Beiträge zur Politik |
Hartmut KraussZwischen marktradikaler Dogmatik und neokeynesianischer Illusion.Zur Diffusion des "post-neoliberalen" Kapitalismus.
I. Einleitung: Zum Elend der systemimmanenten StrategiedebatteGemessen an ihrer regierungspolitischen Präsenz ist die Dominanz des neoliberal-konservativen Flügels der spätkapitalistischen Herrschaftselite zunächst passé. Mit der Konstituierung der "rot-grünen" Bundesregierung in Deutschland ist damit nunmehr eine nahezu flächendeckende Rückkehr der Sozialdemokratie in die politische Verantwortung zu konstatieren. Wurden die "Sieger des Kalten Krieges" in ihrer triumphalen Hochphase nach dem Fall der Mauer noch durch Bush, Kohl, Mayor, Fabius, Berlusconi u.a. repräsentiert, haben nach einem Jahrzehnt der kapitalistischen "Krisenrenaissance" mittlerweile die "linken" Kontrahenten Clinton, Schröder, Blair, Jospin, d'Alema u.a. ihren Platz eingenommen. Die Machtabtretung der neoliberal-konservativen Führungsgarnituren erscheint in ihrer sukzessiven Abfolge als verblüffend schnell, konsequent und "total", beinahe so, als sei sie im Zeichen der globalen Beschleunigung "generalstabsmäßig" vollzogen worden. Was steckt hinter dieser internationalen "Klimaveränderung"? Welche systemische und gesellschaftspolitische Bedeutung ist der Auflösung der neoliberal-konservativen Regierungsmacht in den entwickelten kapitalistischen Ländern beizumessen? Eröffnet z.B. die Wahl der "rot-grünen" Bundesregierung die Möglichkeit für ein neues "Goldenes (Reform-)Zeitalter des Kapitalismus in Deutschland"? Oder aber ist vielmehr eine eklektische Entdifferenzierung der politisch-strategischen Lager der westlichen Führungseliten zu konstatieren, wonach sich die Grenzlinien zwischen "neoliberalem Sozialdemokratismus" und "sozialliberalem Konservatismus" zunehmend verwischen? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, daß das zurückliegende 20. Jahrhundert als eine Epoche der gescheiterten Großprojekte zu resümieren ist. Faschismus, Stalinismus und Keynesianismus erwiesen sich als unfähig, die multiple kapitalistische Widerspruchs- und Krisendynamik in der jeweils spezifisch intendierten Weise zu bändigen, zu überwinden oder stillzustellen. Das "Tausendjährige Reich", der "Sozialismus in einem Land" sowie der "krisenfreie Kapitalismus" entpuppten sich allesamt als Schimären. So unterschiedlich, ja gegensätzlich diese historischen Projekte zu beurteilen sind, ihr einigendes Band finden sie in einem ausgeprägtem Staatsfetischismus/Etatismus, d.h. in dem Aufbau eines staatszentrierten mechanistisch-bürokratischen Lenkungssystems zwecks Steuerung großer ("entsubjektivierter") Menschengruppen von "außen" und von "oben". Im Gegensatz zu den staatsfixierten politisch-strategischen Optionsmodellen setzt das klassische (antiinterventionistische) Kernideologem des Wirtschaftsliberalismus auf die unreglementierten Selbstregulierungs- bzw. "Selbstheilungskräfte" des kapitalistischen Marktprozesses, in den der Staat sich nicht einzumischen hat, sondern dessen "Rahmenbedingungen" er lediglich absichern soll. Indem der sog. Neoliberalismus dieses alte Kernideologem vor dem Hintergrund der fordistischen Systemkrise reaktiviert und in Anknüpfung an neue ("wohlfahrtsstaatliche") Degenerationserscheinungen aufwärmt, verdrängt er gleichzeitig folgenden gesellschaftshistorischen Tatbestand, nämlich, daß die freie konkurrenzkapitalistische Entfaltung der ressourcenungleich ausgestatteten Marktkräfte erst zu jenem Krisendesaster geführt hat, aus dem die staatsfixierten/-interventionistischen Strategiemodelle als Verarbeitungsversuche dann hervorgegangen sind. D.h: Den variantenreichen Fehlschlägen des Etatismus (Staat als "Krisenlöser") ging der Regulierungsbankrott der "invisible hand" voraus. Wenn z.B. Dahrendorf m.E. durchaus zu recht die Überlebtheit traditioneller sozialdemokratischer Programmatik hervorhebt, dann ist aber im gleichen Atemzug darauf hinzuweisen, daß der sich "neoliberal" aufspielende Wirtschaftsliberalismus einen industriekapitalistischen Dinosaurier anderen Typs darstellt. In historischer Makroperspektive zeigt sich letztendlich, daß die systemimmanente Strategiedebatte mit ihren Polen Staat/Markt sich von Beginn an in einem sich stets wiederholenden Kreislauf der "herauszögernden" Ausweglosigkeit befindet: Eine praktisch folgenreiche Diskussion, aus strukturellen Gründen verurteilt zu "aporetischer Redundanz"(1), über die sich ihre Teilnehmer in der Regel vermittels Erhitzung an Augenblickserscheinungen hinwegtäuschen. Das vergegenständlichte Resultat der alternierenden Strategiemodelle tritt uns heute gegenüber als die verhängnisvolle Doppelherrschaft von "starkem (Groß-) Kapital" und "starkem Staat" als den zwei konstitutiven Machtsäulen des Spätkapitalismus. Mindestvoraussetzung für die Überwindung der "aporetischen Redundanz" wäre die systematische Reflexion der folgenden integralen Widerspruchsdimensionen der kapitalistischen Gesellschaftsformation mit ihrer unhintergehbaren, im Falle des Ignorierens: durchkreuzenden Wirkungsmächtigkeit: 1) Der "endogene" Widerspruch zwischen den unterschiedlichen profitlogischen Handlungsebenen des "personifizierten Kapitals": der Kapitalist als Warenproduzent (Interesse an hohem Mehrwert) und als Verkäufer von Waren/Dienstleistungen (Interesse an zahlungskräftiger Nachfrage). Die zwei Seelen in der Brust des personifizierten Kapitals. 2) Der "interkapitalistische" Widerspruch zwischen den konkurrierenden Einzelkapitalen einerseits und den nationalen Kapitalstandorten andererseits in der sich zunehmend "globalisierenden" kapitalistischen Weltmarktgesellschaft. 3) Der Interessengegensatz zwischen in sich vielfältig differenzierter Lohnarbeit und hierarchisiertem Kapital (aktuelle Konstitution des Klassenantagonismus) sowie die damit verknüpften geschlechtlichen und ethnischen Widerspruchskomplexe. 4) Das herrschaftsinterne Konfliktfeld (Steuer- und Gesetzgebungs-)Staat vs. hierarchisiertes Kapital.
5) Der ökologische Widerspruch zwischen
Kapitalverwertung und der Erhaltung menschlicher und außermenschlicher
Natur.
