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Beiträge zur Politik  








Hartmut Krauss

Anti-Empire .

Die Dialektik der neuen Welt(un)ordnung und die Beharrungskraft traditionaler Herrschaftskultur:

Zur Kritik der Einseitigkeit des (Anti-)Globalisierungsdiskurses

"Die heutigen Sklavenhalter sind Raubtiere, die jede Schwäche wittern; rasch passen sie eine uralte Gepflogenheit der neuen globalen Wirtschaft an" (Bales 2001, S.21)


Einleitung

Nach dem Zusammenbruch der "realsozialistischen" Machtverhältnisse in Ost- und Mitteleuropa war Anfang der neunziger Jahre zunächst die bürgerliche Triumphpropaganda mit ihrer Erwartung tonangebend, dass nun nach dem Ende des Kalten Krieges ein neues goldenes Zeitalter des Kapitalismus anbreche und im Rahmen einer globalisierten Marktwirtschaft eine neue Friedensordnung entstehe. Diese neoliberale bzw. "marktreligiöse" Modernisierungsutopie hat sich mittlerweile - wie bereits zuvor die keynesianische Schimäre vom 'krisenfreien Kapitalismus' - als unhaltbare Illusion erwiesen. Die eigengesetzliche globale Entfaltung der kapitalistischen Verwertungslogik ohne ernsthafte innere und äußere Hindernisse führte nicht zu allgemeinem Wohlstand und sozialer Harmonie als 'organische' Folgewirkung des Gewinnstrebens einzelkapitalistischer Monaden/Konkurrenten, sondern hatte die Vertiefung sozialer Ungleichverteilung von gesellschaftlich erzeugtem Reichtum, das weltweite Anwachsen überschüssiger Arbeitskräfte (chronische Massenarbeitslosigkeit), gravierende sozialpathologische Tendenzen in den Metropolen, fortschreitende Verelendung in der sog. Peripherie und eine kriminogene Rekapitalisierung im früheren Ostblock (Herausbildung eines mafiosen "Lumpenkapitalismus") zur Folge. Die Globalisierung kapitalistischer Reproduktionsstrukturen führt also offensichtlich nicht 'gesetzmäßig' zu gesamtgesellschaftlicher Modernisierung und sozialer Zivilisierung, sondern fördert vielfach soziale Anomie, vertieft autochton entstandene Elendsverhältnisse und ruft oftmals - in direktem Gegensatz zum verkündeten Selbstanspruch - soziale Dezivilisierungstendenzen hervor.


In dem Maße nun, wie sich die bürgerlich-ideologische Triumphpropaganda zunehmend als unhaltbar erwies, die globale "postrealsozialistische" Krisenwirklichkeit Gestalt annahm und die neue Weltunordnung offen zu Tage trat, entfaltete sich - z. T. als einfach-negatorischer Reflex auf den markteuphorischen Triumphalismus - der Diskurs der "Globalisierungsgegner" bzw. der "Antiglobalisierungsdiskurs". Im Rahmen dieses Diskurses werden zahlreiche negative und kritikwürdige Machenschaften der kapitalistischen "global players" zutreffend angeprangert und auch öffentlichkeitswirksam skandalisiert. Ebenso sind viele Empfehlungen und Forderungen der Globalisierungsgegner zur Zurückdrängung und Überwindung profitwirtschaftlicher Strukturen und Praktiken bedenkens- und unterstützenswert. Dennoch weist der "Antiglobalisierungsdiskurs", insbesondere in seinen populären Verbreitungsformen, folgende gravierenden Defizite und unhaltbaren Einseitigkeiten auf:

1) In negativem Umkehrschluss zur neoliberalen Allmachtspropaganda und marktwirtschaftlichen Gestaltungseuphorie wird die aktuelle Weltlage als linear-mechanische Vergegenständlichung eines als homogen hypostasierten kapitalistischen 'Weltherrschaftswillens' vorgestellt. Im Rahmen dieses (tendenziell verschwörungstheoretischen) Deutungsmusters wird nicht nur die heterogene und konflikthafte Struktur zwischen den kapitalistischen Machtblöcken, zwischen einzelnen kapitalistischen Ländern und zwischen supranationalen Instanzen etc. unterschätzt, sondern auch die 'Gestaltungskapazität' der kapitalistischen Metropolen im Verhältnis zu relevanten nichtwestlichen Regionalmächten wie China, Indien, Pakistan, den arabischen Golfstaaten etc. mit ihren zu einem beträchtlichen Teil auch autonom erzeugten Krisenpotentialen überschätzt.

2) Die Kapitalismuskritk der Globalisierungsgegner ist vielfach aktualistisch verkürzt, reduziert 'Kapitalismus' auf die Gestalt aktueller Globalisierungsstrategien, ohne den unterschiedlichen kulturhistorischen Entstehungs- und Entwicklungskontext einzelner kapitalistischer Staaten angemessen zu berücksichtigen und die gesamtgesellschaftliche Vermittlung der kapitalistischen Ökonomie mit den nationalgeschichtlich gewordenen politischen, ideologischen, geistig-kulturellen, sozialinstitutionellen etc. Verhältnissen zu reflektieren 1 . Entsprechend fehlt die gesellschaftskritisch-theoretische Differenzierung zwischen kapitalistischer Modernisierung, ökonomisch-technisch-bürokratischer Modernität und 'kultureller Moderne'. (So wäre die 'Globalisierung' wesentlicher Elemente der 'kulturellen Moderne' sehr wohl im Interesse der Bevölkerungsmehrheit der 'nichtwestlichen' Länder.)

3) In Form eines ökonomistisch-mechanistischen Determinismus wird das aktuelle Elend der Welt überall und ausschließlich als unmittelbares/unvermitteltes Resultat 'metropolenkapitalistischer' Herrschaftsstrategien aufgefasst. D. h. alle sozialen Missstände, Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten in nichtwestlichen Ländern werden als direkter Ausfluss der kapitalistischen Globalisierung betrachtet. Ausgeblendet bleibt dabei in diesem eindimensionalen Verursachungsmodell die eigenständige Wirkungsmacht 'prämoderner' lokaler Herrschaftskulturen, Legitimationsideologien und Repressionsverhältnisse beim Zustandekommen und bei der Verfestigung unmenschlicher Lebensverhältnisse 2 . Diese Ignoranz gegenüber autochtonen Herrschafts- und Repressionsstrukturen reicht oftmals bis zur direkten Apologetik traditioneller Unterdrückungsverhältnisse, wenn diese sich nur irgendwie antiwestlich artikulieren. D. h. :Der Antiglobalisierungsdiskurs ist vielfach blind gegenüber dem verbreiteten Phänomen des von reaktionären Kräften getragenen 'Antikapitalismus/Antiglobalismus von rechts'. Unterschritten wird damit die bereits deutlich ausgesprochene Einsicht, dass die Zielsetzung einer emanzipatorisch-herrschaftsfreien Gesellschaft heute von zwei Seiten bedroht ist: Einerseits durch global agierende Konzerne, die das gesamte gesellschaftliche Leben den Gesetzen der profitorientierten Marktwirtschaft unterwerfen wollen, und andererseits durch fundamentalistische Kräfte, die eine neototalitäre Gewaltherrschaft gestützt auf die absolute Gültigkeit sog. göttlicher Gesetze anstreben (vgl.Barber 1999).

Zur Dialektik der kapitalistischen 'Moderne'

Worin besteht nun bei näherer Betrachtung die 'eigentliche' Dialektik der kapitalistisch durchformten 'Moderne', die im Antiglobalisierungsdiskurs weitestgehend verkannt wird?

1) Zunächst ist hier in unmittelbarem Anschluss an Marx und Engels die "höchst revolutionäre Rolle" der Bourgeoisie in zweierlei Hinsicht hervorzuheben: Zum einen vollzieht die Bourgeoisie in ihren europäischen Stammländern in gründlichster Weise die Zerstörung aller 'prämodernen', 'traditionalen' Sozialverhältnisse. Gegenüber offenem und verdecktem, sozialromantisch gespeistem Wehklagen hierüber ist nachdrücklich zu betonen, dass diese Destruktion im Kern die Beseitigung vorkapitalistischer Herrschaftsstrukturen, also nicht etwa die Zerstörung harmonisch-menschlicher Beziehungen, sondern die radikale Auflösung persönlicher Abhängigkeits-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse bedeutet und damit überhaupt erst einen neuen, zukunftsoffenen Möglichkeitsraum für menschliche Lebensgestaltung 'aufschließt'. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört ... Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen" (Marx/Engels 1980, S. 464f.). Zum anderen hat die Bourgeoisie - "zum großen Bedauern der Reaktionäre" - eine enorme Umwälzung der Produktionskräfte vollzogen, die ökonomischen Austauschverhältnisse globalisiert und den bornierten Erfahrungs- und Lebenshorizont der agrarischen Reproduktionsweise aufgerissen. "Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen" (ebenda S. 467). Sie "reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation" (ebenda, S. 466). Nicht zuletzt hat die Bourgeoisie "das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht" (ebenda).

2) Entgegen den Hoffnungen, Illusionen, Versprechungen der antifeudalen intellektuellen Aufklärungselite und ihrem "allgemeinmenschlichen" bzw. 'klassenabstrakten' Emanzipationsdiskurs führte die Zerstörung der 'prämodernen'/feudalen Herrschaftsstrukturen in Verbindung mit der Revolutionierung der Produktivkräfte nicht zur Einlösung der proklamierten Freiheits-, Gerechtigkeits-, Wohlfahrts- und Friedensideale. Vielmehr zog die 'Implementierung' der bürgerlich-kapitalistischen Reproduktionsweise neue zwischenmenschliche Herrschafts-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen sowie neue soziale Widersprüche und Krisenprozesse nach sich. An die Stelle 'prämoderner'/feudaler Herrschaft trat die durch die Industriebourgeoisie personifizierte 'Herrschaft des Kapitals'. So hat das neue bürgerliche Herrschaftssubjekt "die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt" (ebenda, S. 464f.). Spiegelte sich im Ideenensemble der 'kulturellen Moderne', d. h. in der 'allgemeinmenschlichen' Emanzipationsideologie der antifeudalen Revolutionsperiode noch die Zielvorstellung der herrschaftsfreien Zivilisation als radikaler Bruch mit der herrschaftsgesättigten Vergangenheit der 'Prämoderne', so repräsentiert die kapitalistische Realisierungsform der 'modernen' Lebensverhältnisse die historische Kontinuität: De facto nicht Überwindung, sondern lediglich 'Modernisierung' zwischenmenschlicher Herrschaft.

3) Die 'Nichteinlösung' der im antifeudalen Befreiungskampf hervorgebrachten sozial- und subjektemanzipatorischen Ideen, Konzeptionen, Zielsetzungen, Programme etc., die man zusammenfassend als "kulturelle Moderne" bezeichnen kann 3 , führte im Entwicklungsprozeß der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht einfach zu deren Verdrängung und Suspendierung, sondern wurde von diversen gesellschaftskritischen Kräften als 'progressives Sozialerbe' angeeignet, z. T. modifiziert, wissenschaftlich vertieft bzw. reinterpretiert (Marx und Engels) und schließlich praktisch-kritisch zur Geltung gebracht, d. h. nunmehr gegen die bürgerlich-kapitalistische ('modernisierte') Herrschaftsordnung selbst angewandt. Insbesondere traten hier die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung sowie diverse Bürgerrechtsbewegungen hervor. Das, was in den 'entwickelten' Ländern des westlichen Kapitalismus tatsächlich "fortschrittlich", "demokratisch", in gutem Sinne "modern" ist (Wahlrecht, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, Streikrecht, gesetzlich verbriefte Gleichstellung der Geschlechter, Sozialgesetzgebung etc.) geht nicht auf das Konto der angeblich 'zivilisierenden' Folgewirkungen der konkurrenzvermittelten Kapitalbewegung, sondern ist in erster Linie das praktisch-dialektische Resultat erfolgreicher Kämpfe der aktiven (aufgeklärten!) Teile von subalternen Bevölkerungsgruppen für rechtliche, politische und soziale Anerkennung in Anknüpfung an die von der herrschenden Bourgeoisie verratenen Ideale des antifeudalen Befreiungskampfes 4 . Es ist diese dialektische Wiederanknüpfung an das sozialrevolutionäre Gedankengut des antifeudalen Befreiungskampfes, die im Gegensatz zur 'selbstnegatorischen' bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftskultur die universell verallgemeinerungsrelevante bzw. 'fortschrittlich-paradigmatische' Seite der westlichen 'Moderne' ausmacht und eine doppelte Grenzziehung sowohl gegenüber der bürgerlich-kapitalistischen Modernitätsform einerseits als auch gegenüber der 'prämodern-traditionalen Herrschaftskultur andererseits möglich und erforderlich macht.


