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Beiträge zur Theorie  









Hartmut Krauss

'Herrschaft' als zentraler Problemgegenstand kritisch-emanzipatorischer Gesellschaftstheorie

Fortsetzung: Teil IV

IV. Zum Verhältnis von 'prämoderner' und 'moderner' Herrschaftsstrukturierung

IV. 1. Persönliche Abhängigkeit und 'prämoderne' Herrschaftsform

Sowohl mit Blick auf den sozialhistorischen Prozess, aber auch angesichts der gegenwärtigen globalen Realität lassen sich aus der Fülle konkreter Erscheinungsformen im wesentlichen zwei qualitativ 'eigenartige' Typen zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse abstrahieren, nämlich: der 'prämoderne' und der 'moderne' Typus. Worin besteht nun bei genauerer Betrachtung die qualitative Differenz zwischen diesen beiden Herrschaftstypen?

Ein erstes, allgemein-grundlegendes Kriterium ergibt sich aus Marx' Unterscheidung der drei wesentlichen historischen Varianten der Sozialität mit Bezug auf das Individuum, nämlich: persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, sachliche Abhängigkeit und freie Individualität (in einer zukünftigen herrschaftsfreien Gesellschaft).

"Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse, und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe. Die zweite schafft die Bedingungen der dritten. Patriarchalische, wie antike Zustände (ebenso feudale), verfallen daher ebenso sehr mit der Entwicklung des Handels, des Luxus, des Geldes, des Tauschwerts, wie die moderne Gesellschaft in gleichem Schritt mit ihnen emporwächst" (Marx/Grundrisse 1974, S. 75f.)38.

Zwischenmenschliche Herrschaftsverhältnisse sind demnach mit Blick auf das individuelle Subjekt nach dem Grad der Unmittelbarkeit, Totalität/Dichte und Intensität zu unterscheiden, wobei der Übergang von der persönlichen zur sachlichen Abhängigkeit als entscheidender 'Qualitätssprung' zwischen prämoderner und moderner Herrschaftsstrukturierung zu betrachten ist. Im Zentrum steht hierbei das Maß der verbliebenen Selbstverfügungsmöglichkeit auf der Seite des beherrschten Individuums.

Auf der okkupationswirtschaftlichen Entwicklungsstufe vor der Erwirtschaftung eines konstanten Mehrprodukts ist die 'persönliche Abhängigkeit' zunächst noch der 'nichtherrschaftliche' Ausdruck eines naturwüchsigen Vergesellschaftungszusammenhangs, wo der Einzelne mit dem Kollektiv bzw. der unmittelbaren Überlebensgemeinschaft eine untrennbare Einheit bildet. 'Persönliche Abhängigkeit' ist hier dem einfachen Tatbestand geschuldet, dass der Einzelne aufgrund seiner noch gering entwickelten individuellen 'Handlungs-Macht' gegenüber den Mächten der äußeren Natur zu keiner selbständigen Entwicklung und eigenständigen Existenzweise in der Lage war.

Mit der beschriebenen Herausbildung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse schlägt dann die ehemalige Naturwüchsigkeit der individuellen Abhängigkeit vom Kollektiv um in die bewusst-willentlich herbeigeführte antagonistische Abhängigkeit des beherrschten Individuums von den 'neuen' Herrschaftsträgern. D. h: Die 'persönliche Abhängigkeit' streift ihre naturwüchsige Ursprungsform ab und erhält nun ihre prämodern-herrschaftliche Prägung im Rahmen der vorkapitalistischen Gesellschaftsformen. Innerhalb der europäischen Feudalgesellschaft als historischer Vorstufe der 'modernen' bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftsform durchdrangen die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse die gesamte Gesellschaftsordnung. "Statt des unabhängigen Mannes", so Marx (1976, S. 91), "finden wir hier jedermann abhängig - Leibeigene und Grundherrn, Vasallen und Lehnsgeber, Laien und Pfaffen. Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebenso sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären." Im Einzelnen manifestieren sich diese persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse als direkt-unmittelbare Herrschaftsbeziehungen auf folgende Weise:

  1. Auf ökonomischer Ebene tritt die persönliche Abhängigkeit als grundherrschaftliches Verhältnis zwischen dem feudalen Bodeneigentümer und dem bäuerlichen Bodennutzer in Erscheinung, das de facto ein Verhältnis der 'Hörigkeit' darstellt. "Das bedeutet insbesondere Bodenhörigkeit (Mangel an Freizügigkeit) und darüber hinaus mindestens, dass die hörigen Bauern ihrem Grundherrn Leistungen in Form von Abgaben und Diensten' schulden" (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, S. 118). Damit bildet die persönliche Abhängigkeit auch die Basis für die primär naturalwirtschaftlich-gebrauchswertorientierte Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten in Gestalt von Arbeits-, Produkt- und erst später Geldrente unter Androhung und gegebenenfalls Anwendung von außerökonomischer Gewalt. Dieses grundherrschaftliche Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis ist fest eingebettet in die lebensweltliche Enge und Abgeschiedenheit der Dorfgemeinschaft, die nur einen sehr begrenzten sozialen Erfahrungs- und Erlebnisraum zulässt. - Einer strengen Reglementierung, die nur geringe individuelle Gestaltungsspielräume zuließ, unterlag auch das städtisch-zünftlerische Handwerk, das obendrein zunächst noch - wie alle mittelalterlichen Stadtbewohner - vom feudalen 'Stadtherrn' abhängig war. Ein Aspekt des Zunftzwangs bestand darin, "dass als Mitglieder der Zunft weder Fremde, noch Ausländer, noch uneheliche Kinder, noch Angehörige sogenannter unehrlicher Berufe, wie Barbiere, Scharfrichter, Totengräber, Müller und Leinweber, zugelassen wurden" (Mottek 1971, S. 178). Zudem ist das handwerksinterne ausbeuterische Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Zunftmeister und seinen Lehrlingen und Gesellen zu beachten.

  2. Das grundlegende politische Merkmal der mittelalterlichen Feudalgesellschaft ist die hierarchisch strukturierte geburtsrechtliche Ständeordnung mit dem Adel und dem Klerus als den herrschenden sowie der Bauernschaft und später den Städtebürgern als den beherrschten Ständen39. Darunter existierte freilich noch eine "unterständische" Schicht, zu der die "Unehrlichen Leute" (die Ausübenden unangesehener Berufe wie Henker, Totengräber, Abdecker, Abortreiniger etc., Musikanten, fahrendes Volk und Zigeuner) und die Juden gehörten. 'Persönliche Abhängigkeit' konkretisiert sich in diesem sozialen Kontext primär als detaillierte Festlegung und Beschränkung der individuellen Lebensmöglichkeiten, Entwicklungsziele und Verhaltensstandards durch die standesspezifischen Pflichten, Normen, Regeln etc. z. B. bezüglich des Zugangs zu Berufen, der Gewährung oder Vorenthaltung von Rechten und Bildungsmöglichkeiten, des Heiratsverhaltens, des Lebensstils, der Kleiderordnung u.s.w. So konnten etwa die "Unehrlichen Leute" und ihre Nachkommen "kein Haus erwerben, um sesshaft zu werden, konnten weder Kaufmann noch Handwerker werden, denn gerade die Zünfte waren auf ehrliche Abstammung ihrer Lehrlinge bedacht. Kein Unehrlicher konnte in eine ehrliche Familie einheiraten; eine ehrliche Tochter wurde nach ihrer Heirat mit einem Unehrlichen ehrlos. Nicht einmal auf dem Friedhof wollte man neben ihnen auf das Jüngste Gericht warten. Fast überall wurden Unehrliche außerhalb der Friedhofsmauer nahe der Selbstmörderecke begraben" (Pleticha 2001, S. 350). Ein weiterer Aspekt dieser ständischen Subjektdetermination ist in der traditionsrechtlichen Festlegung von hierarchisch angeordneten Treue- und Gefolgschaftsverhältnissen40 zwischen König und adeligen Teilmachthabern, Feudalherren und Untervasallen, Grundeigentümern und höriger Dorfgemeinde, Stadtherrn und Stadtbewohnern etc. zu sehen, wobei es sich hierbei im Kern um die abgestufte Verfügungsgewalt über Menschen (Ausbeutung, militärische Kommandogewalt, Gerichtsherrschaft) und Abgaben (Grundrente, Zölle, Steuern, Kirchenzehnter, Strafgebühren) handelt.