II. Aufstieg und Fall der "neoliberal-konservativen" HegemonieBetrachten wir zunächst den vorübergehenden Glanz und den schließlichen Kollaps der neoliberal-konservativen Herrschaftsstrategie: In dem Maße, wie mit der Herausbildung des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus die liberalen Parteien um die Jahrhundertwende an Einfluß einbüßten, adoptierte der organisierte Konservatismus wesentliche Bestandteile des klassischen Liberalismus. Auf diese Weise "verlagerten sich viele traditionelle Elemente der Ideologie des 'freien Marktes' von ihrer angestammten Heimat bei den Liberalen zu den Konservativen. Hier fanden sie im grundsätzlichen Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft, in einer Ethik des Besitzindividualismus und des harten Konkurrenzkampfes ideologischen Unterschlupf" (Hall 1989. S.175). Nach dem zweiten Weltkrieg dominierten innerhalb des parteiförmigen Konservatismus zunächst die "sozialpaternalistischen" Kräfte, die im Interesse einer populistischen Taktik gegenüber der sozialdemokratisch hegemonierten Gewerkschaftsbewegung auf "soziale Marktwirtschaft" und staatliche Fürsorge setzten und sich somit in den nachkriegstypischen "fordistischen Klassenkompromiß" einordneten. Demgegenüber wurde die "neoliberale" Fraktion an den Rand gedrängt. "An der kurzen Leine gehalten", so Hall (S.176) mit Bezug auf Großbritannien, "war es ihren Verfechtern auf Parteitagen erlaubt, ihre rückständigen sozialen Doktrinen zu äußern (die 'Hängt-sie-auf-und-peitscht-sie-aus'-Brigade) und einen harten ökonomischen Individualismus sowie das kleinbürgerliche Ethos des Konkurrenzkampfes gegen das ihrer Ansicht nach zu wohlerzogene Tory-Junkertum zu vertreten." Als sich nun die Krisenerscheinungen des "wohlfahrtsstaatlich" regulierten "fordistischen" Kapitalismus im Verlauf der 70er Jahre zunehmend verdichteten (sinkende Wachstumsraten, inflationäre Tendenzen, chronische Massenarbeitslosigkeit, zunehmende Staaatsverschuldung) und die keynesianschen Apologeten des "krisenfreien Kapitalismus" zwangsläufig in die Defensive gerieten, reaktivierten die konservativen Kräfte ihr adoptiertes (neo-)liberales Potential: Ins Fadenkreuz ihrer ideologischen Attacke auf das fordistisch-klassenkompromißlerische Regulierungssystem geriet fortan der "soziale Wohlfahrtsstaat" und die von ihm ausgehenden paralysierenden Wirkungen auf die Wirtschaftsakteure: "Wo die Arbeit, der Fleiß, die Leistung, die Sparsamkeit nicht mehr als Tugenden gelten, wo das Leben auf Kosten anderer als Lebensklugheit, nicht mehr als Schande gilt, da ist die Voraussetzung wirtschaftlicher Prosperität untergraben. Das ist kein Vorwurf gegen irgendwelche Personen - das ist ein Vorwurf gegen ein System, das gesellschaftsschädigendes Verhalten prämiert" (W. Engels zit.n. Herkommer 1998, S.17f.) Kritisiert wurde aber nicht nur auf "neoliberale" Weise der ausufernde Staatsinterventionismus, sondern gleichermaßen - auf "neokonservative" Weise - der hedonistische Wertewandel bzw. der Verfall der klassischen Grundwerte und -tugenden (Arbeitsdisziplin, Achtung vor der Autorität, Familiensinn, nationaler Stolz etc.) als weitere Ursache der gesellschaftlichen Degeneration. Aufgrund dieses elementaren Doppelcharakters der Argumentation ist begrifflich präzise von einer neoliberal-konservativen Diskursformation auszugehen. Kernaspekt dieser neoliberal-konservativen Offensive war die Artikulation einer in sich geschlossenen systemapologetischen Krisenerklärung, die folgende Grundkonstituenten aufweist: 1) Bei vollständiger Ausblendung der krisengenerierenden Widerspruchsdynamik des kapitalistischen Reproduktionsprozesses werden sämtliche negativen Erscheinungen auf den ausufernden "Wohlfahrtsstaat" sowie das fordistische Regulierungssystem als Ursachenherd zurückgeführt. Die Grundparole lautet: Zerschlagung des "fordistischen Korsetts" der Marktzügelung. 2) Die neoliberal-konservative Staatskritik ist in höchstem Maße interessenselektiv und rein taktisch-instrumentalistischer Natur: Attackiert werden lediglich massenentlastende soziale Rechte sowie die Profitspielräume und die Bewegungsfreiheit des Großkaptials tangierende Auflagen (Steuern, arbeitsrechtliche Bestimmungen etc.); andererseits wird der Ausbau und die effizienzsteigernde Neuorganisation der strafenden und repressiven Staatsorgane postuliert. Gestützt auf raffiniert inszenierte Law-and-order-Kampagnen und entsprechende medial gesteuerte Moralpaniken soll die Installierung neuer sozialer Ungleichheitsverhältnisse abgesegnet werden. "Das strategische Moment solcher Moralpaniken besteht darin, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu definieren, Einschränkungen des bürgerlichen Gleichheitspostulats zu legitimieren, Grenzen des Anspruchs auf Anerkennung von sozialen Rechten zu bestimmen und den Zugang zu materiellen Ressourcen und Räumen auch vom moralischen Status der Betroffenen abhängig zu machen" (spacelab 1997, S.146). Es geht den neoliberal-konservativen Kräften überhaupt nicht um den Abbau von Bürokratie oder gar um die Eindämmung bürokratischer Herrschaft, sondern um den Auf- und Ausbau einer kapitaleffizienten Straf-, Kontroll- und Zuteilungsbürokratie. 3) Der neoliberal-konservative Diskurs greift Erscheinungsformen systemproduzierter Anomie wie anwachsende Kriminalität, zunehmende Gewaltbereitschaft, Drogenproblematik, erhöhte Scheidungsraten etc. propagandistisch auf und zerschneidet zugleich deren systemischen Verursachungszusammenhang, indem ein angeblich von den "Linken" erzeugter "Wertewandel" als Teufel an die Wand gemalt wird. Systematisch verkannt wird in diesem Kontext das für den Spätkapitalismus typische Zusammenspiel von sich verschärfender arbeitsmarktlicher Ausgrenzung bei gleichzeitig gesteigerter Anreizung durch die umfassend effektivierte und totalisierte konsumistische Massenkultur des Haben-Müssens, was ein enormes "anomisches Potential" in sich birgt(2).
Das Nicht-Begreifen-Können des anomischen
Potentials der systemnotwendigen und zugleich deformierenden konsumistischen
Massenkultur des Habens verweist auf den kennzeichenden Grundwiderspruch
der neoliberal-konservativen Ideologie, nämlich die
eigentümliche Diskrepanz zwischen marktradikaler ökonomischer
Modernisierungsattitüde, die angesichts des Primats der
wirtschaftlichen Freiheiten das Schicksal der im Konkurrenzkampf
Unterlegenen mißachtet, einerseits und dem gleichzeitigen
Festhalten an traditionellen Werten und Verhaltensmaximen
andererseits, die im Kontext der spätkapitalistischen Reproduktionsweise
längst ausgehöhlt und partiell bereits dysfunktional
geworden sind. So sind im Zeichen des "globalen", "elektronisch
vernetzten" und "beschleunigten" Kapitalismus konterkarierende
Postulate wie "Durchsetzungsfähigkeit" und "Flexibilität"
an die Stelle von "Anständigkeit" und "Zuverlässigkeit"
getreten. In der Quintessenz beklagen die neoliberal-konservativen
Kräfte die kulturellen Folgen, die von dem von ihnen fetischisierten
kapitalistischen Marktprozeß erst erzeugt worden sind. Sie
strapazieren die unhaltbare Utopie "der Versöhnung eines
modernisierten Kapitalismus mit der wiederbelebten Ordnung sittlicher
Normen und religiöser Gefühle, die in vorbürgerlichen
Gesellschaften entstanden sind, für die Entwicklung des Kapitalismus
auch durchaus 'funktional' waren, von diesem in seiner eigenen
Entwicklungslogik aber ... 'aufgezehrt' wurden" (Herkommer
1998, S.22). Dieser Widerspruch zwischen ökonomischer Modernisierung
und geistig-kultureller Stagnation/Rückständigkeit fand
seine nationalspezifischen Konkretisierungen in Gestalt der amerikanischen
"Reaganomics" als bizarre Synthese aus protestantisch-fundamentalistischer/neopuritanischer
Bewegung und neoliberalem Yuppietum(3), in Form des Thatcherismus
als wertekonservativ ummantelte Entfesselung der Marktkräfte(4)
oder in Kohls "geistig-moralischer Wende" als paternalistisch
und familialistisch verbrämter Demontage der korporatistischen