Durchsetzungsformen kapitalistischer Gesellschaftsentwicklung

Mit der historischen Durchsetzung und Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation samt ihrer tragenden ökonomischen, politischen, rechtlichen, geistig-moralischen etc. Strukturen und Regulativen wird folglich das grundlegende Prinzip der antagonistischen Zivilisation, nämlich die zwischenmenschliche Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaftsausübung nicht nur nicht aus der Welt geschafft, sondern auf "systemfunktionale" bzw. "kapitaladäquate" Weise rationalisiert, effektiviert, also: modernisiert. Indem einerseits überlieferte Herrschaftsverhältnisse systematisch "umgebaut", partiell aufgehoben und partiell verschärft werden, andererseits traditionelle Sozialbeziehungen und institutionelle Gefüge zerbersten oder erodieren und die betroffenen Subjekte materiell (z. B: räumlich, existenziell, qualifikatorisch), und ideell (sinn- und orientierungsstrukturell) durcheinandergewirbelt werden, ruft das folgende Gegenkräfte auf den Plan:

1) das neuformierte Spektrum der subalternen Klassen (die "doppelt freien" Lohnabhängigen), in deren widerständige Praxis zunächst noch vorkapitalistische bzw. "prämoderne" Orientierungen, Erlebnisweisen, Mentalitätsformen etc. eingehen;

2) das Spektrum der tendenziell entprivilegierten und in ihrer ehemaligen ("angestammten") Vormachtstellung bedrohten Teile der traditionellen Herrschaftsschichten samt ihrem klientelistischen Anhang.

Die kapitalistische 'Moderne' sieht sich somit von Beginn an nicht nur mit den (progressiven) Ambitionen der Arbeiterbewegung und anderen fortschrittlichen Bewegungen konfrontiert, die sich das revolutionäre Sozialerbe in Gestalt der 'kulturellen Moderne' zumindest partiell aneignen und gegen die neuen Herrschaftsverhältnisse zur Geltung bringen, sondern ebenso mit einer reaktionär-antimodernistischen Protestbewegung, die ihren bedrohten bzw. abhanden gekommenen 'prämodernen' Privilegien nachtrauert und ihre traditionelle Herrschaftskultur verteidigt. Bedeutsam ist nun, dass sich diese doppelte Stimulation gegenläufiger "Protestbewegungen" im globalen Entfaltungsprozess der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation historisch ungleichzeitig und unter heterogenen (national und regional unterschiedlichen) Voraussetzungen vollzieht. D. h. der kapitalistische Durchdringungsprozess traditionaler bzw. 'prämoderner' Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse trifft auf eine zeitlich und 'kulturräumlich' höchst ungleichartige Prämissenstruktur.

1) Die im kommunistischen Manifest so 'großartig' beschriebene Rolle der Bourgeoisie als Zerstörerin der 'prämodernen'/feudalen Sozialverhältnisse und Umwälzerin der gesellschaftlichen Produktivkräfte ist in dieser 'Monumentalität' nur haltbar für jene Länder, in denen der Übergang zur kapitalistischen 'Moderne' auf revolutionäre Art vollzogen wurde, d. h. das Resultat einer erfolgreichen revolutionären Bewegung bürgerlich-antifeudaler Kräfte gewesen ist. Hier - in den Niederlanden, England und Frankreich 5 - drangen progressiv-antifeudale, gegen die 'prämoderne Herrschaftskultur' gerichtete, 'kritische Bedeutungen' ins Massenbewußtsein und bildeten die Grundlage für eine tiefer gehende geistig-kulturelle 'Katharsis'. Die "kulturelle Moderne' schlug so stärkere ideelle und institutionelle Wurzeln in der nationalen 'Popular-Kultur' und vermochte deshalb breite Teile der subalternen Klassen gerade dann kämpferisch zu inspirieren, als die jeweiligen Bourgeoisien sich als herrschende Subjekte etabliert und von ihren progressiven Idealen losgesagt hatten und die aus dem 'allgemeinmenschlichen Geist' der antifeudalen Umwälzungsperiode hervorgegangenen Institutionen (Rechtsstaat, Öffentlichkeit/Pressefreiheit, Parlament, Parteiensystem etc.) gemäß ihren 'neuen' Herrschaftsinteressen instrumentalisierten und 'zurechtstutzten'.

2) Ein wesentlich anderes Bild zeigen jene Länder, in denen der Übergang zur kapitalistischen 'Moderne' nicht vermittels einer erfolgreichen antifeudalen Revolution "von unten" unter Beteiligung breiter Teile der Bevölkerung vollzogen wurde, sondern als "konservative Modernisierung" unter der Vorherrschaft 'prämoderner' Herrschaftsklassen "von oben" zustande kam. Hier - in Italien, Deutschland und Japan - war nicht die Zerschlagung der feudalen Hegemonie Voraussetzung für die Durchsetzung der kapitalistischen Industrialisierung, sondern die kapitalistische Industrialisierung wurde unter der fortbestehenden Vorherrschaft der Aristokratie realisiert. Kennzeichnend hierfür ist eine spezifische 'Statur' der Handels- und Industriebourgeoisie, "die zu schwach und abhängig ist, die Macht zu übernehmen und selbst zu regieren, und sich deshalb der grundbesitzenden Aristokratie und der königlichen Bürokratie in die Arme wirft und das Recht zu herrschen gegen das Recht, Geld zu verdienen, eintauscht" (Moore 1969, S. 501). Unter diesen Bedingungen eines herrschaftskulturell 'gebrochenen' bzw. 'reduzierten Übergangs zur ökonomisch-technisch-bürokratischen 'Moderne' bei Fortbestehen zentraler Konstitutionsmomente der tradierten/'prämodernen’Herrschaftskultur (monarchistisch-aristokratischer Staatsapparat mit entsprechender Legitimationsideologie) wird die Entwicklung, Ausprägung und Tradierung emanzipatorischer Bedeutungen im Sinne der 'kulturellen Moderne' und eine entsprechende politisch-rechtliche Institutionalisierung blockiert. An die Stelle einer progressiven Katharsis des Massenbewusstseins tritt hier die relativ ungebrochene 'geistig-moralische' Bindung breiter Kreise der Beherrschten an 'prämodern'-reaktionäre Kräfte und ideologische Strömungen. Infolge dieser fortbestehenden Dominanz 'prämoderner' Herrschaftskultur/Legitimationsideologie in Verbindung mit 'imperialistisch' gewordener bürgerlicher Ideologie (Sozialdarwinismus, Rassismus, Nationalismus) ist es naheliegend, dass die aus dem Modernisierungsprozeß hervorgehenden Krisen- und Widerspruchserfahrungen auf eine regressiv-reaktionäre Weise verarbeitet werden, d. h. große Teile der 'Modernisierungsverlierer' zu einer leichten Beute der Reaktion werden und deren 'Antikapitalismus von rechts' folgen 6 .

3) Auch im Prozess des fremdherrschaftlich-expansionistischen Eindringens des 'kapitalistischen Westens' in Weltregionen mit andersartigen 'prämodern'-autochtonen Herrschaftskulturen findet keine 'homogene' bzw. gesamtgesellschaftlich wirksam werdende Modernisierung statt. Typisch ist hier vielmehr eine höchst selektive, nur punktuelle Einführung kapitalfunktionaler Strukturen als unabdingbare Rahmenbedingungen für eine möglichst reibungslose (Extra-)Profitproduktion und -abschöpfung bei gleichzeitiger "Aushandlung" herrschaftsstrategisch nützlicher Arrangements mit Teilen der einheimischen Oberschichten. D. h. es kommt zu einer utilitaristischen Verflechtung der kapitalistischen Profitmaximierungsstrategien mit den vorgefundenen 'prämodern'-traditionalen Herrschaftsbeziehungen und Abhängigkeitsverhältnissen. Einerseits werden die implementierten kapitalistischen Reproduktionskontexte den einheimischen Herrschaftsverhältnissen angepaßt, andererseits werden die traditionellen Sozialbeziehungen im Interesse der Profitproduktion in anarchischer Weise aufgebrochen und zum Teil entstehen im Rahmen dieser Überlagerung von neu eingeführten kapitalistischen und fortwirkenden traditionellen Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen anomische bzw. 'neobarbarbarische' Sozialverhältnisse. "Eine Wirtschaft im Umbruch vertreibt Bauernfamilien von ihrem Land und läßt sie verelenden, während sie gleichzeitig in den Städten einen Bedarf an ungelernten Arbeitskräften weckt. Mit der Verarmung kommt es auch zu einem Zusammenbruch der traditionellen Sicherheitsnetze der Familien oder Gemeinden für die Schwachen - und in diesen Ländern treten keine wirksamen staatlichen Wohlfahrtsmaßnahmen an ihre Stelle. Ohne Schutz, in einer ausweglosen Situation, sind die Armen machtlos, die Gewalttätigen hingegen werden, wenn der Staat nicht einschreitet, immer mächtiger. Unter solchen Umständen wächst und gedeiht Sklaverei" (Bales 2001, S. 46) 7 .

Wir sehen folglich: Die Vorstellung bzw. Rede von der 'Moderne' als einem 'integralen' bzw. in sich homogenen Projekt ist ein Mythos. Strikt zu unterscheiden ist zwischen der 'kulturellen Moderne' als emanzipatorisch-herrschaftskritischer Ideenfonds und säkular-humanistischer Wertekanon, der ökonomisch-technischen und bürokratischen (instrumentell-rationalen) Modernität sowie der kapitalistischen Modernisierung als gegenüber der 'kulturellen Moderne' negatorische und die ökonomisch-technisch-bürokratische Modernität anwendende Versachlichung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse. Dabei lassen sich drei gesellschaftliche Grundformen der Entkoppelung von 'kultureller Moderne' und kapitalistischer Modernität unterscheiden:

Erstens die Abwendung der zum herrschenden Subjekt avancierten Bourgeoisie von ihren 'ursprünglichen' antifeudal-revolutionären Leitvorstellungen in den Ländern mit erfolgreicher bürgerlicher Revolution. (Hier wird die 'kulturelle Moderne' als progressives Sozialerbe von den Arbeiter-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen adaptiert und gegen die herrschende Bourgeoisie mit partiellen Erfolgen zur Geltung gebracht.)

Zweitens die Einführung der kapitalistischen Industrialisierung unter der Hegemonie 'prämodern'-aristokratischer Herrschaftsträger in dominantem Gegensatz zu Grundinhalten der 'kulturellen Moderne' und ihren hegemonierten Verfechtern. (Hier erreicht die 'kulturelle Moderne’ nicht das Niveau einer gesamtnationalen Katharsis. Folglich wird die nationaleWirkungsmacht 'prämoderner' Herrschaftskultur nur unzureichend gebrochen.)