  3. Die alle Lebensbereiche durchdringende christliche Religion fungiert in mehrfacher Hinsicht als allein und absolut gültige geistig-kulturelle Bestimmungsinstanz, und zwar in ihrer Eigenschaft als mythologische Glaubenslehre (hochkulturelle Theologie und massenkulturelle Heiligenverehrung), universalistische Legitimationsideologie (Setzung und Sakralisierung der Ständegesellschaft als gottgewollte Ordnung) und alltagsethisch tiefenwirksames Kontroll- und Normierungssystem (Beichte; Ehe als Sakrament; 'pfarrherrliche' Überwachung der Gemeindemitglieder). In dieser umfassenden 'Bedeutungsgestalt' lieferte sie "ein allgemeingültiges Zeichenmaterial, in dessen Termini die Mitglieder der feudalen Gesellschaft sich und ihre Welt wiedererkannten sowie ihre Begründung und Erklärung fanden" (Gurjewitsch 1982, S. 13). In ihrer institutionalisierten Form als klerikaler Grundeigentümer und 'Papstkirche' erscheint sie darüber hinaus zugleich als ökonomischer und politischer Herrschaftsträger. Aufgrund eben dieser "Dreieinigkeit" von ideologischer, politischer und ökonomischer Verfügungsgewalt bildet die christliche Religion/katholische Kirche die herausragende Instanz der mittelalterlichen Feudalgesellschaft. Dabei ist hier vor allem das theozentrische Weltbild als das stärkste Stabilisierungs- und Bindemittel der prämodernen Herrschaftsverhältnisse hervorzuheben: "Nicht der Mensch war das Maß der Dinge, sondern alles drehte sich um Gott; Gott war Anfang, Mitte und Endpunkt des Lebens, und auch des Alltags" (Schild 1997, S. 8). Monopolisierte Oberhoheit über religiöse Deutungs- und Auslegungsgewalt war und ist in einem solchen herrschaftskulturellen Kontext deckungsgleich mit weltlicher Herrschaftsausübung: Um vom strafenden Gott des Alten Testaments zur blutigen Ketzerverfolgung und Inquisition zu gelangen, bedurfte es damals eines ebenso "kurzen Weges" wie heute, um vom medinesischen Teil des Korans zum "Heiligen Krieg" gegen alle Ungläubigen zu kommen.

  4. In ihrer Doppeleigenschaft als ökonomische Reproduktionseinheit und ständespezifische Sozialisationsinstanz bildet die patriarchalische Familie die elementare "Zelle" der Feudalgesellschaft. So sind sowohl in der Landwirtschaft als auch im städtischen Gewerbe Familienbetriebe mit arbeitenden Familienmitgliedern vorherrschend, wobei im Kontext der ständisch-hierarchischen Herrschaftsbeziehungen jeweils der männliche Haushaltsvorstand die zentrale Verfügungsgewalt über das Familienvermögen und die arbeitenden und nachwachsenden Familienmitglieder innehat. Da die herrschenden Feudalgewalten schon aufgrund ihres eigenen Ausbeutungsmotivs an möglichst produktiven (reibungslos arbeitsamen) Familienbetrieben interessiert waren, wurden entsprechende Reglementierungen zur Stabilhaltung der patriarchalisch-monogamen "Gattenehe" ins Werk gesetzt wie Heiratsgebote, -verbote oder Heiratszwang. Insbesondere die Kirche warf ihre Normierungskompetenz in die Waagschale, indem sie die monogame und unauflösliche Ehe zum heiligen Sakrament erklärte, den vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr als Sünde brandmarkte und die männlich-patriarchalische Vorherrschaft absegnete, aber mit Bezug auf das Heilsgeschehen die Personenwürde der Frau anerkannte41. Zudem setzte sie schließlich die kirchliche Trauung als alleingültige Form der Eheschließung durch. In dieser religiös überhöhten Form und ausgestattet mit der materiellen 'Autorität' des zu erbenden Besitzstandes (Bauernhufe, Lehensgut, Handwerksbetrieb, Handelsgeschäft etc.) war die Familie auch die Basisinstanz einer ständespezifischen Sozialisation, d. h. Stätte der Hervorbringung gehorsamer, arbeits- und abgabewilliger Untertanen sowie der Ausbildung eines herrschaftsfähigen Nachwuchses auf Seiten der "höheren Stände".

  5. Kennt die mittelalterliche Ständeordnung auch keine formale Rechtsgleichheit der Gesellschaftsmitglieder, so ist sie doch ein durch und durch rechtlich normiertes Gemeinwesen. Dabei dient das Recht der Absicherung der Ständehierarchie mit ihren eigentümlichen Ausbeutungs-, Abhängigkeits-, Vormundschafts- und Verpflichtungsverhältnissen. Insofern 'Gott' sowohl als Quelle des Rechts als auch der daraus abgeleiteten Ständeordnung angesehen wird, gelten beide Konstrukte als ewig und unverrückbar. Damit ist das Recht nach den damals virulenten Vorstellungen "'ein Stück der Weltordnung' und ebenso ewig und nicht zu beseitigen wie auch die Welt selbst. Die Welt ist nicht denkbar ohne Gesetz, sei es die Welt der Natur oder die Welt des Menschen. Das Recht ist die Grundlage der gesamten menschlichen Gesellschaft, auf ihm bauen die Beziehungen zwischen den Menschen auf" (Gurjewitsch 1982, S. 199). Die interkulturelle Herrschaftspraxis der mittelalterlichen Gesellschaft setzt außerhalb dieser rechtlich sanktionierten ständischen Ungleichheitsverhältnisse an und wendet sich gegen spezifisch stigmatisierte Bevölkerungsgruppen wie die bereits erwähnten "Unehrlichen Leute", Juden42, Ketzer, Hexen und andere als prinzipiell minderwertig, ordnungswidrig und destruktiv geächtete ("exlegale") Elemente. 'Starke', über alltagskulturelle Ausgrenzungs- und Diskriminierungsweisen hinausgehende Ausdrucksformen dieser interkulturellen Herrschaftspraxis waren die Kreuzzüge, die schubweisen Judenpogrome sowie die Inquisition. Insbesondere in Form des institutionellen Apparats der Inquisition generierte die römisch-katholische Papskirche eine terroristische Repressionsmaschine mit historisch-paradigmatischer Bedeutung: Absolutistische Überwachung, Gesinnungs- und Verhaltenskontrolle; die Erzeugung eines psycho-ideologischen Klimas permanenter Verdächtigungen, anarchischer Denunziation und ständiger Sanktionsgefahr; ebenso willkürliche, skrupellose und barbarische Strafverfahren; die öffentlich Demonstration der herrschaftlichen Ausrottungskompetenz u. a. m. verschmolzen zu einer modellhaften Gestalt, die zusammen mit dem orientalischen Despotismus und islamischen Djihadismus die herausragende 'prämoderne' Matrix für totalitäre Gesellschaftsformierung geliefert hat.