"Sozialpartnerschaft". Worin bestand nun aber die hegemoniale Kapazität der neoliberal-konservativen Ideologie, die es ermöglichte, einen Konsens zwischen der neu formierten Machtelite und breiten Teilen der Beherrschten zu stiften? 1) Zunächst einmal ist anzuerkennen, daß für den unmittelbarkeitsfixierten, kapitalistisch sozialisierten Alltagsverstand die neoliberal-konservative Anrufung der individuellen Ressourcen hochplausibel erscheint: "Wenn man sich anstrengt, dann schafft man es auch." "Jeder ist seines Glückes Schmied." "Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit." Jeder, der es im Rahmen des kapitalistischen Konkurrenz- und Leistungssystem einigermaßen "geschafft hat" und noch dazu in seiner unmittelbaren Umgebung ja durchaus Leute kennt und sieht, "die sich hängen lassen", neigt dazu, den eigenen relativen Erfolg ausschließlich der eigenen Leistung zuzuschreiben und den Mißerfolg der Anderen spiegelverkehrt ebenso ausschließlich deren vermeintlichen subjektiven Defiziten anzulasten. Auf diese Weise bleibt die strukturelle Anarchie bzw. der ungerechte "Terror des Zufalls" als vielfältig auftretendes Wesensmerkmal der systemvermittelten Zuteilung von Lebenschancen vollständig ausgeblendet. Im Rahmen dieses kurzschlüssig-erscheinungsfixierten Denkens wird dann andererseits auch die massenhaft verbreitete Realität des Scheiterns trotz subjektseitig tadelloser Leistungsbereitschaft und Kompetenz verkannt oder aber, wenn sie doch einmal sinnlich konkret wird, im Sinne einer fatalistisch-pessimistischen Laienphilosophie rationalisiert. Auf der Grundlage dieser alltagsideologisch präparierten Rezeptionsbereitschaft gegenüber der neoliberal-konservativen Ideologie läßt sich dann auch zunächst relativ leicht Zustimmung mobilisieren für Programme, die darauf abzielen, den (selbstverschuldet) Gescheiterten die Unterstützung zu entziehen, Leistungen zu kürzen, Anspruchshaltungen zu delegitimieren etc. 2) Der neoliberal-konservativen "Staatskritik von rechts" steht ihr selektiv-taktischer (kapitalfunktionaler) Sinn nicht unmittelbar auf der Stirn geschrieben. Insofern wird die Geißelung der sozialbürokratischen Auswüchse des "Versorgungsstaates" aufgrund der vielfältigen Negativerfahrungen, die zahllose Lohnabhängige, aber auch viele kleinere und mittlere Selbständige mit einer raubgierigen, gängelnden, kontrollierenden, bevormundenden und sanktionierenden Steuer-, Finanz-, Arbeits-, Aufsichts- und Genehmigungsverwaltung machen, unvermittelt als befreiend erlebt. Das liegt daran, daß diese Bürokratiekritik, die von ihren Absendern auf Sozialabbau und Beseitigung großkapitalistischer Handlungsbarrieren gemünzt ist, auf Seiten der Empfänger einer interessenspezifischen Sinnverschiebung unterliegt. D.h. sie wird in ihrer Bedeutung vor dem Hintergrund der standortspezifisch andersartigen Rezipientererfahrungen uminterpretiert bzw. neu codiert, so daß ein verzerrtes Interessenbündnis entsteht: Man übernimmt die selektive Bürokratiekritik der neoliberal-konservativen Kräfte mit ihrer andersartigen, ja gegensätzlichen Interessenlage und assimiliert sie dem eigenen disparaten Erfahrungshintergrund. 3) Die kapitalfunktionale Bürokratiekritik von rechts ist im neoliberal-konservativen Grunddiskurs unmittelbar verknüpft mit dem Versprechen der Gewährleistung eines "starken Staates", das seinerseits einen breiten Widerhall findet in beträchtlichen Teilen der durch Kriminalitätsfurcht, Angst vor Überfremdung, Alltagswahrnehmungen bezügl. Drogensucht, Gewalttätigkeiten und Vandalismus etc. aufgewühlten und durch mediale Moralpaniken zusätzlich geängstigten Massen. In Verbindung mit dem Versprechen der Reinstallierung einer traditionellen Werteordnung und -erziehung gelingt es so den neoliberal-konservativen Kräften - darüber hinaus noch gestützt auf reaktionäre Ablagerungen im Massenbewußtsein wie Ausländerfeindlichkeit, faschistoide Einstellungen und sozialdarwinistische Denkhaltungen - einen "autoritären Populismus" (Hall) als hegemoniales Instrument einzusetzen.
Auf der Grundlage der Verknüpfung von
individualistisch-konformistischer Leistungsideologie, Bürokratiekritik
"von rechts" und "autoritärem Populismus"
gelingt es der neoliberal-konservativen Diskursformation identifikationsfähige
Subjektpositionen zu konstruieren und diese dann "zustimmungsheischend"
anzurufen: den braven und fleißigen, anpassungsbereiten
Lohnabhängigen; den unbescholtenen Steuerzahler; den besitzenden
Privatmann; den besorgten Haushaltsvorstand; den ehrbaren Staatsbürger
etc. Wesentlich ist hierbei, daß sich diese diskursiv konstruierten
Subjektpositionen "in einer Kette zusammenhängender
Anrufungen konnotierend aufeinander (beziehen)" (Hall 1989,
S.194): Der brave und fleißige Lohnabhängige ist auch
unbescholtener Steuerzahler und besorgter Haushaltsvorstand; der
besitzende Privatmann ist selbstredend auch ehrbarer Staatsbürger
u.s.w. Im Verlauf der 80er Jahre praktizierten die neoliberal-konservativen "Mitte-Rechts"-Regierungen eine Politik, die im Kern auf eine restaurative Umverteilung von Macht und Reichtum zugunsten des Großkapitals und der besitzbürgerlichen Schichten auf Kosten vornehmlich der ärmeren Segmente der Lohnabhängigen hinauslief. Sozialausgaben wurden gekürzt und soziale Rechte der Lohnabhängigen beschnitten, während durch Steuererleichterungen, arbeitsrechtliche Deregulierungsmaßnahmen, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, Kapitalsubventionen und komplexen Druck auf die gewerkschaftliche Lohnpolitik die Verwertungsbedingungen und Verteilungspositionen insbesondere der großen, international agierenden Einzelkapitale begünstigt und gestärkt wurden. So erfolgreich diese Politik der "Wiederentfesselung der Marktkräfte" gemessen an den reoptimierten Profitmöglichkeiten der dominanten Kapitalfraktionen auch war; zugleich barg sie doch aufgrund ihrer augenfälligen Aufkündigung des Klassenkompromisses die Gefahr der Zerstörung des "sozialen Friedens" in sich. "Im weltweiten Triumph des Marktes' über den keynesianischen Staat gelang es der sich neu konstituierenden Bourgeoisie, eine gründliche Neuverteilung der Kräfte und der materiellen Verteilungsrelationen zwischen den gesellschaftlichen Klassen zu bewirken. Je erfolgreicher und rigider der neoliberale Sieg jedoch durchgesetzt wurde, desto prekärer wurde seine ideologische Vorherrschaft" (Röttger 1997, S.8). Durch die "triumphale Phase" angesichts des Zerfalls des "Realsozialismus" kurzfristig unterbrochen, schritt die Zersetzung der neoliberal-konservativen Hegemonie seit Beginn der 90er Jahre rapide voran. Folgende zentralen Bewegungsursachen lagen diesem Erosionsprozeß zugrunde: 1) Die Herstellung und Aufrechterhaltung eines Konsenses zwischen Herrschenden und Beherrschten erfordert ein materielles Fundament in Form eines utilitaristischen Interessenarragements: In der subjektiven Perspektive der Subalternen muß etwas aus der Unterordnung unter die bestehenden Herrschaftsverhältnisse "herausspringen". D.h.: Die Unterwürfigkeit will prämiert werden, um subjektiv sinnvoll zu erscheinen. Grundsätzlich gilt, daß in der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft die Möglichkeit einer "erfüllten" (befriedigenden) Lebensführung der Menschen massenhaft als eine abhängige Variable der Kapitalbewegung erfahren wird: Die individuelle Glücksrate oszilliert - auf vielfältig verschlungene Weise - mit dem krisenvermittelten Konjunkturverlauf. "Wenn es dem Kapital/dem Betrieb gut geht, dann geht es auch uns gut." An diesem "naturalistisch"-vordergründigen Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung setzt(e) das neoliberal-konservative Heilsversprechen an. "Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen." De facto aber zerschellte diese sozialökonomische Harmonieverheißung bzw. Symmetrielehre an der grausamen Realität der globalisierten kapitalistischen Marktlogik: Die Gewinne der mulinationalen Unternehmen explodierten; statt Erweiterungsinvestitionen wurden arbeitssparende Rationalisierungsmaßnahmen durchgeführt und/oder Gewinne spekulativ angelegt; die chronische Massenarbeitslosigkeit nahm noch zu und erfaßte Teile der "Neuen Mitte" (leitende Angestellte, mittleres Management, akademisch ausgebildetes Fachpersonal etc.); die