Drittens die fremdherrschaftlich-selektive Einführung kapitalistischer Strukturen unter weitgehender Weglassung kulturell-zivilisatorischer Modernisierungsbemühugen und 'profitabler' Verflechtung mit vorgefundenen autochtonen Herrschaftsbeziehungen. (Hier kommt es zu einer dezivilisierenden Koexistenz von kapitalistischer Modernität und 'prämoderner' Herrschaftskultur unter Vorenthaltung der 'kulturellen Moderne'.) 8


Beharrungskraft und strukturelle Relevanz traditionaler Herrschaftsverhältnisse und Legitimationsideologien

In den vorherrschenden Diskursen erscheint die 'postrealsozialistische' Welt als letztlich gestaltloses Objekt bzw. tabula rasa des 'souveränen' (neoliberalen) Herrschaftswillens westlich-kapitalistischer Akteure und Institutionen. Dass der 'Rest der Welt' eigenständige Herrschafts- und Repressionsstrukturen, problemverschärfende Traditionen, fortschrittsbehindernde Ideologien etc. aufweist, die auf komplizierte und widersprüchliche Weise mit den westlichen Expansionsmächten koexistieren und seinerseits als Subjekt von Globalisierungsprozessen auftritt, bleibt zumeist ausgeblendet oder aber wird diskursiv als 'Störvariable' an den Rand gedrängt. Im Unterschied zu diesen heute gängigen 'Globalisierungstheorien' ist die kritische Analyse des sich weltweit ausbreitenden kapitalistischen (Re-)Produktionsprozesses bei Marx und Engels noch explizit verknüpft mit einer kategorischen Kritik der traditionalen (vorkapitalistischen/'prämodernen') Herrschaftsverhältnisse, Institutionen, und Mentalitätsformen, die dem 'Eindringungsprozess' der Kapitalbewegung unterliegen. D. h.: Jene dem kapitalistischen Globalisierungsprozess ausgesetzten Gesellschaftsordnungen werden weder sozialromantisch verklärt noch zu dürren Abstrakta (wie "Entwicklungsländer", "Peripherie", "Dritte Welt") verflüchtigt, sondern in ihrer fortschrittshemmenden Selbstbeschaffenheit als transitorische Sozialformen begriffen. Entsprechend heißt es in Marx' Artikel "Die britische Herrschaft in Indien" vom 25. Juni 1853:

"Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöste werden, hineingeschleudert in ein Meer von Leiden, wie zu gleicher Zeit ihre einzelnen Mitglieder ihrer alten Kulturformen und ihrer ererbten Existenzmittel verlustig gehen, so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, dass diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen. seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, dass sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten. Wir dürfen nicht die barbarische Selbstsucht vergessen, die, an einem elenden Stückchen Land klebend, ruhig dem Untergang ganzer Reiche, der Verübung unsäglicher Grausamkeiten, der Niedermetzelung der Einwohnerschaft großer Städte zusah, ohne sich darüber mehr Gedanken zu machen als über Naturereignisse, dabei selbst jedem Angreifer, der sie auch nur eines Blickes zu würdigen geruhte, hilflos als Beute preisgegeben. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses menschenunwürdige, stagnierende Dahinvegetieren, diese passive Art zu leben, auf der andern Seite ihre Ergänzung fanden in der Beschwörung wilder, zielloser, hemmungsloser Kräfte der Zerstörung, und in Hindustan selbst aus dem Mord einen religiösen Ritus machten. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, dass sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, dass sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebnes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, dass der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank" (MEW 9, S.132f.).

So theoretisch bedeutsam wie politisch aktuell die Marxsche Betonung der antiemanzipatorisch-fortschrittshemmenden Konstitution traditionaler Herrschaftsverhältnisse heute wieder ist, so hat sich doch andererseits die Erwartung einer radikalen Enttraditionalisierung als 'gesetzmäßiges' Resultat der kapitalistischen Globalisierung nicht erfüllt. Traditionale Herrschaftsstrukturen, Abhängigkeitsverhältnisse, Institutionen und Bewusstseinsformen haben sich als äußerst resistent und anpassungsfähig erwiesen. Andererseits ist die doch begrenzte Radikalität des Kapitals offenbar geworden: Dort, wo traditionale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse sich der Profitlogik fügen, werden diese nicht beseitigt, sondern funktional integriert. Dem Kapital geht es eben nicht um Veränderung/Umwälzung 'an sich', sondern um maximale Verwertung. Die Folge dieser begrenzten Radikalität/Veränderungsintention des Kapitals einerseits sowie des Beharrungsvermögens 'prämoderner' Herrschaftsverhältnisse andererseits ist die widersprüchliche Synthese 'moderner'/kapitalistischer und traditionaler/'nichtwestlicher' Herrschaftskultur in Form mehr oder minder stabiler ökonomischer Verflechtungen, strategischer Allianzen und politischen Koalitionen auf innergesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Ebene. Angesichts dieser faktischen 'Hybridisierung' von Herrschaftsverhältnissen läßt sich die globale wirtschaftliche, politische, soziokulturelle und ideologische Agenda nicht ,monokratisch' als lineare Herrschaft des kapitalistischen Westens über den 'Rest der Welt' deuten, sondern ist - insbesondere aus der Sicht der Beherrschten in den 'nichtwestlichen' Weltregionen - als konkret aufzuschlüsselndes 'polykratisches' bzw. gemischt zusammengesetztes Herrschaftsverhältnis zu erfassen. Insofern diese objektiv mehrdimensional konstituierten Herrschaftsstrukturen auf nur eine - wenn auch bedeutsame -Dimension, nämlich die angeblich nur vom Westen ausgehenden Globalisierungsfolgen, verkürzt werden, ergibt sich ein schiefes bzw. simplifiziertes Bild mit desorientierenden Konsequenzen für praktisch-politische Emanzipationsbewegungen. Folgt man etwa den Grunddogmen des postmodernen Denkens, dann hätte sich die 'Aufklärung' als vorherrschendes geistiges Paradigma und Handlungskonzept im Weltmaßstab totalisiert und trage für sämtliche Katastrophen seit der industriellen Revolution die Verantwortung. Im Gegensatz zu diesem grandiosen Irrtum und kontrafaktisch zum (Post-)Moderne-Diskurs ist aber (a) von einer 'bevölkerungsexplosiven' Ausbreitung von 'nichtaufgeklärten' bzw. 'antiaufklärerischen' Herrschaftskulturen in fast allen Weltregionen auszugehen und (b) der Tatbestand zu berücksichtigen, dass die USA als westliche Führungsmacht nicht lediglich als kapitalistische Globalisierungsinstanz zu betrachten sind, sondern ihrerseits ein enormes fundamentalistisch-religiöses Potential in sich bergen bzw. selbst eine hybride Herrschaftssynthese repräsentieren.

Es stellt sich somit die Frage nach der konkreten "Einbettung" der sich globalisierenden kapitalistischen (Re-)Produktionszusammenhänge in nichtwestliche, traditional konstituierte Herrschafts- und Legitimationsverhältnisse. Zunächst ist aber zumindest stichwortartig zu klären, worin die Spezifik der nichtwestlichen traditionalen Herrschaftskultur besteht, aus der sich schließlich auch deren Beharrungskraft speist.

Ein universalhistorischer Blick auf die Gesellschaftsgeschichte der Menschheit zeigt, dass der europäische Weg zum Kapitalismus (wie er im fünfgliedrigen Formationsschema des stalinisierten Schulmarxismus dogmatisiert wurde) eine regionale Besonderheit darstellt, während alle nichtwestlichen/nichteuropäischen ("östlichen", "asiatischen" etc.) Gesellschaften ein andersartiges, davon abweichendes Konstitutions- und Entwicklungsmuster aufweisen. Grundlegend für den westlich-europäischen Weg ist die Herausbildung der antiken Gesellschaftsform "als Resultat einer archaischen Revolution, die sich in solcher Form nirgends und niemals mehr wiederholt hat" (Wassiljew 1989, S.161). Im alten Griechenland, im Kontext der mykenischen und homerischen Kultur, entwickelte sich auf der Basis gefestigter Handelsbeziehungen sowie der Mittelmeerschiffahrt und der dadurch bedingten Verbreitung von Ware-Geld-Beziehungen ein spezifischer Gesellschaftstyp, der folgende Konstitutionsmerkmale aufwies:

1) marktorientierte, auf Privateigentum basierende familiale Warenproduktion in Verbindung mit der Ausbeutung von Sklavenarbeit;

2) die Etablierung von archaisch-demokratischen Gemeinwesen als Gemeinschaft gleichberechtigter, bezüglich ihrer Vermögensverhältnisse sehr ungleicher Bürger/Privateigentümer (Polis-Demokratie) und

3) die Ausbildung eines Systems persönlicher Rechte und Freiheiten zwecks Wahrung und Schutz der Individualinteressen der sich selbst regierenden 'republikanischen' Bürger ("Bürger-Gesellschaft").

Trotz der Ausbeutung und Rechtlosigkeit der Sklaven sowie der Exklusion nicht vollberechtigter Bevölkerungsgruppen, "waren die 'Bürgergesellschaft', die Demokratie, die Rechte und Freiheiten, die Garantien für die privatunternehmerische Tätigkeit des isolierten, von der Gemeinschaft abgesonderten Individuums - Garantien, die ihm die Gemeinschaft bot und die das Gesetz schützte - sehr wertvolle Errungenschaften. Auf sie gründete sich die gesamte antike Struktur, was diese prinzipiell von der nichtantiken Struktur unterschied, in der es diesen ganzen Komplex sozialpolitischer und rechtlicher Normen, welche die freie ökonomische Tätigkeit des Individuums, des Privateigentümers gewährleisteten, praktisch nicht gab" (ebenda, S.163).

Die Reaktivierung und Neuaneignung dieses antiken (geistig-kulturellen, rechtlich-normativen, institutionellen etc.) Sozialerbes durch die europäischen Trägerschichten der spätmittelalterlichen Stadtwirtschaft in Form von Renaissance, Humanismus, Reformation und Aufklärung 9 führte schließlich in Verbindung mit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals nach den großen geographischen Entdeckungen zur Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. In diesem Sinne ist die westlich-europäisch-kapitalistische Zivilisation in ihren historisch elementaren Grundlagen das Resultat der spätmittelalterlichenStadtwirtschaft; "all dies aber entsprang nicht dem europäischen Feudalismus, sondern dem Erbe der Antike" (ebenda, S.167).

Ein radikal andersartiges Bild zeigt der sozialhistorische Entwicklungsprozess in den nichtwestlichen/außereuropäischen Weltregionen. Die Auflösung urgesellschaftlicher Verhältnisse mündet hier nicht infolge einer 'archaischen Revolution' in antike Strukturen, sondern führt über protostaatliche Gebilde 10 zur Etablierung sich sukzessive entfaltender Formen der 'orientalischen Despotie'. Es ist diese relativ wandlungsresistente, aber multiphänomenale Gesellschaftsform, die als Konstitutionsgrundlage der nichtwestlichen prämodernen Herrschaftskultur fungiert. Im Gegensatz zur "antik-europäischen" Fokussierung der rechtlich garantierten und soziokulturell legitimierten Dominanz des wirtschaftlichen Privateigentums bzw. des privatunternehmerisch tätigen Individuums spielt hier das despotische kontrollierte bzw. verwaltete Staatseigentum die herausragende ('systembildende') Rolle. Die Beziehung zwischen dem Despoten bzw. dem absolutistischen Herrscher und seinem funktionsgeteilten Verwaltungsapparat einerseits 11 12 . Zwar entsteht und entwickelt sich auch innerhalb der orientalisch-despotischen Gesellschaftsordnung Privateigentum, aber der Staat setzt ein differenziertes Instrumentarium bestehend aus Steuern, erbrechtlichen Regelungen, Konfiskationen, räuberischer Erpressung etc. ein, um es systematisch zu schwächen, in seiner ökonomischen Entfaltungsmöglichkeit zu blockieren und als 'eigenmächtigen' Konkurrenten bei der Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten auszuschalten. Das auf diese Weise unterjochte Privateigentum, "das sich zu seiner Legitimierung und zu seinem Schutz nicht auf entsprechende Institutionen und Normen stützen kann, vermag dem mächtigen und effektiv funktionierenden Staat nichts entgegenzusetzen" (ebenda, S.165).

In verallgemeinernde Perspektive lassen sich folgende resistenzfähige Grundmerkmale der 'orientalischen Despotie' hervorheben, die letztlich das Gerüst der nichtwestlichen traditionalen Herrschaftskultur bilden:

1) Die Herausbildung und Verfestigung der Tradition absolutistisch-autokratischer Herrschaftsausübung 13 mit einem despotischen Führer (Pharao, Kaiser, Mogul, Kalif, Sultan etc.) und seinem Clan an der Spitze (Herrscherhaus).