  6. Ein weiteres kennzeichnendes Merkmal der feudalen Gesellschaftsordnung ist in der interessenpolitischen Zersplitterung und Fragmentierung der herrschenden Stände zu sehen, so dass während des gesamten Mittelalters eine ausgeprägte herrschaftsinterne Rivalität zwischen dem König bzw. Kaiser, den Landesfürsten, dem ritterlichen Landadel und der städtischen Oberschicht (Patriziat) sowie zwischen weltlichen und geistlichen Herrschaftsträgern zu konstatieren ist. Die Grundlage für diese Konfliktdynamik bildete in erster Linie der Kampf um die Aneignung und Aufteilung des Mehrprodukts angesichts des zunächst periodisch auftretenden und sich dann mit der Ausbreitung von Ware-Geld-Beziehungen zunehmend verschärfenden Widerspruchs zwischen den wachsenden Ausgaben der Feudalgewalten und dem Mangel an Möglichkeiten, diese durch entsprechende (Mehr-)Einnahmen zu decken. Das bevorzugte Mittel zur Lösung dieses feudalherrschaftlichen Grundwiderspruchs, das während des gesamten Mittelalters immer wieder zum Einsatz kam, war die beuteökonomisch motivierte Kriegsführung im Großformat von Kreuzzügen und im Kleinformat von Fehden. "Der Ritter des deutschen Mittelalters", so Waas (1996, S. 133), "war immer Fehderitter mit aller damit verbundenen Rauheit, Grausamkeit und Lust am Zerstören und Rauben gewesen." Die interessenpolitische Zersplitterung und 'Binnenrivalität' der feudalgesellschaftlichen Herrschaftsträger verhinderte so in Verbindung mit der beuteökonomisch-kriegerischen Problemlösungsstrategie nicht nur die Herausbildung einer konsistenten staatlichen Zentralgewalt43, sondern förderte gleichzeitig auch die Herausbildung von rivalisierenden Lokalgewalten mit eigenständigen, 'raubritterlich'-gebietsherrschaftlichen Strukturen als traditionelle 'Vorlagen' für moderne subkulturelle Herrschaftsformen. Gegenüber den unterworfenen Bauern wurde die 'zwischenadelige' Rivalität wiederum als Begründungsfolie für die als 'Schutzgegenleistungen' deklarierten Dienst- und Abgabepflichten instrumentalisiert. Zieht man einmal den selbstgerechten Schleier des "Ideals der ritterlichen Lebensführung"44 beiseite und akzentuiert die auf Raub, Plünderung und militärische Gewalt ausgerichtete Lebensform des "Schwertadels" bzw. der adeligen Berufskriegerschaft, dann wird erkennbar, dass die politische Ökonomie des Feudalismus zum guten Teil auf Raub, "Schutzgelderpressung" und parasitärer Aneignung beruhte, die im nachhinein dann religiös verklärt und traditionsrechtlich legitimiert wurde.



IV. 2. Übergangsprozesse zur 'modernen' Herrschaftsform

Der Dominanzwechsel von 'persönlichen' zu 'sachlichen' Abhängigkeitsbeziehungen, der als fundamentales Konstitutionsmoment der Transformation 'prämoderner' in 'moderne' Lebensverhältnisse zugrunde liegt, ist als der herrschaftstheoretisch relevante Teilaspekt des epochalen Übergangsprozesses von der mittelalterlich-feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform zu begreifen. Dabei sind hier zunächst zwei Merkmale dieses menschheitsgeschichtlich bislang einschneidendsten Umwälzungsvorgangs45 hervorzuheben: Zum einen sein räumlich auf Europa eingegrenzter Charakter; nur hier entfaltet er sich als 'endogene', aus internen Entwicklungsvoraussetzungen und Widersprüchen hervorgehende Ereignisverkettung. Zum anderen seine komplexe, ambivalente, sich aus mehrstufigen Entwicklungsschüben zusammensetzende Wesensart. Im bürgerlichen 'Moderne'-Begriff werden nun nicht nur diese beiden Charakteristika ausgeblendet, sondern generell die historisch-logischen und dialektischen Bestimmungsmomente dieses Umwälzungsprozesses ignoriert. Um zu einem angemessenen Verständnis 'moderner' Lebens- und Herrschaftsverhältnisse zu gelangen, bedarf es deshalb der (hier natürlich nur skizzenartig zu leistenden) Rekonstruktion ihrer widersprüchlichen Konstituierungsprozesse.

1) Die elementare Voraussetzung für die Herausbildung bürgerlich-kapitalistischer Entwicklungstendenzen im Schoße des mittelalterlich-feudalen Gesellschaftssystems ist in der seit dem 11. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Urbanisierung zu sehen. Entscheidend beeinflusst durch ökonomische Determinanten wie die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität, die Absonderung des Handwerks vom Ackerbau, die Entfaltung des Fernhandels (u.a. als wirtschaftliche Folge der Kreuzzüge), die Entwicklung lokaler Märkte mit einer entsprechenden Intensivierung der Warenproduktion und der damit einhergehenden Ausdehnung und Verdichtung der Austauschbeziehungen sowie dem dadurch bedingten Wachstum der Bevölkerung erreicht die Städtegründung im 12. und 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt.46. Mit der Etablierung der städtebürgerlichen Arbeits- und Lebensweise sowie der aus ihr hervorgehenden allmählichen Ausdehnung der Ware-Geld-Beziehungen geraten zunehmend die Fundamente des feudalen Herrschaftssystems unter Druck:

Zwar unterstehen die Bewohner der neu gegründeten Städte zunächst noch den weltlichen und geistlichen Feudalgewalten. Dieses Unterordnungsverhältnis manifestiert sich z.B. in Abgabepflichten (Gebühren, Zölle, Steuern), in der Gerichtshoheit des "Stadtherrn", im Befestigungs-, Zoll- und Marktrecht etc. Doch schon bald entwickelt sich der städtebürgerliche Widerstand gegen diese sozialökonomische und rechtliche Entwicklungsbeschränkung in Gestalt der "kommunalen Bewegung", die sich schließlich in weiten Teilen Europas ausbreitet und an manchen Orten zu Aufständen führt (z. B Köln 1074, 1138/39; Regensburg und Passau um 1216; Worms 1230/33; Hildesheim 1231; Metz 1231/33; Konstanz 1246/48).

Die historische Bedeutung dieser bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts dauernden Bewegung besteht in der Konstituierung der "freien Stadtgemeinde" bzw. in der Schaffung eines von feudalen Ausbeutungs-, Abhängigkeits- und Herrschaftsbeziehungen relativ unabhängigen Sozialraums mit einem vergleichsweise freien Rechtsstatus seiner Bewohner sowie der Schaffung selbstverwaltender Machtorgane. Allerdings sind zwei wesentliche sozialstrukturelle Aspekte in diesem Entwicklungskontext nicht zu übersehen: Zum einen die innere soziale Heterogenität und Interessenwidersprüchlichkeit der städtischen Bevölkerung als sozialer Nährboden für fortlaufend immer wieder aufkeimende innerstädtische Auseinandersetzungen zwischen patrizisch-kaufmännischer Oberschicht, zunfthandwerklicher Mittelschicht und eigentums- und rechtloser plebejischer Unterschicht (verarmte Handwerksgesellen, Tagelöhner, gewerbliche Hilfskräfte, Gaukler, Spielleute, Bettler etc.). Zum anderen die Verfestigung der Ausbeutungsbeziehung zwischen Stadt und Land: " In dem Maße, wie Grundeigentum zur Ware wurde, wuchs auch die Möglichkeit des Erwerbs von Grund und Boden durch Städtebürger oder Räte von Städten, wurden sie zu Herren über abhängige Bauern und wurde die Ausbeutung des Landes durch die Stadt verstärkt" (Vogler 1979, S. 74f.).

Zudem ist folgender Sachverhalt hervorzuheben: Die auf Privateigentum und selbsttätiger Warenproduktion/-zirkulation basierende Reproduktionsweise der städtischen Handwerker und Kaufleute ist auf individuelle wirtschaftliche Erfolgsoptimierung mittels subjektiver Fähigkeitsentwicklung, -erweiterung und -stabilisierung ausgerichtet.47 Bedingt durch die Erfahrung erfolgreicher (Erwerbs-)Tätigkeit anhand "gelungener Vergegenständlichung" im Arbeitsresultat, wachsender Einkommen, intersubjektiver Wertschätzung (auch seitens des an Geldknappheit leidenden Adels), verbesserter Lebensmöglichkeiten etc. wird zunehmend das Bedürfnis nach diesseitig-irdischer Realitätskontrolle geweckt. D. h. die städtebürgerliche Existenzweise mit der für sie typischen Individualisierung der Tätigkeits- und Bewusstseinsform bedingt eine tendenzielle "Verweltlichung" des Interessen- und Sinnhorizontes der sich auf neue Weise vergesellschaftenden Menschen. Die Erfahrung des irdischen Lebens und die individuelle Bewährung im Diesseits wird gegenüber der bloßen Vertröstung auf das Seelenheil im Jenseits nachhaltig aufgewertet. Damit geraten aber zwei zentrale Merkmale der mittelalterlichen Subjektivitätsform unter Druck: zum einen die kulturell dominante und subjektiv "im tiefsten Inneren" nachempfundene Orientierung auf eine postmortale Erlösung im Jenseits; zum anderen die bedeutungs- und sinnhafte "Auflösung" des Einzelnen in den sozialen (stets christlich-religiös durchwirkten) Bezugsgemeinschaften. Oder andersherum betrachtet: Mit der Säkularisierung und Individualisierung sind die beiden elementaren Fermente der Neuzeit entstanden, die sich untrennbar verbinden mit der Selbstbewusstwerdung des Menschen als Gattungssubjekt und Individuum.