Reallöhne stagnierten oder sanken sogar, obwohl die Reichen immer reicher wurden etc. Der neoliberal-konservative Stern begann zu sinken; man wandte sich wieder verstärkt den zugleich "ökologisch" und "liberal" gelifteten Demokraten, Sozialisten, Sozialdemokraten, neuen Labouristen etc. zu. 2) Der Grundwiderspruch der neoliberal-konservativen Ideologie zwischen wirtschaftsliberaler (kapitalfunktionaler) Modernisierung und Propagierung einer traditionalistischen Wertekultur(5) begann zunehmend auf der Erfahrungsebene des Massenbewußtseins wirksam zu werden. Während z.B. einerseits infolge der marktradikalen Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsprozesse das fordistische Normalarbeitsverhältnis durch vermehrte Anwendung von Teilzeitarbeit, Leiharbeit, befristete Beschäftigung etc. kontinuierlich erodierte, wurde andererseits - in Anknüpfung an das katholische Sozialmilieu - noch das mittlerweile obsolet gewordene Bild der fordistischen "Normalfamilie" beschworen. Nach dem Ende des atypischen "Vollbeschäftigungskapitalismus" und der Entfesselung der kapitalistischen Marktlogik wird den Menschen der entsprechenden erwerbsarbeitsfähigen Alterskohorten aber zunehmend bewußt, daß es im Zeichen chronischer Massenarbeitslosigkeit und radikalisierter Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen immer riskanter wird, sich auf ein einziges Einkommen im Haushalt zu verlassen. "Immer weniger Männer werden in Zukunft eine Familie alleine ernähren können. Sie sind - wie früher die Frauen - auf ein zweites Einkommen und die Kombination verschiedener Einkommensarten angewiesen." (Ostner 1999, S.73). Aber nicht nur aufgrund einschneidend veränderter sozialexistenzieller Erfahrungen schwand allmählich die hegemoniale Potenz der CDU als deutscher Hauptkraft des neoliberal-konservativen Blocks. Hinzu kommt noch das Wegbrechen folgender Anrufungs- und Mobilisierungsressourcen: a) Mit dem Verschwinden des "Realsozialismus" ist der Antikommunismus als "ideologischer Integrationskitt" ausgefallen. "Allein die Furcht vor den Roten und Linken band die verschiedenen Milieus des protestantischen Bürgertums zusammen und verklammerte sie mit dem politischen Katholizismus. Der Antisozialismus war das Fundament der christdemokratischen Einheit, war Ausgangspunkt jeder erfolgreichen Mobilisierung" (Walter/Bösch 1998, S.1340). b) Infolge des rapiden Säkularisierungsprozesses in den letzten drei Jahrzehnten hat der kirchliche Einfluß auf die normativen und wertebezogenen Einstellungen der Menschen spürbar abgenommen. "Vor allem unter den Katholiken ist die Frömmigkeit drastisch zusammengeschmolzen. Zu Adenauers Zeiten besuchte noch gut die Hälfte der deutschen Katholiken Sonntag für Sonntag die heilige Messe. Am Ende der Ära Kohl befolgte dagegen nur noch ein Fünftel die katholische Kirchgangspflicht. Mit der Eingliederung der DDR ist Deutschland noch mehr zur Diaspora geworden. In den neuen Bundesländern definieren sich lediglich 6% als kirchenverbundene Christen" (ebenda, S.1341). Für die verbliebenen konservativ-kleinbürgerlichen Milieus gilt, daß sie die durch den entfesselten kapitalistischen Konkurrenzkampf bei gleichzeitig intensivierter und perfektionierter konsumistischer Massenkultur ausgelösten gesellschaftlichen Anomien als "abstrakten" Werteverfall verkennen und folglich in eine Sinnkrise verfallen, die durch neoliberale Diskurse nicht zu bewältigen ist. 3) Die im Zeichen des Neoliberalismus praktizierten Flexibilisierungsprozesse haben auf Seiten der betroffenen Wirtschaftsakteure zu einer Überstrapazierung der psychischen Belastbarkeit geführt, die sich im Verlauf der 90er Jahre zunehmend verdichtete und schließlich - vor dem Hintergrund des nicht eingelösten neoliberal-konservativen Heilsversprechens - in eine manifeste Unzufriedenheit umschlug. Insofern ist die Auflösung der neoliberal-konservativen Hegemonie auch als Quittung für die psychischen Kosten der neoliberalen Wirtschaftsstrategie anzusehen. So verlangen die Anforderungen des globalisierten kapitalistischen Marktprozesses von den in sein Räderwerk involvierten Menschen nicht mehr wie früher hauptsächlich das Aushalten harter, schmutziger, monotoner Arbeit, sondern die immer schnellere Anpassung an immer kurzfristigere arbeitsinhaltliche, -organisatorische und kommunikative Anforderungen (Softwareversklavung). "Heute muß ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen" (Sennett 1998, S.25). Das durch Kurzfristigkeit und Hektik gekennzeichnete Zeitdiktat des modernen Kapitalismus gerät auf diese Weise in einen immer krasser werdenen Gegensatz zur auf Langfristigkeit, Intensität und "Allmählichkeit" aufbauenden Herausbildung von zwischenmenschlicher Vertrauensbildung und emotionaler Bindung. Entsprechend verdrängt die im Arbeitsprozeß gültige Tugend der Kurzfristigkeit zunehmend die reproduktive Tugend der Langfristigkeit. Den modernen Lohnabhängigen wird darüberhinaus heute ein höheres Maß an bewußter Risikobereitschaft abverlangt, d.h. insbesondere die Fähigkeit zur permanenten Akzeptanz von Undurchschaubarkeit bzgl. der Handlungsbedingungen bei gleichzeitiger Ungewißheit hinsichtlich der Zielerreichung und das bei permanter Drohung des Arbeitsplatzverlustes. Hinzu kommt die Notwendigkeit zur subjektiven Ausbalancierung des Widerspruchs zwischen multipler "interkollegialer" Konkurrenzerfahrung einerseits und dem Zwang zu vorgetäuschter Kooperativität anderseits, wie sie für die neuen "teilautonomen Arbeitsgruppen" typisch ist(6).
Unmittelbar pathogen wirkt zudem der Umstand,
daß in einer Konkurrenzgesellschaft, die gesetzmäßig
eine Masse von Verlierern erzwingt, der Mißerfolg und das
Scheitern tabuisiert sind und deren Artikulation geächtet
wird. Den Verlierern wird vermittels subtilem Druck auferlegt,
ihr Schicksal zu introjizieren, also in sich einzukapseln. Auch
in dieser Hinsicht erweist sich der moderne Kapitalismus als ein
System wechselseitiger demoralisierender Gleichgültigkeit,
das die Menschen inmitten einer konsumistischen Überflußgesellschaft
seelisch verkrüppeln und trotz aller aufgespreizten Kommunikativität
zutiefst vereinsamen läßt.
III. Exkurs: Der "Etatismus" als strategische Sackgasse und der spätkapitalistische Staat als autonomer Herrschaftsapparat
Der Kollaps der neoliberal-konservativen Regierungsmacht
aufgrund von sozialer Enttäuschung, ideeller Verunsicherung
und psychischer Überlastung breiter Teile der Bevölkerung
bedeutet eindeutig nicht, daß eine progressive
Katharsis stattgefunden hätte und etwa das Fundament für
eine neue, fortschrittliche und emanzipatorische Hegemonie gelegt
worden sei. Die Mehrheit der bundesdeutschen Wähler wollte
wohl einen neuen Bundeskanzler Schröder, aber keine "rot-grüne"
Regierungskoalition. Eine Große Koalition wäre ihr
lieber gewesen. In Frankreich ist die Jagd auf die Ökologen
eröffnet. D.h. es formiert sich ein borniert-reaktionärer
Widerstand gegen alle, die für eine naturverträgliche
Umgestaltung der Produktions- und Lebensweise eintreten und dabei
mit Bauern, Beschäftigten der Atomindustrie und Jägern
kollidieren. Nicht zuletzt der Ausgang der Hessenwahl hat ans
Licht gebracht, daß eine weit verbreitete wohlstandschauvinistische
Ausländerfeindlichkeit jederzeit im Interesse eines autoritären
Populismus mobilisierbar ist: Während sich von allen Befragten
in Hessen 61 Prozent gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
aussprachen, waren es bei den un- und angelernten Arbeitern 82
Prozent. Fordismusnostalgie, Sehnsucht nach Wiedereingrenzung
neoliberal entfesselter Lebensrisiken, tumbes Festhalten an verinnerlichten
systemkonformistischen Konsum- und Lebensgewohnheiten gepaart
mit traditionalistisch-wertekonservativen (einschließlich
fremdenfeindlichen) Einstellungsmustern bilden eine bizarre Gemengelage
von Denkhaltungen, die jedenfalls nicht für eine "sozial
gerechte und ökologische Umgestaltung der Industriegesellschaft"
oder gar für den Aufbruch zu einer linken Reformalternative
sprechen, sondern viel eher das "volksmentale" Unterpfand
abgeben für einen neuen sozialdemagogischen Anlauf von rechts.
