak bekamen z. B. die realsozialistischen Machthaber den islamischen Herrschaftsopportunismus niemals in den Griff. "Immer wieder entglitt dem plumpen Kaderdenken marxistisch-leninistischer Prägung die flexible Machtpraxis islamischer Prägung, die gleichermaßen totalitär agiert, jedoch Konspiration, Mord, Krieg und Religion frei von jeder ideologischen Bindung als Selbstzweck einsetzt" (Raddatz 2002, S.185). Auch die durch und durch utilitaristische Globalstrategie der USA hat letztendlich nicht nur den eigenständig-antiwestlichen Charakter der islamischen Herrschaftsträger bis zum 11. September 2001 ignoriert, sondern vermittels ihrer antisowjetischen Afghanistanpolitik den Islamismus entscheidend mit herangezüchtet.

Während in der jüngsten Vergangenheit der Schematismus des 'Blockdenkens' im Verbund mit einem grobschlächtigen "Antiimperialismus" die kritische Auseinandersetzung mit nichtwestlichen Herrschaftsstrukturen und -bewegungen im allgemeinen sowie mit dem Islamismus im besonderen behinderte, versucht heute eine buntscheckige Allparteienkoalition bestehend aus christlichen Kirchenfunktionären, bürgerlichen Politikern, Großkapitalisten, islamophilen Journalisten, kulturrelativistischen Ideologen und verrannten 'Gutmenschen' unter dem Schlachtruf "Feindbild Islam" eine begreifende Analyse des Islam als religiöse Herrschaftsideologie sowie des Islamismus als (neo-)totalitäre Bewegung zu sabotieren. Eine herrschaftskritisch-emanzipatorische Position gegenüber der vorherrschenden islamischen Weltanschauung wird von dieser "Islamlobby" von vornherein ohne Ansehen substanzieller Argumente unter Rassismus-Verdacht gestellt und damit tabuisiert. Die demagogische Formel lautet: Kritik am politischen Islam/Islamismus = Rassismus/Fremdenfeindlichkeit = Antisemitismus = Holocaust. Nach der "Haltet-den-Dieb"-Methode soll den Islamismus-Kritikern in perfider Manier etwas angelastet werden, was gerade für die islamischen Fundamentalisten zutrifft - nämlich die Kollaboration mit Faschisten und Rechtsextremisten auf der Grundlage antijüdischer Hetzpropaganda. Der ökonomische Hintergrund dieser "Islam-Lobby" liegt - angesichts der übersättigten westeuropäischen und amerikanischen Märkte -zum einen in den auf den arabischen bzw. generell islamisch geprägten Wirtschaftsraum gerichteten Geschäftsinteressen westlicher Großkonzerne. Im Hinblick darauf ist eine möglichst störungsfreie Kommunikation mit den islamischen Machthabern geboten. Eine kritische Auseinandersetzung mit den dortigen Herrschaftsstrukturen, Menschenrechtsverletzungen, Repressionsverhältnissen etc. würde nur das anvisierte big buisiness stören. Und das betrifft nicht nur den Export von Konsumartikeln. Längst ist z. B. Saudi-Arabien nicht nur Hauptsponsor des islamistischen Terrorismus, sondern auch ein äußerst potenter Importeur westlicher Rüstungsgüter. Generell ist bekannt, "daß der islamische Raum - während viele westliche Länder abrüsten - jährlich mehr als die Hälfte der globalen Waffenproduktion aufnimmt" (Raddatz 2002, S.226). Zudem sind die hiesigen Unternehmen an der Zuwanderung billiger Arbeitskräfte interessiert. Sofern Kosten für den Polizei- und Sicherheitsapparat eingespart werden können und Konflikte nicht in die Öffentlichkeit gelangen, haben weder westliche Unternehmer noch Politiker etwas gegen antidemokratisch-repressive Ghetto-Kulturen einzuwenden. Längst ist auch das global agierende 'postmoderne Kapital' antirassistisch, multikulturell und kulturrelativistisch geworden, so daß die entsprechenden IdeologInnen einschließlich der politikwissenschaftlichen Berufsverharmloser hier reichlich funktionalen Broterwerb zu erlangen vermögen. Die Aufgabe der politischen Klasse als Teil der "Islam-Lobby" besteht darin, samtpfötige Diplomatie öffentlichkeitswirksam als "kritischen Dialog" zu verkaufen und die Legende vom absoluten Gegensatz zwischen "friedlichem Islam" und "Terrorismus" zu streuen. Ein Meister dieses Geschäfts ist entgegen weit verbreiteter Klischees auch der "wiedergeborene Christ" George W. Bush, der sich zwar praktisch als kostspieliger Kämpfer gegen den Terrorismus geriert, aber weder Osama Bin Laden, Mullah Omar oder Saddam Hussein dingfest gemacht hat und ansonsten weder der islamistischen Bewegung (z. B. den pakistanischen Koranschulen) noch den islamistischen Herrschaftsregimen (z. B. Saudi-Arabien) auch nur ein Haar krümmt.

Wir haben es demnach mit einer bizarren Konstellation zu tun: Auf der einen Seite eine verwirrende Nachrichtenlage, die aus vielfältigen unzusammenhängenden Informationsfetzen bezüglich islamistischer Umtriebe besteht; auf der anderen Seite eine massenmediale Dominanz von verqueren Diskursen (nachwirkendes 'Blockdenken', vulgärer Antiimperialismus, Postmodernismus, Kulturrelativismus etc.) und Deutungsmustern ("Feindbild Islam", Legende vom friedlichen und toleranten Islam etc.), die einer problemadäquaten Analyse des Phänomens 'Islamismus' entgegenstehen.


Im Folgenden wird mit dem Begriff 'Islamismus' bzw. 'islamischer Fundamentalismus' ein (neo-)totalitärer Bewegungs- und Tätigkeitskomplex bezeichnet, der sich in vier wechselseitig von einander abhängigen Haupterscheinungsformen präsentiert:

1) als globales Netzwerk terroristischer Zellen samt logistischer Infrastruktur;

2) als alltagspolitisch agierende und organisierte Massenbewegung in Gesellschaften mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit;

3) als etabliertes religiös-totalitäres Herrschaftssystem (Iran, Sudan, das frühere afghanische Talibanregime); und

4) als expansiv ausgerichtete Diasporakultur in den westlichen Einwanderungsländern.


Die 'übergreifende' Klammer bzw. vermittelnde Basis dieses Komplexes bildet die islamistische Ideologie/Weltanschauung als subjektprägendes Bedeutungssystem (Einheit von Wirklichkeitsinterpretationen, Wertungen, Vorschriften und Handlungsanweisungen), das die emanzipatorischen Potentiale der unterworfenen Individuen systematisch verschüttet und deformiert und diese zu repressiv normierten "Gottesknechten" degradiert.

Zwar ist eine Gleichsetzung von 'Islam' und 'Islamismus' schon aus dem Grunde unzutreffend, weil der Islam bereits als Glaubenssystem kein homogenes Gebilde darstellt, sondern eine ausgeprägte Binnendifferenzierung in Form unterschiedlicher Konfessionen, Rechtsschulen und kulturell-regionaler Gestaltungen aufweist. Auch gab es innerhalb der kulturhistorischen Entwicklung des Islam progressive Tendenzen wie insbesondere den islamischen Rationalismus. So wurde in den Lehren von Al-Farabi, Ibn Sina, Ibn Ruschd, Ibn Khaldun u. a. die Dogmatik eines strikt theozentrischen Weltbildes aufgebrochen und durch eine rationalistisch-humanistische Sichtweise ersetzt, die bereits Keime der Aufklärung in sich trug. Aber dennoch setzte sich schließlich in den innerislamischen Kämpfen um Auslegungsdominanz und Normierungsmacht der konservative Gesetzes-Islam als herrschende Glaubensinterpretation durch. Und genau diese hegemoniale Interpretationsvariante des Islam bildet die Anknüpfungsgrundlage für islamistische Radikalisierungen und Zuspitzungen. D.h.: Nicht der Islam 'an sich', wohl aber seine dominante konservative Interpretationsvariante ist die Quelle des Islamismus.


1. Der Islam als religiöse Herrschaftsideologie.

Wie alle monotheistischen Religionen weisen auch Koran und Sunna als Grundquellen des islamischen Glaubens einen widersprüchlichen und ambivalenten Charakter auf. Daraus folgt, daß sich unterschiedliche bis gegensätzliche Auslegungen gleichermaßen legitimieren lassen, ohne daß sich letztendlich eine bestimmte theologische Interpretation als "allein gültig" nachweisen ließe. Von herausragender Bedeutung für das islamische Glaubenssystem ist hierbei vor allem der ethisch-normative Bruch zwischen dem mekkanischen und dem medinesischen Teil des Koran. In Mekka stand Mohammed mit seiner kleinen Anhängerschar einer übermächtigen Ablehnungsfront gegenüber. Entsprechend tragen die dort (610-622) offenbarten Koranverse einen überwiegend spirituellen Charakter. Von Kriegsführung und Gewaltanwendung ist angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse noch keine Rede. Nach der Übersiedlung nach Medina und der dortigen Gründung eines islamischen Gemeinwesens ändert sich dann der Verkündungsinhalt radikal, d. h. er wird den neuen Möglichkeiten der kriegerisch-räuberischen Selbstbehauptung 1 gegenüber einer feindlichen Umwelt angepaßt 2 . Aus der Position der errungenen Stärke wird nun ein friedlicher Ausgleich mit den Ungläubigen ausgeschlossenen: "Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben, denn Verführung3 ist schlimmer als Totschlag" (ebenda, S. 61). Das Konzept des 'Djihad', d. h. der 'Anstrengung' zur Verbreitung bzw. Durchsetzung des Islam, ist jetzt nicht mehr begrenzt auf 'Überzeugungstätigkeit' mit friedlichen Mitteln, sondern wird mit militärischer Gewaltanwendung verknüpft und gewinnt so den Charakter des "heiligen Krieges".

Tatbestand ist demnach, daß sich im Koran sowie in der Sunna des Propheten sehr wohl genügend Legitimationsgründe für eine "strenge", d. h. herrische, kriegerisch-gewalttätige und intolerante Auslegung finden lassen. Demgegenüber ist die Behauptung eines homogen "mildtätigen", d. h. auf gleichberechtigte Aussöhnung bedachten, friedliebend-gewaltlosen und toleranten Islam als schönfärberisches Trugbild zurückzuweisen.


Falsch ist auch die dualistische Gegenüberstellung, die besagt, der Islam sei eine 'reine' Religion, während der Islamismus eine Ideologie darstelle. 4 Hier wird Wahrheit durch erdichtete Zweckmäßigkeit ersetzt. Der Fehler liegt in der irrtümlichen Projektion des modernen individualrechtlichen Religionsverständnisses auf den Islam. Die innerhalb der europäischen Moderne vollzogene Trennung von Religion, Staat, Recht und Privatsphäre kann nämlich nicht unvermittelt und tatsachenwidrig auf den islamisch geprägten (prämodernen ) Herrschaftsbereich übertragen werden, der keine rechtlich geschützte individuelle Wahlfreiheit in weltanschaulichen Fragen zuläßt, sondern auch in diesem Sektor 'monokratisch' verfaßt ist. Entsprechend ist der Islam als allein herrschende Religion nicht einfach nur ein privates Glaubenssystem, sondern eine umfassende Weltanschauung, politische Doktrin und Herrschaftsideologie. Die Gesetze Allahs als dem einzigen und allmächtigen Schöpfer der Welt und des Menschen, die im Koran ewig und endgültig festgelegt sind, beinhalten nicht etwa nur spirituelle Aussagen und rituelle Hinweise, sondern Regeln, Vorschriften und Hinweise für alle Lebensbereiche, denen der Gläubige unbedingt zu folgen hat. 'Islam' bedeutet damit Unterwerfung unter den Willen Allahs in allen Lebensfragen wie Tagesablauf, Ernährung, Kleidungsordnung als Ausdruck von rechtgläubiger Moral, politisches, wirtschaftliches und soziales Handeln, das Verhalten gegenüber einer nichtmuslimischen Umwelt etc. Die alltagspraktische Befolgung der Gottesgesetze ist der wahre Gottesdienst der gläubigen Muslime und bildet den 'eigentlichen' Kern des gesamten Islam = Hingabe an Gott. Aus diesem Grund ist auch eine Trennung von Staat, Religion, Recht und Privatsphäre grundsätzlich ausgeschlossen: "Religiöse und politische Gemeinschaft sind eins: Das Staatsvolk ist Gottesvolk, das religiöse Gesetz (shari’a) Staatsgesetz" (Hagemann 1999, S.402) Im Grunde ist der Islam damit weniger eine spirituelle Glaubenslehre als vielmehr eine strikt antiindividualistische religiöse Weltanschauung und Moralideologie, die auf eine absolutistische Durchregulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, insbesondere auch des Familienlebens, bis in die kleinste Einzelheit abzielt. Die Ausübung von Herrschaft ist im Rahmen dieses kulturellen Codes zusätzlich an die mit Sanktionsdrohung und -ausübung gepanzerte Überwachung der Regeln des Moralkodex gekoppelt. Der gesellschaftliche 'Sinn' dieses 'ganzheitlichen' religiösen Bedeutungssystems besteht so letztlich in der Legitimierung und Stabilisierung kulturspezifisch konstituierter Herrschaftsverhältnisse.


Worin zeigt sich nun der herrschaftslegitimierende Charakter des orthodox-konservativen Mehrheits-Islam im einzelnen?

1) In seiner Selbstbespiegelung sieht sich der Islam als letztgültige und damit einzig wahre Religion. Während in der Nachfolge von Abraham Moses als Überbringer der Thora und Jesus als Überbringer des Evangeliums aufgetreten sind, ist der nach ihnen kommende Prophet Mohammed als Überbringer des Koran dadurch ausgezeichnet, daß er als letzter die endgültige, umfassende, einzig wahre und vollendete Offenbarung von Allah empfing und somit Geltung als "Siegel der Propheten" beansprucht. Demnach hat sich Gott vermittels Mohammed im Koran abschließend und kategorisch geoffenbart. Daraus wird dann der herrschaftliche Geltungsanspruch des Islam als die einzig "wahre" und überlegene Religion abgeleitet und mit der religiösen Pflicht zur Islamisierung verbunden, also der weltweiten missionarischen Verbreitung des Islam. Folgerichtig akzeptiert das islamische Glaubensbekenntnis auch keine interkulturelle Gleichberechtigung, sondern impliziert die Forderung nach Unterordnung/Unterwerfung der Anders- und Nichtgläubigen. Dieser Dominanzanspruch hat noch "nichts mit Fundamentalismus zu tun, sondern (er) ist Inhalt der orthodoxen Doktrin von der Verbreitung des Islam, das heißt der Islamisierung, zu der die Hidjra, also die Migration gehört" (Tibi 2002, S.267).