Diese städtebürgerliche Aneignung von wirtschaftlichen und politischen Selbstverfügungsmöglichkeiten infolge der Zurückdrängung feudaler Abhängigkeiten hat in Verbindung mit der sich 'gleichursprünglich' verstärkenden 'Diesseitsorientierung' in Form von Renaissance und Humanismus einen ersten kulturell nachhaltigen Ausdruck erhalten. Ausgehend von den oberitalienischen Handelsstädten (Venedig, Mailand, Genua und Florenz), in denen sich keimförmig frühkapitalistische Verhältnisse mit entsprechenden Klassenkonflikten entwickeln, wird damit ein kultureller Umwälzungsprozess eingeleitet, der das ideelle Gefüge des mittelalterlichen Welt- und Selbstverständnisses radikal erschüttert. Im Zentrum steht hier zunächst die Überwindung des theozentrischen Weltbildes in Verbindung mit einer ätzenden Kritik an der Papstkirche, die ja das geistig-ideologische Herrschaftszentrum des feudalen Gesellschaftssystems bildet. Attackiert wird das theologische Dogma vom "erbsündigen", zur eigenen Befreiung unfähigen, auf Gedeih und Verderb der göttlichen Erlösung ausgelieferten Menschen. Demgegenüber wird die Schöpferkraft, Selbstverantwortung und Würde des Menschen hervorgekehrt. Im Kern wird damit die Wiederaneignung der auf Gott projizierten menschlichen Wesenskräfte postuliert; folgerichtig rückt der homo faber in den Mittelpunkt des Weltgeschehens. Dieser geistig-revolutionäre Übergang vom theozentrischen zum anthropozentrischen Weltbild wird exemplarisch deutlich in dem Redeentwurf des Pico della Mirandola (1463-1494) mit der Überschrift "De dignitate hominis" (Über die Würde des Menschen). Der Autor lässt hier Gott folgendermaßen zu den Menschen sprechen: "Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe. Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen. Ich habe dich in die Weltmitte gestellt, damit du um so leichter alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der von dir gewollten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen, entarten; du kannst, wenn du es willst, in die Höhe, ins Göttliche wiedergeboren werden" (zit. n. Sandvoss 1989, S. 148). Der Renaissancehumanismus kann folglich als "Geburtsstunde" des" modernen", d. h. sich selbst in seinen schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten und -fähigkeiten reflektierenden, Subjekts betrachtet werden.

Einmal ins Zentrum der Welt gerückt, strebt das sich seiner selbst bewusst werdende Subjekt nach Selbstvervollkommnung via Wissenschaft und Bildung. Orientiert am Leitbild antiker Kultur wird die Befreiung der Philosophie und der sich entwickelnden Naturwissenschaft von der Theologie vollzogen. Im Grunde wird damit die kognitiv lähmende Verschmelzung von Glaube (als dominanter "Wächter") und ratio aufgebrochen. Auf diese Weise freigesetzter Erkenntnisdrang, kühnes Entdeckertum, experimentierfreudiges Erkunden der Naturprozesse, ästhetische Aufwertung der Natur etc. gipfeln in der "kopernikanischen Wende": das heliozentrische Weltbild und die Auffassung vom unendlichen Kosmos zersetzen das aristotelisch-christliche Dogma. Humanistische Studien, d. h. Vergegenwärtigung vollendeten Menschentums anhand klassisch-antiker Literatur und Kunst, werden als Mittel zur Überwindung von geistiger Beschränktheit, Dummheit und Barbarei gepriesen. Der Mensch wird nicht nur als Subjekt der Naturveränderung gedacht, sondern auch in seiner "eigenmächtigen" Kompetenz zur sittlichen "Selbstläuterung" akzentuiert. Die aus dem Gehäuse der Glaubensgebundenheit befreite Vernunft soll ermöglichen, das Prinzip des Bösen zu bändigen und die Realisierung des Guten im Diesseits zu bewerkstelligen.



2) Die mit der Etablierung einer städtebürgerlichen Arbeits-, Lebens- und Denkkultur in Gang gekommene, tendenziell die Feudalherrschaft paralysierende Entwicklungstendenz, die in zunächst noch verzerrter Form auch in der Reformation und der sich anschließenden Konfessionsbildung (kriegerisch-konflikhafte Pluralisierung des Christentums) in Erscheinung trat, konnte im Stadium des frühneuzeitlichen Absolutismus zwar noch eingehegt und verzögert, aber letztlich nicht mehr außer Kraft gesetzt werden. Was hier freilich vorübergehend gelang, war die Instrumentalisierung des Säkularisierungsschubs als Erneuerungsressource der spätfeudalen Staatsgewalt: "Rationalität" und "Modernität" wurden den Erfordernissen der Zentralisierung und Effektivierung staatlicher Herrschaft subsumiert. Das epochenspezifische Kräfteverhältnis zwischen lokalherrschaftlich zersplitterter und damit entscheidend geschwächter Feudalklasse einerseits und zwar gestärkter, aber noch "prä-hegemonialer" Bourgeoisie andererseits, ließ eine Situation entstehen, in der "die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält" (Engels, MEW 21, S. 167). Der "absolute Monarch" fungierte nun als über den Klassen/Ständen schwebende unantastbare Entscheidungs- und Befehlsinstanz. Kennzeichnend für diesen frühmodern-absolutistischen Staat ist die systematische Zersetzung und Delegitimierung lokaler Mächte einschließlich ihrer autonomen Reproduktionsmechanismen. An ihre Stelle tritt nun die Installierung neuer, einheitlicher (universell gültiger) Herrschafts- und Verwaltungsprinzipien.48 Baumann (1995, S. 35) vermerkt zu diesem absolutistischen Universalismus: "Eine solche Neudefinition brachte die Elite zum ersten Mal in die Position von kollektiven Lehrern, neben ihrer traditionellen Rolle als kollektive Herrscher. Die Vielfalt der Lebensweisen wurde nun zu einem vorübergehenden Phänomen, zu einer transitorischen Phase, die man auf dem Weg zu einer universellen Menschheit hinter sich lassen musste."