Angesichts a) des strategischen Dilemmas der Herrschenden, momentan über keine hegemoniefähige und konsistente Politikvariante zu verfügen und b) der teils fordistisch-antineoliberal, teils strukturkonservativ ausgerichteten Zwitterhaftigkeit des Massenbewußtseins zeichnet sich die Wiederbelebung des "Staatsfetischismus" als einfache Negation des neoliberalen "Marktfetischismus" ab. Dieser reanimierte Staatsfetischismus nährt sich von der zählebigen Illusion, wonach man innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftssystems gestützt auf den Staat "von oben" die Logik des Marktes brechen und eine alternative Logik der sozialen Umverteilung , der Zügelung der Profitmaximierung, der Zurückdrängung der Kapitaldominanz etc. auf Dauer stellen könne. Während Marx, Engels und Lenin noch die Voraussetzungen, Formen und Möglichkeiten der "selbstermächtigenden" Zurücknahme staatlicher Funktionen in die Gesellschaft reflektierten und mit Bezug auf die Pariser Kommune das "Absterben des Staates" ins Zentrum rückten, verstieg sich der epigonale Parteimarxismus sowohl sozialdemokratischer und später dann auch kommunistischer Provenienz zu einer durch und durch "etatistischen" Sozialismuskonzeption. Kernaspekt dieser parteiübergreifenden "etatistischen Sozialismuskonzeption" ist eine die Volksmassen systematisch entsubjektivierende und tendenziell entmündigende Stellvertreterpolitik, die alle gesellschaftlichen Initiativen an sich reißt und jedweden demokratischen Impuls absorbiert. Danach fungiert der Staat (als Ensemble seiner integralen Apparate) als Schlüsselinstrument bzw. "garantierende Institution" für die Schaffung sozialer Wohlfahrt und Gerechtigkeit, der durch eine politische Elite im Namen der arbeitenden Klassen ("von denen man erwartete, daß sie 'ihre Regierung' ins Amt wählte, die aber natürlich zu wenig Sachverstand besaßen, um in ihrem eigenen Namen zu regieren) Gesetze erläßt" (Hall 1989, S.224). Nur die Staatselite fungiert als Subjekt, alles andere gerät zum Objekt oder Instrument der "von oben" verordneten Wohltätigkeit.
Hervorzuheben ist nun, daß nicht nur
im niedergegangenen "realen Sozialismus" der Staat,
anstatt allmählich abzusterben, zu einer alles erdrückenden
bürokratischen Versorgungs- und Reglementierungsmaschine
mutierte. Auch der soziale Wohlfahrtsstaat, wie er sich in den
entwickelten kapitalistischen Ländern nach 1945 in enger
Verflechtung mit dem Ausbau der Law-and-Order-Bürokratien
herausbildete, bewirkte eine umfassende Verbürokratisierung
alltäglicher Lebensvollzüge im spätkapitalistischen
System. So war und ist die Prozedur der Beantragung und Realisierung
sozialer Transferleistungen untrennbar mit sozialer Kontrolle
und singularisierender "Fallbearbeitung" verknüpft.
Der Staat, der soziale Rechte gewährt und Gelder verteilt,
observiert, gängelt und reglementiert zugleich immer auch
jene, die sie erhalten. "Leute, denen der Staat 'etwas Gutes
tut', erfahren dies in Wirklichkeit als eine Praxis, die sie 'auf
ihren Platz verweist': sie erleben 'Sachverständige', die
es immer besser wissen, oder Staatsbeamte, die gegenüber
der Vielfalt der wirklichen Bedürfnisse auf der anderen Seite
des Schalters abgestumpft scheinen (Hall 1989, S.228). Die bürokratische
Funktionsweise des Sozialstaates vereinzelt, entsubjektiviert
und desozialisiert die Leute, stempelt sie "zu passiven,
gierigen, abhängigen Klienten" (ebenda).
Die einseitig funktionalistische (vulgärmarxistische)
Bestimmung des modernen Staates als Werkzeug/Instrument der kapitalistischen
Unternehmer bzw. seiner Akteure als durch und durch abhängiger
"geschäftsführender Ausschuß der herrschenden
Klasse" verkennt den autonomen (verselbständigten)
Herrschaftscharakter des Staates und seiner Agenten. Zwar
ist der 'Staat im Kapitalismus' insofern 'kapitalistischer Staat',
als daß er allgemeine, systemsichernde (infrastrukturelle)
Aufgaben erfüllt und in diesem Wirkungskontext auf die Gewährleistung
der Kapitalreproduktion und des Kapitalverhältnisses konzentriert
ist. Zugleich aber fungiert er als verselbständigter monopolistischer
Gewaltapparat, der mit vielerlei exklusiven Rechten und Kompetenzen
(Machtmitteln) sowohl gegenüber der Masse der Bevölkerung
als auch gegenüber den einzelnen Kapitalisten ausgestattet
ist. Insbesondere im Zuge der Etablierung des fordistischen Nachkriegskapitalismus
vervielfältigten sich die Funktionen und Kompetenzen der
staatlichen Bürokratie, die nun immer stärker regulierend
in die Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital eingriff. "Die
Arbeitskräfte wurden in ökonomisch relativ gesicherte
'Produktionsfaktoren' verwandelt, Bürger in 'Steuerzahler'
und Familien in 'Haushalte'. Die Bürokratie des 20. Jahrhunderts
verdinglichte in wachsendem Maße Arbeit, Gemeinwesen und
Staatsbürgertum - während sie das Kapital ökonomisch
in die Schranken wies, enthumanisierte sie zugleich die Welt"
(O'Connor 1995, S.401). Zwar vermochte sich das "globalisierende"
Großkapital gestützt auf die neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien und im Windschatten der neoliberalen
Attacke der 80er Jahre mittlerweile aus den nationalstaatlichen
Regulierungszwängen weitgehend zu befreien. Doch ist deshalb
die staatliche Bürokratie als eigenständige Herrschaftsbastion
nicht etwa verschwunden. Zum einen ist sie intensiv bemüht,
sich z.B. als "Eurobürokratie" auf supranationaler
Ebene neu zu formieren, zum anderen festigt sie ihre Zugriffe
auf alle nicht globalisierungsfähigen Zivilbürger. Darüberhinaus
wird sie vom "globalisierenden" Großkapital dazu
aufgefordert, "gefälligst mitzumachen im neuen Welt-Bürgerkrieg
der internationalen Konkurrenz" (Krätke 1997, S.23).
Was sind nun die Grundlagen des eigenständigen, nicht bloß "kapitalabhängigen" Herrschaftscharakters der staatlichen Bürokratie? 1) Die ökonomische Basis der staatlichen Herrschaft liegt neben a) dem staatlichen Eigentum an Produktionsmitteln, Grund und Boden, Gebäuden etc., b) in der gigantischen Absorbierung von Finanzströmen in Form der hoheitlichen Einziehung und Ver(sch)wendung von Steuern, Abgaben, Buß- und Strafgeldern etc., c) in der Verfügung über zugeteilte Etats der einzelnen Verwaltungsressorts und Körperschaften bis hin zu d) der öffentlichen Auftragsvergabe an private, staatliche oder "halbstaatliche"/"gemeinnützige" Unternehmen (z.B. im Bereich Straßenbau, Landschaftspflege, Fortbildung und Umschulung), wobei staatliche Einrichtungen wie z.B. die Bundesanstalt für Arbeit oder aber die Bundeswehr als "Nachfragemonopolisten" fungieren. Aufgrund der funktional aufgefächerten Koexistenz geldeinziehender, -verteilender, bewilligender, auftragvergebender und auftragausführender staatlicher Instanzen eröffnet sich ein weites Feld für die Installierung einer intransparenten, auf informellen Beziehungen basierenden vettern- und cousinenwirtschaftlichen "Schattenökonomie", die sich häufig nach außen mit dem Stirnband des "Allgemeinwohls" schmückt. 2) Nicht nur anhand der obszönen Abfindungen und Pensionszahlungen für ausgeschiedene Politiker, in den Ruhestand versetzte Ministerialbürokraten und straffällig gewordene Spitzenbeamte verdeutlicht sich die exklusive sozialökonomische Privilegiertheit der Staatsbediensteten. Generell gilt als Klassenprivileg des Berufsbeamtentums, daß diese soziale Großgruppe den kapitalismustypischen Lebensrisiken, wie sie für Lohnabhängige (Drohung des Arbeitsplatzverlustes) und Selbständige (Drohung des Bankrotts) gelten, weitestgehend enthoben und darüberhinaus mit zusätzlichen einkommens-, laufbahn- und altersbezogenen Besserstellungen zu Lasten der Steuerzahler versorgt ist(7).