2) Die Etablierung und Fixierung eines außerhalb rechtlicher Einschränkungen agierenden Machtstaates 14 , dessen Funktionsträger notorisch zur Praxis der Korruption/Erpressung, Willkür, Repression und des Terrors greifen.

3) Die chronisch schwache Stellung des Privateigentums vor dem Hintergrund des Fehlens einer Kultur der institutionalisierten Freiheitsgarantie und Rechtssicherheit des bürgerlichen Privateigentümers sowie des staatsbürgerlichen Individuums (Nichtexistenz einer Tradition der "Bürgergesellschaft").

4) Die Tradition einer religiös begründeten/legitimierten Gehorsamskultur als herrschaftskultureller Grundzug, wobei die Religion gezielt als geistig-psychisches Instrument der Verformung menschlicher Subjektivität in Untertänigkeit genutzt wird. (Als hegemoniales Bedeutungssystem liefert die Religion das 'Begründungsmaterial' für subjektiv sinnhafte Unterwerfung.) Ein wesentliches sozialisatorisches Reproduktionsmoment der orientalisch-despotischen 'Gehorsamskultur' ist die Etablierung eines schulischen Indoktrinationssystems, in dem Auswendiglernen religiöser Texte und das Einpauken eines Habitus der frömmigen Unterwürfigkeit (einschließlich der 'expressiven' Bekundung herrschaftlich gesetzter Feindbilder) an erster Stelle steht 15 .

5) Die Verankerung einer zählebigen Tradition des patriarchalischen Familiendespotismus als soziokultureller Mikroaspekt der prämodern-despotischen Herrschaftskultur (Strukturelle Ergänzung von Staats- und Familienautorität). Die umfassende Beherrschung der Gesellschaftsmitglieder durch die despotischen Machtinstanzen wird 'von unten' abgesichert durch eine intrafamiliale diktatorische Kontrolle der Lebensführungspraxen der Familienmitglieder seitens des männlichen Familienoberhauptes 16 . So ist z. B. nach Konfuzius eine Erziehung, die absoluten Gehorsam gegenüber den Eltern und Lehrern verlangt, die ideale Erzeugungsbasis für totalen Gehorsam gegenüber den Herrschenden.

Unter den Bedingungen der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts globalisierenden kapitalistischen Marktdynamik und des imperialistischen Kolonialismus gerieten die nichtwestlichen traditionalen Gesellschaftsordnungen zwar unter einen enormen Anpassungs- und Veränderungsdruck, so dass die 'prämodernen' Herrschaftsstrukturen, Sozialbeziehungen und Legitimationsideologien hier und da 'Risse' bekamen und punktuell erodierten. Aber nur in sehr wenigen Ländern (wie in Japan 17 und einigen anderen innerhalb der fernöstlichen Zivilisation) wurde die traditionale Grundstruktur nahezu vollständig durch das privatkapitalistisch fundamentierte und zentrierte Wirtschafts-, Rechts-, und Institutionensystem ersetzt. In allen anderen Ländern des nichtwestlichen Typs, also bei der überwiegenden Mehrheit, wurde die traditionale Grundstruktur bei weitem nicht vollständig beseitigt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Entwicklungsprozesse waren diese exogenen Determinanten letztendlich nicht intensiv genug, um das überlieferte Herrschaftsgefüge zerstören zu können und die traditionale Grundstruktur insgesamt zu überwinden. Entgegen den Erwartungen und Prognosen der westlichen Modernisierungstheorien hat sich demnach das 'Immunsystem' der traditionalen Gesellschaftsordnungen bezüglich der 'Abschirmung' ihrer integralen Herrschaftsstrukturen und der bestandserhaltenden Anpassung an die okonomisch-technischen Modernisierungsschübe als äußerst effizient erwiesen 18 19 , kam es zur Installierung totalitär-diktatorischer Regime als modernisierte/radikalisierte Neuauflagen der orientalischen Despotie. In anderen Herrschaftssystemen bilden autokratische Regimeträger mit fundamentalistischen Bewegungen eine widersprüchliche strategische Symbiose (Ägypten, Jordanien, Malaysia), fungieren als hegemonialer Sponsor des multinationalen Fundamentalismus (Saudi-Arabien) oder führen wie in Algerien einen blutigen bzw. wie Marokko und Tunesien einen verdeckten Krieg gegeneinander, was letztendlich ebenfalls zu Stärkung der absolutistischen Staatsmacht beiträgt 20 . Und bevor die Geburtswehen des autonomen Palästinenserstaates überhaupt erst einsetzen, stellt sich bereits jetzt die Frage nach dem zukünftigen Einfluss der fundamentalistischen Kräfte (Hamas, Djihad) auf die Staatsbildung 21 .


Exemplarische Formen der Beharrungskraft und Adaptionsfähigkeit traditionaler Herrschaft

Die unser zeitgenössisches Bewusstsein prägende 'Globalisierung' vollzieht sich nicht als 'linearer', mechanisch-deterministischer Prozess, der von einem souveränen Subjekt bzw. 'Intentionalitätszentrum' ausgehend die umliegende Welt als passives Material nach eigenem Belieben formt und reguliert. Vielmehr erweist sich die 'nichtwestliche Welt' als ein eigenständig-dialektischer Resonanzraum mit autonom-restistenten Strukturen, zugleich antithetischen und adaptionsfähigen Subjektivitäten und gegenläufigen Energien. Von einem dritten, kritisch-emanzipatorischen Standpunkt aus betrachtet, ist diese 'antiwestliche' Widerständigkeit/Brechungskraft nicht per se als Ausdruck progressiver (solidaritätsheischender) Ambitionen zu werten 22 , sondern als Indikator eines konkurrenten 'Willens zur Macht' bzw. zur reaktionären Herrschaftsbehauptung und -erweiterung.

Eine Region mit einer dementsprechend ausgeprägten Beharrungskraft und gleichzeitig vorhandenen Anpassungsfähigkeit traditionaler Herrschaftskultur gegenüber der 'westlichen Herausforderung' stellt die arabisch-islamische Zivilisation dar 23 . Massenelend ist dort, wo es in der arabischen Welt wirklich existiert (was z. B. für eine ganze Reihe von OPEC-Staaten nicht pauschal unterstellt werden kann), nicht ausschließlich extern durch hereinbrechende kapitalistische Modernisierungsschübe verursacht, sondern ganz elementar durch interne (lokale) Herrschafts-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen einschließlich despotischer Traditions- und Bereicherungsmuster mitbedingt. Hervorzuheben ist hier die fast ausschließliche Existenz autokratischer Regime in der arabisch-islamischen Welt in Gestalt von

a) religiös legitimierten traditionellen Monarchien (Marokko, Saudi-Arabien, Jordanien, die Emirate am Golf),

b) säkular ausgerichteten Einparteiensystemen, zum Teil im Bündnis mit Putschoffizieren (Syrien, Irak, Tunesien) und

c) Militärregime mit charismatischen Führungspersönlichkeiten mit oder ohne Einheitspartei (Algerien, Ägypten, Libyen). 24

Kennzeichnend für diese Regime, die sich als technologisch erneuerte orientalische Despotien kennzeichnen lassen, sind folgende Strukturmerkmale:

1) Die Reproduktion eines hierarchisch-klientelistischen Systems von materiellen Privilegien, Begünstigungen und Vorrechten vermittels Ämterpatronage, staatlich subventionierten Zuwendungen, Vergabe von Ländereien etc. mit dem Despoten bzw. dem dynastischen Clan 25 als "Kern". Die machterhaltende Funktion dieses klientelistischen Systems der Privilegienvergabe 26 besteht in der beständigen Auswahl, Kontrolle und Wiedererzeugung einer unterwürfigen, bestechlichen und abhängigen Elite nach der Tauschformel "Günstlingswirtschaft gegen Loyalität". Im Einzelnen besteht diese neodespotisch-klientelistisch konstituierte Herrschaftselite aus folgenden Elementen: Dem autokratischen Herrscher und seinem Familienclan, den wirtschaftlichen und politischen Beratern des Despoten, den konservativen religiösen Autoritäten, dem Führungspersonal des religiös fundamentierten Justizapparats, des Militärs, der Sicherheits- und Geheimdienste sowie einflussreichen Staatssekretären und ggf. den Spitzenkräften des Einparteiensystems bzw. der konstitutionellen Scheinparlamente.

2) Die Existenz eines ausgeprägten, verzweigten und omnipräsenten Unterdrückungs-, Überwachungs- und Bespitzelungsapparates 27 in Gestalt von Geheimdiensten, Religionspolizei, rechtwillkürlicher Justiz (z.T. in Anlehnung an die Schari’a) 28 , mittelalterlichen Gefängnissen, in denen Foltermethoden 29 an der Tagesordnung sind etc.

3) Die Unterdrückung von Meinungsfreiheit und demokratischer Opposition durch Zensurmaßnahmen, Presseverbot, Einschüchterung unbotmäßiger Journalisten, Vorenthaltung freier Wahlen etc.

4) Der unkontrollierte und unsanktionierte Amtsmißbrauch durch Sicherheitskräfte, juristische Behörden und andere Verwaltungsangehörige im Rahmen einer willkürlich und korrupt verfahrenden Bürokratie.

Der Islam fungiert in diesen technologisch modernisierten Despotien nicht nur als kulturell dominantes bzw. absolutistisches Konzept religiös normierter Lebensführung, sondern ganz wesentlich auch als Legitimationsideologie bzw. als geistig-moralische Rechtfertigungsgrundlage der bestehenden Herrschaftsstrukturen. In Sonderheit gilt das für Saudi-Arabien, dem Kernland nicht nur der arabischen, sondern der gesamten arabischen Kulturregion 30 . Es sind vor allem zwei Gegebenheiten, die den zentralen Status Saudi-Arabiens gewährleisten: Zum einen ist es als Heimat des Propheten Mohammed und Land der Offenbarung sowie der heiligen Stätten Mekka und Medina der geographisch-sakrale Mittelpunkt der islamischen Welt. Zum anderen imponiert es "als Hüter der bedeutendsten Welt-Energievorräte mit 26,1 % der Erdölreserven und 4 % der Erdgasreserven weltweit" (Barth/Schliephake 1998, S.16) und damit - zusammen mit den übrigen Ölmonarchien (Bahrein, Kuwait, Quatar, Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate) - als das unangefochtene materielle Reichtumszentrum des islamischen Kulturkreises 31 . Damit ist bereits die Grundlage beschrieben, aus der die spezifische Herrschaftskonstitution dieser südlichen 'Wohlstandsdiktatur' erwächst: die enge Verbindung zwischen feudal-monarchistischer Tradition, rigider religiöser Legitimationsideologie und einer durch die Laune der Natur bedingten 'ursprünglichen' Akkumulationsquelle für einen kapitalistischen Industrialisierungsprozeß unter Federführung eines traditionalen Herrschaftsclans. Fuad Zakariya hat im Hinblick auf diese bizarre Herrschaftsstruktur von "Petro-Islam" gesprochen: Der Einsatz des Islam als totalitär-normative Legitimationsideologie zum Schutz der einheimischen Nutznießer des Erdölreichtums 32 und der Konservierung von traditionalen Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen auch im Interesse der erdölkonsumierenden Länder des Westens. Denn diese Länder profitieren auch davon, "wenn die Intellekte der Leute in den Erdölländern durch die Beachtung der (religiösen, H. K.) Formalismen narkotisiert werden und in den Texten der Rechtsgelehrten vergangener Jahrhunderte, ihrer Ausleger und Kommentatoren ertrinken. Kann denn ein Land wie Amerika von einer besseren Situation träumen als jener, dass die neuen Generationen der Bevölkerung in den Erdölländern in ständigem Schrecken vor der Bestrafung im Grab und seinen Schlangen leben, die jeden beißen, der sich dazu erdreistet hat, nachzufragen, Kritik zu äußern, sich selbst zu hinterfragen oder zur Kritik oder Rebellion gegen die etablierten Werte und Verhältnisse aufzurufen?" (zit. n. Meier 1994, S.457). Damit demonstriert die saudi-arabische Herrschaftsform des "Petro-Islam", wie traditionale Herrschaftsmittel, -methoden und -ideologien umfunktioniert und gezielt eingesetzt werden, um rentier- und finanzkapitalistische Interessen zu realisieren sowie verschärfte Ausbeutung und perfektionierte Repression im Interesse sowohl der einheimischen als auch der ausländischen (insbesondere us-amerikanischen) Herrschaftselite zu gewährleisten.