Der Selbstsicht des Islam als einzig wahre und überlegene Religion, die bereits im dogmatischen Grundansatz antipluralistisch ist und eine gleichberechtigte Koexistenz und Kommunikation mit Anders- und Nichtgläubigen ausschließt, findet ihre 'organische' Entsprechung in der Glorifizierung der Umma, der Gemeinschaft aller gläubigen Muslime, als beste aller menschlichen Gemeinschaften. So heißt es in Sure 3, Vers 110 des Koran: "Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißet, was Rechtens ist, und ihr verbietet das Unrechte und glaubet an Allah". Ausgestattet mit einem solchermaßen religiös-narzißtisch begründeten Selbstbild sieht sich der konservative Mehrheits-Islam dazu berechtigt und verpflichtet, alles 'Unislamische' zu bekämpfen und seinen Herrschaftsanspruch gegenüber den unterlegenen und minderwertigen 'Ungläubigen' durchzusetzen. Dabei ist diese herrschaftliche Abgrenzung und Selbstaufwertung der Umma gegenüber der Masse der Anders- und Nichtgläubigen nicht etwa ein besonderes Merkmal des Islamismus, sondern gehört zum grundlegenden Kern des islamischen Weltanschauung. Im Zentrum dieser religiösen Herrschafts- und Ungleichheitsideologie steht der Begriff Kufr: "Kufr steht für jede Religion, Weltanschauung, Gruppierung oder Glaubensgemeinschaft, die man nicht unter der Definition 'Islam' einordnen kann - Kufr ist somit ein Sammelbegriff für jede nicht islam-konforme Lebensweise" (Zaidan, zit. n. Zentrum Demokratische Kultur 2003, S.95). Diese imperial ausgerichtete Bekämpfung des Kufr konkretisiert sich in der Erzeugung und Propagierung eines Feindbildes, das heute primär in der Verteufelung der 'modernen' bzw. säkularen Gesellschaft erscheint. Als "verdorben", "unrein", "verwerflich" etc. gilt alles, was nicht den konservativ interpretierten "göttlichen Gesetzen" entspricht bzw. sich dem absolutistischen Geltungsanspruch des Gesetzes-Islam entzieht.


2) Die klassische Weltsicht des Islam ist die herrschaftlich-moralistische Unterscheidung zwischen dem "Reich des Islam" (Dar-al-Islam) und dem Reich des Krieges (Dar- al-Harb). Zum "Reich des Islam" gehören demnach in erster Linie die Gemeinschaft aller rechtgläubigen Muslime und in zweiter Linie diejenigen Juden oder Christen ("Schriftbesitzer"), die sich der politisch-gesellschaftlichen Herrschaft des Islam unterwerfen und gegen Zahlung einer Steuer den Status eines Dhimmis, d. h. eines 'geschützten' Bürgers zweiter Klasse, erlangen. Die Gesamtheit des Kufr hingegen, all jene Elemente, welche die Herrschaft des Islam ablehnen und sich damit der gottgewollten Ordnung verweigern, bilden das "Reich des Krieges". Dieses Reich der Ungläubigen ist von den Muslimen als Feind anzusehen: Es in Form des 'kleinen Djihad' 5 bzw. des "heiligen Krieges" zu bekämpfen ist göttliche Pflicht. Die Handlungslogik der frühmuslimischen Beutezüge widerspiegelnd, wird die Verpflichtung zum heiligen Krieg im Koran sowie in den Traditionen des Propheten (Hadith) immer wieder betont. Hierzu einige Beispiele:

"Sie wünschen, daß ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, und daß ihr (ihnen) gleich seid. Nehmet aber keinen von ihnen zum Freund, ehe sie nicht auswanderten in Allahs Weg. Und so sie den Rücken kehren, so ergreifet sie und schlagt sie tot, wo immer ihr sie findet; und nehmet keinen von ihnen zum Freund oder Helfer" (Sure 4, 89).

"Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf" (Sure 9, 5).

"Kämpfet wider jene von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verwehren, was Allah und sein Gesandter verwehrt haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut aus der Hand gedemütigt entrichten. Und es sprechen die Juden: Esra ist Allahs Sohn.' Und es sprechen die Nazarener: 'Der Messias ist Allahs Sohn.' Solches ist das Wort ihres Mundes. Sie führen ähnliche Reden wie die Ungläubigen von zuvor. Allah, schlag sie tot! Wie sind sie verstandeslos!" (Sure 9, 29, 30).

"Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt. ... Und hätte Allah gewollt, wahrlich, er hätte selber Rache an ihnen genommen; jedoch wollte er die einen von euch durch die anderen prüfen. Und diejenigen, die in Allahs Weg getötet werden, nimmer leitet er ihre Werke irre. Er wird sie leiten und ihr Herz in Frieden bringen. Und einführen wird er sie ins Paradies, das er ihnen zu wissen getan. ... Und viele Städte, stärker an Kraft als deine Stadt, welche dich ausgestoßen hat (Mekka), vertilgten wir, und sie hatten keinen Helfer!" (Sure 47, 4-6, 13).


Im Djihad-Gebot gelangen zwei zentrale Wesensmerkmale des Islam zum Ausdruck: Zum einen der militant-kriegerische Wille zur totalen Weltherrschaft:

"Und kämpfet wider sie, bis kein Bürgerkrieg6 mehr ist und bis alles an Allah glaubt" (Sure 8, 40).
Das islamische Gottesgesetz soll nicht nur für ein auserwähltes Volk gelten, sondern über alle Menschen herrschen 7 . Zum anderen wird deutlich die moralische Vorrangstellung der militanten Glaubenskämpfer als "Muslime erster Klasse" hervorgehoben :
"Und nicht sind diejenigen Gläubigen, welche (daheim) ohne Bedrängnis sitzen, gleich denen, die in Allahs Weg streiten mit Gut und Blut. Allah hat die, welche mit Gut und Blut streiten, im Rang über die, welche (daheim) sitzen, erhöht. Allen hat Allah das Gute versprochen; aber den Eifernden8 hat er vor den (daheim) Sitzenden hohen Lohn verheißen" (Sure 4, 959.

Dem universellen Herrschaftsanspruch des Islam entspricht folglich die Dominanz einer militärischen Akzentuierung des Djihad-Prinzips, was konsequenterweise die moralische Vorrangstellung der aktivistischen Glaubenskämpfer beinhaltet. Um diese nun in ihrer Eigenschaft als Märtyrer, die für die Durchsetzung der Gesetze Allahs ihr irdisches Leben opfern, zu prämieren, hat der Islam - gewissermaßen als psychische Antriebsquelle - einen ausgeprägten Paradiesglauben kultiviert. Es gibt nicht nur eine Sure, in der die Figur des Märtyrers idealisiert wird, wie manchmal behauptet wird (vgl. z. B. Meddeb 2002, S.202):

"Und wähnet nicht die in Allahs Weg gefallenen für tot; nein, lebend bei ihrem Herrn, werden sie versorgt" (Sure 3, 169). So heißt es z. B. auch in Sure 4, 76: "Und so soll kämpfen in Allahs Weg, wer das irdische Leben verkauft für das Jenseits. Und wer da kämpft in Allahs Weg, falle er oder siege er, wahrlich, dem geben wir gewaltigen Lohn." Sehr eindeutig sind auch folgende Aussprüche Mohammeds, die in den Traditionen überliefert sind: "Gott unterstützt den, der für den Pfad Gottes kämpft. Wenn er überlebt, kehrt er mit Ehren und Beute beladen nach Hause zurück. Wird er aber getötet, wird er ins Paradies gelangen." "Die Grenzen des Islam nur einen einzigen Tag zu bewachen ist mehr wert als die ganze Welt und alles, was in ihr ist." "In den letzten Tagen werden die Wunden der Kämpfer für den Pfad Gottes offenbar werden, und Blut wird ihnen entströmen, aber es wird wie Moschus duften". "Im Kampf für den Pfad Gottes getötet zu werden löscht alle Sünden aus." "Wer stirbt und nie für die Religion des Islam gekämpft hat und nie auch nur in seinem Herzen zu sich gesprochen hat: 'Wollte Gott, daß ich ein Held wäre und für den Pfad Gottes sterben könnte', der ist einem Heuchler gleich." "Für den Pfad Gottes zu kämpfen oder dazu entschlossen sein ist eine göttliche Pflicht. Wenn dein Imam dir befiehlt, in den Kampf zu ziehen, dann gehorche ihm."


Die elementare Verknüpfung von religiösem Überlegenheitsanspruch, universell-absolutistischem Herrschaftswillen und Djihad-Prinzip hat zwei folgenschwere Konsequenzen:

Zum einen wird hier mit der religiösen Überhöhung von Gewaltanwendung sowie der normativen Verankerung von Mord, Raub, Versklavung und Tributabpressung als religiöse Pflicht eine aggressive Disposition bei den unter dem Diktat des konservativen Gesetzes-Islam sozialisierten Gläubigen geschaffen. So kann es auch nicht überraschen, daß selbst unter in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen ein überaus starker "Zusammenhang zwischen einem islamzentrierten Überlegenheitsanspruch mit einer vorwiegend konservativ-traditionellen Sichtweise und einer religiös fundierten Gewaltbereitschaft" (Heitmeyer/Müller/Schröder 1997, S.130) herausgefunden wurde 10 . So stimmten 35,7% der befragten türkischen Jugendlichen der Aussage zu "Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubig durchzusetzen". 24,3% bejahten die Aussage "Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, andere zu erniedrigen". 28,5% regierten positiv auf die Aussage "Gewalt ist gerechtfertigt, wenn es um die Durchsetzung des islamischen Glaubens geht". Und 23,2% stimmten der Aussage zu "Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten". (Vgl. Heitmeyer/Müller/Schröder 1997, S.129).

Zum anderen fördert das islamische Überlegenheitsgefühl und der daraus hervorgehende Herrschaftswille die Orientierung auf eine kleptokratisch-parasitäre Raub-, Plünderungs- und Tributabpressungsökonomie an Stelle einer vernunftgeleiteten produktiv-kreativen Wirtschaftstätigkeit und Wissenskultur. D. h. der normative Kanon des Islam ist auf die Fixierung einer aristokratisch-klientelistischen Herrschaftskultur konzentriert mit ihren prämodern-mittelalterlichen Abhängigkeitsverhältnissen, Verteilungsprinzipien, Bereicherungsmethoden, Wertvorstellungen und Ehrenbegriffen. Damit sind die elementaren Bestandteile eines Teufelskreislaufes benannt, der heute in der fatalen Verbindung von leicht entflammbarer Aggressionsbereitschaft, einer ausgeprägten Rentiersmentalität und ökonomischer Stagnation sichtbar wird. (Vgl den ersten und zweiten arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung 2002 und 2003.)


Insgesamt betrachtet entspricht dem islamischen Streben nach universeller Herrschaft ein differenziertes strategisches Vorgehen, das weltliche Kräfteverhältnissen sehr wohl zu berücksichtigen weiß. Seine Grundmaxime lautet: Verpflichtung zum Kampf mit offenem Visier bei eigener Stärke und fremder Schwäche; Unterlassung des offenen Kampfes bei eigener Schwäche und fremder Stärke. Angesichts einer Machtkonstellation, wo die Kräfte des Kufr überwiegen, was beispielsweise für die Situation immigrierter Muslime in einem nichtislamischen Einwanderungsland zutrifft, ist demnach die Methode der 'Verstellung' bzw. 'Täuschung' angebracht. D. h. der Glaubenskämpfer wird dazu angehalten 'taqiya' zu üben. 'Taqiya' bedeutet, daß ein Muslim seine religiöse Überzeugung oder seine wahren Absichten verbergen soll, wenn er sich in einer unterlegenen Position befindet. So heißt es in der Scharia:

"Wenn es möglich ist, ein Ziel nur durch Lügen und nicht durch die Wahrheit zu erreichen, dann ist lügen erlaubt, wenn das Ziel eine erlaubte Handlung ist, und obligatorisch, wenn das Ziel obligatorisch ist... (Die Welteroberung durch den Islam ist ein obligatorisches Ziel, Anm. Redaktion.)" (Verein contra Fundamentalismus/http://mypage.bluewindow.ch/a-z/vcf/index2.html.)

Als konkrete Verhaltensform tritt 'taqiya' als heuchlerische Anpassung an die nichtislamische Umgebung bei gleichzeitiger Verschleierung der eigenen Absichten in Erscheinung. Das gilt insbesondere auch für die doppelbödige Praxis der türkischen Islamisten in Deutschland: "Gegenüber Deutschen und in deutscher Sprache betont man unablässig, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen und den Dialog zu wollen. Gegenüber Türken und in türkischer Sprache überwiegen Hetzparolen gegen die deutsche Demokratie, den Pluralismus und die angeblich 'sittlich verrotete' deutsche Gesellschaft'" (Hildegard Becker, zit. n. Spuler-Stegemann 2002, S.55).


3) Der Islam tritt aber nicht nur nach außen mit einem imperialen Herrschaftsanspruch auf, sondern dient auch nach innen als normative Begründung und Rechtfertigung einer intramuslimischen Herrschaftsordnung. Unter Verweis auf den Koran, Sure 4, Vers 59 ("O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben"), werden die irdischen Herrschaftsbeziehungen innerhalb der islamischen Gemeinwesen als heiliges Gebot Allahs sanktioniert. Im Zentrum dieser islamischen Herrschaftsordnung steht der Imam, der Leiter der muslimischen Gesamtgemeinschaft. Da das religiöse und das staatliche System eine Einheit bilden und der Imam als Nachfolger des Propheten (Kalif) gilt, fungiert er zugleich als unantastbarer religiöser und politischer Führer im Interesse der Erhaltung der göttlichen Gesetzesordnung. Nach dem Tod Mohammeds und der ersten vier Kalifen wurde während der Dynastie der Abbbasiden der Islam zunehmend an die neuen Erfordernisse der Herrschaftstätigkeit angepaßt. Dabei ging es vordringlich darum, die herrschaftlichen Tributforderungen und Steuern angesichts des ausgedehnten islamischen Reiches und der nun stagnierenden Expansion zu begründen 11 In diesem Prozeß der verstärkten legitimatorischen Funktionalisierung des Islam übernahmen die Rechtsgelehrten zunehmend "die Rolle von Herrschaftsideologen" (Ayubi 2002, S.54) und Beratern der Imame und es etablierte sich der konservatisch-herrschaftideolgische 'Gesetzes-Islam'. Den Rechtgelehrten oblag es , die jeweilige Herrschaftspraxis im nachhinein im Sinne der religiösen Quellen zu rationalisieren, also 'sophistisch' einen Einklang zwischen absolutem Text und Realität zu konstruieren. Ibn Taimiyya (1236-1328), der heute ein herausragender Bezugsautor der islamischen Fundamentalisten ist, bestimmte den Sultan als "Schatten Allahs auf Erden" und betonte, daß die sechzigjährige Herrschaft eines ungerechten Imams besser sei als eine einzige Nacht ohne einen Sultan. Damit wird ein Widerstandsrecht der Muslime auch gegenüber einem von den religiösen Vorschriften abweichenden Herrscher kategorisch ausgeschlossen; vielmehr wird Widerstand mit strafwürdigem Unglauben gleichgesetzt und als Gotteslästerung verfolgt. Das dominant werdene Islam-Konzept der herrschaftsideologischen Rechtsgelehrten bestimmt damit die Menschen als Sklaven Gottes sowie als gehorsamspflichtige Untertanen der herrschaftlichen Vollstrecker und Sachwalter des göttlichen Willens. Zudem wird die Erneuerung von Glauben und Gesellschaft in Form rational begründeter Innovation als Häresie angesehen und verfolgt. Im Endeffekt wird die Entsubjektivierung der Menschen kategorisch festgeschrieben: "Die Menschen sind die Diener Gottes, die Herrscher vertreten Gott bei seinen Geschöpfen, und sie sind Ermächtigte über diese selbst" (Ibn Taimiyya, zit. n. Tibi 1996, S. 173). Grundcharakteristikum des Gesetzes-Islam ist damit die 'Heiligung' der bestehenden, in der Regel despotischen Herrschaftsordnung. Das schließt ein: (a) das Fehlen eines antidespotischen Widerstandsrechts der Muslime gegen "ungerechte" Herrscher sowie (b) die Vorenthaltung von Individualrechten. In dieser bis heute dominanten Form erweist sich der Islam als ideologisch-normativer "Kitt" des orientalischen Despotismus.