3) Auf allen Ebenen im weitverzweigten Zuständigkeitsraum
der staatlichen Bürokratie existieren positionelle Kompetenzen,
die deren Funktionsinhaber mit ebenso elementarer wie exklusiver
Kontroll-, Überwachungs-, Zuteilungs-, Vorenthaltungs- und
Sanktionsmacht gegenüber Geld und Menschen ausstatten. Diese
(selbstbewußte) Macht-Kompetenz wird von den - demokratischer
Kontrolle weitestgehend enthobenen - staatsbürokratischen
Funktionsträgern vielfach mißbraucht, willkürlich
gehandhabt, klientelistischen Interessen untergeordnet oder aber
schlicht für die Realisierung egoistischer Bereicherungsmotive
genutzt(8). In zunehmenden Maße sind unproduktive Mittelverschwendung,
aktiv angediente Korruption und amtsmißbräuchliche
Veruntreung von öffentlichen Geldern an der Tagesordnung;
ganz zu schweigen von der unzähligen Mißachtung berechtigter
Anliegen "kleiner Leute". Die strukturelle Amoralität,
die der kapitalistischen Verwertungslogik wesensmäßig
eingeschrieben ist (vgl. Krauss 1996), hat sich längst auch
in die moderne Staatsbürokratie hineingefressen.(9)
Grundvoraussetzung für die Entwicklung
einer fortschrittlich-emanzipatorischen Transformationsperspektive
ist deshalb heute die Überwindung der traditionalistischen
Staatsfixierung. Die einseitige Ausrichtung auf die "Zurückdrängung/Beseitigung
der Kapitalherrschaft" bei gleichzeitiger unkritischer Ausblendung
des autonomen Herrschaftscharakters des Staates greift
nicht nur theoretisch zu kurz, sondern führt auch strategisch
in die Irre. Das wissenschaftlich und praktisch zu erneuernde
Projekt der Überwindung der antagonistischen Zivilisation
muß darum grundsätzlich als Zwei-Fronten-Kampf konzipiert
sein: Gegen die zwar wechselwirkende, aber dennoch autonom wirksame,
koexistierende Doppelherrschaft von Kapital und staatlicher Bürokratie.
Entgegen den überkommenen "etatistischen" Denkschablonen
der reformistischen und neodogmatischen "Staatslinken"
ist somit das radikale Zusammenfallen der "Demokratisierung
der Gesellschaft" mit dem "Abbau der staatlichen Bürokratie"
sowie dem "Absterben stellvertreterpolitischer Strukturen"
hervorzuheben. Denn: "Demokratie ist ... keine formale Angelegenheit
von Wahlkampf- oder Verfassungspolitik. Sie besteht in der wirklichen
Übertragung von Macht an die Machtlosen, der Ermächtigung
der Ausgeschlossenen" (Hall 1989, S.234). Als Instanz, die
grundsätzlich Macht konzentriert und sich deren Abtretung
aktiv widersetzt, kann der Staat nicht Teil der Lösung sein,
sondern firmiert strukturell als die "Hälfte des Problems".
IV. Das "Ende der Politik" und der Tod der systemimmanenten Reformutopie Zweifellos setzt die grundlegende Erneuerung eines zeitgemäßen und realitätstüchtigen kritisch-emanzipatorischen Diskurses die radikale Überwindung a) der teleologischen Geschichtsgläubigkeit, b) des proletarischen Messianismus sowie c) der instrumentalistischen Staatsfixierung voraus. Der Bruch mit diesen "traditionslinken" Leitideen ist unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung strategischer Handlungsorientierungen "auf der Höhe der Zeit". Allerdings ist mit dem selben Nachdruck auf die nicht nur "ungebrochene", sondern mittlerweile historisch vielfach bestätigte Grundeinsicht der Marxschen Kapitalanalyse zu verweisen, wonach eine Aufhebung/Lösung der sich verschärfenden systemproduzierten Widersprüche innerhalb der strukturellen Anarchie des kapitalistischen Reproduktionsprozesses prinzipiell nicht möglich ist. Die chaotische Dissoziation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals in konkurrenzvermittelt gegen- und nebeneinander agierende Einzelkapitale, die vielschichtige Kollision (systemisch erzwungener) betriebswirtschaftlicher Rationalitätsstandards mit gesellschaftlichen und persönlichen Bedürfnissen, das Eindringen der Profitlogik in nahezu sämtliche gesellschaftliche Sektoren etc. blockiert "gesetzmäßig" die bewußte und planmäßige Steuerung des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses. Deshalb ist die in ihren Wesensmerkmalen bürgerlich-kapitalistische verbliebene Gegenwartsgesellschaft "in ihren grundlegenden Strukturen und Entwicklungsgesetzlichkeiten nicht politisch 'regulierbar'. Bewußte Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse würde die Beseitigung des Kapitalverhältnisses voraussetzen" (Hirsch 1974). Gestützt auf die allgemeine Produktivkraftentwicklung (in Gestalt des sich gegenständlich verallgemeinernden wissenschaftlich-technischen Fortschritts) und bedingt durch die "phänomenale" Suggestivkraft der Konjunkturzyklen einerseits sowie der kriegsbedingten Rhythmik von Zerstörung und (profitablem) Wiederaufbau andererseits, vermochten es die diversen "Schulen" des systemimmanenten Reformismus, diese elementare Marxsche Systemdiagnose über einen langen historischen Zeitraum zu verdrängen. Heute allerdings, nach dem aufeinander folgenden Scheitern zunächst der keynesianischen Utopie des krisenfreien Kapitalismus, dann der neoliberalen Verheißung einer sozial kohärenten Marktgesellschaft, durchdringt die Erfahrung der politischen Nichtregulierbarkeit spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme zunehmend - wie verzerrt auch immer - das öffentliche Bewußtsein.
Diese prinzipielle makrostrategische "Nichtsteuerbarkeit"
spätkapitalistischer Systeme manifestiert sich aktuell in
dem vielfach konstatierten "Souveränitätsverlust"
des Nationalstaats angesichts der Globalisierung der Aktionsfelder
der marktbeherrschenden Großkapitale. Kennzeichnend für
diese "postnationale Konstellation" ist, wie Habermas
(1998, S.810) feststellt, daß mittlerweile "die internationalen
Börsen die 'Bewertung' nationaler Wirtschaftspolitiken übernommen
(haben). Die Politik der Nachfragesteuerung erzeugt deshalb regelmäßig
externe Effekte, die sich auf den nationalen Wirtschaftskreislauf
kontraproduktiv auswirken. 'Keynesianismus in einem Lande' ist
nicht länger möglich." Längst sind auch bereits
regierungsamtliche Steuerpläne den unverhohlenen Drohungen
und Erpressungsversuchen der Großkonzerne ausgesetzt: "Allianz
droht Bonn mit Abwanderung ins Ausland. Kritik an Steuerplänen
- Gewinn 1998 kräftig gestiegen"; oder: "RWE-Chef
droht Bonn mit Kürzung der Investitionen. 'Steuerpläne
revidieren' - Beim Ertrag weiter zugelegt" lauten die gängigen
Schlagzeilen. Zudem sind die nationalen Regierungen durch die
massive öffentliche und informelle Artikulation divergenter/inkompatibler
Lobbyverbände und Klientelinteressen in ihrem konzeptionellen
Handlungsspielräumen weitgehend beschränkt. Wer es im
Rahmen der zunehmend dysfunktional werdenden "repäsentativen
Demokratie" allen Besitzstandswahrern und Status-quo-Verteidigern
recht machen will, um keine Wähler zu verprellen, der ist
zur Bewegungsstarre verurteilt oder produziert ein chaotisches
Flickwerk aus unvereinbaren Regelungen, kastrierten Gesetzesvorlagen
und nicht harmonisierbaren Projekten. Der makrostrategische Bankrott, den die spätkapitalistischen Regierungseliten in den letzten 25 Jahren unabweisbar erlitten haben, ist auf folgenden Ebenen zunehmend evident geworden: 1) Das Versagen der wirtschaftspolitischen Kriseninterventionen sowohl keynesianischer als auch neoliberaler Provenienz hat insbesondere in Form der weitgehenden Kapitulation vor dem neuen kapitalistischen Phänomen der chronischen (überzyklischen) Massenarbeitslosigkeit Gestalt angenommen. 2) Trotz öffentlichkeitswirksamer Information hat sich die weltweite ökologische Krise seit dem ersten Bericht des Club of Rome weiter verschärft und zusätzliche Dimensionen angenommen. 3) Nach dem Ende des "Kalten Kriegs" und der Auflösung des Systemgegensatzes haben kriegerische Auseinandersetzungen und militärische Konflikte nicht ab- sondern vielmehr zugenommen. Angesichts dieser neuartigen internationalen Konfliktstruktur ist ein halbwegs greifbares politisches Krisenmanagement auf supranationaler Ebene nicht in Sicht. 4) Es konnte keine Abmilderung des Nord-Süd-Gegensatzes erreicht werden. Vielmehr hat sich das Wohlstandsgefälle zwischen den kapitalistischen Zentren und dem Rest der Welt noch verschärft. 5) Generell haben sich bislang keine supranationalen Regulierungsinstitutionen herausgebildet, die den nationalstaatlichen Souveränitätsverlust auch nur annähernd kompensieren würden.