Als Herrscher eines Landes mit einer absoluten Erbmonarchie islamischer Prägung als Staatsform, ist der König zugleich weltliches (Staatschef), geistliches (Imam) und Stammesoberhaupt ("Scheich der Scheichs"). Als absolutistischer Herrscher verfügt er über den Ministerrat als beratendes, ausführendes und ihm allein verantwortliches Staatsorgan. Das System der Rechtsprechung basiert auf der Schari’a und wird von Kadi-Gerichten ausgeübt. Die absolutistischen Herrschaftsträger mit dem König an der Spitze sehen sich als rechtmäßige Hüter der beiden heiligen Stätten des Islam und stellen die öffentliche und private Ausübung anderer Religionen unter Strafe 33 . Die politischen Prozesse werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne die Zulassung von Strafverteidigern durchgeführt. Die drakonischen Strafen reichen von der Auspeitschung bis zur Amputation von Gliedmaßen und zur öffentlichen Enthauptung. Auch die gesamte Erziehungs- und Bildungskultur des Landes ist aussschließlich 'monoislamisch' geprägt. Eine omnipräsente und wenig zimperliche 'Religionspolizei' (Mutawin) überwacht und kontrolliert die strenge Einhaltung der 'islamischen Regeln' im Sinne der "Reinhaltung des Islam". Nach Angaben von "Kirche in Not - Italienisches Sekretariat" 34 befinden sich in Saudi Arabien ca. 6 Millionen ausländische Arbeitskräfte, von denen ca. 10 Prozent Christen sind und davon allein 400.000 Phillipinos. Westliche Christen, die bei irgendeiner Form nichtislamischer Religionspraxis ertappt werden, "werden festgenommen und ausgewiesen; die Christen aus der Dritten Welt werden häufiger überwacht, auf sie wird mit physischen und psychischen Schikanen Druck ausgeübt, und sie werden gezwungen, Muslime zu werden bzw. wieder zu werden. Christen, die sich weigerten, ihrem Bekenntnis abzuschwören, sind unter dem Vorwand eines Rechtsbruchs zum Tode verurteilt und exekutiert worden ... Die Todesstrafe, die nach sexueller Vergewaltigung vorgesehen ist, wird an Muslimen, die sich an philippinischen Frauen vergangen haben, nicht vollstreckt."

Die einheimischen Frauen sind aus der Öffentlichkeit faktisch verbannt. "Öffentliche Verkehrsmittel besitzen eigene Frauenabteile, Museen und Parks werden von Männern und Frauen getrennt, zu verschiedenen Zeiten aufgesucht. Es ist undenkbar, dass eine Frau einen Beruf ausübt, der sie mit fremden Männern zusammenbringt. So sind auch nur 5,5 % der Frauen im arbeitsfähigen Alter als Lehrerinnen (für Mädchen) und im Gesundheitswesen (für Frauen) tätig" (Barth/Schliephake 1998, S.35). Zudem gilt ein striktes Autofahrverbot für Frauen. Als am 6. November 1990 siebzig saudische Frauen mit Autos in die Innenstadt von Riad fuhren, um gegen das geltende Fahrverbot zu protestieren, wurden sie von breiten Teilen der saudischen Bevölkerung als "kommunistische Huren" beschimpft 35 , ihres Arbeitsplatzes verwiesen und bestraft (vgl. Kepel 2002, S.266).

Im Sinne einer mechanistisch-deterministischen Auffassung müsste nun dieser repressiv-diktatorische 'Überbau' einer entsprechend rückständigen ökonomischen Basis korrespondieren. In Afghanistan unter dem Taliban-Regime mag dieses Erklärungskonzept noch vordergründige Plausibilität für sich verbuchen. Das Gegenteil ist aber in Saudi-Arabien der Fall: Dieses Land verfügte als weltweit größter Rohölexporteur und tonangebende OPEC-Nation lange Zeit nicht nur über eine florierende Wirtschaftsentwicklung, sondern darüber hinaus über eine in vielerlei Hinsicht ausgezeichnete Infrastruktur, die von einer komplett freien medizinischen Versorgung bis hin zu einem autobahnähnlichen Straßennetz reicht. Dem untergegangenen "realsozialistisch"-diktatorischen Versorgungsstaat nicht unähnlich, unterfüttert das saudische Herrscherhaus seine innere Stabilisierungspolitik mit breiten Versorgungsleistungen für das Volk, "das sich so seinen politischen Partizipationswillen abkaufen läßt. ... Der Versorgungsapparat hat nicht nur klassische Sozialstaatsaufgaben lange Zeit zum Nulltarif erfüllt, sondern auch für spottbillige Inlandsflüge gesorgt und für Telefon-, Strom- und Wassertarife, die zur Verschwendung förmlich einluden. Frisch gepresste Fruchtsäfte ebenso wie Benzin gab es lange Zeit unter Herstellungskosten" (Hertog 2001, S. 37). Aufgrund einer extremen Bevölkerungsexplosion mit einer jährlichen Steigerungsrate von 3,5 Prozent hat sich allerdings eine ständig steigende Arbeitslosigkeit eingestellt, die bei ca. 30 Prozent liegen soll. Auch infolge der unter Druck geratenen Erdölpreise ist das Pro-Kopf-Einkommen von 28.600 Dollar im Jahr 1981 auf gut 8000 Dollar heute gefallen. Obwohl damit die "fetten Jahre" durch einen sozialökonomischen Regressionsprozess abgelöst worden sind, scheint dennoch die landesübliche Wohlstandsmentalität vor dem Hintergrund von sechs Millionen Gastarbeitern vornehmlich aus Indien, Pakistan und den Philippinen 36 noch ungebrochen zu sein. "Als die Regierung jetzt versuchte, ihre verwöhnten Landsleute, wenn nicht zum Kellnern und Putzen, doch wenigstens als Taxifahrer zu gewinnen, stieß sie auf Desinteresse - so schlecht geht es den Verwöhnten noch nicht, dass sie sich zu Dienstleistungen herabließen" 37 .

Während in den 50er und 60er Jahren ausländische Arbeitskräfte vornehmlich aus den arabischen Nachbarstaaten (Ägypten, Jemen, Syrien etc.) rekrutiert wurden, kamen seit den 70er Jahren zunehmend Arbeitsimmigranten aus dem südostasiatischen Raum (Indien, Pakistan, Bangladesh, Pilipinnen, Südkorea und später auch aus Thailand, Sri Lanka und Indonesien) in die Golfstaaten. Deren Überweisungen in die Herkunftsländer sind mittlerweile zu einem wesentlichen ökonomischen Faktor avanciert. "Auf den Philippinen sind die Devisen der Auslandsarbeiter für die Wirtschaftspolitik der Regierung von entscheidender Bedeutung, um das Handelsbilanzdefizit unter Kontrolle zu halten und um die Einfuhren zu finanzieren" (Anderson, zit. n. Arlacchi 2000, S.181). Ein deutlicher Ausdruck für den saudi-arabischen 'Sozialrassismus' ist der Tatbestand, dass mit Ausnahme der höheren Beamten aus den arabischen Nachbarländern alle anderen Gastarbeitergruppen mit Absicht nicht in die Gesellschaft integriert sind. "Obwohl man z. T. schon seit 30 Jahren mit den Ausländern lebt und ihnen fast die gesamten körperlichen Arbeiten überlässt, glauben die Saudis, dass deren Massierung nur eine vorübergehende Erscheinung sei. Der Zuzug von Frauen bzw. kompletten Familien wird in der Regel unterbunden, die Arbeitskräfte sollen jederzeit ohne Umstände zurückzuschicken sein" (Barth/Schliephake 1998, S.37).

Kennzeichnend für die saudi-arabische Gesellschaft ist folglich die Koexistenz von - wenn auch hierarchisch ungleich verteilten - ökonomischem Reichtum, einem relativ hohen Niveau sozialer Grundversorgung, einer absolutistisch-diktatorischen Staatsform mit ausgeprägt totalitär-repressiven Zügen und einer strengen islamistischen Ordnungsideologie wahhabitischer Prägung. Die zentrale Rolle der wahhabitischen Lehre als spezifische Form des islamischen Fundamentalismus in Saudi-Arabien geht zurück auf das Bündnis von Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703/4-1792) und dem Stammesführer Muhammad ibn Sa d, dem die rigide Lehre al-Wahhabs als Legitimation von Repressionsmaßnahmen gegenüber unbotmäßigen Teilen des eigenen Stammes sowie benachbarter Stämme herrschaftsstrategisch nützlich erschien. Nach der Lehrmeinung al-Wahhabs ist gegen jeden, der sich nicht an die strengen Regeln des islamischen Monotheismus hält und - damals noch recht verbreitet - polytheistische Kulthandlungen begeht bzw. sich als Ungläubiger entpuppt, pflichtgemäß Krieg zu führen. "Da nun diese (inkriminierten, H.K.) Handlungsweisen zur Volksreligion gehörten und weit verbreitet waren, folgte daraus, dass Krieg so lange nahezu gegen jedermann geführt werden konnte, bis diese Leute den Monotheismus wahabbitischer Prägung annahmen und sich selbstverständlich der Herrschaft der Emire der Familie Sad unterwarfen. Gleichzeitig konnten die Krieger der Saudis das Gefühl haben, dass sie einer religiösen Pflicht genügten und unmittelbar ins Paradies eingehen würden, wenn sie auf dem Schlachtfeld umkämen" (Peters 1991, S. 97). Hatte sich die erste Herrschaft der Saudis bis zum Tod von al-Wahhab 1792 bereits über den größten Teil der Arabischen Halbinsel ausgedehnt, ging diese dann 1818 durch den Eroberungsfeldzug des osmanischen Statthalters von Ägypten unter. Erst in den 1920er Jahren eroberte Abdulaziz Ibn Abdul Rahman bin Faisal as-Saud das heutige Saudi-Arabien und ließ sich 1932 zum König ausrufen, während die geistliche Macht auch heute noch immer in beträchtlichem Maße in den Händen der Familie al-Wahhabs liegt. In der Praxis folgen die Wahhabbiten weitestgehend der hanbalitischen Rechtsschule, weichen aber in einigen Grundsätzen davon ab. So ist für sie Rauchen ein strafbares Verbot gleich dem Alkoholkonsum. Untersagt sind zudem Bartscheren und Benutzen des Rosenkranzes, während es für jedermann unhintergehbare Pflicht ist, am gemeinschaftlichen Freitagsgebet (î alªt) teilzunehmen. "Schließlich, und das ist politisch äußerst folgenschwer, sind sie der Auffassung, dass all jene, die die îalª t nicht ausüben und keine Almosensteuer (zak ªt) entrichten, schon allein dadurch Ungläubige seien und dafür getötet werden könnten. Dies widerspricht der Ansicht der Mehrheit der Gelehrten, die meinen, das träfe nur dann zu, wenn der Beschuldigte auch die Verpflichtung verneine, die îalª t zu vollziehen und die zak ªt zu entrichten" (ebenda, S. 98).