4) Das Herzstück des herrschaftsideologischen Islam-Konzepts ist die Transformation von Koran und Sunna in das Konstrukt des islamischen Gottesgesetzes, die sog. Schari’a. Dabei handelt es sich um eine willkürliche Schöpfung orthodoxer Rechtsgelehrter, die den situationsspezifischen Aussagebestand des Koran sowie zeitgebundene Äußerungen und Verhaltensweisen des Propheten (Traditionen/Hadith) in ein absolutes und unwandelbares, jederzeit und überall geltendes System von Vorschriften und Strafregeln verwandelten. Wesentlicher Bestandteil dieses Konzeptes ist die Setzung der Rechtsgelehrten als höchste Autoritäten und Wächter der Schari'a , denen die Oberhoheit in Auslegungs-, und Entscheidungsfragen zukommt. Demnach darf niemand die Auslegung des Koran und der Schari’a durch die mittelalterlichen Gelehrten in Frage stellen. So heißt es in der kategorischen Forderung an Koranschüler:

"Lege nie einen Koranvers nach deiner eigenen Vorstellung aus, sondern prüfe nach, wie ihn die Gelehrten des "heiligen Textes und die weisen Männer, die vor die lebten, verstanden haben. Wenn du den Vers anders verstehst und deine Auffassung dem "heiligen Gesetz" widerspricht, verlass deine erbärmliche Meinung und schleudere sie gegen die Wand" (Vgl. Fußnote 14).


In dieser Gestalt vollendet sich der Totalitätsanspruch des Islam, der ja darauf abzielt, den ganzen Menschen in allen Lebensbereichen zu erfassen12. Denn mit der Schari’a tritt die islamische Religion als absolutistisches System von Alltagsregeln, Vorschriften und Sanktionen in Erscheinung, denen sich der Einzelne bei Strafe massiver körperlicher und psychischer Repression bis hin zur Todesstrafe fügen muß.


Der Charakter der Schari’a als Kodex einer totalitären Lebensführungsdiktatur manifestiert sich deutlich sichtbar in folgenden Bestimmungen 13 :

"'Den Koran erörtern ist Unglaube' (und soll mit dem Tod bestraft werden)."

"'Eine sarkastische Einstellung gegenüber irgend einem Gesetz oder einer Verordnung des 'heiligen Gesetzes' haben.' (bedeutet 'Abfall vom Glauben' und wird mit dem Tode bestraft.)"

"Frömmigkeit ist, sich allen Gesetzen der Scharia unterwerfen."

"Heiliges Wissen (Kenntnisse über die Scharia) ist mehr wert als Frömmigkeit."

"Weder ist 'gut', was die Vernunft als 'gut' erachtet noch 'böse', was sie als 'böse' taxiert. Der Masstab von Gut und Böse ist das "Heilige Gesetz", nicht die Vernunft."

"(Dschihad (Heiliger Krieg) meint den Krieg gegen die Nicht-Muslime ... und bedeutet, Kriegführung, um die Religion zu etablieren ...)"

"'Leugnen, dass es Allahs Wille ist, dass die ganze Welt der Religion von der Botschaft des Propheten folgt' (ist Abfall vom Glauben und wird mit dem Tod bestraft.)".

"Es ist obligatorisch, den Befehlen und Verboten des Kaliphen (islamischen Führers) (oder seinem Vertreter) zu gehorchen ... auch wenn er ungerecht ist."

"... dass es gegen das Gesetz verstößt, sich Kaliphen zu widersetzen und sie zu bekämpfen, auch wenn sie korrupt sind..."

"Wenn ein strenger Herrscher einen unfähigen Muslim als Richter einsetzt, werden dessen Entscheide aus Notwendigkeit befolgt, um die Anliegen und Interessen der Menschen nicht zu verderben."


Ein weiterer Wesenszug der Schari’a besteht in der detaillierten Festlegung sowohl von rituellen Praktiken als auch von profanen Alltagshandlungen. So ist z. B. das fünfmalige Beten pro Tag zahllosen Regeln bezüglich der Reinheit von Kleidung, Boden und Körper, der richtigen Körperhaltung beim Gebetsvorgang, der verbindlichen Aussprache des Gebets usw. unterworfen. Ebenso verhält es sich mit Essens- und Kleidungsvorschriften. So "propagieren islamistische Religionsdeuter inzwischen selbst Medikamente mit einem kaum noch nachweisbaren Alkoholzusatz und Süßigkeiten, wie Gummibärchen oder Schokolade als haram 14 , da in ihnen Gelatine enthalten ist, die aus Knochen vom Schwein hergestellt wird. Die Liste der entsprechenden Ernährungsvorschriften ist inzwischen derart umfangreich, dass die Verbraucherzentrale in Bremen extra dazu ein Büchlein herausgegeben hat" (Zentrum Demokratische Kultur 2003, S.161).


Ein wesentlicher Bestandteil der Schari’a sind die Strafgesetze. Unterschieden wird in diesem Bereich zwischen Verstößen gegen das Gottesrecht (Haq Allah) und Vergehen von Menschen gegen Menschen (Haq adami). So darf ein Muslim seinen Glauben weder wechseln noch widerrufen. Für Apostasie sieht die Schari’a für Männer die Todesstrafe vor. Die Vollstreckung der Todesstrafe erfolgt mittels Steinigung oder Enthauptung durch das Schwert. Weitere Strafbestimmungen, die sich bereits bei Ibn Taimiyya finden, sind z. B.: "Wer Zina (unehelichen Verkehr) begeht, soll mit Steinen beworfen werden, bis der Tod eintritt. ... Wer Wein trinkt, soll ausgepeitscht werden" (Tibi 1996, S. 175). Auch Homosexualität wird mit der Todesstrafe geahndet, während lesbische Liebe zunächst "nur" mit 100 Peitschenhieben bestraft wird und "erst" beim vierten Mal die Todesstrafe zur Anwendung gelangt. Nach Auffassung des Experten Joseph Schacht ist das islamische Recht "das Mark des islamischen Denkens ... der Kern und das Wesen ... des Islam selbst. ... Die Theologie war nie in der Lage, eine vergleichbare Bedeutung im Islam zu erlangen ... es ist unmöglich, den Islam zu begreifen, ohne das islamische Recht zu verstehen" (zit. n. Tibi 2000, S. 87).


5) Der herrschaftsbegründende und -legitimierende Wesenszug des Islam tritt nicht zuletzt in einem ausgeprägt repressiven Patriarchalismus in Erscheinung. Die Grundlage hierfür bietet die folgende unmißverständliche Aussage des Koran (Sure 4, Vers 34):

"Die Männer sind den Frauen überlegen wegen dessen, was Allah den einen vor den anderen gegeben hat, und weil sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) auslegen. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten), wie Allah für sie sorgte. Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet - warnet sie, verbannt sie aus den Schlafgemächern15 und schlagt sie. Und so sie euch gehorchen, so suchet keinen Weg wider sie; siehe Allah ist hoch und groß."


Diese patriarchalische Ungleichstellung und Herrschaftsbeziehung zwischen den Geschlechtern ist untrennbar mit einer repressiven Sexualmoral verknüpft. In deren Mittelpunkt steht ein Bild von der Frau als einem von Begierden getriebenen Wesen, das als permanenter Ausstrahlungsherd satanischer Versuchungen unter fortwährender männlicher Gehorsamskontrolle zu halten ist. "Der Philosoph Al-Ghazali (gest. 1111) spricht sogar vom Verhältnis des Mannes zur Frau als dem Jäger zur Beute, der sie zur Strecke bringt, um dem Dienst an Allah gerecht zu werden" (Raddatz 2002, S.284). Zur Bannung der vom weiblichen Wesen ausgehenden Versuchung und zur Eindämmung der daraus erwachsenden Gefährdungen schreibt die praktische Ethik des Gesetzes-Islam eine Reihe von operativen Maßnahmen vor. Ihre wichtigsten sind: (a) eine rigorose voreheliche Trennung der Geschlechter; (b) die weitgehende Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Raum und (c) die Verschleierung der Frauen in der Öffentlichkeit. Hinzu kommt, daß der Geschlechtsakt als unrein gilt. Er "wird von Riten und Beschwörungen begleitet, die eine gefühlsmäßige Distanz schaffen und die geschlechtliche Befriedigung auf seine elementarsten Funktionen reduziert: Orgasmus und Fortpflanzung. Die Botschaft des Islam ... geht davon aus, daß die Menschheit nur aus Männern besteht. Die Frauen stehen außerhalb der Menschheit und sind sogar eine Bedrohung für sie" (Fatima Mernissi, zit. n. Raddatz 2002, S.285).

Die islamische Projektion der Frau als triebhafte Abgesandte teuflischer Versuchung, die letztendlich die Alleinverantwortung für die durch sie ausgelöste Begierde des Mannes trägt, hat schließlich auch zur Blockierung einer männlichen Selbstkontrolle des Sexualverhaltens durch Verinnerlichung und Sublimierung beigetragen. Wie Ayubi (2002, S. 60) klarstellt, "legt die arabisch-islamische Kultur den Nachdruck auf die Durchsetzung der Moral 'von außen' anstelle 'von innen' - auf Vorkehrungsmaßnahmen anstelle von 'verinnerlichten Verboten'. Anstelle von Männern Sozialisierung und Erziehung zur Selbstbeherrschung zu erwarten, besteht die Lösung im Endergebnis darin, den Körper der Frau zu verbergen und sie - mit Ausnahme der ehelichen Beziehung - so gut wie möglich von Männern fern zu halten."16

Der moralische Vergesellschaftungseffekt dieses islamischen Geschlechtsdiskurses besteht nun darin, daß Frauen, die sich "unvorschriftsmäßig" verhalten, also sich z. B. unverschleiert und ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit bewegen, als moralisch defizitär und damit als "Freiwild" angesehen werden.

Daß unter den soziokulturellen Herrschaftsbedingungen des islamischen Patriarchalismus Liebesheiraten und Partnerschaftsehen 17 sich nur schwerlich entwickeln können, ist desweiteren dem Umstand geschuldet, daß die islamische Ehe im Grunde nicht auf freier Partnerschaftswahl beruht, sondern im Stile eines Kaufvertrages geschlossen wird, wobei die Frau auf die Eigenschaft einer austauschbaren Handelsware mit sexueller Grundfunktion beschränkt ist. So dominiert auch heute noch in der islamischen Welt der Modus der 'versprochenen Zwangsheirat' bzw. der patriarchalisch kontrollierten 'unfreien Gattenwahl'. Entsprechend "blieben in den meisten muslimischen Ländern Polygamie, Kinderheirat und Scheidung durch Verstoßung gesetzlich und häufig sozial zulässig. Polygamie und Kinderheirat, beide vom Schah abgeschafft, wurden von der Islamischen Republik im Iran wieder eingeführt" (Lewis 2001, S.90). Nach Mitteilung von Frauenrechtsorganisationen werden heute im Niger jedes Jahr zehntausende Mädchen im Alter von 11-13 Jahren zur Hochzeit gezwungen (Neue Osnabrücker Zeitung vom 25.06.2002, S.3). Auch in Deutschland werden islamische Zwangsehen unbehelligt praktiziert, wie schon von christlichen Frauenverbänden berechtigterweise angeprangert wurde 18 .


Während dem Mann (a) das Recht der Mehrehe, (b) das Recht auf Züchtigung der Frau und (c) das alleinige Recht auf Scheidung zusteht19, tauscht die Frau Unterwerfung unter die Autorität und Kontrollherrschaft des Mannes gegen materielle Sicherheit und Schutz ein. Die eheliche Herrschaftsstellung des Mannes konkretisiert sich schließlich in seiner permanenten Verfügungsgewalt über den Körper der Frau, die ihm nicht nur jederzeit als Sexobjekt zu dienen hat, sondern der er auch verbieten kann das Haus zu verlassen, einer Arbeit nachzugehen oder zu reisen.

"Der Mann ist nur verpflichtet, seine Frau zu unterhalten, wenn sie sich ihm hingibt oder sich ihm anbietet, das heisst, sie erlaubt ihm vollen Genuss ihrer Person und verweigert ihm nie Sex, weder am Tag noch in der Nacht. Sie ist nicht berechtigt zum Unterhalt wenn:

(1) sie rebellisch ist (das heisst, wenn sie ihm nicht gehorcht, sogar nur für einen Moment)

(2) sie ohne eine Erlaubnis reist, oder mit seiner Erlaubnis aber aus eigenem Bedürfnis;

(4) sie ohne Erlaubnis des Gatten freiwillig fastet ..." (weil er dann tagsüber auf Sex verzichten muss...)" 20


Fatal wirkt sich in diesem patriarchalischen Herrschaftskontext obendrein der elementare Tatbestand aus, daß die islamische Mannesehre unmittelbar an das normativ einwandfreie Verhalten seiner weiblichen Verwandten gekettet ist, so daß öffentlich bekanntgewordene Fehltritte wie z. B. "Fremdgehen" der Ehefrau, Verlassen des Ehemannes, Verweigerung des Beischlafs nach Zwangsverheiratung, Eingehen einer verbotenen Ehe mit einem Nicht-Muslim oder ähnliche Unbotmäßigkeiten oder Eigenwilligkeiten drakonische Strafen wie Steinigung oder Auspeitschen bzw. sog. Ehrenmorde nach sich ziehen.

Das zentrale Wahrzeichen des islamischen Patriarchalismus und Ausdruck der totalitären Konstitution der familialen Keimzelle der islamischen Herrschaftsordnung ist das Kopftuch und/oder die Ganzkörperverschleierung der Frauen. Als Legitimationsquelle des orthodoxen Gesetzes-Islam gilt hier Sure 33, Vers 59 des Koran:

"O Prophet, sprich zu deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, daß sie sich in ihren Überwurf verhüllen. So werden sie eher (als anständige Frauen, H. K.) erkannt und werden nicht verletzt."