6) Die innenpolitische Insuffizienz tritt in
den entwickelten kapitalistischen Zentren in einer umfassenden
und tiefen Krise der Sozialsysteme, wachsender sozialer Desintegration
und zahlreichen neuen Symptomen sozialer Pathologie (Jugendkriminalität,
zunehmende Gewalt, Drogenproblematik, Fremdenfeindlichkeit etc.)
in Erscheinung. Um diesen zunehmend sichtbar gewordenen Kollaps problemlösender politischer Gestaltungsfähigkeit innerhalb der bestehenden (Re-)Produktions- und Machtstrukturen öffentlichkeitswirksam zu kaschieren, greifen die Funktionsträger der politischen Macht zu folgenden Verschleierungsmanövern: An die Stelle von sachlich-systematischer Problemanalyse und darauf fußender anschließender Entwicklung und Umsetzung lösungsadäquater Handlungsprogramme tritt die massenmedial wirkungsvolle Simulation von Gestaltungs- und Problemlösungskompetenz via telegener (identifikationsheischender) Präsentation. Es geht in der politischen Arena überhaupt nicht mehr um den streitbaren Austausch von Sachargumenten nach diskursethischen Regeln, sondern um die talkshowgerechte Kollision von Persönlichkeitsprofilen von Politikern. Wer kommt besser beim Publikum besser an? Wer hat eine bessere Ausstrahlung? Welche(r) Politiker(in) erzielt mehr Quote und wer hat einen höheren Sympathiewert im Umfragebarometer? Längst ist die Personality-Show zur Auslage der "politischen Ware" geworden. "Die Politiker tun so, als könnten sie für uns eine entscheidende Wende zum besseren herbeiführen, und wir tun so, als glaubten wir ihnen dies - obwohl ein immer größerer Teil der Wähler es ablehnt, in diesem Maskenaufzug mitzuspielen" (Giddens 1997, S.15). Der Übergang von Helmut Schmidt zu Gerhard Schröder und Tony Blair verkörpert diesen Übergang vom stückwerktechnologisch-pragmatischem Staatsmann zum mediengerechten und -erprobten politischen Staatsschauspieler.
Nachdem sowohl mit dem Keynesianismus als auch
mit dem Neoliberalismus die beiden Grundvarianten der spätkapitalistischen
Regulierungsphilosophie gescheitert und angesichts der profanen
Krisenwirklichkeit mit ihrem Latein am Ende sind, bleibt jetzt
nur noch die Möglichkeit zu einer voluntaristischen Mixtur
aus beiden "Heilslehren". D.h.: Es findet im
Kern eine Entdifferenzierung der politisch-strategischen Lager
der kapitalistischen Systemeliten statt. So preisen z.B. Gerhard
Schröder wie Tony Blair die Kombination von "Nachfragepolitik"
und "Angebotspolitik", also das eklektische Zusammenwürfeln
von keynesianischen und monetaristischen Formeln sowie das prinzipienlose
Pendeln zwischen systemkonformer Arbeitnehmerorientierung und
Kapitalinteressen, als Gipfelpunkt wirtschaftspolitischer Weisheit
an. Die konzeptionelle Not wird so propagandistisch in eine programmatische
Tugend umgefälscht. Doch der Verzicht auf eine echte Ausbildungs-
und Qualifizierungsoffensive aufgrund des Widerstands aus dem
Unternehmerlager wird die Arbeitsmarktpolitik unter "New
Labour" mittelfristig ebenso scheitern lassen wie das Festhalten
an der neokeynesianischen Nachfragepolitik a la Lafontaine letztendlich
den inländischen Arbeitsplatzabbau eher noch verschärfen
würde. Der nationalstaatliche Souveränitätsverlust sowie das offenkundige Scheitern der wirtschaftspolitischen Heilslehren haben die politische Regulierungsinsuffizienz der spätkapitalistischen Herrschaftselite qualitativ verschärft. 'Politik' verkommt zunehmend zum "verschlimmbessernden" Herumbasteln an Symptomen und stückwerkechnologischen Projektruinen (Steuerreform, Rentenreform, Gesundheitsreform etc.). Angesichts der intra- und extrasystemischen Komplexitätszunahme sowie der Verdichtung der Wechselwirkungsprozesse zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen (z.B. Lohnarbeit/Sozialsystem/Familie) sind die Möglichkeiten zur Lösung von Problemkonstellationen im Rahmen der bestehenden (Re-)Produktions-, Konsumtions-, Vergesellschaftungs- und Machtstrukturen längst verspielt. Die einem mechanistischen, evolutionistischen und harmonistischen Welt- und Gesellschaftsbild entstammende Poppersche Sozialtechnik der "kleinen Schritte", der "punktualistischen" Teillösung, der Problembearbeitung "Stück für Stück" hat sich im kapitalistischen Entwicklungskontext als die eigentliche "Utopie des Nichtmachbaren" erwiesen. Wer die aporetische Widerspruchsstruktur der kapitalistischen Gesellschaftsformation ausblendet, der erleidet ein Regulierungs- und Gestaltungsfiasko. Es reicht schon lange nicht mehr, eine additive Mängelliste aufzustellen und diese dann als Programmsurrogat mit einer Liste von wünschbaren Veränderungen zu konterkarieren. Wirkliche gesellschaftliche Veränderungen im Interesse der Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit, einer umweltverträglichen (Re-)Produktionsweise, der Entherrschaftlichung von Sozialbeziehungen etc. sind ohne qualitative Strukturumbrüche und institutionelle Umwälzungen nicht mehr zu haben. Wenn konkrete Reformvorhaben wirklich zu Ende gedacht und folglich reflexive Mindeststandards erfüllt würden, dann zeigte sich nämlich sofort der nichtmechanische (dynamische), nichtisolierbare (korrelative), nichtevolutionistische (sprunghaft-aufhebende) und nichtharmonistische (konfliktförmige) Charakter der entsprechenden Umgestaltungsszenarien. In den Reflexionshorizont gerieten die intra- und extrasystemischen Auswirkungen, die ursprünglich vielleicht gar nicht intendierte "Veränderungstiefe" sowie insbesondere das Problem der Formierung reformfeindlichen Interessenwiderstands. Es gilt grundsätzlich zu bedenken, das immer auch Menschengruppen existieren, die von erkannten Mißständen und problematisch gewordenen Strukturen auf die eine oder andere Weise profitieren und entsprechende reformresistente Koalitionen - mitunter jenseits der traditionellen Klassenantagonismen - bilden. Bleiben diese reformbezogenen strukturellen Folgewirkungen jedoch reflexiv ausgeblendet und werden die potentiellen Gegenkräfte nicht adäquat antizipiert, dann droht ein Fiasko. Generell kann man den illusionären Reformisten daran erkennen, daß er zwar vorgibt, dem Bären die Krallen schneiden zu wollen, aber weder Schere noch Feile bei sich trägt.
Die Kritik am illusionär gewordenen systemimmanenten
Reformismus erfolgt gerade nicht von der Warte eines "utopischen
Revolutionarismus", der sich auf das "abstrakt Gute"
kapriziert und dabei die konkreten Mißstände übersieht,
sondern umgekehrt vom Standpunkt eines kritischen Realismus: Der
konkrete Mißstand wird zum Anlaß für eine "unzensierte",
allseitige, begreifende Analyse genommen, die das Ausmaß,
die Tiefe, die "Systemvernetzung" und die Persistenz
der Problemkonstellation erst erhellt und von daher den verkürzten,
nicht zu Ende gedachten, "romantischen", voluntaristischen
Charakter der systeminternen Reformverheißung transparent
werden läßt und folglich korrigierbar macht. Es geht
heute nicht (mehr) um das Entwerfen oder Rekonstruieren von Utopien,
sondern um die Entwicklung von gesellschaftswissenschaftlicher
Phantasie/Antizipation realistischer Übergangsszenarien zu
einer postantagonistischen, naturverträglichen demokratischen
Informationsgesellschaft; was freilich die nachhaltige Dekonstruktion
des illusionären Reformismus zur Voraussetzung hat.