Die rationale (und zugleich herrschaftsmodernisierende) Durchdringung von Natur, Gesellschaft (Ökonomie, Staat, Recht) und menschlichem Erkenntnis- und Handlungsvermögen wird somit, sich aus unterschiedlichen Quellen speisend, zu einer zunehmend stärker werdenden Antriebskraft. Für Francis Bacon (1561-1626), dem ersten "Ideologiekritiker", ist die Einsicht handlungsleitend: "Wissen ist Macht". Er plädiert für die Unabhängigkeit von Politik und Moral von der Theologie - ein Postulat, dessen Relevanz sich auch im Lichte der folgenden Einschätzung von Marx (1976, S. 779) offenbart: "Die Geschichte der holländischen Kolonialwirtschaft - und Holland war die kapitalistische Musternation des 17. Jahrhunderts - ‘entrollt ein unübertreffbares Gemälde von Verrat, Bestechung, Meuchelmord und Niedertracht'." Das aus der gesteigerten Rationalität des wirtschaftlichen Handelns resultierende Bedürfnis nach einer metatheoretischen Reflexion der menschlichen Erkenntnistätigkeit führt bei John Locke (1632-1704) zur ersten systematischen Erkenntnistheorie der Neuzeit. Die Kernformel seiner sensualistischen Konzeption lautet: "Nichts ist im Verstand, was nicht in den Sinnen war." Alle Erkenntnis beruht folglich auf innerer oder äußerer Erfahrung. Damit wird der Grundstein gelegt für die Initiierung und Legitimierung einer metaphysikfreien, tatsachenorientierten Erforschung insbesondere der Natur, die bei Isaac Newton (1643-1727) zur Vollendung der klassischen Mechanik sowie der Gravitationstheorie führte. Damit wurde ein auf strenger Beobachtung und Rechnung basierendes Modell neuzeitlicher Naturerkenntnis geschaffen. Baruch Spinoza (1632-1677) wiederum setzt sich konsequent für Glaubens-, Denk- und Redefreiheit ein und antizipiert bereits Kerngedanken der Menschenrechtsauffassungen. Entgegen der "absolutistischen" Staatstheorie von Thomas Hobbes (1588-1679), der zwecks Zügelung der behaupteten egoistisch-genusssüchtigen und auf wechselseitige Zerstörung ausgerichteten Wesensnatur der Menschen ("homo homini lupus") den unumschränkten Gewaltstaat fordert, bricht Spinoza zum einen mit der pessimistischen Grundvorstellung der Hobbesschen Anthropologie. Aufgrund der Begierde nämlich, anderen wohl zu tun, sei der Mensch zur Nächstenliebe und gegenseitigen Hilfe befähigt. Die Macht des Staates müsse die menschlichen Freiheitsrechte respektieren und entsprechend begrenzt werden. Ansonsten trage sie zur Pervertierung des menschlichen Zusammenlebens bei. "Denn wo man dem entgegen sich bemüht, den Menschen diese Freiheit zu nehmen, und wo man die Meinungen Andersdenkender vor Gericht zieht anstatt ihres Geistes ... da wird an rechtschaffenen Leuten ein Exempel statuiert, das eher nach einem Martyrium aussieht und das die anderen mehr erbittert und zum Mitleid, ja zur Rache bewegt als dass es sie abschreckt. Treu und Glaube und die guten Sitten werden vernichtet, Heuchler und Verräter großgezogen, und die Gegner triumphieren, weil man ihrem Hass nachgegeben hat. ... Niemand kann verkennen, dass dies alles mit dem Staatswohl in völligem Widerstreit steht" (zit. n. Sandvoss, S. 199). Bedeutsam ist zudem, dass Spinoza in Gestalt seiner "Affektenlehre" den "kognitiven Reduktionismus" der rationalistischen Philosophie tendenziell durchbricht und, wie Wygotski (1985, S. 376f.) betont, "für eine naturgemäße, deterministische, materialistische, kausale Erklärung der menschlichen Leidenschaften (focht) ... Er war jener Denker, der zum ersten Mal die eigentliche Möglichkeit, eine erklärende Psychologie des Menschen zu schaffen, die eine Wissenschaft im wahren Sinne dieses Wortes darstellt, philosophisch begründete und Wege für ihre Entwicklung absteckte".

Eine wesentliche Aufwertung erfuhr das Erkenntnissubjekt bereits vorher in der rationalistischen Philosophie des René Descartes (1596-1650): Während in der mittelalterlichen Philosophie Erkenntnisgewissheit nur vermittels göttlicher Erleuchtung ("Illuminationslehre") zustande kommen kann und Thomas von Aquin noch zwischen ontologischer und psychologischer Fundierung hin- und herschwankt, verlagert Descartes die Erkenntnisgewissheit mit methodischer Bestimmtheit ins Subjekt. An allem, sowohl an den ("semierratischen") Sinneswahrnehmungen als auch an den widersprechenden Aussagen der Philosophen lässt sich zweifeln. Nicht aber an der unhintergehbaren Existenztatsache des zweifelnden "Ich". Der radikale Zweifel muss an der Stelle kapitulieren, wo er auf die Unbezweifelbarkeit des zweifelnden Subjekts stößt. Deshalb lautet der Grundsatz der Philosophie Descartes: "Cogito, ergo sum" (Ich denke, also bin ich.) Die Selbstgewissheit des (erkennenden) Subjekts wird somit paradigmatisch verankert.

Bei Descartes, der als der primäre Konstrukteur des "modernen"(Herrschafts-)Subjekts angesehen wird, lassen sich nun folgende konzeptionellen Beschaffenheitsmerkmale hervorheben:

a) Ausgehend von seiner dualistischen Aufspaltung der Realität in res cogitans (Ideelles) und res extensa (Materielles) trennt Descartes das "vernünftige Ich" von seinem eigenen Körper. Das Ego, das gesichertes Wissen als Voraussetzung von Umweltbeherrschung erlangen will, muss sich von seinen Gefühlen distanzieren und seine Leidenschaften kontrollieren .Der unentrinnbare Preis, den das Subjekt für seine Erkenntnisgewinnung zu zahlen hat, ist folglich die Selbstdisziplin. Dieser Prozess der Selbstdiziplinierung findet seine äußere Entsprechung (wenn nicht Anregung) in der zeitgenössischen Zentralisierung der "absoluten Macht" des Königs. "Wie die Vernunft bei Descartes unteilbar ist und deshalb ihren Ort im Einzelnen hat, so ist auch die Souveränität unteilbar und hat ihren Ort im König" (Bürger 1998, S. 43).

b) Das mit dem Paradigma des absolutistischen Herrschers korrespondierende "souveräne" Subjekt imponiert als autonomer, von seinen sozialen Einbindungen und mit-menschlichen Bezügen abgekoppelter vereinzelter Einzelner/Egozentriker. Indem er die eigene Seele als Fundament des wahren Wissens auszeichnete, gelangte Descartes zu dem Schluss, "dass mehr als eine Seele (wenigstens auf einmal) die Wahrheit oder Güte des Wissens verderben müsste. Seiner Meinung nach hatte die 'einfache Rationalität' eines Mannes mit 'gesundem Menschenverstand', der alleine arbeite, 'vorzüglichere' und 'solidere' Ergebnisse zu bieten, als die kollektiven, angehäuften Meinungen aller Wissenschaftler" (Tolman 1994, S. 98).

c) Das seine Emotionalität und (körperlich verankerte) Leidenschaftlichkeit abspaltende und kontrollierende autonome Vernunft-Subjekt, das seiner Umwelt als souveräner Beherrscher gegenübertritt, verdrängt und desartikuliert die ihm innewohnende Selbstwidersprüchlichkeit: die Gewinnung von Identität wird nicht als problematischer Prozess begriffen, sondern gerät zur selbst-verständlichen Voraussetzung. "Selbsttransparenz" scheint ihm wesensmäßig inhärent.



3) Während der frühneuzeitlich-absolutistische Rationalismus noch ganz im Zeichen der Erneuerung feudaler Herrschaftsverhältnisse steht und darüber hinaus als Quelle der 'instrumentellen Vernunft' anzusehen ist, die später im industriebürgerlichen Profitdenken zu sich selbst kommenden wird, entfaltet sich im Kontext der 'Aufklärung' eine zweite, in wesentlichen Zügen herrschaftskritisch-emanzipatorische Version der Vernunft. Interessant ist hier vorab die Unterscheidung zwischen dem englischen und dem französischen Entwicklungsweg:

Im Prozess der englischen Revolution (1640-1660) vollzieht das Bürgertum erstmals den Übergang von der aufstrebenden, gegen feudale Abhängigkeiten und Entwicklungsbehinderungen kämpfenden Klasse zur herrschenden und gesellschaftlich bestimmenden Bourgeoisie. Aufschlussreich ist hier zunächst der legitimationsideologische Wandel: Die Herrschaftsverhältnisse im Kontext der feudalen Ständegesellschaft wurden als Ausdruck des göttlichen Willens bzw. als "gottgerechte Ordnung" ausgegeben. Demgegenüber wird die sich formierende bürgerlich-frühkapitalistische Gesellschaft als unmittelbare Verkörperung des naturgemäßen Zustands der Menschheit gesetzt. "Natur" löst "Gott" als Legitimationskategorie ab. In dieser Sichtweise wird die sich entwickelnde bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in England49 zur Naturform menschlicher Gesellschaft schlechthin stilisiert. Damit wird aber zugleich eine bedeutungsvolle Divergenz in die bürgerliche Ideologieentwicklung hineingetragen: Während das kontinentaleuropäische Aufklärungsdenken im schreienden Widerspruch zwischen "Vernunft" und "Wirklichkeit" seinen stimulierenden Brennpunkt findet und die praktisch-kritische Umgestaltung der feudal-absolutistischen Verhältnisse anvisiert, bedurfte es in England scheinbar der Vernunft nicht mehr, um die Welt in einen naturgemäßen Zustand zu versetzen. Das englische Denken in Gestalt des Empirismus "ist die entschiedene ideologische Absage an den Anspruch der Vernunft, herablassende Diskriminierung des Vernunftglaubens der zeitgenössischen kontinentalen Denker von seiten einer praktischen Bourgeoisie, die als Hecht im feudalen Karpfenteich Europas aufs beste ihr Auskommen fand und auf weitere Hechte nicht sonderlich erpicht war, weshalb sie sich auch außenpolitisch in der Regel mit der feudalen Reaktion verband. 'Natürlich', 'ewig', im Kern unveränderlich, statisch - das war die Vorstellung, die die Wortführer des englischen Bürgertums jener Zeit von ihrer Gesellschaft hatten" (Unger 1978, S. 25). Ins Zentrum rückt hier die (empirisch mögliche) Analyse der kapitalistischen Produktionsweise in Gestalt der klassischen politischen Ökonomie.

In Frankreich, wo sich die Widersprüche der spätfeudalistischen Ständegesellschaft im Verlauf des 18. Jahrhunderts rasant entfalten und das reaktionäre sowie parasitäre Wesen der Aristokratie besonders krass hervorsticht, radikalisiert sich die bürgerliche Emanzipationsideologie in Form der "Aufklärung". Die klerikale Religion, die Adelsherrschaft sowie die absolutistische Monarchie geraten unter einen intensiven und facettenreichen Dauerbeschuss, der schließlich als geistig-moralische Katharsis zur "organischen" Voraussetzung der Französischen Revolution wird. Im Zentrum dieser geistigen Emanzipationsbewegung steht das Prinzip der Vernunft, d. h. die menschliche Fähigkeit zur rational-wissenschaftlichen, begrifflich-analytischen Erkenntnis der Welt - nicht mehr nur als kognitives Werkzeug der (absolutistischen) Herrschaftsoptimierung, sondern als probates Mittel zur Herbeiführung eines glücklichen Zustandes für das Menschengeschlecht. Dieses Prinzip wird den feudalen Legitimationsinstanzen und der überlieferten Denkformen entgegengesetzt. Der Philosoph50, so formuliert Denis Diderot (1713-1784) mit normativer Bestimmtheit, setzt sich über Tradition und Autorität kühn hinweg. "Er wagt es für sich selbst zu denken, zu den klarsten allgemeinen Grundsätzen vorzudringen und nichts anzuerkennen außer dem Zeugnis der Sinne und der Vernunft" (zit. n. Markov/Soboul 1977, S. 59). Die Erringung von 'Mündigkeit' durch Überwindung 'höriger Autoritätsgläubigkeit', d. h. die eigenständige Fähigkeit zu begründeter kritischer Urteilsbildung, wird zum Leitziel erklärt und damit der Grundstein für die Herausbildung einer emanzipatorischen Subjektivität gelegt. "Das selbständige, vernunftgeleitete, seinem Gemeinwesen dienende Individuum" (van Dülmen, S. 131) war das Ideal der Aufklärung. Insgesamt betrachtet, zielt das Aufklärungsdenken, zumindest in seinen radikalen Artikulationen, aber nicht nur auf die menschliche Selbstbefreiung von geistiger Bevormundung, Unterdrückung und Unwissenheit, sondern auch auf die strukturelle Veränderung der politisch-sozialen Verhältnisse hin zu humaneren Lebensbedingungen und -formen. Es erweist sich damit als das umfassende geistig-politische "Säurebad" des prämodern-feudalen Gesellschaftsgefüges. Im Zentrum steht dabei eindeutig der Funktionszusammenhang zwischen Religion und den feudalabsolutistischen Herrschaftsträgern. Schon in der Geburtsurkunde der radikalen Aufklärung, im Testament des Jean Meslier (....), werden die religiösen Bedeutungssysteme als herrschaftsfunktionale Ansammlung von Wahn, Lüge, Irrtum, Betrug, Erfindung und selbstentmächtigender Täuschung (Mysterien der Bosheit) dechiffriert. "Die Diener der Religion, die über Euer Gewissen herrschen, sind die größten Volksbetrüger, und die Fürsten und die anderen Großen der Welt, die über Euren Körper und Euren Besitz verfügen, sind die größten Räuber und Mörder, die es auf der Erde gibt" (Meslier 1976, S. 76). Grundsätzlich wird der Ursprung der Religion aus den volksbetrügerischen Absichten der Herrschenden erklärt und hierfür neben Beispielen der Selbstvergottung römischer Kaiser auch der Papst Bonifatius VIII. zitiert: "Welchen Reichtum beschert und doch dieses Märchen von Christus!" Zudem wird hervorgehoben, dass der absolute Wahrheitsanspruch der einzelnen Religionen beständig zu interreligiösen Kriegen um das Wahrheitsmonopol bzw. die "einzig gottgefällige Lebensweise" geführt hat und führt: " Daher kann man auch alle Tage sehen, wie sie sich gegenseitig mit Feuer und Schwert verfolgen, um ihren verrückten und blinden Glauben oder ihre Religion zu erhalten. Aus diesem Grunde gibt es kein Übel und keine Bosheit, die sie sich nicht gegenseitig unter dem schönen und gleisnerischen Vorwand antäten, die sogenannte Wahrheit ihrer Religion zu verteidigen und zu bewahren, - welche Toren sind sie doch alle!" (S. 110). Angeprangert wird aber auch sowohl die Gottesdienerei der Priester, Mönche etc. als Geschäft mit dem Irrtum, dem Aberglauben und des Betrugs, der parasitäre Charakter der Bürokraten sowie die aus dem Privateigentum resultierende Amoralität wie Eigennutz, Habgier Egoismus etc., "woraus folgt, dass die Stärksten, die Schlauesten und Raffiniertesten, die häufig auch die Schlechtesten und Unwürdigsten sind, den größten Teil der Güter der Erde erhalten und am besten mit allen Annehmlichkeiten des Lebens versehen sind" (S. 267). Sehr umfassend und eindringlich werden die Irrationalität des privategoistischen Neben- und Gegeneinanders sowie die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung beschrieben und der Missstand kritisiert, "dass die Menschen sich die Güter der Erde als Einzelne aneignen, anstatt sie gemeinsam zu genießen, was eine Unzahl von Übeln und ungeheures Elend auf der Welt hervorbringt" S. 266). Wir stoßen hier in der radikalen Frühaufklärung Mesliers bereits auf eine sehr enge diskursive Verknüpfung von Religions- und antifeudaler Sozialkritik mit utopisch-sozialistischen Vorstellungen.

Die radikale Loslösung bzw. Befreiung des Wissens vom Glauben manifestiert sich dann nachdrücklich und anschaulich in der von Diderot und D'Alembert zwischen 1750 bis 1780 in 35 Bänden herausgegebenen antimetaphysischen "Encyclopedie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers", die zum Lexikon der europäischen Aufklärung avanciert. Systematisierendes Leitkonzept ist die Dreiteilung des menschlichen Erkenntnisvermögens in Gedächtnisleistung, Vernunft und Einbildungskraft. Entsprechend werden drei große Wissensgebiete unterschieden: Geschichte (einschließlich Naturgeschichte) als Beschreibung des Erfahrbaren; Philosophie oder "strikte Wissenschaft" unter Einschluss von Logik, Mathematik, Physik u.a. sowie Poesie.