In der Schari’a heißt es : "Die Nacktheit eines Mannes ... betrifft den Körper zwischen Nabel und Knie. Nacktheit einer Frau (auch wenn sie ein kleines Mädchen ist) betrifft den ganzen Körper ausser den Händen und dem Gesicht" 21


Entscheidend ist aus kritisch-analytischer Perspektive, das das Kopftuch angesichts der inhaltlichen Beschaffenheit und sozialisatorischen Prägekraft des konservativen Mehrheitsislam nicht einfach auf ein Symbol religiöser Überzeugung verkürzt und damit verharmlost werden kann, wie es eine indolente formaljuristisch überfrachtete Diskurslandschaft suggeriert. Worum es sich hierbei handelt, ist vielmehr das erzwungene oder bewußt-willentlich zum Audruck gebrachte Bekenntnis zu einer antiwestlichen, demokratie- und grundrechtsfeindlichen Herrschaftsideologie in religiöser Verpackung .Was in Gestalt des Ludin-Urteils negativ auf den aufklärungsethisch entkernten deutschen Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsapparat zurückschlägt, ist die eingangs bereits benannte Fehlbeurteilung des Islam als "reine" Religion. Tatsächlich aber sind im Islam Spiritualität, Herrschaftsideologie und grundrechtswidrige Normativität so eng miteinander verwachsen wie im menschlichen Körper Knochen, Muskeln und Sehnen. Das Kopftuch als passiven Ausdruck ausschließlich religiöser/spiritueller Überzeugung anzusehen ist deshalb nicht nur naiv, sondern selbstbeschädigend, denn es ist ein Symbol der Verachtung, das sich zum einen gegen die Werte der kulturelle Moderne richtet und zum anderen antiaufklärerische Integrationsverweigerung signalisiert. Es soll das Einleben und soziokulturelle 'Ankommen' seiner Trägerinnen und Hintermänner in der nichtmulimischen Aufnahmegesellschaft verhindern und sie in einer islamischen Subkultur gefangenhalten, wo sie leicht zu manipulieren sind. So ist das Kopftuch Wahrzeichen nicht nur der Islamisten, sondern auch des offiziellen orthodoxen Islam . "Beide vertreten den politischen Islam, beide verteufeln die westliche Kultur und beide wollen aus der Welt einen islamischen Gottesstaat à la Saudi-Arabien oder Iran machen. Die verschleierte Frau, die sich mit ihrer Kleidung zum Islam bekennt und sich damit gegen den Westen stellt, gehört zu ihnen, denn sie lassen keinen andern Islam zu als den ihrigen. Jedes neue Kopftuch bedeutet eine sichtbare Stärkung ihrer Ideologie. Darum setzen sie soviel daran, die Musliminnen davon zu überzeugen, dass sie den Schleier tragen müssen" (Verein contra Fundamentalismus, vgl. Fußnote 14). Generell ist die normative Leitidee des konservativen Islam, wonach die weibliche Hälfte der Menschheit aus religiösen Gründen zur öffentlichen Gesichtslosigkeit gezwungen wird, Ausdruck einer menschenfeindlichen Weltanschauung22, die nicht nur eine schwere Beleidigung und Demütigung säkular-humanistisch orientierter Menschen darstellt, sondern darüber hinaus auch ganz und gar unvereinbar mit den Leit- und Verfassungswerten eines menschenrechtlich-demokratischen Gemeinwesens ist.

Der Islam ist demnach zwar kein monolithisches, also ganz und gar gleichförmig-undifferenziertes Gebilde, aber ein durch konservativ-traditionalistische Auslegungsarten dominiertes Bedeutungssystem, das den einzelnen Gläubigen bzw. das islamische Subjekt systematisch in eine antiemanzipatorische, zugleich sklavische (gegenüber Allah), herrschsüchtige (gegenüber den Ungläubigen) und selbstgefällige (gegenüber dem sklavisch-herrschsüchtigen Ich) Richtung drängt. Hervorzuheben ist zudem, daß im Prinzip alle relevanten islamischen Bekenntnisformen inhaltlich gleichgerichtete totalitär-fundamentalistische Strömungen hervorgebracht haben, so z.B. den sunnitischen Fundamentalismus der Moslembruderschaft, den saudiarabische Wahabismus, den schiitisch-khomeinistische Fundamentalismus, die religiöse Ideologie der Ahmadiyya-Sekte etc.


Hinzu kommt die nahezu lückenlose multi-nationale Präsenz des Islamismus in allen Gesellschaften mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit von Marokko bis Indonesien.

Zweifellos gab und gibt es innerhalb des islamisch geprägten Kulturkreises fortschrittliche und humanistische Tendenzen. Aber wahr ist auch, daß sich diese Tendenzen bislang nicht durchzusetzen vermochten und so gut wie nie hegemoniefähig waren. So sind die "Vernichtung der Bücher des Averroes und sein Aufenthalt am Pranger vor der Moschee in Cordoba ... nur fragmentarische Beispiele für ein Vielzahl von Repressalien, denen kreatives, nichtorthodoxes Denken im Islam ausgesetzt war und ist" (Raddatz 2002, S.100). In dieser vorherrschenden Form ist der Islam vom Islamismus bzw. islamischen Fundamentalismus nicht etwa durch eine hermetische Mauer getrennt und stellt somit auch keinesfalls "das ganz Andere" oder aber das direkte Gegenteil dar. Ebenso wie der deutsche Faschismus im sog. "Jungkonservatismus" der Zwischenkriegszeit seine weltanschauliche Wegbahnung vorfand, beruht der islamische Fundamentalismus auf der umfassenden geistigen Vorarbeit des traditionalistischen Schari’a-Islam. Entsprechend läßt sich auch eine enge soziale, politische und ideologische Verflechtung zwischen den konservativ-traditionalistischen und den fundamentalistischen Kräften des Islam nachweisen. So stellten sich etwa im Jahr 2000 Ägyptens islamische Autoritäten zusammen mit der islamistischen Opposition gegen einen Gesetzentwurf, der es Frauen erlaubt hätte, auch ohne die schriftliche Einwilligung ihres Mannes ins Ausland zu reisen. Die Regierung zog das Vorhaben zurück. Eine ebenso erfolgreiche Koalition, die die parlamentarische und die außerparlamentarische islamistische Opposition sowie den Religionsminister zusammenbrachte, verhinderte in Marokko einstweilen wesentliche Änderungen des Familienrechts - insbesondere ein Verbot der Polygamie -, die Marokkos junger König Muhammad VI. offenbar gerne durchgesetzt hätte" (Perthes 2002, S.121).


So erweist sich der Islamismus seinem inhaltlichen Wesen nach lediglich als eine selektive Radikalisierung und kämpferische Zuspitzung kulturraumspezifisch vorgefundener konservativer Ideen, Ideologeme und Interpretationsmuster. Deshalb ist es auch ganz und gar ungerechtfertigt, wenn muslimische Propagandisten - im Sinne eines schönfärberischen Ablenkungsmanövers für die westliche Öffentlichkeit - den islamischen Fundamentalismus als illegitime Fälschung des "wahren Islam" auszugeben versuchen. Dem widerspricht wiederum vehement die in ihrem Heimatland Bangladesh verfolgte und mit dem Tode bedrohte Schriftstellerin Taslima Nasrin. Nach ihrer Auffassung besteht zwischen der Kernsubstanz des Islam und dem Islamismus kein Unterschied: "Alle Lehren des islamischen Fundamentalismus stammen aus dem Koran, der Sunna und den Hadithen. (...) Konsequenter und kohärenter als moderate und liberale Muslime haben die Fundamentalisten den Islam zur Grundlage einer radikal-utopischen Ideologie gemacht, die zum Ziel hat Freiheit und Demokratie (abzuschaffen)" (MIZ 4/02, S.25).

Natürlich sind nicht alle gläubigen Muslime orthodoxe Anhänger und radikale Verfechter des konservativ-reaktionären Scharia-Islam sowie des fundamentalistischen Islamismus. Bezogen auf den historisch gewachsenen und dominant gewordenen Aussage- und Interpretationsbestand des Islam - verkörpert in den autoritativen Mehrheitsauffassungen der islamischen Rechtsgelehrten - ist aber gleichfalls festzustellen, 'daß liberale' und 'moderate' Auslegungsarten einem abweichlerischen Revisionismus gleichkommen und sich folgerichtig in der Minderheit befinden. Der Verweis auf die Existenz moderater Auslegungsvarianten vermag somit nicht den totalitären Charakter des Islam als Herrschaftsideologie zu widerlegen.


2. Der islamische Fundamentalismus als regressiv-reaktionäre Widerspruchs- und Krisenverarbeitung

Wie seine verwandten christlichen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Ausprägungsformen verkörpert auch der islamische Fundamentalismus, ähnlich wie die (neo)faschisistische Ideologie und Praxis als andersartige Totalitarismusvariante, den Typus einer aktivistischen, reaktionär-regressiven Widerspruchsverarbeitung angesichts einer zugleich objektiv-realen (ökonomischen, sozialen, politischen) und geistig-kulturellen Krisensituation. Charakteristisch ist hierbei, daß zwar reale gesellschaftliche Krisensymptome (soziale Gegensätze, Werteverfall, gesellschaftliche Anomie, Entsittlichungsphänomene u.a.) mobilisierungsideologisch aufgegriffen und angeprangert werden, aber zugleich hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden herrschaftsstrukturellen Verursachungs- und Erzeugungsmechanismen verkannt und verzerrt, d.h. regressiv umgedeutet werden. Daraus resultiert dann eine 'reaktionäre' Orientierung und Handlungslenkung auf die Wiederherstellung traditioneller bzw. die Vertiefung bestehender Herrschaftsverhältnisse.


Um nun die Gestaltung konkreter Widerspruchs- und Krisenverarbeitungsprozesse genauer zu untersuchen, muß man die folgenden analytischen Untersuchungsschritte durchführen und aufeinander beziehen:

A) Aufschlüsselung der objektiven gesellschaftlichen Widerspruchs- und Krisenkonstellation als "Betroffenheitsgrundlage" des subjektiven Verarbeitungsprozesses;

B) Sichtung des kulturraumspezifisch vorhandenen objektiven "Bedeutungs- und Ideenmaterials" als Anknüpfungs und Orientierungsbasis für die subjektive Widerspruchs- und Krisenbewältigung sowie

C) Beschaffenheitsanalyse des widerspruchs- und krisenverarbeitenden Subjekts.


Bei der vorangegangenen Behandlung des Islam als religiöse Herrschaftsideologie haben wir uns auf der zweiten Analyseebene bewegt und den konservativ-orthodoxen Gesetzes-Islam als herrschaftskulturell dominantes Bedeutungssystem beleuchtet. Dabei wurde der Islamismus seinem inhaltlichen Wesen nach als eine selektive Radikalisierung und kämpferische Zuspitzung kulturraumspezifisch vorgefundener konservativer Ideen, Ideologeme und Interpretationsmuster bestimmt.


2.1 Die Verarbeitung der globalen Krise der islamischen Herrschaftskultur

Wenden wir uns nun der ersten Analyseebene zu und behandeln die Frage nach der subjektiv bedeutsamen Widerspruchs- und Krisenkonstellation der islamischen Gemeinschaft. Welche konkreten Widerspruchserfahrungen liegen dem schubweisen Aufstieg des Islamismus zugrunde?

Während im Selbstverständnis zumindest der streng gläubigen Muslime der Islam bzw. die im Koran fixierte Offenbarung den End- und Höhepunkt allen menschlichen Wissens darstellt und die Umma die beste aller menschlichen Gemeinschaften bildet, steht die weltweite politisch-militärische Vorherrschaft und ökonomisch-technologische Überlegenheit der westlich-nichtisalmischen Zivilisation dazu in einem eklatanten Widerspruch. D. h. der nach universeller Herrschaft strebende Islam sieht sich, spätestens seit dem Einfall Napoleons in Ägypten und dem Zerfall des osmanischen Reiches durch den 'überlegenen' Westen in seinen elementaren (identitätsbildenden) Herrschaftsambitionen blockiert. Den historisch-politischen Hintergrund für die Entstehung breit gefächerter Re-Islamisierungsbewegungen in den islamisch geprägten Ländern bildet demnach der neuzeitliche Zerfall des muslimischen Überlegenheitsgefühls, d. h. die identitätsbedrohende Erfahrung, daß die islamisch-arabische Kulturregion ihre ehemalige Dominanzposition im Weltmaßstab eingebüßt hat. Während der mittelalterlichen Glanzperiode schien nämlich die islamische Selbstbespiegelung, die "beste von Gott erschaffene Gemeinschaft unter der Menschheit" zu sein, ihre Entsprechung in der Wirklichkeit zu finden. Das galt nicht nur für die geistig-kulturelle Blüte im 8. bis 12. Jahrhundert, sondern auch für die militärisch gestützte Machtstellung des osmanischen Imperiums, das der von 1520 bis 1566 regierende Suleiman II. Kanuni ("der Prächtige") auf den Zenit seiner Größe und Herrlichkeit führte. Seit der Niederlage der osmanisch-türkischen Armeen, die mit den Verträgen von Karlowitz (1699) und Passorowitz (1718) besiegelt wurde, setzte dann allerdings ein schmerzlicher Wahrnehmungsprozeß ein, in dessen Spannweite nicht die eigene, sondern die fremde ('westlich-abendländische') Kultur in Gestalt von 'moderner' (Waffen-)Technik und Wissenschaft, kriegerisch-kolonialistischer Durchsetzungs- und Behauptungsfähigkeit, ökonomischer Potenz etc. als überlegen und übermächtig erfahren wurde und wird.


In neuerer Zeit ist diese durch die Realität erzwungene 'Verkehrung' des arabisch-islamischen Überlegenheitsgefühls in eine selbstwertverletzende Unterlegenheitserfahrung insbesondere durch die arabische Niederlage im israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg 1967 23 eher noch vertieft worden. Durch diese traumatische Zäsur wurden zentrale Visionen zerstört bzw. demaskiert, die bis dahin als politische Leitkonzepte fungiert hatten; so die Ideale der arabischen Einheit, des arabischen Sozialismus 24 , der Befreiung Palästinas sowie der selbsttragenden ökonomischen Entwicklung. Als Reaktion auf die damit hervorgerufene "Glaubwürdigkeitskrise" und zwecks Wahrung ihrer angeschlagenen Machtpositionen sahen sich eine Reihe der diskreditierten arabischen Regime zur Installierung, Förderung und 'Steuerung' islamistischer Bewegungen veranlaßt. Eine besonders provozierende Erscheinungsform der westlich-abendländischen Dominanz bildet heute natürlich die militärische Präsenz der USA und weiterer westlicher Staaten in der islamischen Welt und hier vor allem, bis zum 11. September 2001, die Stationierung von Truppen sowie die Errichtung von Militärbasen in Saudi-Arabien, dem Land der heiligen Stätten (Mekka und Medina). Nach dem 11. September und dem militärischen Sturz des fundamentalistischen Taliban-Regimes sowie der militärischen Beseitigung der baathistischen Diktatur im Irak tobt aktuell ein heißer, wenn auch asymmetrischer Krieg zwischen der neokonservativ und christlich-fundamentalistisch regierten USA und den militanten Kräften der islamisch Herrschaftszivilisation.