De facto ist Saudi-Arabien nicht nur ein führendes erdölexportierendes und waffenimportierendes Land 38 , das fest in den globalen kapitalistischen Reproduktionskreislauf integriert ist, sondern auch ein Hauptexportland für radikal-islamistische Ideologie in Gestalt des wahabbitischen Fundamentalismus . Unter dem Deckmantel "frommer Spenden" für den Bau von Moscheen , Koranschulen oder für muslimische Kultureinrichtungen wird weltweit die Predigt und Auslegungshoheit des wahabbitischen Islam in den gesponserten Einrichtungen durchgesetzt und forciert. So kritisierte der kuweitische Ex-Staatsminister und islamische Rechtswissenschaftler Sajjid Jussuf al-Rifai den saudi-arabischen Export des Wahabbismus und die ins Ausland mitgeschickten fundamentalistischen Propagandisten folgendermaßen: "Ihr habt sie mit großzügigen Gehältern überhäuft, Büros für sie eröffnet und ihnen alle Möglichkeiten zur Verfügung gestellt. So wurde Aufruhr erzeugt. Sie sind wie Zeitbomben, von euch geladen und angefüllt mit üblen Verdächtigungen und abgrundtiefem Hass, wodurch die Länder des Islam, besonders in Afrika und Asien, zu Schlachtfeldern gegensätzlicher Meinungen unter den Muslimen wurden." 39 Ein markantes und prominentes Beispiel für den saudi-arabischen Ideologieexport ist Afghanistan: "Fast vier Milliarden US-Dollar offizielle Hilfe erhielten die Mudschaheddin zwischen 1980 und 1990 - die inoffiziellen Spenden islamischer Wohlfahrtsorganisationen und Stiftungen sowie Gelder aus den Privatschatullen von Prinzen und Moscheenkollekten nicht gerechnet" (Rashid 2001, S. 318). Unter dem Einfluß der wahabbitischen Rechtsgelehrten gewährleisteten die saudi-arabischen Herrscher die umfangreiche und systematische Unterstützung der Taliban, lieferten Gelder, Fahrzeuge und Treibstoff für den erfolgreichen Angriff auf Kabul, während die Taliban ihrerseits das saudische Modell der Religionspolizei übernahmen, grundlegende Inhalte des wahabbitischen Fundamentalismus adaptierten und ihre Freundschaft bekundeten: "Da Saudi-Arabien das Zentrum der muslimischen Welt ist, wünschen wir uns den Beistand der Saudis. König Fahd hat sich zufrieden über die Maßnahmen geäußert, die von den Taliban vorgenommen wurden, sowie über das Verhängen der Scharia in unserem Land" (zit. n. ebenda, S. 324), sagte der Talibanführer Rabbani.

Saudi-Arabien ist damit ein herausragendes Beispiel für die Synthese von 'moderner' und 'prämoderner' Herrschaftskultur. Einerseits fest in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem integriert, wirkt es gleichzeitig - gestützt auf seine weltwirtschaftliche Machtstellung - als globaler Förderer und Finanzier des islamischen Fundamentalismus. Dabei bilden ein komplexes Bankensystem sowie ein Netzwerk aus Firmen, politischen und pseudokaritativen Einrichtungen die zentralen Stützpfeiler dieses expansiven Islamismus. So wurde und wird ein beträchtlicher Teil der Profite aus dem Erdölgeschäft unmittelbar in die Unterstützung der multidimensionalen Aktivitäten des islamischen Fundamentalismus einschließlich der palästinensischen Märtyrerindustrie reinvestiert. "Praktisch sämtliche Islamistennetzwerke im Nahen Osten, in Afrika und in der westlichen Welt wurden so vom saudi-arabischen Staat und über den Umweg der von ihm kontrollierten internationalen islamischen Institutionen finanziert: die Organisation der islamischen Konferenz (gegründet 1970), die Islamische Weltliga (NGO mit missionarischer Zielsetzung, gegründet 1962) und vor allem die saudi-arabischen Holdings und Banken, wie die Faisal Islamic Bank, die Dar-al-Mal oder die Dallah al-Baraka. Parallel dazu vervollständigen die Privatinitiativen der al Saud und der Prinzen des Königreichs das Gerüst seiner 'muslimischen Diplomatie'" (Brisard/Dasquié 2002, S. 92). Wurden die Nazis in ihrer Aufstiegsphase gezielt aus Kreisen der deutschen Großindustrie und des Großgrundbesitzes gefördert und unterstützt, so ist der islamisch-sunnitische Fundamentalismus in seiner organisatorischen Breite, propagandistischen Präsenz, logistischen Kapazität und militanten Stärke undenkbar ohne die hinter ihm stehenden Familienclans der saudi-arabischen Oligarchie 40 . "Osama bin Laden ist lediglich das Symbol für die wichtigsten religiösen und finanziellen Interessen, die auch die Grundlage für die Zukunft des saudi-arabischen Systems bilden. Die Netzwerke, die ihn unterstützen, ... seien es islamische Banken oder karitative Einrichtungen, sind auf Dauer angelegt, und es ist eher unwahrscheinlich, dass sie mit Osama bin Laden verschwinden" (ebenda, S. 108).

Saudi-Arabien ist nur ein, wenn auch relevantes, Beispiel für die wechselseitige Anpassungs- und Durchdringungsfähigkeit 'moderner' kapitalistischer und traditionaler Herrschaftskultur zu Lasten der beherrschten und entmündigten Bevölkerungsgruppen. So zeigt sich im Globalisierungsprozess zunehmend, dass kapitalistische Profitwirtschaft auch und gerade im Rahmen nichtwestlich-'prämoderner' (neodespotischer) Herrschaftsstrukturen gedeiht, während andererseits die traditionalistischen Herrschaftseliten die Implementierung kapitalistischer (Re-)produktionszusammenhänge gewinnbringend in ihr überliefertes Macht- und Legitimationsinstrumentarium einzuverleiben vermögen. Der 'antiwestliche Reflex' ist hier weitestgehend nicht ökonomischer/antikapitalistischer Natur, sondern gegen die herrschaftslabilisierenden Grundinhalte der kulturellen Moderne (Menschenrechte, Demokratie, Säkularisierung, individuelle Emanzipation, Rechtsstaatlichkeit etc.) gerichtet.

Gemäß dieser Logik bildete sich im Zuge der gigantischen Einnahmen aus den Ölgeschäften und vor dem Hintergrund einer daraus hervorgehenden Überakkumulation von Geldkapital im arabischen Raum auch das sog. Islam_Kapital 41 heraus, "ein Netzwerk von Banken, Versicherungen, Immobilienfirmen, Sparkassen etc. in den Golfstaaten und in Ägypten, später auch mit Niederlassungen im Ausland (London, Dänemark, Schweiz), wobei sich der Schwerpunkt tendenziell vom Industrie hin zum Handels- und Geldkapital verschob" (Alnasseri 2001, S.568). Im Kern ist das "Islam-Kapital" eine Assoziation von Kapitalfraktionen, die durch einen speziellen politisch-ideologischen, nämlich islamistischen Kitt zusammengehalten werden. Im Einzelnen besteht das spezifisch 'Islamische' dieses Kapitalformation vor allem in folgenden Aspekten:

1) Zum einen ist es erforderlich, das koranische Zinsverbot durch diverse institutionelle, diskursive und finanztechnische Praktiken zu umgehen, z. B. durch bloße sprachliche Umetikettierung von 'Zins' in 'Preis', 'Dividende' bzw. 'Gewinnbeteiligung' oder aber die Übertragung von Spekulationsgeschäften an ausländische Geldinstitute etc.

2) Der Islam-Code wird als identifikations- und damit geschäftsförderndes Markenzeichen inszeniert und fungiert somit "als ein ideologisches Moment der Regulation des Geldes und der Konkurrenz. Er wird so zu einem 'Standortvorteil' des nichtmonopolistischen Kapitals in der Konkurrenz gegen die mit dem Staat verbundene Kompradorenbourgeoisie und das ausländische Monopolkapital" (ebenda).

3) Mit Hilfe der Inszenierung eines islamischen "Markenflairs" zwecks Abgrenzung vom ausländischen und monopolistischen (staatsnahen) Inlandskapital versucht das "Islam-Kapital" 42 eine klassen- und schichtendifferenzierte islamistische Konsum- Reproduktionsnorm zu erzeugen und zu bedienen, deren Angebotspalette "von der Textilindustrie, über Modehäuser, Werbeagenturen, Design- und Verkaufszentren bis hin zur (öffentlichen wie privaten) Raumgestaltung reicht." Dabei "werden die Konsumgewohnheiten und Waren für die bürgerlichen und aristokratischen Klassen von renommierten Industrien und Modehäusern in den Zentren (Paris, London, Rom etc.) produziert, die für das Kleinbürgertum in der Semiperipherie (Taiwan, Singapur, Dehli etc.) und die für die Bauern und LohnarbeiterInnen hausindustriell und lokal" (ebenda, S.570).

Als konservativer Block einheimischer Kapitalfraktionen, der breite Teile der kleinen Warenproduzenten und des neuen Kleinbürgertums hegemoniert, ist das "Islam-Kapital" mit seiner kulturspezifischen Vermarktungs- und Verwertungsstrategie ein relevanter klassenpolitischer Träger und Förderer des islamischen Fundamentalismus.


Globalisierung, multipolare Herrschaftskonkurrenz und das Problem praktisch-kritischer Subjektentwicklung

Als technologisch gestützte Beschleunigung und Verdichtung von vielfältigen Interaktions-, Austausch-, Bewegungs- und Kommunikationsprozessen in den Bereichen Ökonomie, Massenmedien, (Nachrichten/Information), Transport, Verkehr etc. ist 'Globalisierung' die praktische Verwirklichung einer instrumentell erweiterten Handlungsmöglichkeit in Abhängigkeit von einer funktionsadäquaten Ressourcenausstattung (Geld, Verfügungsmacht, Wissen etc.). D. h.: 'Globalisierung' ist das Tätigkeitsresultat von privilegierten Akteuren, die in ihren instrumentellen Verfügungsmöglichkeiten effizienter geworden sind. Bei näherer Betrachtung handelt es sich bei diesen Akteuren um konkurrierende Herrschaftssubjekte in ihrem (erweiterten) Streben nach Profitmaximierung, Herrschaftsexpansion und Privilegienbehauptung. Auf diese Weise wird der innergesellschaftliche und regionale Konkurrenzkampf zunehmend 'internationalisiert' und damit die "Anarchie der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen" auf globaler Ebene redynamisiert. Die Verdichtung und Beschleunigung der multiplen Austausch- und Interaktionsprozesse, d. h. die wachsende Interdependenz, führt somit nicht - entgegen der neoliberal aufgewärmten Ideologie von der nunmehr global wirkenden 'invisible hand' des Marktes - zu tendenzieller Harmonisierung, Angleichung und Verschmelzung, sondern zu einer z. T. chaotischen und gewaltförmigen Multipolarität 43 . So kollidieren nicht nur die Interessen transnationaler Konzerne, Kapitalfraktionen, Wirtschaftsblöcke etc., sondern ebenso die Strategien regionaler Hegemonialmächte und traditionaler Herrschaftskulturen mit den Expansionsinteressen des von der kulturellen 'Moderne' zunehmend abgekoppelten kapitalistischen Westens. 'Globalisierung' korrespondiert folglich mit der Vertiefung und Redynamisierung herrschaftskultureller Gegensätze und Rivalitäten als ursächliche Basis der neuen Weltunordnung, wie sie sich nach dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der bipolaren Blockkonfrontation herausgebildet hat. Im einzelnen lassen sich drei widersprüchliche kulturell-weltanschauliche Grundströmungen 44 unterscheiden:

1) Der wirtschaftlich, technologisch und militärisch dominante Block der 'modernen' kapitalistischen Herrschaftskultur , wie er sich momentan in Gestalt des kosmopolitisch-utilitaristischen Neoliberalismus präsentiert.

2) Der antiwestliche Block der traditionalen Herrschaftskulturen, der religiöse, ethnizistische, nationalistische und poststalinistische Ideologien als Abwehr- und Legitimationsinstrumentarien einsetzt, während er andererseits kapitalistische (Re-)Produktionsstrukturen assimiliert.

3) Der säkular-humanistische Block emanzipatorisch-herrschaftskritischer Bewegungen, der in aktualisierender Anknüpfung an die Grundinhalte der kulturelle 'Moderne' für eine Überwindung der kapitalistischen und traditionalen Dominanzverhältnisse und Herrschaftsstrukturen eintritt.