In Anknüpfung an Bayle (1647-1706), der mit Hinweis auf die sittliche Lebensführung von Atheisten Religion und Moral entkoppelt und damit im Kern die Möglichkeit einer atheistischen Gesellschaft legitimiert, radikalisiert sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur die Religionskritik, sondern das französische Aufklärungsdenken in seiner Gesamtheit. Kennzeichnend wird die "mechanistisch-materialistische" Übertragung naturwissenschaftlich-technischer Einsichten, Begriffe, Denkfiguren auf die Gesellschaft, den Menschen und seine Seele. La Mettrie (1709-1751) z. B. betrachtet das Denken als Gehirnfunktion, begreift die psychischen Funktionen generell aus der Organisation des Körpers und konzipiert den Menschen überspitzt als Maschine. (Das kostet ihn zuerst seine Stellung als Militärarzt und treibt ihn später zur Flucht nach Preußen.) Die Existenz des Geistes und die Vorrangstellung des homo sapiens gegenüber den übrigen Lebewesen leitet er aus der Vielfalt der menschlichen Bedürfnisse ab. Da der Atheist gegenüber dem Gottgläubigen illusionsloser lebe, wäre ein Staat von Atheisten der glücklichste. Noch weiter geht Dietrich von Holbach (1723-1789). Für ihn ist die Vorstellung Gottes nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich, da sie nichts erkläre, niemanden tröste und im Prinzip nur Angst einflöße. Im Gegensatz zu dem puritanischen Grunddogma der innerweltlichen Askese lehrt Claude Helvetius (1715-1771), dass die Unterdrückung der Leidenschaften Dummheit und Abgestumpftheit erzeuge. Als Vordenker bürgerlicher Interessen und Tätigkeitsprobleme reflektiert er wie seine übrigen philosophischen Mitstreiter das zentrale Problem der Vermittlung von individuellem Eigennutz/Selbstliebe und gesellschaftlichem "Allgemeinwohl". Allerdings zeigt sich hier dann auch gleich exemplarisch der idealistisch-normativistische Grundzug im Gesellschaftsdenken der materialistischen Aufklärer: Jedem solle Gelegenheit zum Erwerb von Eigentum gegeben werden; allerdings sei das allgemeine Wohl der höchste Maßstab. Entsprechend gelte es, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu verhindern, die Arbeitszeit (auf sieben bis acht Stunden) zu begrenzen und die Allgemeinbildung zu fördern. Gut handle ein Mensch dann, wenn er in der Verfolgung seiner Interessen auch die Interessen anderer fördere.

Der unaufgelöste geistig-moralische Grundwiderspruch der Aufklärung ist die "Nichtververmittelbarkeit" zwischen mechanistisch-materialistischem Kausalitätsdenken einerseits und Postulierung der menschlichen (Willens-)Freiheit andererseits. Diesem Gegensatz von objektivistisch-fatalistischem Gesetzesdenken und Hervorkehrung des voluntaristischen Individuums liegt als (unerkannte) sozial-materielle Quelle die Ausdehnung der Warenproduktion und damit die wachsende Zentralität der Marktprozesse zugrunde. Mit der Aufspaltung des gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozesses in voneinander unabhängig und undurchsichtig agierende "monadische" Privatexistenzen wird so die Abhängigkeit der voneinander isolierten Individuen von dem überindividuell wirksamen, spontan undurchschaubaren und als unbeeinflussbar erlebten gesellschaftlichen "Gesamtprozess" immer spürbarer. Daraus erwächst gleichsam als "Doppelimpuls" a) der Drang nach verstärkter rationaler Durchdringung und Kontrolle der "komplizierter" und "abstrakter" werdenden Wirklichkeit (Bedürfnis nach "Gesetzeserkenntnis") und b) der Drang nach individueller "Selbstbehauptung" ("Freiheitsreflex"). Den Protagonisten der französischen Aufklärung blieb deshalb nichts anders übrig, "als zum einen den Gedanken strenger Wissenschaftlichkeit in der ideologischen Auseinandersetzung auf die Spitze zu treiben und daher die Auffassung der mechanistischen Kausalität zu verabsolutieren, ebendeshalb aber zum anderen für die Freiheit, die die Voraussetzung ihres Handelns war, eine idealistische Begründung suchen zu müssen" (Tomberg 1986, S. 104).

Die Ambivalenzen des bürgerlichen Befreiungsprojekts empfindet und artikuliert bereits Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Mit den materialistischen Enzyklopädisten ficht er gegen das feudale Unterdrückungssystem, das sinnloseste System, das es je gegeben habe und das den Grundsätzen des Naturrechts und einer jeden gesunden Politik völlig widerspräche. Aber Rousseau verspürt bereits auch die Dissonanz zwischen seiner kleinbürgerlich vorgeprägten Identität und Gefühlswelt (Sohn eines Schweizer Uhrmachers) und den Regulativen, Anforderungen, Auswüchsen etc. der sich ausbreitenden kapitalistischen Warenproduktion. "Solange er, dem Geist der Zeit entsprechend, in der bürgerlichen Entwicklung einen Fortschritt zum Besseren sah, fand er sich mit sich selbst im Zwiespalt, ohne den Grund zu kennen" (Tomberg 1986, S. 117). Erst indem er sich zurückzieht und auf sich selbst konzentriert, findet er seine Identität in der Verteidigung seiner eigenen menschlichen Natur gegen die Negativität der Gesellschaft. Bereits in seinem "Discours sur les sciences et les arts" hatte Rousseau auf die Preisfrage der Akademie von Dijon "Hat die neuzeitliche Ausbreitung von Naturwissenschaft, Kunst und Technik zur Veredlung der Sitten beigetragen?", mit einem glühenden "Nein!" geantwortet. "Die Kultur der Neuzeit hat das Glück des Menschen zerstört, ihm die geistige Unschuld geraubt, die Tugend verdrängt, hat sein Herz mit Misstrauen, Kälte und Hass erfüllt, Charakter und Sitten verdorben und seine Natur korrumpiert. Die Wissenschaften sind unnütz in dem, was sie erstreben, und gefährlich durch das, was sie schaffen" (zit.n. Sandvoss 1989, S. 265). Hier wird also bereits die Divergenz von instrumenteller Vernunft und sittlicher Entwicklung/Humanität als Grundwiderspruch der bürgerlich-kapitalistischen "Moderne" zum Ausdruck gebracht.

In direkter Negation der augustinischen Erbsündenlehre stellt Rousseau folgende essentialistische Gegenthese auf: "Der Mensch ist von Natur gut." Die bürgerliche Gesellschaft wird nun zwar mit der zivilisierten menschlichen Gesellschaft schlechthin identifiziert, aber gerade nicht - wie bei der Mehrzahl der bürgerlichen Aufklärer - als adäquater Ausdruck dieser menschlichen Wesensnatur begriffen. Im Gegenteil: Er sieht, "und sieht auch nur dies, dass sich mit der Entwicklung der Gesellschaft und solcher ihrer Institutionen wie Kunst und Wissenschaft nur immer mehr die Widersprüche dieser bürgerlichen Gesellschaft ... und der wahren Natur des Menschen verschärfen" (Tomberg 1986, S. 119f.). Als Wurzel des Übels erkennt Rousseau das Eigentum als naturrechtswidrigen Zustand, aus dem sich Krieg, Unrecht und Laster ergeben. In einer sich selbst verwaltenden, auf "Volkssouveränität" basierenden Republik dürfe es weder Arme noch Reiche geben. Dem Staat als Verkörperung des "Gesamtwillens" komme die Aufgabe zu, durch Verhinderung des Missbrauchs individuellen Eigentums sowie durch Sicherstellung der allgemeinen Nationalerziehung den sozialen Frieden zu gewährleisten. Von Voltaire als "armseliger Lumpenphilosoph" verachtet und von Robespierre als "geistiger Vater der Revolution" gepriesen, wird Rousseaus Vision schon bald durch das Besitzbürgertum "geradegerückt": "Ihr müßt das Eigentum des Reichen garantieren. ... Die staatsbürgerliche Gleichheit, das ist alles, was ein vernünftiger Mensch verlangen kann. ... Die absolute Gleichheit ist ein Hirngespinst" (Boissy d'Anglas am 23. Juni 1795; zit.n. Markov/Soboul 1977, S. 400).