'Haß auf den Westen' ist angesichts dieser globalen Unterlegenheits - und Fremdbestimmungserfahrung nicht etwa, wie viele in vordergründiger Gutgläubigkeit annehmen, die unschuldige Reaktion eines Subjekts, das nach freiheitlicher Selbstbestimmung und emanzipatorischem Abbau zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse strebt. Was im Islamismus aufschäumt, ist vielmehr der aggressive Ausdruck eines frustierten Willens zur globalen Herrschaft - die sozialpsychologisch-ideologische Präsenz eines sich dominiert fühlenden Subjekts, das selbst Herrscher sein will und lange Zeit Herrscher war. Zwar beinhaltete die islamische Kultur in Gestalt des rationalistisch-humanistischen Denkens eines Averroès und anderer Vertreter der "aristotelischen Linken" (Bloch) progressive Tendenzen. Aber diese wurden durch die repressive Hegemonie des konservativen Gesetzes-Islam an den Rand gedrängt, in ihren Institutionalisierungs- und Tradierungsmöglichkeiten behindert und damit letztendlich verschüttet. So blieb die 'Aufklärung' das qualitativ bestimmende 'Vorsprungsereignis' des Westens, während im islamisch beherrschten Kulturraum weder eine Trennung von Politik, Privatsphäre und Religion vollzogen wurde, noch die Idee der Menschenrechte und die Stärkung des Individuums zum Durchbruch gelangte und sich damit der orientalische Despotismus unbeschadet reproduzieren konnte. Im ungebrochen fortexistierenden theozentrischen Weltbild des orthodoxen Islam blieb der Mensch "Gottesknecht" und folglich in seinen rational-kreativen und emanzipatorisch-gesellschaftsverändernden Handlungspotentialen entscheidend blockiert und gelähmt. Dieser kulturhistorisch wirksame und gesamtgesellschaftlich prägende Triumph des Gottesgesetzes über instrumentelle ratio und kritisch-humanistische Vernunft erzwang das Verharren des islamischen Subjekts in einer veralteten, fatalistisch-passivierenden Selbstsicht und bildet den endogenen Krisengrund der islamischen Zivilisation. Anstatt aus der kapitalistischen Selbstnegation der Moderne zu lernen, wurde die kulturelle Moderne verteufelt, die ökonomische und technologische Modernität partiell übernommen und die Tradition des Despotismus beibehalten. Diese Beibehaltung der despotischen und oligarchisch-klientelistischen Herrschaftskultur bei nur partieller und einseitiger Übernahme westlicher Modernität (Technologie und kapitalistische Profitlogik ohne Menschenrechte, Pressefreiheit, freie Wahlen und ein säkulares Werte- und Bildungssystem) führte wiederum zur verfälschten und eindimensionalen Wahrnehmung der Moderne in der islamischen Welt und mußte schließlich scheitern. "Da die Anleihe beim westlichen Modell nicht zu Ende geführt wurde, geriet sie zu einer weiteren Niederlage, die all die anderen Niederlagen während der vorangegangenen Entwicklungen nur noch verschlimmerte" (ebenda, S.126). Dieses Scheitern der selektiven Modernisierung mit dem Resultat technologisch erneuerter Despotien bildet natürlich den politischen Nährboden für die Kräfte des islamistischen Totalitarismus, deren demagogisches Geschäft u.a. darin besteht, "das ausländische Modell an sich schlecht zu machen, ohne die Verfälschung zu beachten, die es bei seiner Anwendung erfahren hatte. Indem sie zur Rückbesinnung auf das eigene Modell aufrufen, vergessen diese halbgebildeten Agitatoren, daß das Scheitern der Demokratie im Rückfall in den Despotismus begründet ist, auf dem auch das von ihnen vertretene Modell basiert" (ebenda).


Der regressiv-reaktionäre Charakter der globalen Widerspruchsverarbeitung seitens der islamistischen Bewegung zeigt sich nun insbesondere darin, daß die Ergründung für die frustrierende Unterlegenheit nicht etwa in Form einer selbstkritischen Analyse der endogenen Entwicklungsprozesse und der internen Beschaffenheitsmerkmale der eigenen Herrschaftsordnung vorgenommen wird, sondern zur Konstruktion eines selbstentlastenden, alle Selbstverantwortung von sich weisenden Doppelmythos geführt hat. Demnach resultiert die Unterlegenheit zum einen aus dem Abfall der islamischen Eliten und der ihnen folgenden Bevölkerungsanteile vom "wahren Glauben" und zum anderen aus einer "Verschwörung" des Westens mit den abtrünnigen Elementen der einheimischen Bevölkerung. Nicht der Despotismus und Autokratismus der eigenen Herrschaftsträger wird angeprangert, sondern deren Zusammenarbeit mit dem verteufelten 'Westen' und die Zulassung westlicher Einflüsse. Dem 'Westen' wiederum wird im Rahmen einer ebenso selbstgerechten wie paranoiden Verschwörungsideologie, die nicht nur den Islamismus, sondern weite Sektoren des heutigen Mehrheitsislam kennzeichnet, die Schuld für sämtliche Übel und Mißstände der islamischen Welt zugeschrieben. Als durchaus repräsentativ für diese verschwörungsideologische Denkweise kann die folgende Aussage von Suleiman Abu Gheit, dem Sprecher der al-Qaida, angesehen werden: "Amerika ist der Grund für alle Unterdrückung, alles Unrecht, alle Lasterhaftigkeit und alle Unterdrückung, die die Muslime unterjocht. Es steht hinter all den Katastrophen, die die Muslime heimgesucht haben und immer noch heimsuchen" (zit. n. Küntzel 2002, S.129.).


Aus dem Hang zur Konstruktion einer selbstgerechten Verschwörungsideologie ergibt sich auch die islamismustypische Aufnahmebereitschaft gegenüber dem christlich-faschistischen Antisemitismus. "So kann es nicht verwundern, daß die Protokolle (der Weisen von Zion, H.K.) zum Bestseller in der gesamten islamischen Welt wurden, wobei ihr Druck und Vertrieb in ganz besonderer Weise vom Terrorstaat Iran und vom Staat des verdeckten Terrors, Saudi-Arabien, finanziert und vermarktet wurden" (Raddatz 2002, S.190). Diese antijüdisch-verschwörungideologische Kumpanei zwischen Islamismus und europäischem (Neo-)Faschismus kommt zudem darin zum Ausdruck, daß Ägypten nach 1945 zu einer Heimstatt von mehreren Tausend Naziverbrechern wurde, Holocaustleugnung in der arabischen Welt zu einer Art politisch-kulturellem Volkssport geworden ist25 und Adolf Hitlers "Mein Kampf" 1999 "auf der Bestsellerliste im palästinensischen Autonomiegebiet auf Platz sechs rangierte" (Küntzel 2002, S.117). Eine besonders perfide Erscheinungsform dieser antijüdisch-antiwestlichen Verschwörungsideologie ist in der von islamischen Medien gestreuten Legende zu sehen, der israelische Geheimdienst (Mossad) sei der Drahtzieher der Attentate des 11. September 2001 gewesen. Immer wieder erklärte der Vater des ägyptischen Attentäters Mohammed Atta, sein Sohn sei vom Mossad entführt und zu der Terroraktion gezwungen worden, um Ägypten und dem Islam Schaden zuzufügen. "Auf diese Art", so Meddeb (2002, S.151), "entledigt sich ein Vater der Schuld, einen Kriminellen und ein Monster hervorgebracht zu haben!". Es stellt sich dann allerdings die das schizoide Denken des Islamismus entlarvende Frage, warum so viele Muslime die Verbrechen vom 11. September bejubelten, wenn es doch gleichzeitig dem Geheimdienst des Erzfeindes Israel zugeschrieben wird?


2.2 Die Verarbeitung der inneren Krise der islamischen Gesellschaftsordnungen

Die zweite Ebene der islamistischen Widerspruchswahrnehmung und -verarbeitung betrifft die innergesellschaftliche Krisenentwicklung. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese interne Problemkonstellation der arabisch-islamischen Gesellschaftsordnungen als Verflechtung zweier grundlegender Prozesse: zum einen die Krise der regionsspezifischen Rentenökonomie und zum anderen die Krise der exogenen Modernisierung infolge abhängiger Kapitalakkumulation.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Krise der Rentenökonomie 26 :

Die Grundstruktur der arabisch-islamischen Gesellschaften ist geprägt durch die Kombination eines despotisch-klientelistischen Herrschaftssystems mit einer von Land zu Land differierenden Teilhabe an der Erdölrendite. Im Zentrum standen und stehen zum Großteil noch immer jene Staaten, die über die größten Ölressourcen und damit auch über die umfangreichsten Einnahmen aus dem Ölexport verfügen: Saudi-Arabien, die übrigen Golfmonarchien, Algerien, Libyen und der Irak (bis zum zweiten Golfkrieg). Im Sinne der panarabischen und panislamischen Gesamtverantwortungsideologie wurden diese Erdölprofite in der regionalen Öffentlichkeit als der ganzen arabisch-muslimischen Gemeinschaft gehörend angesehen, so daß ein System zwischenstaatlicher Hilfeleistungen bzw. ein Netzwerk des multinationalen Profitransfers 27 geschaffen wurde. So stiegen die Finanzhilfen der reicheren Staaten an die ärmeren im Verlauf des Erdölbooms der 70er Jahre sprunghaft an: "Offizielle Leistungen wuchsen von weniger als 400 Millionen Dollar im Jahre 1970 auf 1,4 Milliarden 1973, 4,7 Milliarden 1975 und 5,5 Milliarden im Jahre 1980. Mehr als achtzig Prozent davon waren bilaterale Hilfen, drei Viertel des Ganzen gingen an die drei Frontstaaten Ägypten, Syrien und Jordanien, die zumindest zum Teil auch noch umfangreiche inoffizielle Zuschüsse insbesondere für Rüstungsbeschaffungsmaßnahmen erhielten" (Perthes 2002, S.52). In den Empfängerländern wurden diese Transferzahlungen zu einem wesentlichen Bestandteil der Staatshaushalte und zu einer festen Stütze der dortigen Regime, die das Verfügungsmonopol über die Hilfsgelder besaßen und damit in der Lage waren, herrschaftspolitisch nützliche Gruppen und Schichten gezielt zu subventionieren und an sich zu binden. Auf diese Weise entstand zwar eine "ölgeschmierte Interdependenz" der arabisch-islamischen Staaten, die aber zugleich ein krasses Wohlstandsgefälle zur Folge hatte. "Lag 1970 das Pro-Kopf-Einkommem in Saudi-Arabien mit knapp 600 Dollar noch beim Dreifachen und das in Kuwait mit immerhin 3250 Dollar beim 16fachen des ägyptischen Pro-Kopf-Einkommens, so nahm die saudisch-ägyptische Differenz bis 1975 auf das 17fache, die kuwaitisch-ägyptische auf das 36fache zu. Für 1980 schätzte die Weltbank das ägyptische Pro-Kopf-Einkommen auf 580 Dollar, das saudische auf 11 260, also das 19fache, und das kuwaitische auf 26 080, das 45fache" (ebenda, S.53). Zudem manifestierte sich die hierarchische Interdependenz auch in der innerarabischen Arbeitsmigration. So wuchs die Zahl ägyptischer , jordanischer, jemenitischer, syrischer und palästinensischer Einwanderer in die Ölstaaten stark an und somit auch deren finanzieller Rücktransfer in die Herkunftsländer. "Gab es zu Beginn der 70er Jahre nur einige Hundertausend Arbeitsmiganten im Vorderen Orient, so belief sich 1980 die Zahl ausländischer Arbeitnehmer in den Ölstaaten auf drei Millionen, von denen 65% aus arabischen Ländern kamen" (Beck/Schlumberger 1999, S.60). Entsprechend zeigt die arabisch-islamische Region ein soziales Erscheinungsbild, das durch eine "doppelte Klassenstruktur" gekennzeichnet ist: Neben der sozialen Schichtung innerhalb der einzelnen Länder existiert ein ausgeprägtes zwischenstaatliches Ungleichheitsverhältnis.


In Anbetracht der zentralen Bedeutung, die den direkten oder abgezweigten Einnahmen aus dem Ölexport zukommt, lassen sich die arabisch-islamischen Gesellschaftssysteme als autokratische Rentierstaaten charakterisieren. Der volkswirtschaftliche Reichtum ist nur zu einem relativ geringen Anteil das Ergebnis produktiver und kreativer Eigenleistungen, sondern primär dem schicksalhaften Umstand bzw. dem günstigen Zufall geschuldet, auf einem Territorium mit einer kostbaren Ressource zu residieren oder an den Einnahmen aus diesem Umstand durch Alimentierung zu partizipieren. Als unmittelbar über die gewaltige Ölrendite verfügende Herrschaftseliten sind die autokratischen Oligarchien in der Lage, die staatlichen Einnahmen je nach politischem Machtkalkül zu verteilen, d. h. die Bürger willkürlich zu alimentieren, anstatt ihnen finanzielle Lasten aufzubürden. Während im westlichen Modell des modernen Steuerstaates die aktiven Wirtschaftsbürger (Selbständige, Lohn- und Gehaltsempfänger) durch Abgaben von ihren Einkommen den Staatshaushalt alimentieren und dafür im Gegenzug durch 'freie Wahlen' das staats- und regierungspolitische Geschehen (einschließlich der öffentlichen Haushaltspolitik) indirekt beeinflussen können (Steuern gegen Partizipation), basiert das Modell des autokratischen Rentierstaats auf dem Tausch von Alimentierung 'von oben' gegen Loyalität/Gehorsam 'von unten'. "Die herrschaftspolitische Maxime des Rentierstaates lautet somit 'Kooptation statt Partizipation' und 'Alimentierung statt Besteuerung'" (Beck/Schlumberger 1999, S.61).


Besonders hervorzuheben ist nun der kontraproduktive Effekt der Rentenökonomie, der entscheidend zur ökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Stagnation und Regression beiträgt. Denn rentenökonomische Verhältnisse legen eine subjektive Handlungslogik nahe, auf Eigeninitiative, produktive Investitionen und kreative Organisationsleistungen und entsprechende Anstrengungen zu verzichten und statt dessen vorzugsweise Rent-Seeking zu betreiben, d. h. gute Beziehungen zu Subventionsinstanzen zu pflegen, sich einzuschmeicheln, feinste Techniken der Bittstellerei zu entwickeln und in Korruptionsnetzwerke einzufädeln etc. "Weniger produktive Tätigkeiten und Wettbewerb als vielmehr Patronagesysteme, die auf familiären Bindungen und persönlichen Kontakten beruhen, entscheiden im 'Allokationsstaat' über die Verteilung von Werten" (ebenda 1999, S.61f.). Hinzu kommt, daß die dauerhafte Alimentierung durch den zugleich autokratisch-repressiven und paternalistischen Versorgungsstaat - noch dazu in Verbindung mit der islamischen Selbstsicht als herrschaftsberufener Gemeinschaft - eine Rentiersmentalität befördert, die individuelle Anstrengungsbereitschaft und Selbstverantwortung zersetzt. So gewöhnten sich die Einwohner der Golfstaaten daran, "dass jede Tätigkeit, die lästig oder mit wenig Prestige verbunden war, von Arabern anderer Staaten und anderen Ausländern ausgeführt werden würde. In allen sechs Staaten außer Bahrain überstieg die Zahl der ausländischen Beschäftigten die der inländischen; in den Vereinigten Arabischen Emiraten machten die Gastarbeiter noch Ende der neunziger Jahre 75 Prozent aller Beschäftigten aus, hier sowie in Qatar und Kuwait stellten die Arbeitsmigranten auch eine Mehrheit der Gesamtbevölkerung" (Perthes 2002, S.291). Zudem verleitete die arabische Rentenwirtschaft viele Staaten dazu, ausländische Experten ins Land zu holen, anstatt eine inländische Wissenskultur aufzubauen und das selbst produzierte Wissen effektiv in ökonomischen Tätigkeiten anzuwenden. So wird auch im "Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung 2003" (Kurzfassung, S.12) fest gestellt,

daß "der Ölboom zur Aushöhlung vieler Werte und sozialer Impulse (führte), die für die Entwicklung, den Erwerb und die Verbreitung von Wissen hilfreich gewesen wären. Mit der Ausweitung negativer moralischer Werte in dieser Zeit wurde die Kreativität vernachlässigt und Wissen verlor seine Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Der soziale Status von Wissenschaftlern, Intellektuellen und gebildeten Menschen nahm ab. Die neuen Maßstäbe für soziale Werte waren Geld und Vermögen. Dabei war es gleichgültig, auf welche Weise der finanzielle Reichtum erlangt wurde. Eigentum und Besitz ersetzten Wissen und Intellekt. Die wohl negativste Auswirkung die Entwicklung jedoch war, dass Werte wie Unabhängigkeit, Freiheit und Kritikfähigkeit auch begraben wurden ... Ergebnis war, dass Gleichgültigkeit, politische Apathie und ein Gefühl der Vergeblichkeit in vielen Schichten gefährlich überhand nehmen konnte."