© Hartmut Krauss, Osnabrück 1999
Anmerkungen:1. Die "aporetische Redundanz" bildet die "organische" diskursive Entsprechung zum "stabilen Verfall" als der gegenwärtigen historischen Tendenz des "globalen Kapitalismus". (Vgl. Krauss 1995.) 2. Nach Angaben des Wirtschaftspsychologen Alfred Gebert sind mindestens 500.000 Menschen krankhaft kaufsüchtig. Rund vier Millionen leben im Vorstadium zum Kaufrausch, Tendenz steigend. (Vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 11.01.1999, S.6) 3. In himmelschreiendem Kontrast zur libertären Sexualmoral, die den werbewirksamen american way of life als Kernmoment der konsumistischen Massenkultur (Marcuses "repressive Entsublimierung") auszeichnet, verknüpft die amerikanische Neue Rechte die Verteidigung der kapitalistischen Marktlogik mit einer sexualitätsfeindlichen Moralkampagne, die von der militanten Anti-Abtreibungsbewegung bis zur penetranten Enthüllung von Sexskandalen in den Massenmedien reicht. (Vgl. Patterson 1994.) 4. "Das eigentlich neue am Thatcherismus war vor allem die Art und Weise, wie er die neuen Lehren des freien Marktes mit einigen traditionellen Schwerpunkten des organischen Toryismus verband" (Hall 1989, S.179) 5. Dieser Widerspruch manifestiert sich auch deutlich in den Trägerorganisationen des neoliberal-konservativen Blocks. "Selbst auf den perfekt inszenierten Bundesparteitagen der CDU ist die Entfremdung zwischen den Kulturen und Generationen mit den Händen zu greifen. Während sich die Jungen Wilden' mit donnernder Rhetorik begeistert über die Globalisierung der Ökonomie, über den Segen der Gentechnologie und den Imperativ allumfassender Flexibilität äußern, hocken die älteren katholischen Kreisvorsitzenden stumm und verschlossen auf ihren Plätzen, da sie durch die entgrenzte Modernisierung das christliche Menschenbild, die christliche Familie und das ganze christliche Abendland in Gefahr und Auflösung sehen" (Walter/Bösch 1998, S.1344). 6. "Teamwork" als modernes Prinzip kapitalistisch gesteuerter Zusammenarbeit erfordert die möglichst perfekte Einübung von Attitüden der Gemeinschaftlichkeit, das Aufsetzen von Masken der interkollegialen Emphatie, die gespielte Betonung der "gemeinsamen Sache". "Sie propagiert sensibles Verhalten gegenüber anderen, sie erfordert solche weichen Fähigkeiten' wie gutes Zuhören und Kooperationsfähigkeit; am meisten betont die Teamarbeit die Anpassungsfähigkeit des Teams an die Umstände. Teamarbeit ist die passende Arbeitsethik für eine flexible politische Ökonomie. Trotz all des Psycho-Geredes, mit dem sich das moderne Teamwork in Büros und Fabriken umgibt, ist es ein Arbeitsethos, das an der Oberfläche der Erfahrung bleibt. Teamwork ist die Gruppenerfahrung der erniedrigenden Oberflächlichkeit" (Sennett 1998, S.132f.). 7. Exemplarisch sei hier verwiesen auf die 13. Monatspension, die Ministerialzulage für Bundesbeamte, die sog. "Buschzulage", die für die Übernahme von Stellen in Ostdeutschland von monatlich bis zu 2500 DM von 1990 bis 1993 gezahlt wurde sowie auf das "Dienstrechtliche Begleitgesetz", das den Bundesbediensteten den Umzug nach Berlin versüßen soll. Interessant ist in diesem Kontext auch folgender Sachverhalt: In Berlin gehen fast 70 Prozent der Beamten wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand. 20 Prozent verabschieden sich sogar bis zum 49. Lebensjahr vom Dienst. Vor allem Lehrer und Polizisten nutzen den vorgezogenen Ruhestand. (Vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 1. Juni 1998, S.1). 8. Dem umfassenden staatsbürokratischen Machtmißbrauch korrespondiert auf Seiten der Subalternen eine resignative Akzeptanz: Nach einer Untersuchung des Forsa-Instituts ist beinahe jeder zweite Deutsche bereit, Schmiergelder zu zahlen, wenn sich dadurch für ihn ein persönlicher Vorteil ergeben würde. "Besonders viele Befürworter von Schmiergeldern befinden sich der Umfrage zufolge unter den PDS-Anhängern. 87 Prozent hätten keine Bedenken, den Geldbeutel zu öffnen. Unter den FDP-Anhängern gibt es eine knappe Zweidrittelmehrheit für eine Bestechung zur rechten Zeit am rechten Ort. 55 Prozent der SPD-Anhänger glauben an die Macht des Geldes und liegen damit noch vor den CDU/CSU-Anhängern. 45 Prozent von ihnen würden mit einem kleinen Schein nachhelfen" (Neue Osnabrücker Zeitung vom 22.08.1995, S.6).
9. Die entsittlichende Durchdringung von Kapital
und Staat mag folgender Sachverhalt veranschaulichen: Ein Ring
Berliner Bestattungsfirmen hat für die Vermittlung von Leichen
Schmiergelder von insgesamt 100.000 DM im Jahr an Polizisten und
Beschäftigte in Krankenhäusern, Heimen und Behörden
Literatur:Giddens, Anthony: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Frankfurt am Main 1997.Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 7/1998, Bonn, S.804-817. Hall, Stuart: Ausgewählte Schriften. Ideologie, Kultur, Medien, Neue Rechte, Rassismus. Hamburg; Berlin 1989. Herkommer; Sebastian: Rückblick auf eine Epoche. Werte und Wende - die immanenten Widersprüche des Neokonservatismus. In: Joachim Bischoff/Frank Deppe/Klaus Peter Kisker (Hrsg.): Das Ende des Neoliberalismus? Wie die Republik verändert wurde. Hamburg 1998, S.15-36. Hirsch, Joachim: Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals. Frankfurt am Main 1974. Krätke, Michael: Kapital global? In: Elmar Altvater/Frigga Haug/Oskar Negt u.a. : Turbokapitalismus. Gesellschaft im Übergang ins 21. Jahrhundert. Hamburg 1997, S.18-59. Krauss, Hartmut: Stabiler Verfall. Zum Verhältnis von (bürgerlicher) Hegemonie und destruktiver Reproduktionslogik im 'postsozialistischen' Kapitalismus. In: HINTERGRUND. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik. Osnabrück III/96, S.19-34. Krauss, Hartmut: Die strukturelle Amoralität des Kapitals als "vitaler" Faktor der Systemreproduktion. In: HINTERGRUND. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik. Osnabrück I/96, S.21-25. O'Connor, James: 20. Jahrhundert mit beschränkter Haftung. Kapital, Arbeit und Bürokratie im Zeitalter des Nationalismus. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft 100 (25. Jahrgang, Nr.3, September 1995), Münster, S.381-408. Ostner, Ilona: Das Ende der Familie wie wir sie kannten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 1/1999, Bonn, S.69-76. Patterson, Orlando: Der neue Puritanismus. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft 96 (24.Jahrgang, Nr.3, September 1994), Münster, S.437-449. Röttger, Bernd: Rückkehr zum sozialen Kapitalismus? Die herrschaftliche Inszenierung klassenförmiger Ungleichheit im Neoliberalismus. In: Sonderband der Zeitschrift "Widersprüche" in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift "Links": Gesellschaft ohne Klassen? Politik des Sozialen wider Ausgrenzung und Repression. Bielefeld 1997, S.7-24. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998. Spacelab (Walter Jahn/Stephan Lanz/Klaus Ronneberger): Macht und Raum. Zu postfordistischen Territorial- und Kontrollstrategien. In: Sonderband der Zeitschrift "Widersprüche" in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift "Links": Gesellschaft ohne Klassen? Politik des Sozialen wider Ausgrenzung und Repression. Bielefeld 1997, S.129-150.
Walter, Franz/Bösch,
Frank: Verlust der Mitte. Die Erosion der christlichen Demokratie.
In: Blätter für deutsche und internationale Politik.
Heft 11/1998, Bonn, S.1339-1350. |
GLASNOST, Berlin 1992 - 2019 |