Während die ersten beiden 'Herrschaftsblöcke' ein komplexes, dialektisches Beziehungsgefüge aufweisen und in ihren Interessenkämpfen über staatliche Macht verfügen, fungiert der säkular-humanistische Block als "bloße" intellektuelle und praktische Oppositionsbewegung. Jede Zurückdrängung/Überwindung lokaler/regionaler Herrschaftsstrukturen ist ein Erfolg dieser weltweiten Strömung.

Ein zentraler Ausdruck der neuen Weltunordnung und der ihr zugrunde liegenden multipolaren Herrschaftskonkurrenz ist das Auseinanderfallen von Dominanz (ökonomische, technologische und militärische Überlegenheit) und Hegemonie (ideell-normative 'Führung'). Zwar verfügt der kapitalistische Westen über eine wirtschaftlich und militärisch überlegene Herrschaftskapazität, aber aufgrund seiner blockinternen Interessendiffusion und insbesondere wegen seiner geistig-moralischen 'Entkernung' nicht über die Fähigkeit, die "Weltgesellschaft" politisch, sozial und geistig-kulturell zu integrieren. Andererseits weisen die traditionalen Herrschaftskulturen, die über ein riesiges Territorium gebieten und über enorme Menschenmassen 'Bio-Macht' ausüben 45 , eine bislang äußerst resistenzfähige 'Binnenhegemonie' auf. Die Folge dieser global wirksamen Doppelherrschaft von kapitalistischer Ausbeutung und traditionaler Unterdrückung und Entmündigung ist die Entstehung von hybriden Strukturen unmenschlicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Im einzelnen kommt es hier zur strukturellen Verflechtung von folgenden gesellschaftlichen Konstitutionsmomenten:

a) eine z. T. explosive Bevölkerungszunahme in nichtwestlichen Herrschaftsgebieten;

b) eine beschleunigte Verarmung von breiten Teilen der Landbevölkerung aufgrund der globalisierungsbedingten Modernisierung des Agrarsektors;

c) die Entstehung einer multinationalen Reservearmee überschüssiger Arbeitskräfte, die als mittellose Pauper in die urbanen Zentren drängen und dort leichte Beute für diverse Formen legaler, halblegealer und krimineller kapitalistischer Ausbeutung bis hin zu neuer Sklaverei werden;


d) die Fortdauer sozioökonomischer und kultureller Rückständigkeit in Gestalt von fehlender Sozial-, Kranken- und Altersvorsorge, einer hohen Zahl von Analphabeten, generell einem geringen Grad an Bildung und der Vorherrschaft einer erzieherischen Gehorsamskultur (Memorieren statt Nachdenken);

e) überkommene Herrschaftsbeziehungen zwischen den aristokratischen, bürgerlichen und staatsbürokratischen Oberschichten einerseits sowie den verschiedenen Klassen und Schichten (Kasten) der Subalternen andererseits, in enger Verbindung mit patriarchalischen, ethnischen, stammesbezogenen etc. Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen;

f) eine korrupte Bürokratie und despotisch agierende Sicherheitsorgane sowie

g) eine die materielle und kulturelle Rückständigkeit zugleich ausnutzende und befestigende religiöse Legitimationsideologie mit dem herrschaftsstabilisierenden Effekt, die subjektiven Widerspruchsverarbeitungsprozesse innerhalb der subalternen Masse in eine regressive/irrationalistische Richtung zu kanalisieren. 46

Von ganz entscheidender Bedeutung ist in diesem Kontext der sozialisatorische Einsatz des Religiösen als Erzeugungsmittel untertäniger Subjektivität bzw. die Verinnerlichung religiöser Überzeugungen als Grundmechanismus subjektiver Herrschaftsreproduktion.

Ein konkretes Beispiel für diese hybride Herrschaftsverflechtung bietet die Struktur der thailändischen Sexindustrie. Der Ansatzpunkt für die Rekrutierung von Sexsklavinnen liegt hier in folgender Konstellation: Aufgrund eines rapiden ökonomischen Aufschwungs zwischen Mitte der 70er und Ende der 90er Jahre stiegen die Einkommen in den rasch industrialisierten Regionen um Bangkok, während der ländliche Norden zurückblieb 47 . Die neu angebotenen Konsumgüter (Fernsehgeräte, Kühlschränke, Autos, Klimaanlagen etc.) weckten allerdings auch die Begehrlichkeit der Landbewohner und stimulierten deren soziale Aufstiegswünsche. Andererseits führte die gravierende Einkommensverbesserung in den Städten zu einer erhöhten Nachfrage nach Prostituierten. Die "neureichen" städtischen Arbeiter konnten "möglicherweise jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben das tun, was bessergestellte Thai-Männer schon immer gemacht haben, nämlich ins Bordell gehen" (Bales 2001, S.60). Für die ländlichen Familien des Nordens ergab sich daraus wiederum die Möglichkeit, ihre neu entfachten Konsumwünsche zu befriedigen: nämlich durch den Verkauf von Töchtern. "Wie eine kürzlich durchgeführte Untersuchung in den Nordprovinzen ergab", schreibt Bales (2001, S.59f.), hätten zwei Drittel der Familien, die eine Tochter verkauften, dies finanziell nicht nötig gehabt, doch 'sie zogen es vor, sich Farbfernseher und Videorecorder anzuschaffen'. Und aus der Sicht von Eltern, die nichts dabei finden, ihre Kinder zu verkaufen, waren die Marktchancen nie günstiger." Auf diese Weise gelangten zahlreiche Mädchen und junge Frauen in die städtischen Bordelle und damit in die unmenschlichen Fänge der thailändischen Sexindustrie 48 .

Um die Konstitution der thailändischen Sexindustrie zu verstehen, reicht freilich eine ökonomische Betrachtungsweise nicht aus. Von wesentlicher Bedeutung ist zudem die Aufhellung des historisch gewachsenen kulturellen Hintergrundes. So ist die Thai-Kultur durch die lange währende Tradition einer absolutistischen Monarchie geprägt, in deren starr-hierarchischen Herrschaftsrahmen der individuelle Status am Landbesitz und an der Anzahl von Frauen (Gattinnen, Maitressen, Konkubinen) abgelesen wurde 49 . Es sind diese historisch überkommenen Muster von Konkubinat und Polygamie als Formen sexueller Ausbeutung, die im Zeichen der kapitalistisch dominierten Versklavung zu profitablen Geschäftszweigen "umgebaut" wurden und kaufkräftige Touristen anlocken sollen. "Mit Unterstützung der Regierung 'modernisierte' man den herkömmlichen Mißbrauch von Frauen und weitete ihn gewaltig aus" (ebenda, S.105). Darüber hinaus liefert der thai-spezifische Buddhismus die religiöse Rechtfertigung und erforderliche subjektive Präparierung für den Verkauf von Töchtern sowie deren Fügsamkeit. Zum einen sind die Frauen in diesem legitimationsideologischen Diskurs gegenüber den Männern eindeutig minderwertig, da sie nie die 'Erleuchtung' als höchstes Ziel jedes Gläubigen erlangen können. Nach Buddha gelten Frauen als unrein, 'sinnlich' und verderbt. Frau-Sein kann sogar als Zeichen für schwere Sündhaftigkeit im vorherigen Leben angesehen werden. Zudem billigen die buddhistischen Schriften explizit die Prostitution. "Sex gilt gemäß diesen Glaubensvorstellungen nicht als Sünde, sondern als Verhaftetsein mit der physischen und natürlichen Welt, der Welt des Leiden s und der Unwissenheit. Das schließt ein, dass man den sexuellen Akt, wenn er denn sein muß, möglichst unpersönlich vollzieht" (ebenda, S.57). Zum anderen artikuliert der Thai-Buddhismus eine fatalistische Leidensmoral. Schmerz, Demütigung, Unterdrückung etc. muß vom Einzelnen hingenommen werden, da Negatives prinzipiell als Folge selbstverschuldeter Sünden im jetzigen oder vorangegangenen Leben angesehen wird. Die gleichmütige Annahme des vorherbestimmten Schicksals, des Karmas, einschließlich des geduldigen Leidens, ist Voraussetzung für die 'Erleuchtung' 50 . Eignet sich damit der Thai-Buddhismus bereits vorzüglich zur sozialisatorischen Reproduktion von Sklaven- und Untertanenmentalität, so wird er in seiner diesbezüglichen Wirksamkeit noch durch die patriarchalische Familienideologie verstärkt: "Die Kinder der Thai, insbesondere Mädchen, stehen tief in der Schuld ihrer Familie; diese Verpflichtung ist sowohl kosmisch als auch physisch begründet. Geboren zu sein ist allein schon ein großes Geschenk; dazu kommt, dass man ernährt und aufgezogen wird; beides erfordert lebenslange Rückzahlung. Seit jeher erwartete man in Thailand von Mädchen, umfassend zum Familieneinkommen beizusteuern und ihre Schuld abzutragen. Im Extremfall bedeutet das eben, in die Sklaverei verkauft und so zum Wohl der Familie geopfert zu werden" (ebenda, S.58).


Angesichts der strukturell diffusen und konfliktreichen Aufgespaltenheit der Welt in zugleich multipolare und sich wechselseitig durchdringende Herrschaftsformationen mit entsprechend fragmentierten Formen von Ausbeutung, Unterdrückung und Entmündigung, führen 'linearistische'/homogenisierende "One-World"-Diskurse unter diesen oder jenen Vorzeichen in die Irre. 'Globalisierung' ist kein einseitiger, nur in eine Richtung verlaufender Prozess, sondern ein 'richtungspluraler', diversifizierender, Unterschiedlichkeiten und Abgrenzungen erzeugender Vorgang, an dem die widerspüchlichsten Akteure beteiligt sind. D. h. 'Globalisierung' impliziert in einer Welt multipolarer zwischenmenschlicher Herrschaftsbeziehungen eine 'Explosion der Dialektik'.