Infolge des Erdölbooms der 70er Jahre florierte die Rentenökonomie und das darauf fußende 'petrolistische System' zunächst, während seine kontraproduktiven Schattenseiten noch im Verborgenen blieben. Auf der Grundlage der steigenden Ölrendite kam es in dieser Dekade zum Ausbau der Bürokratien, der öffentlichen Einrichtungen, der staatlichen Repressionsapparate sowie des Militärs und damit auch zum Wachstum der in diesen Sektoren beschäftigten lohn- und staatsabhängigen Mittelschichten. Diese neue städtische Mittelschicht wiederum entwickelte Konsumwünsche nach dem Muster der Industrieländer: Fernseher, Kühlschrank, PKW etc. sowie in Ansätzen einen nichttraditionalistisch-urbanen Lebensstil. Zu Beginn der 80er Jahre geriet das rentenökonomische System dann allerdings aufgrund des Zusammentreffens zweier Prozesse in eine tiefe Krise: Zum einen stagnierten die Ölpreise und fielen dann sogar, zum anderen wirkte sich das beschleunigte Bevölkerungswachstum z. B. in Gestalt einer zunehmenden Masse arbeitsloser und wohnungssuchender Jugendlicher aus. Durch das Zusammenfallen dieser beiden Prozesse wurde so ein negativer Wirkungszusammenhang ausgelöst, der eine gesamtgesellschaftliche Abwärtsbewegung in Gang setzte: Aufgrund der sinkenden Einnahmen aus dem staatlichen Ölexportgeschäft wurden die nationalen und zwischenstaatlichen Alimentierungsleistungen gekürzt, diverse Subventionen gestrichen sowie Arbeitsplätze abgebaut, so daß auch die Finanzrückflüsse der arabischen Arbeitsmigranten zurückgingen. "Dies wiederum griff die Basis aller am Petrolismus beteiligten Akteure an: Die Staaten verfügten nicht mehr über ausreichende finanzielle Mittel, um ihre Patronagesysteme aufrechtzuerhalten" (Beck/Schlumberger 1999, S.63). Die Folge davon war und ist eine umfassende soziale Frustration, Desorientierung und Perspektivlosigkeit rentierstaatlich sozialisierter und islamisch erzogener Menschen. Dabei manifestiert sich diese Verbindung von rentierstaatlicher Sozialisation und islamischer Erziehung wiederum in einer spezifischen Anspruchshaltung, die auch unter Krisenbedingungen fortwirkt. An den Import billiger Arbeitskräfte aus ärmeren Ländern gewöhnt, leistet sich z. B. Jordanien trotz hoher Arbeitslosigkeit immer noch 200.000 Gastarbeiter, denn das Spektrum der Berufe, in denen Jordanier bereit sind zu arbeiten, ist sehr begrenzt: " Die jordanische Jugend, so ein Parlamentarier, lehne manuelle Arbeit ab und verlange nach einem Job in der öffentlichen Verwaltung: nach "Schreibtisch und Sessel'" (Perthes 2002, S.251). Noch gravierender ist das Beispiel Saudi-Arabiens: Obwohl die Arbeitslosigkeit unter der einheimischen Bevölkerung auf 14-35% unter Männern und mehr noch unter Frauen geschätzt wird, waren 1999 von 7,2 Millionen Beschäftigten im zivilen Bereich gerade mal 880.000 Saudis, "von denen wiederum zwei Drittel im ohnehin schon überbesetzten öffentlichen Dienst tätig waren" (ebenda, S.307).


Eingebettet in das soziokulturelle bzw. herrschaftsideologisch wirksame Bedeutungsgefüge des Islam bildet diese sozialökonomische Krise des rentierstaatlichen Versorgungssystem die materielle Basis des Formierungsprozesses der islamistischen Bewegung. Der Islamismus ließe sich demnach als eine regressiv-aktivistische Reaktion auf die Krise der rentengesellschaftlichen Alimentierung bestimmen und somit als eine reaktionäre Protestbewegung unproduktiver, nunmehr subventionsblockierter und damit abstiegsbedrohter Gesellschaftsschichten unterschiedlicher Couleur charakterisieren (islamische Geistliche und Theologiestudenten ohne Jobperspektive, ehemals protegierte Händlerschichten, Teile der staatsabhängigen Mittelschichten etc.), die eine radikalisierte Version des konservativen Gesetzes-Islam gegen die verteilungspolitisch delegitimierten Herrschaftsträger des autokratisch-paternalistischen Versorgungsstaates richten. Weit davon entfernt, die Gesetzmäßigkeiten fremdbestimmter Kapitalakkumulation zu begreifen und anzuprangern oder aber die Demokratisierung der despotischen Herrschaftsverhältnisse zu fordern, bleiben die Islamisten der totalitären Tradition des orientalischen Despotismus verhaftet, und begnügen sich - neben der Beschwörung der "Goldenen Vergangenheit" des medinesischen Ursprungsislam - mit der korporatistischen Forderung nach einem gottesherrschaftlichen Versorgungsstaat, der die Renten "gerechter" verteilen soll als die herrschenden Regime. Wohin dies in der Praxis führt, kann am Beispiel des fundamentalistischen Systems im Iran studiert werden, wo es die Herrschenden vorzogen, "den unter dem Schah aufgebauten öffentlichen Sektor veröden zu lassen und die Bevölkerung mit Einbußen im Lebensstandard zu konfrontieren" (Beck/Schlumberger 1999, S.71), d. h. eine Politik reaktionärer Gleichmacherei auf niedrigem Niveau zu praktizieren. Die gesellschaftspolitische Praxis hat nicht nur nachhaltig gezeigt, daß der Islam keine Lösung ist. Sie demonstriert vielmehr eindrucksvoll, das der Islamismus mit seiner Konservierung rentiergesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und Erwartungshaltungen sowie mit seiner totalitären Verschwörungsideologie den Blick auf die strukturelle Selbstblockade der arabisch-islamischen Gesellschaften systematisch verstellt und damit als eigenständiger Krisenfaktor wirkt.


Die Krise des rentenökonomischen Verteilungssystems und die dadurch verursachten sozialen Verwerfungen, Frustrationen und Abstiegsängste werden zusätzlich ergänzt und verstärkt durch die negativen Auswirkungen der exogenen, d. h. der 'unorganisch' und spontan-chaotisch von außen hereinbrechenden Modernisierung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Hervorstechende Erscheinungsformen dieses Umbruchprozesses sind z. B. die schnell anwachsende Landflucht, die dadurch bedingte rapide Urbanisierung, die Zunahme der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen, die verlängerte Ausbildungszeit des zahlenmäßig stark gestiegenen Nachwuchses, das zunehmende Einsickern westlich-kapitalistischer Konsumangebote und Dienstleistungen mit der dazugehörigen Werbung und Warenästhetik sowie die Ausdehnung der Bürokratie. Das strukturell herausragende Merkmal dieses ungeregelt verlaufenden Modernisierungsprozesse besteht darin, "dass die Zuwachsraten in der Industrialisierung niemals die Zuwachsraten in Verstädterung, Bildung und Bürokratisierung erreichen. Kapitalistische Tauschbeziehungen und die kapitalistische Kultur des Konsumfetischismus ergreifen die Volkswirtschaften viel schneller, als der Zuwachs an kapitalistischer Akkumulation erfolgen kann. In den großen Städten wird eine relativ kleine Schicht an Konsumenten geschaffen, der im Allgemeinen ein im Dienstleistungssektor tätiges Subproletariat beachtlicher Größenordnung gegenübersteht und ein ziemlich großes Lumpenproletariat, das von den Abfällen der Konsumentenschicht lebt" (Ayubi 2002, S.242). Von zentraler Bedeutung ist natürlich die massive Kollision der von außen hereinbrechenden Modernisierung mit der prämodern-islamzentrierten Herrschafts- und Alltagskultur, die umfassende und tiefgreifende klassen-, geschlechter- und identitätsstrukturelle Auswirkungen hervorruft. So bedeutete z. B. der "von oben" seitens des Schah-Regimes im Iran aufgezwungene Modernisierungsprozeß eine nachhaltige Deprivilegierung des traditionellen Basarmilieus sowie einen damit untrennbar verknüpften Prestigeverlust seiner sozialen Träger: Groß- und Kleinhändler, Krämer, Handwerker, angestellte Gesellen und Verkäufer, Arbeiter und Lastenträger. "Die Vorbildlichkeit der Lebensführung des Basars, der traditionell als Hort der Frömmigkeit gilt, wird von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung nicht mehr anerkannt, demonstrativ mißachtet oder gar lächerlich gemacht. Alkoholkonsum, Glückspiel, Theater und Kinos, eine gewandelte Sexualmoral sowie ein abgrundtiefer Bruch mit traditionalistischen Vorstellungen über die gesellschaftliche Stellung der Frau demonstrieren dem Basarmilieu den Verlust seiner kulturellen Leitbildfunktion und Vorbildlichkeit" (Riesebrodt 1990, S.203f). Die aushöhlende Wirkung des Modernisierungsprozesses auf das traditionalistische Milieu manifestiert sich z. B. in der Entwertung religiöser und der Aufwertung säkularer Ausbildung als aufstiegsrelevanter Ressource , was nicht nur soziale Differenzierungsprozesse hervorruft, sondern zugleich intergenerative Divergenzen und Konflikte auslöst. "Teile der jüngeren Generation suchen ihre berufliche Laufbahn außerhalb des Basars und viele von ihnen haben mit seinen traditionalistischen Wertvorstellungen gebrochen. Eine zentrale Erfahrung der Kleinhändler und Handwerker besteht somit im Generationenkonflikt" (ebenda, S. 189).


Im Zuge des gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen geraten nun insbesondere auch die traditionellen patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse unter einen multisektoral wirksamen Druck: Im ökonomischen Bereich werden bislang patriarchalisch-paternalistische Beziehungsmuster zwischen traditionalistischen Unternehmern und Arbeitern durch sachlich-formalrechtliche Regelungen zwischen Kapital und Arbeit ersetzt; im kulturellen Bereich kommt es - im Zuge der Etablierung kapitalistischer Werbung, Warenästhetik und Freizeitkultur - zu einer Auflockerung der Sexualmoral; infolge der tendenziellen Einebnung geschlechtspezifischer Unterschiede in der Rechtsstellung und Arbeitsteilung wird die häusliche Autorität des Mannes gegenüber der Frau untergraben; im Zuge der quantitativen und qualitativen Zunahme der Bildungsprozesse inklusive säkularer Bildungsinhalte wird die Position der Elterngeneration gegenüber den Kindern geschwächt; mit der Einführung sozialbürokratischer Wohlfahrt und Sozialkontrolle wird die patriarchalische Fürsorge in Verbindung mit traditioneller Sozialkontrolle nach und nach verdrängt etc. Insgesamt resultiert daraus eine systematische Untergrabung der patriarchalischen Autoritäts- und Machtstellung. In Reaktion auf diese Bedrohung patriarchalischer Verhältnisse artikuliert nun die fundamentalistische Ideologie in dramatischer Weise die Notwendigkeit der Retraditionalisierung von Familie, Frauenrolle und Sexualmoral. Im Zentrum steht hierbei die 'Satanisierung' des weiblichen Körpers als Verführungsmacht 28 . So wird im islamistischen Diskurs das Auftreten unverschleierter, "nackter" Frauen in der Öffentlichkeit als deutliches Anzeichen für den Niedergang der islamischen Ordnung angesehen. "Das Verlassen der häuslichen Sphäre und die Teilnahme der Frau am öffentlichen Leben, vor allem in Form von Berufstätigkeit, wird als permanente Stimulierung des männlichen Sexualtriebes gedeutet. Leidenschaften träten an die Stelle von Selbstkontrolle. 'Tag und Nacht sehen sich Männer und Frauen von Angesicht zu Angesicht in den Straßen, Büros, Schulen, Fabriken und anderen öffentlichen Plätzen, wodurch der Sexualtrieb zu allen Zeiten ohne Kontrolle stimuliert wird'" (Riesebrodt 2000, S.121).


In dem Maße, wie der Modernisierungsprozeß auch eine Defunktionalisierung religiöser Bildung und Rechtsprechung bedeutet, erschüttert er zudem die soziale Stellung und die Zukunftsperspektive insbesondere der mittleren und niederen Geistlichkeit sowie des theologischen Nachwuchses. D. h. die Frustration von Aufstiegserwartungen und -ansprüchen verschärft den Radikalisierungsprozeß und sichert der fundamentalistischen Bewegung eine sprudelnde Rekrutierungsquelle.

Ökonomischer Bedeutungs- und sozialmoralischer Prestigeverlust der Basaris, Defunktionalisierung religiöser Bildung und Statuseinbuße ihrer geistlichen Träger sowie eine generelle Verunsicherung des traditionalen islamistischen Patriarchalismus sind demnach hervorstechende Mobilisierungsursachen des Islamismus. Zudem kann sich die Verbreitung der fundamentalistischen Ideologie auf die auch innerhalb der unteren Klassen und Schichten tief verwurzelte traditionelle islamische Religiosität stützen und erweist sich in diesem sozialen Kontext als subjektiv bedeutsame Erklärungsfolie für zahlreiche gesellschaftliche Mißstände. "Auf engstem Raum hausende Slumbewohner, die unter Wassermangel leiden; Arbeiter, denen die Unpersönlichkeit moderner Arbeitsorganisation fremd ist; subalterne Angestellte, die der Arroganz von Vorgesetzten ausgesetzt sind; Studenten, deren Aufstiegshoffnungen und Idealismus in schlecht bezahlten, untergeordneten Positionen enden; junge Männer, die Probleme mit dem Wandel der Frauenrolle und Sexualmoral wie auch dem späten Heiratsalter haben; Frauen, die die sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder überfüllten Hörsälen leid sind; sie alle können in der fundamentalistischen Ideologie eine Artikulation ihrer Frustrationen finden" (Riesebrodt 1993, S. 14f).