Die herausragende Besonderheit der Französischen Revolution im bürgerlichen Revolutionszyklus ergibt sich aus der Intensität des Eingreifens der Volksmassen sowie aus der zeitweiligen "Verbündung" von bürgerlich-revolutionärer Avantgarde (Jakobiner) und Volksbewegung (Sansculotten). Die durchschlagende Radikalität dieses "antifeudalen Blocks" basiert im Kern auf zwei Faktoren: Zum einen auf der Anziehungskraft der allgemeinmenschlich artikulierten Revolutionsideen: Vernunft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Republik, Patriotismus (Verteidigung des revolutionären Vaterlandes) etc. Nur auf der Grundlage dieser "heroischen Illusionen" konnte die Feindschaft der typischen Sansculotten gegenüber dem "Profitgeist" der Handels- und Industriebourgeoisie aufgefangen und überspielt werden. Zum anderen ist auf die "hegemoniale" Fähigkeit der Jakobiner zu verweisen, in zugespitzten Situationen einerseits Forderungen der Volksbewegung aufzugreifen und partiell umzusetzen, ohne sich das Heft aus der Hand nehmen zu lassen und andererseits die Führungskräfte der Volksbewegung auszuschalten. Grundsätzlich formulierte das halbamtliche Journal der Jakobiner ("Bergpartei") am 19. September 1793 folgendes:

"Volksbewegungen sind nur dann gerecht, wenn die Tyrannei sie notwendig macht ...; Schurken, die zu wilden und irregulären Bewegungen geraten haben, entweder, um unseren Feinden zu dienen oder, um ihre Sonderinteressen zu befriedigen, sind stets mit Schande und Verachtung bedeckt worden" (zit.n. Markov/Soboul 1977, S. 310). D. h.: Volksbewegungen sind nur als antifeudale unter bürgerlicher Kontrolle erwünscht. Ansonsten gelten sie als illegitim und verdorben.

Erst mit dem gehörigen Abstand eines knappen Jahrhunderts werden Karl Marx und Friedrich Engels die antifeudal-revolutionäre Aufklärung, "dieses Reich der Vernunft", als "idealisiertes Reich der Bourgeoisie" dekonstruieren. Diese Kritik ist stichhaltig im Hinblick auf die Nichteinlösbarkeit der allgemeinmenschlichen Emanzipationsziele im Rahmen der sich nachrevolutionär entfaltenden bürgerlich-kapitalistischen Ungleichheitsordnung mit ihrer klassendialektischen und warenfetischistischen Grundkonstitution. Andererseits wäre diese Kritik aber als einfache Negation bzw. defätistischer Kritizismus verfehlt, wenn ihr folgendes entginge: Zwar verkennt der Aufklärungshumanismus seine eigene Falsifikation durch die Gesetze der Kapitalverwertung, aber er hat dennoch eine praktisch-kritisch durchsetzungs- und vergegenständlichungsfähige Bewegung von herausragender menschheitsgeschichtlicher Bedeutung hervorgebracht. Diese hat in ihrem Einflussbereich nicht nur die Grundlagen der prämodernen Herrschaftsverhältnisse systematisch außer Kraft gesetzt, sondern in Gestalt der 'kulturellen Moderne' auch eine neue menschliche Tätigkeits- und Lebensdimension aufgeschlossen, die überhaupt erst das Fundament für zukünftige menschliche Entwicklungsfortschritte bildet. Wie lässt sich nun die 'kulturelle Moderne' als progressive Vergegenständlichungsleistung der antifeudal-aufklärerischen Revolutionsprozesse genauer bestimmen?

1) Die Akteure der Aufklärung waren nicht nur Ideenproduzenten, sondern schufen sich einen autonomen Kommunikationsraum in Gestalt einer kritischen 'Gegenöffentlichkeit', in dessen Rahmen individuelle Mündigkeit und Kritikfähigkeit eingeübt und der Gebrauch der Vernunft praktiziert werden konnte. Dabei spielten sowohl das gedruckte Wort als auch die 'unmittelbare' Diskussion in Salons, Clubs, Kaffeehäusern, Gesellschaften etc. eine gleichgewichtige Rolle. In Verbindung mit der Zunahme der Alphabetisierten und der Vergrößerung der Leserschaft potenzierte sich so die hegemoniale Durchschlagskraft der neuen Ideen. "Dieser vervielfachten Leserschaft bot die Buchindustrie des 18. Jahrhunderts eine von Grund auf gewandelte Produktion an. Die spektakulärste Veränderung ... war der Rückgang und schließlich der Zusammenbruch des religiösen Buches. Während die religiösen Titel, alle Gattungen zusammengenommen, gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Hälfte der Pariser Produktion an Druckerzeugnissen ausmachten, und immerhin noch ein Drittel in den 1720e Jahren, umfassten sie zu Beginn der 1750er Jahre nur noch ein Viertel und in den 1780er Jahren lediglich ein Zehntel der Buchproduktion" (Chartier 1995, S. 87f.).

2) Ihre hegemoniale Kapazität bewies die Aufklärung auch durch die Initiierung soziokultureller Reformbewegungen, so z. B. in den Bereichen Bildung und Erziehung, Strafvollzug, medizinische Versorgung und Armenfürsorge. Neben der Entwicklung pädagogischer Konzepte, die bereits die Zusammenhänge von Bildungs- und Gesellschaftsreform reflektierten, bewirkte die Aufklärung die Säkularisierung, Verstaatlichung und Verfachlichung des Schulwesens. "Inhaltlich erhielt die Muttersprache größeres Gewicht, wurde die Verbindung von Sprach und Sachunterricht gesucht, kamen moderne Fremdsprachen in den Lehrplan, wurde das Gewicht der Realien, also der Geschichte, Geographie und Naturkunde, verstärkt, Anleitung zum Selbstdenken als Ziel der Erziehung bestimmt. Die Teilhabe der Mädchen und Frauen an Bildung und Aufklärung wurde thematisiert und in ersten Schritten realisiert Mit der Taubstummenerziehung begann die Einbeziehung der Benachteiligten und Behinderten. Schließlich schuf die Aufklärung die Grundlagen für das berufsbildende Schulwesen" (van Dülmen 1990, S. 137).

3) In Anknüpfung an die bereits in der Renaissance einsetzende Überwindung des theozentrischen zugunsten eines anthropozentrischen Weltbildes sowie in Anbetracht der absolutistischen Brechung der feudalen Lokalgewalten zugunsten des staatlichen Gewaltmonopols gelingt vor allem die Übersetzung der religions- und feudalismuskritischen Ideen in institutionalisierte normative Konzepte. Im einzelnen sind hier u. a. anzuführen: a) Die Entkoppelung von Glaube und Wissen sowie die Trennung von Politik/Staat und Religion; b) Die Überwindung 'absoluter' Zusammenballung von Herrschaftsgewalt durch relative Entkoppelung von Legislative, Exekutive und Rechtsprechung sowie die 'Gesetzesbindung' der Regierung und des Staates (Rechtsstaatlichkeit); c) die Erklärung und verfassungsrechtliche Fixierung von Menschenrechten einschließlich des Rechts der Staatsbürger auf politische Partizipation (Grundlegung der Entwicklung von des Zensusrepublik zur Massendemokratie), d) die Ausdifferenzierung einer "kritischen Öffentlichkeit" und "Zivilgesellschaft" im Kontext der Ausübung von Presse-, Rede-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit; e) die kulturprägende Verankerung der grundsätzlich herrschaftskritischen Idee des freien, zur 'Mündigkeit' befähigten Individuums; f) die rechtlich geschützte Etablierung einer Privat- und Intimsphäre als Ort individueller Selbstbestimmung; g) die durchgreifende Säkularisierung der Kategorien 'Wahrheit', 'Gerechtigkeit', 'Tugendhaftigkeit', 'Schönheit', 'Glück' und 'gutes Leben'. Damit wurde im mehrstufig verlaufenden Prozess des revolutionären Übergangs vom Feudalismus zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in Europa ein emanzipatorischer Fundus von Leitideen, Theorien, Programmen etc. hervorgebracht, der für nachfolgende Fortschrittsbewegungen den Stellenwert einer herausragenden Inspirationsquelle und maßgebenden Orientierungsgrundlage besitzt.



Fortsetzung - Teil IV. 4.3









 

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