Ein weiteres, die sozialpsychische, moralische und politische Situation in den islamischen Ländern kennzeichnendes Problem ergibt sich aus folgender Konstellation: Aufgrund der Bevölkerungsexplosion und der gleichzeitig wirksam werdenden sozialökonomischen Krise kam es zu einer raschen Zunahme karriereblockierter, arbeitssuchender und unverheirateter junger Menschen ohne soziale Perspektive. Infolgedessen stieg auch das durchschnittliche Heiratsalter, so daß sich der Zeitpunkt der Familien- und eigenständigen Haushaltsgründung deutlich verzögert hat. Andererseits gilt nach wie vor unverändert die konservativ-traditionalistische Sexualmoral, die voreheliche sexuelle Beziehungen strikt verbietet und verteufelt. Entsprechend hoch ist die sexuelle Frustration, die sich zur sozialen und arbeitsmarktlichen Enttäuschung noch hinzugesellt. Das sich daraus ergebende Aggressionspotential wird von den Islamisten wiederum als sprudelnde Quelle genutzt, indem die destruktiven Energien auf Ersatzobjekte bzw. Sündenböcke gelenkt werden: Ungläubige, unverschleierte Frauen, westliche Einflüsse, die Juden etc29.

2.3 Grundelemente der islamistisch-fundamentalistischen Ideologie

Im Grunde ist der Islam die ahistorische Fixierung und gleichzeitige religiöse Überhöhung einer frühmittlelalterlichen Sozial- und Moralordnung innerhalb des arabischen Kulturraums. Im subjektiven Horizont der Gläubigen wird dieser konkret-historische/situative Charakter des Koran freilich vollständig eliminiert 30 . Denn: Der Koran gilt den gläubigen Muslimen als direkter Offenbarungstext, d. h. jedes Wort und jedes Komma sind unmittelbar von Allah selbst geoffenbart und deshalb in jeder Einzelheit geschützt. Man nennt diese Weise der Eingebung unmittelbarer Offenbarungen durch Gott Verbalinspiration, d. h. wortwörtliche und buchstäbliche Offenbarungskundgabe. Ein solches Verständnis der Inspiration (Eingebung des Textes der Offenbarung durch Gott) ist offenkundig einer besonderen fundamentalistischen Gefahr ausgesetzt" (Kienzler 1996, S. 24).

Diese Verabsolutierung und Konservierung der koranischen Normative zu einem zeitlos gültigen Dogmensystem, das auch für die heutige Gegenwart den Status eines unhinterfragbaren Regelwerks beansprucht, ist als eine autonome Hauptquelle der kulturraumspezifischen Rückständigkeit sowie der dortigen Beibehaltung prämoderner (despotischer) Herrschaftsstrukturen anzusehen. Das bedeutet: Der orthodoxe Islam ist eine Grundursache des Problems. An Stelle einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Selbstblockade propagieren die Islamisten den Islam als Lösung und verstellen damit jedweden Ansatz zu einer fortschrittlich-emanzipatorischen Widerspruchs- und Problembewältigung in Richtung auf Säkularisierung, Demokratisierung, Gleichberechtigung und rational-humanistische Bildung. Statt dessen haben sie ein System ideologischer Abwehrmechanismen geschaffen, das exakt den selbstgerechten Herrschaftsanspruch der streng gläubigen Muslime bedient und folgende Deutungsmittel einsetzt:

a) das Operieren mit dem irrealen Mythos eines 'Goldenen Zeitalters',

b) die selbstentlastende Inszenierung eines ausgeprägten Verschwörungsdenkens in Verbindung mit einem antiwestlich-antijüdischen Feindbild sowie

c) die Setzung eines angeblichen Glaubensabfalls als innere Krisenursache.


Im einzelnen sind folgende Grundinhalte der islamistisch-fundamentalistischen Ideologie festzustellen:

1) Im Zentrum steht das Streben nach einer absoluten, totalitären und universalen Herrschaft des Islam unter Führung der Islamisten als gottesherrschaftlicher Avantgarde. So lautet z. B. die Parole des Gründers der Moslembrüder, Hassan al-Banna: "Gott ist unser Ziel, der Koran ist unsere Verfassung; der Prophet ist unser Führer; Kampf ist unser Weg, und Tod um Gottes willen ist unser höchstes Streben." (zit. n. Ayubi 2002, S.190). Sehr deutlich kommt das Wesen des islamistischen Herrschaftsanspruchs in der folgenden Aussage des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini zum Ausdruck: "Die islamischen Gesetze, weil sie göttlichen Ursprung haben, sind die einzige gültige Wahrheit, und sie gelten auf ewig und immer für die gesamte Menschheit. Der Prophet Muhammad hat alle erdenklichen Probleme der Menschheit im Koran und den Traditionen und Überlieferungen verkündet und mit seiner Botschaft alle früheren Religionen, Wahrheiten und Gesetze aufgehoben. Die gesamte Menschheit muss dem Propheten Muhammad gehorchen, und seine Gesetze sind rigoros anzuwenden" (zit. n. Choubine 2003, S.65). Dieser totalitäre Herrschaftsanspruch impliziert die Forderung nach einer islamischen Staatsordnung, in der die Schari’a das Alltagsleben regelt, die nur von streng gläubigen Muslimen geführt werden darf und in der alle Andersdenkenden und Unangepaßten systematisch unterdrückt und terrorisiert werden. So wurden und werden in der "Islamischen Republik Iran" Regimegegner als "Gottesgegner", "Krieger gegen Gott", "Verderber auf der Erde", "Feinde des Islam", "Mitglieder der Partei Satans", "Abtrünnige", "Ungläubige", "Apostaten", "Ketzer" und "Gegner des Stellvertreters Gottes" stigmatisiert. "Wer nicht auf die Befehle des geistlichen Führers hört, wird eingekerkert, gefoltert, vergewaltigt und erhängt, erschossen oder gesteinigt. Das heißt: wer nicht mit den Wölfen heult, wird gefressen" (ebenda, S.69).

2) Das Grundprinzip der staatsterroristischen Herrschaftsordnung des Islamismus ist die "Gottessouveränität", die "Hakimiyyat Allah". Nach diesem Prinzip kommt Gott/Allah die alleinige Souveränität zu, während die Menschen auf den Status von gehorsamspflichtigen Gottesknechten zurückverwiesen werden, denen die Aufgabe zufällt, die heiligen Gesetze zu erfüllen. S.201). Daraus folgt nun eine umfassende Verwerfung und Verteufelung des 'modernen' Prinzips der Demokratie. So erklärt der einflußreiche pakistanische Fundamentalist Maududi in seinem Pamphlet 'Der Islam und die moderne Zivilisation' ungeschminkt:

"Ich sage es Euch Muslimen in aller Offenheit, daß die säkulare Demokratie in jeder Hinsicht im Widerspruch zu Eurer Religion und zu Eurem Glauben steht ... Der Islam, an den Ihr glaubt und wonach Ihr euch Muslime nennt, unterscheidet sich von diesem häßlichen System total ... Selbst in Bagatellangelegenheiten kann es keine Übereinstimmung zwischen Islam und Demokratie geben, weil sie sich diametral widersprechen. Dort, wo das politische System der Demokratie und des säkularen Nationalstaates dominiert, gibt es keinen Islam. Dort, wo der Islam vorherrscht, darf es jenes System nicht geben" (zit. n. Tibi 2000, S. 80)31.


3) Der Unterschied zwischen konservativem Gesetzes-Islam und Islamismus besteht nun im Grunde darin, daß der Islamismus zum einen darauf besteht, Herrscher, die den islamischen Gesetzen zuwiderhandeln, also z. B. mit den "Ungläubigen" paktieren und kollaborieren, zu stürzen und zum anderen darin, dem islamischen Bekenntnis nicht einfach nur in der eigenen Lebensführung Folge zu leisten, sondern sich aktiv-kämpferisch an der gesellschaftlichen Durchsetzung der islamischen Ordnung zu beteiligen. In diesem Sinne wird die aktivistische Durchsetzung der Gottesherrschaft in Form des Djihad zur religiösen Pflicht gemacht und die Beschränkung auf fromme Werke grundsätzlich verneint. "'Konfrontation und Blut' ist der Weg für die Errichtung des islamischen Staates: ohne Aufschub und ohne Kompromiss" (Ayubi 2002, S.207).

4) Im Brennpunkt der islamistisch-fundamentalistischen Ideologie steht die kompromißlose und gewaltbereite Bekämpfung der 'kulturellen Moderne' mit all ihren grundlegenden Prinzipien: Wissenschaftlich-humanistisches Weltbild, Menschenrechte, Vernunftprinzip, Idee des freien Subjekts, Demokratie, Pluralismus, Trennung von Religion, Staat/Politik und Privatsphäre etc. Das bedeutet: Die Betonung der autonomen Subjektqualität der vergesellschafteten Individuen als vernunftbegabte Selbstgestalter ihres eigenen Lebensprozesses und die sich darin gründende Schöpferkraft, Selbstverantwortung und Würde des Menschen (als Gattung und Individuum) wird als dekadenter Unglaube und Ursache allen Übels denunziert. Staat dessen beharrt der Islamismus auf der theozentrischen Fiktion Gottes als allmächtiger Schöpfer, Gestalter und Richter des Weltgeschehens. Dabei interpretieren die Islamisten die moderne Zivilisation und Wissenskultur als Wiederauferstehung der jahiliya, d. h. des heidnischen Unwissens und der Ignoranz aus vorislamischer Zeit. "Wir befinden uns heute", so heißt es bei Saiyid Qutb, "in einer jahiliya, ähnlich derjenigen zur Entstehungszeit des Islam oder sogar noch schlimmer. Alles um uns herum ist eine jahiliya: die Auffassungen und Überzeugen der Menschen, ihre Sitten und Gewohnheiten, die Quellen ihrer Kultur, Kunst und Literatur und ihr Recht und ihre Gesetzgebung. Vieles sogar, das wir für islamische Kultur, islamische Quellen oder islamische Philosophie und islamisches Gedankengut halten, ist in Wirklichkeit das Machwerk dieser jahiliya" (zit. n. Ayubi 2002, S.200). Da die moderne Säkularisierung des Denkens und der Kultur für alle Übel der Welt und für die Krise des Islam im Besonderen verantwortlich gemacht wird, propagieren die Islamisten die "Entwestlichung des Wissens" bzw. den absoluten geistig-moralischen Bruch mit der "kulturellen Moderne" als "einzigen Ausweg". "Das Wissen", so der ägyptische Fundamentalist Shukri Mustafa32, "das Gott für uns bestimmte, damit wir unsere Grenzen nicht überschreiten - um Seine gehorsamen Diener zu bleiben -, und das Wissen, das der Prophet jedem Muslim befohlen hat - um Gott zu verherrlichen - , ist einzig das Wissen um das Jenseits. Und nichts sonst."


5) Dem totalitären Herrschaftsanspruch und der militanten Ablehnung der 'kulturellen Moderne' entspricht ein strikt manichäisches Denken, das die gesellschaftliche Krisenrealität im Sinne eines extremen moralischen Dualismus deutet. So werden die sozialen Antagonismen bezüglich Macht, Einkommen, Vorrechten und Prestige und die daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Krisenerscheinungen als Ausdruck von sozialen Strukturproblemen geleugnet und statt dessen als Kampf zwischen "Gut" und "Böse", zwischen Gott und Satan, Satan und Islam etc. interpretiert. "Es gibt auch kein Mittelding zwischen Gut und Böse, sondern lediglich diese beiden Pole. Wer nicht für den (fundamentalistischen) Islam Partei ergreift, wird als Gegner angesehen, als Verräter gebrandmarkt" (Riesebrodt 1990, S. 170). Dabei wird das "Böse" und Satanische grundsätzlich als das "Fremde", d. h. das Nichtislamische bzw. Ungläubige wahrgenommen und hypostasiert. Mit anderen Worten: Die Krisen- bzw. Verfallsursache wird "xenophobisch" nach außen verlagert und fremden Mächten, Einflüssen, Machenschaften angelastet. In dieser Form erhält das manichäische Denken die Form einer ausgeprägten Verschwörungsideologie, die sich bis zum Verschwörungswahn steigern kann und insbesondere antijüdische Züge trägt. Nach Ansicht des ägyptischen Fundamentalisten Sheik Sha'rawi, der lange Zeit in Saudi-Arabien gelebt hat, ist die vermeintliche "jüdische Troika" Darwin-Marx-Freud für die Misere der arabischen Gesellschaften verantwortlich (vgl. Lüders 1992, S. 136). Wie im faschistischen Diskurs erfüllt der Jude die Funktion des multidimensionalen Verderbers. So heißt es bei Sayyid Qutb: "Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin des animalistischen Sexualität steckte ein Jude; unter hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der heiligen gesellschaftlichen Beziehungen steckt ebenfalls ein Jude ... Die Juden befreien die sinnlichen Begierden von ihren Beschränkungen und sie zerstören die moralische Grundlage, auf der der reine Glauben basiert. Sie tun dies, damit der Glaube in eben jenen Dreck gezogen wird, den sie so reichlich auf dieser Erde verbreiten" (zit. n. Küntzel 2002, S 84).


6) Ein weiteres Wesensmerkmal des Islamismus ist in seiner repressiven Geschlechtermoral und antihumanistischen Lustfeindlichkeit zu sehen. Während die westliche Moderne selektiv-grobschlächtig auf Pornographie, halbnackte Touristen, sexualisierte Werbung und erotische Videoclips reduziert wird, feiern die Islamisten verschleierte und weggesperrte Frauenkörper, religiös sanktionierte Polygamie, vorehelichen Sexualnotstand und den Verzicht auf Empfängnisverhütung als Ausdruck moralischer Überlegenheit. Das wahre Gesicht der islamistischen Sexualmoral zeigt sich freilich z. B. im gegenwärtigen Ägypten im Phänomen der "immer wieder im Nil treibenden Mädchen- und Frauenleichen - meist unverheiratete Schwangere aus der Unterschicht, die ermordet wurden oder sich selbst umgebracht haben - eine mehrerer Formen der sogenannten 'Gewalt der Ehre'" (Harwazinski 1998, S. 445f.). Ein praktisches Beispiel für die islamistische Verwandlung einer humanen Lebensordnung in ein barbarisches Gotteszuchthaus hat u. a. das Taliban-Regime in Afghanistan geboten. Unter dieser islamistischen Herrschaftsordnung durften Frauen keinem Beruf nachgehen. Es galt ein Schulbesuchsverbot für Mädchen und ein Ausgehverbot für Frauen ohne männliche Begleitung. Wohnungen, in denen eine Frau lebte, mußten mit gestrichenen Fensterscheiben ausgestattet sein, damit die Frau von außen nicht gesehen werden konnte. Den Männern wurde das Rasieren von Bärten als "unislamische" Verhaltensweise verboten. Untersagt war der Besitz von Fernsehgeräten und Videorecordern. Nichtislamische Minderheiten waren gezwungen, ein besonderes Kennzeichen zu tragen. Weltweites Aufsehen erregte die Zerstörung der berühmten Buddhastatuen von Bamiyan. Wer in der Öffentlichkeit Ansätze "unislamischen" Verhaltens erkennen ließ, geriet in die Fänge von patrouillierenden Sittenwächtern. "Eine junge Frau, die die Fingernägel für ihre Hochzeitsfeier lackiert hatte, wurde von den Taleban aus dem Taxi gezerrt - ihr wurde ein Finger mit rotlackiertem Nagel abgehackt" (Baraki 2000, S. 64). Homosexuelle wurden unter Steinen lebendig begraben. Autofahrer, die Musikkassetten hören, von der Sittenpolizei aus dem Wagen gezogen und verprügelt.

Worauf der Islamismus letztendlich abzielt, ist die Errichtung einer totalitären, religiös begründeteten Lebensführungsdiktatur unter der repressiv-terroristischen Kontrolle der Parteigänger Allahs im Interesse der reaktionärsten, am meisten despotischen und fortschrittsfeindlichen Teilen der einheimischen aristokratischen Oligarchien und Clans, des ultrakonservativen Klerus, der paternalistisch-patriarchalischen Führungsgruppen der traditionellen Händler und Gundbesitzerschichten, des Islam-Kapitals sowie Teilen der neureichen Führungsebene der organisierten Kriminalität (Drogenbarone, Transport- und Schmuggelmafia, Warlords etc.).


Als 'Erzeugungsformel' des Islamismus läßt sich abschließend das Zusammenspiel folgender Hauptfaktoren und -tendenzen anführen:

A. Die sozialisatorische Wirkungsmacht des konservativen Gesetzes-Islam als hegemoniales Bedeutungssystem im Rahmen einer autokratisch-oligarchischen Herrschaftsordnung.

B. Eine allseitige Gesellschaftskrise mit ihren spezifischen sozialpsychischen Effekten( Abstiegsängste, blockierte Karrierehoffnungen, Identitätsdiffusion, soziale Desorientierung etc.)

C. Eine rapide Bevölkerungsexplosion und das Anwachsen sozial und sexuell frustrierter junger Menschen.

D. Die Existenz eines einflußreichen radikalislamischen Milieus mit einer finanziell, organisatorisch und propagandistisch potenten Infrastruktur.

Wie sich diese Faktoren und Tendenzen dynamisch verflechten, läßt sich exemplarisch anhand der folgenden ausschnitthaften Beschreibung von Kevin Bales (2001, S.235) ein Stück weit erahnen:

"Da es in Pakistan kein effektives öffentliches Schulsystem gibt, richten militante Sekten eigene Schulen ein. Allein im Bundesstaat Pandschab gibt es mehr als 2.500 solcher Deeni Madressahs, religiöse Unterweisungsstätten. Laut einer amtlichen Statistik besuchen 219.000 Kinder, vorwiegend Knaben, solche Schulen. In einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter achtzehn Jahre alt ist, herrscht kein Mangel an Jungen, die man zu selbstmörderischer religiöser Eiferei verführen kann."


© Harmut Krauss, Osnabrück 2004


Anmerkungen:

1 Durch Überfälle auf Karawanen feindlicher Stämme besserten Mohammed und seine frühmuslimische Anhängerschaft ihre finanzielle Lage auf. So versetzten sie sich in die Lage, ihre Vormachtstellung über die gesamte arabische Halbinsel zu errichten. "Aber der entscheidende Schritt, mit dem sie sofort eine feste wirtschaftliche Grundlage aufbauen und ihr Ansehen heben konnten, war die Beschlagnahmung aller Besitztümer der Juden in Yathrib" (Dashti 1997, S. 157).

2 Tibi (196, S. 91) schreibt hierzu: "Die historische Situation, die diesem Muster zugrunde liegt, ist: Unterwerfung der Stämme unter die neue islamische Staatsordnung und Expansion durch den Djihad. Im Kontext der islamischen Religionsstiftung war diese Lehre gleichermaßen verständlich und berechtigt. Muslime haben sie aber zur Rechtfertigung ihrer Futuhat/Eroberungen erweitert und zu einer religiösen, kosmologischen Weltanschauung weiterentwickelt."

3 "Verführung" ist hier im Sinne von "Vertreibung" zu verstehen.

4 Vgl z. B. Ulfkotte 2003, S.11)

5 Während der 'große Djihad' den inneren (seelischen) Kampf zur Überwindung der Begierden und zur Befolgung einer rechtgläubigen Lebensweise bezeichnet, ist der 'kleine Djihad' der nach außen gerichtete Kampf gegen die Ungläubigen unter Einschluß von Gewaltmitteln.

6 Eigentlich "Versuchung (zum Abfall vom Islam)". Anmerkung des Übersetzers in: Koran 1984, S.176.

7 "Die pauschale Lizenz Allahs zur Bekämpfung des Unglaubens und Installation seines Gesetzes aktiviert im Normalfall das Maximum an Gewalt, weil die Realisierung des Gottesgesetzes im Zentrum des Glaubens steht. Nicht das Bemühen um eine Realisierung des Sittengesetzes und seinen Beitrag zur Weltgestaltung steht im Vordergrund des islamischen Dynamik, sondern die darwinistische Ausmerzung alles Unislamischen im Namen Allahs".(Raddatz 2002, S.101).

8 D.h. den mit der Waffe Streitenden.

9 Die islamischen Fundamentalisten ihrerseits weisen kategorisch "die Behauptung derer zurück, die behaupten: Der Dschihad im Islam diene nur zur Verteidigung, und der Islam sei nicht durch das Schwert ausgebreitet worden. Diese Behauptung ist falsch; diejenigen, die sich auf dem Gebiet der Verbreitung der islamischen Botschaft (daÿ wa) hervorgetan haben, haben sie in großer Zahl widerlegt. Die Wahrheit ist in der Antwort enthalten, die der Gesandte Gottes gab, als er gefragt wurde, welcher Dschihad auf dem Wege Gottes der größte sei: Er sagte: 'Derjenige der kämpft, damit das Wort Gottes den Sieg erhält, jener befindet sich auf dem Wege Gottes'. Denn der Kampf im Islam geschieht, damit das Wort Gottes auf der Erde den Sieg bekommt, einerlei ob durch Angriff oder Verteidigung. Der Islam hat sich durch das Schwert ausgebreitet" (Manifest der ägyptischen Dschihad-Gruppe. Zit. n. Meier 1994, S. 377.).

10 35,7% der befragten türkischen Jugendlichen stimmten der Aussage zu "Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen". 24,3% bejahten die Aussage "Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, andere zu erniedrigen". 28,5% regierten positiv auf die Aussage "Gewalt ist gerechtfertigt, wenn es um die Durchsetzung des islamischen Glaubens geht". Und 23,2% stimmten der Aussage zu "Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten". (Vgl. Heitmeyer/Müller/Schröder 1997, S.129).

11 "Wenn der Muslim - nachdem es keine neuen Eroberungszüge und keine neuen Eroberungen mehr gab - finanziell fast ebensosehr belastet wurde wie ein Nicht-Muslim, dann musste man ihn stattdesesn seiner 'ideologischen' Überlegenheit über den dhimmi versichern und ihm rituelle Mittel an die Hand geben, die 'es ihm ermöglichten, seinen historischen Sieg zu feiern, und des der gemeinschaft erlauben, ihre Einheit erneut zur Geltung zu bringen, indem sie ihre Einigkeit gegenüber einem gemeinsam Besiegten erneuern'" (Ayubi 2002, S.55).

12 "Der Mensch im Islam wird nicht im Sinne einer unverwechselbaren Individualität definiert und gefördert, sondern im Sinne des medinesischen Modellmuslims vereinheitlicht und manipuliert" (Raddatz 2002, S.83).

13 Die folgenden Zitate entstammen einer kleinen Auswahl aus einer umfangreicheren Schari’a- Gesetzessammlung, die vor kurzem aus dem Arabischen ins Englische übersetzt wurde und die verschiedenen islamischen Rechtsschulen berücksichtigt. Quelle: Verein contra Fundamentalismus/http://mypage.bluewindow.ch/a-z/vcf/index2.html.

14 Der Ausdruck 'haram' bezeichnet alles, was nach der Schari’a eindeutig verboten ist.

15 "D. h., brecht den Verkehr mit ihnen ab" . Anmerkung des Übersetzers in: Der Koran 1984, S.102.

16 Entsprechend dominieren in der islamisch bestimmten Herrschaftskultur scham-bezogene Werte und eine diesbezügliche 'Konventionsmoral'(die Angst, in der Öffentlichkeit negativ aufzufallen) gegenüber schuld-bezogenen Werten, die den Vorrang individueller Verantwortung betonen.

17 Während es in der westlich-europäischen Entwicklung im Kontext der kulturellen Modernisierung, d. h. in Folge von Aufklärung, Zurückdrängung des Absolutheitsanspruchs religiöser Kontrollmacht, der Ausdifferenzierung einer individuellen Privatsphäre etc. zur Etablierung der Liebesheirat bzw. der Gattenwahl aufgrund persönlicher Zuneigung kommt, ist dieser Entwicklungsweg in den nichtwestlichen, "prä-modernen" und im Grund 'mittelalterlich'gebliebenen Herrschaftskulturen weitestgehend versperrt.

18 Vgl. "Neue Osnabrücker Zeitung" vom 20.11.2002, S.2.

19 "Die Scheidung ist gültig, wenn ausgesprochen von (a) dem Ehemann (b) der geistig gesund ist (c) die Pubertät erreicht hat (d) und sie freiwillig ausspricht" (Vgl. Fußnote 14).

20 Vgl. Fußnote 14.

21 Vgl. Fußnote 14.

22 So heißt es zum perversionsfördernden Charakter der islamischen Geschlechtsmoral bei Raddatz (2002, S.287): "Eine Kultur, die in strenger Geschlechtertrennung die Männer dazu zwingt, Frauen als reine, auf Basis von Kaufverträgen zu ehelichende Sexualobjekte zu betrachten, bringt von ihr selbst abgelehnte Formen sexueller Abweichung hervor. Ein Drittel der ländlich lebenden Männer Marokkos gab an, sich dem Verkehr mit Geschlechtsgenossen oder Tieren zu widmen, wobei sie durchaus zwischen schlechtem Gewissen und Abscheu über sich selbst sowie Entrüstung über die Zumutungen des Systems, in dem sie leben müssen, schwanken."

23 Am 5. Juni 1967 brach der Krieg an der israelisch-ägyptischen Grenze sowie an den israelischen Grenzen zu Jordanien, Syrien und dem Irak aus. Algerien, Jemen, Sudan und Kuwait erklärten Israel den Krieg. Die Israelis errangen die Luftherrschaft, besetzten den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel bis zum Suezkanal, den jordanischen Teil Jerusalems, das westliche Jordanien bis zum Jordan und drangen über die syrische Grenze vor.

24 "Nach dem Krieg zeigte sich deutlicher als je zuvor, daß die selbsternannten Begründer, Verteidiger und Förderer des arabischen Sozialismus in realiter das Wachstum und die Entwicklung einer entstellten und parasitären Form des Kapitalismus vorantrieben" (Al-Azm 1992, S. 248).

25 So konnte man z. B. am 29. April 2002 in der zweitgrößten, von der Regierung kontrollierten Tageszeitung Ägyptens "Al Akhbar" folgenden Kommentar des Kolumnisten Fatma Abdalah Mahmoud lesen: "Hinsichtlich des Schwindels mit dem Holocaust haben viele französische Studien bewiesen, daß dies nichts als Fabrikation, Lüge und Betrug ist. Ich aber beschwere mich bei Hitler und erkläre ihm vom tiefsten Grunde meines Herzens: 'Wenn du es nur getan hättest, mein Bruder, wenn es doch nur wirklich geschehen wäre, so daß die Welt ohne ihr [der Juden] Übel und ihre Sünde erleichtert aufseufzen könnte'" (zit. n. Küntzel 2002, S. 63). Es ist nicht "Armut", sondern dieses politisch-kulturelle Gesinnungsklima, das islamfaschistische Djihadisten wie Mohammed Atta oder Hamas-Terroristen sowie Millionen ihrer Sympathisanten hervorbringt.

26 Renten sind Einnahmen, denen keine Arbeits- oder Investitionsleistungen gegenüberstehen.

27 Dieses "petrolistische System basiert wesentlich darauf, daß die Golfstaaten die ökonomische Rente von den westlichen Energiekonsumenten 'einsammeln' und einen Teil dieser Einnahmen als politische Renten, sprich als Budgetzahlungen, an die erdölarmen Staaten weiterleiten" (Beck 1999, S.43).

28 "Gemäß dem manichäischen Weltbild des Fundamentalismus stehen Frauen", so Riesebodt (2000, S. 120), "zwei Wege offen ...: der Weg Gottes oder der Weg Satans. Als Agenten Gottes sind sie Mutter und Hausfrau, geben dem Gatten Heim und Halt und erziehen die Kinder zu frommen Menschen. Als Agenten Satans verführen sie die Männer durch ihre sexuelle Macht und verderben die Jugend durch ihr schlechtes Beispiel. 'Mutter' und 'Eva' sind Archetypen, die fest im mythischen Bestand fundamentalistischer Ideologien verankert sind."

29 "Sowohl die marokkaniche Schrifstellerin Fatima Mernissi als auch der syrische Schriftsteller Bu Ali Yasin bestätigen die Theorie von Wilhelm Reich, dass sexuell frustrierte Männer ihre Gefühle normalerweise nicht in einer Rebellion gegen alle Erscheinungen politscher, sozialer und ökonomischer Unterdrückung in der Gesellschaft nach außen richten, sondern ihre Agonie vielmehr nach innen richten, auf die Ebene der Verteidigung von Moral und religion" (Ayubi 2002, S.66). Meines Erachtens ist diese Einschätzung nicht ganz zutreffend. Übersehen wird nämlich, daß im fundamentalistischen Diskurs negativ stigmatisierte Frauen zur Vergewaltigung freigegeben werden oder etwa Zwangsehen auf Zeit erlaubt sind usw (was z. B. von den afghanischen Taliban und den algerischen Djihadisten praktiziert wurde), also sehr wohl Frustrationsventile nach außen geöffnet sind.

30 "Eine historisierende Lesart des Koran-Textes, so wie (viele, H.K) Christen ihre Bibel textkritisch lesen, wird von den meisten Muslimen ... als häretisch zurückgewiesen. Der Muslim, der hierfür eintritt, setzt sein Leben aufs Spiel" (Tibi 1996, S. 89).

31 Die Verdammung der Demokratie als 'westliches Teufelswerk' hindert islamische Fundamentalisten freilich nicht daran, demokratische Grundrechte auszunutzen und einzuklagen, wenn es ihren strategischen Interessen dient. Insofern handelt es sich um einen 'scheinheiligen' Antidemokratismus.

32 Zit. n. Al-Azm 1993, S.105. Dort wird auch die weitestgehende Übereinstimmung zwischen christlich-fundamentalistischem und islamistischem Antimodernismus nachgewiesen.










 

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