Vor diesem Hintergrund der globalen Weltunordnung stellt sich natürlich erneut die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen revolutionärer Subjektivität. Welche objektiven und subjektiven Bedingungen müssen erfüllt sein, damit große Menschenmassen zielbewußt und -koordiniert in Bewegung geraten, um bestehende (problemerzeugende und krisenverschärfende) Gesellschaftsstrukturen radikal umzuwälzen? Anstatt nun dieses zentrale Problem mit der gebotenen begrifflich-analytischen und methodischen Klarheit zu behandeln 51 , verfallen Hardt/Negri in ihrem viel beachteten "Empire" 52 in eine pseudowissenschaftlich aufgespreizte 'Liturgie der Menge'. Als Ersatz für den untergegangenen parteikommunistischen "Proletariatsmythos" wird von ihnen der neue Mythos der postmodernen 'Menge' als unaufhaltsames Subjekt der globalen Revolution beschworen. Mit geradezu wirklichkeitsentrückter Phantastik wird die aktuelle Realität im Sinne dieses neomythologischen Wunschdenkens 'zurechtgebogen': "Heute, in der Phase der Arbeitermilitanz 53 , die den post-fordistischen Produktionsregimen korrespondiert, entsteht die Figur des gesellschaftlichen Arbeiters . In ihr werden die verschiedenen Fäden immaterieller Arbeitskraft miteinander verwoben. Die Forderung des Tages richtet sich auf eine konstituierende Macht, die Massenintellektualität und Selbstverwertung in allen Bereichen der flexiblen und nomadischen sozialen Produktionskooperation miteinander verknüpft" (Hardt/Negri 2002, S.416). Mit dem Übergang zur immateriellen Arbeit sei die faktische Entmachtung des Kapitals als bestimmende und regulierende Instanz des Produktionsprozesses bereits im Prinzip vollzogen. Den phasenübergreifenden Tatbestand der Aneignung der produktiven/kreativen Potenzen des gesellschaftlichen 'Gesamtarbeiters’durch das Kapital verfälschen Hardt/Negri unter der Hand zum Indikator für die angeblich schon realisierte Subjektwerdung der Menge: "Unternehmertum organisiert sich über die Kooperation von Subjekten und über den 'General Intellect'. Damit betritt die Organisation der Menge als politisches Subjekt, als posse 54 die Weltbühne. Die Menge, das ist biopolitische Selbstorganisation" (ebenda, S.417). Damit erheben Hardt/Negri gerade die retardierende, obsolete, 'falsche' Seite der marxistischen Theorietradition zu ihrem theoretischen Programm: nämlich die materialistische Umstülpung/Reformulierung der Teleologie, d. h. die 'eschatologische' Eliminierung der Geschichte als offener, kontingenter Prozeß im Sinne der dramatischen Alternative: Aufhebung der Entfremdung oder Barbarei. Als 'garantierendes' Unterpfand dieses neoteleologischen Geschichtsdenkens wird die "schlummernde Potenz" der 'Multitude' (wieder-) beschworen, anstatt die Welt bzw. die globale Realität als widersprüchliches Handlungsfeld, angefüllt mit zahlreichen dialektischen Möglichkeiten und ebenso vielen koexistierenden Behinderungen, Hemmnissen, Gegenläufigkeiten für erfolgreiche kritische Praxis zu analysieren und die negative (heute sehr reale) Möglichkeit der Verkümmerung des gesamtmenschlichen Kreativitätspotentials unter dem Bewegungsgesetz des Kapitals und in Verbindung mit noch wirkungsmächtigen 'prämodern' konstituierten Herrschaftsstrukuren angemessen in Rechnung zu stellen. Im Endeffekt führt Hardt/Negris pseudorevolutionäre 'Religion der Menge' damit zur Ablenkung von der heute kardinalen Problemstellung: Wie läßt sich angesichts der global wirksamen und sich bizarr verzahnenden Doppelhegemonie von McWorld, d. h. der spätkapitalistisch-konsumistischen Massenkultur des Habens, und Dschihad, d. h. dem neototalitären Geltungsanspruch religiöser Lebensformierung, der Prozeß der 'Katharsis' (Gramsci), also die kritisch-emanzipatorische Selbstbewusstwerdung der höchst unterschiedlich beherrschten Menschen theoretisch begreifen und praktisch in Angriff nehmen? Revolutionäre Subjektwerdung setzt stets den 'bewussten Bruch' mit herrschaftsbegründender und alltagskulturell verankerter Ideologie (Denkweisen, Normen, Wertorientierungen, Regeln etc.) voraus. In Anbetracht der weltweiten Koexistenz von spätmoderner/bürgerlicher und traditionaler Herrschaftsideologie bedeutet das für die sich neu formierende säkular-humanistische Fortschrittsbewegung, im Sinne Gramscis einen kritisch-aufklärerischen 'Stellungskrieg' an beiden Fronten zu führen und sich nicht auf a priori gegebene teleologische Prinzipien zu verlassen.


© Hartmut Krauss, Osnabrück 2002


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Wittfogel, Karl August: Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. Köln 1962.



Anmerkungen:

1 Gefragt sind heute nicht mehr 'monotheoretische' (ökonomische oder politologische oder kulturhistorische etc.) Sichtweisen, sondern ganzheitlich-konstitutionstheoretische Analysen mit interdisziplinärem Charakter.

2 So ist z. B. das durch Genitalverstümmelung und durch die Anwendung der islamischen Scharia erzeugte menschliche Leid nicht aus der 'Globalisierung' ableitbar, ohne deshalb in seiner antihumanen Beschaffenheit weniger bedeutsam zu sein.

3 Die 'kulturelle Moderne' bezeichnet das im neuzeitlichen Geschichtsprozess hervorgebrachte Bedeutungsensemble, das die Fundamente der feudal-ständischen Herrschaftsordnung radikal in Frage stellt und das traditionale Welt- und Menschenbild nachhaltig revolutioniert. Im einzelnen lassen sich folgende Konstitutionsaspekte anführen: Die Zurückdrängung des theozentrischen Weltbildes bzw. die tendenzielle 'Entgöttlichung' des Mensch-Welt-Verhältnisses; die Entkoppelung von Wissen und Glauben, die Trennung von Politik und Religion sowie die Aufdeckung der herrschaftsideologischen Funktion des Religiösen; die grundsätzlich herrschaftskritische Idee des 'freien', zur 'Mündigkeit' befähigten Individuums, die Erklärung der Menschenrechte, das Prinzip der demokratischen Selbstregierung des Volkes sowie die durchgreifende Säkularisierung der Kategorien Wahrheit, Gerechtigkeit, Tugendhaftigkeit, Schönheit, Glück und 'gutes Leben'.

4 Der Tatbestand, dass der gesellschaftliche "Einbau" wesentlicher Momente der 'kulturellen Moderne' gegen den Herrschaftswillen der Bourgeoisie in konkret-historischen Kampfaktionen erfolgte und somit einen 'reversiblen' Charakter besitzt, zeigt sich insbesondere auch darin, dass er beständigen "revisionistischen" Angriffen seitens jener Kräfte ausgesetzt ist, die einen entfesselten "Raubtierkapitalismus" anstreben.

5 Amerika ist ein Sonderfall, da hier keine Überwindung autochton gewachsener Feudalverhältnisse zu vollziehen war.

6 Mit am anfälligsten für die Nazipropaganda waren Kleinbauern, die unter den sich sukzessive ausbreitenden kapitalistischen Verhältnissen in existentielle Bedrängnis gerieten. Diesem "kleinen Bauern, der unter dem Vordringen des Kapitalismus litt, mit seinen Preisproblemen und seinen Hypothekenproblemen, die - wie er sah - von feindseligen Maklern und Bankiers in den Städten kontrolliert wurden, bot die nationalsozialistische Propaganda das romantische Bild eines idealisierten Bauern, des 'freien Mannes auf freier Scholle' (Moore 1969, S. 515.

7 In zahlreichen 'unterentwickelten' Ländern existiert kein staatliches Gewaltmonopol. Das Gewaltmonopol ist hier lokal aufgesplittert und "liegt in den Händen ortsansässiger Polizisten und Soldaten. Man kann sogar sagen, dass diese Übertragung des Gewaltmonopols von einer Zentralregierung auf örtliche Gewalttäter eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass die neue Sklaverei Wurzeln schlägt und blüht und gedeiht. Meist ist dies die Folge eines frontalen Zusammenpralls moderner und traditioneller Lebensweisen" (Bales 2001, S. 46).

8 Auf den für Rußland und China typischen Weg der 'nachholenden' Modernisierung auf 'nichtkapitalistische' Weise in Form spezifischer 'Entwicklungsdiktaturen' (Stalinismus und Maoismus) kann hier nicht näher eingegangen werden. Kennzeichnend ist allerdings auch für diese Fälle eine negatorische Entkoppelung von ökonomisch-technisch-bürokratischer Modernität und 'kultureller Moderne' (was freilich in beiden Fällen legitimationsideologisch abgestritten und phraseologisch überspielt wird) sowie die Adaptierung autochton vorgefundener 'prämoderner' Herrschaftskultur.

9 Die geistige Säkularisierung, d. h. die 'Entgöttlichung' bzw. 'Enttranszendentalisierung' des Mensch-Welt-Bezuges und damit zugleich die delegitimierende Zurückdrängung der (christlichen) Religion als absolutistische Herrschaftsideologie ist als wesentlicher Knotenpunkt dieses Entwicklungsprozesses besonders zu gewichten.

10 Über den archaischen Gemeinwesen stehende politische Gebilde mit der Tendenz zur Herausbildung und Verfestigung von staatlichem 'Machteigentum' entstanden im Kontext hierarchisch geteilter Gemeinschaftsarbeiten. Von herausragender Bedeutung ist hierbei die Entwicklung und Gewährleistung organisierter Bewässerungstechniken zur Intensivierung der regionalen Agrikultur. Neben die unmittelbare horizontale Kooperation zwischen mehreren Dorfgemeinden tritt hier zentrale Organisation und Leitung dieser Arbeiten. "Die unteren Schichten, das heißt die in den ungegliederten Gemeinschaften der Gemeinwesen vereinten Produzenten, verrichten die produktive Arbeit, während die über ihnen stehenden, nicht sehr zahlreichen, aber mit Macht ausgestatteten Oberschichten (Aristokraten, Priester, Krieger, Beamte) und ihre an Zahl zunehmenden Bediensteten (Angehörige des Haushalts, Diener, Sklaven, Handwerker, Händler u. a. ) sich mit der Verwaltung befassen, ohne die die immer komplizierter werdende Struktur schon nicht mehr normal funktionieren kann" (Wassiljew 1989, S.164).

11 An der Spitze der orientalischen Despotie steht ein Herrscher, "der eine persönliche Umgebung (einen Hof) hat, und der seine zahlreichen zivilen und militärischen Dienstleute durch einen Stab von Beamten überwacht und lenkt. Diese Hierarchie, die den Souverän, die Beamtenschaft und die niedrigen Dienstleute umfaßt, ist allen orientalisch despotischen Ordnungen eigentümlich" (Wittfogel 1962, S.383).

12 "Der Herrscher, der die administrative, gerichtliche, militärische und steuerliche Gewalt in seiner Hand vereinigt, kann auf dieser Machtgrundlage die Gesetze so gestalten, wie es ihm und seinen Helfern beliebt" (Wittfogel 1962, S.142).

13 "Eine Regierung ist absolutistisch, wenn ihre Macht nicht wirksam durch außerstaatliche Kräfte beschränkt wird. Der Herrscher eines absolutistischen Regimes ist ein Autokrat, wenn seine Entscheidungen nicht wirksam durch innerstaatliche Kräfte beschränkt werden" (Wittfogel 1962, S.147).

14 In Phasen durch innere und äußere Krisen geschwächter Zentralmacht kommt es zur Herausbildung eines zersplitterten, militärisch gestützten Regional- und Lokaldespotismus konkurrierender Herrscher/Clans.

15 Mit Bezug auf die Gegenwart schreibt Rieland (2002, S.106): "Sowohl in China als auch in der Türkei, wie auch in vielen anderen Ländern, ist das Erziehungswesen nicht so beschaffen, dass es geeignet wäre, für die Entwicklung selbständiger und kritischer Subjekte ein solides Fundament zu legen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass selbständige Individuen als Erziehungsziel nicht vorgesehen sind. In der Ordnung des Alltags, die geprägt ist von Harmonievorstellungen, die dem dörflichen Familienleben nachgebildet sind, gilt als höchster Wert nicht die Entfaltung des Einzelnen, sondern dessen Ein- und Unterordnung ins Große Ganze. dass alle einig sind, jedenfalls nach außen hin: Das ist das Wichtigste. Für Widerspruch und Kritik gibt es in diesem faulen Frieden keinen Raum, für selbständiges Denken also keine Notwendigkeit. Die mächtigste Institution in der sozialen Verfassung beider Länder ist der Familienverband, und vor allem dieser sorgt dafür, dass seine nachwachsende Jugend - auch wenn sie eine Hochschule besucht - nicht auf die falschen Ideen kommt."

16 Während es in der westlich-europäischen Entwicklung im Kontext der kulturellen Modernisierung via Aufklärung, Zurückdrängung des Absolutheitsanspruchs religiöser Kontrollmacht, der Ausdifferenzierung einer individuellen Privatsphäre etc. zur Etablierung der Liebesheirat bzw. der Gattenwahl aufgrund persönlicher Zuneigung kommt, ist dieser Entwicklungsweg in den nichtwestlichen Herrschaftskulturen weitestgehend versperrt. Hier dominiert auch heute noch der Modus der 'versprochenen Zwangsheirat' bzw. der patriarchalisch kontrollierten 'unfreien Gattenwahl'. So "blieben in den meisten muslimischen Ländern Polygamie, Kinderheirat und Scheidung durch Verstoßung gesetzlich und häufig sozial zulässig. Polygamie und Kinderheirat, beide vom Schah abgeschafft, wurden von der Islamischen Republik im Iran wieder eingeführt" (Lewis 2001, S.90). Nach Mitteilung von Frauenrechtsorganisationen werden heute im Niger jedes Jahr zehntausende Mädchen im Alter von 11-13 Jahren zur Hochzeit gezwungen (Neue Osnabrücker Zeitung vom 25.06.2002, S.3).

17 Vgl die Beschreibung der asiatisch-faschistischen Entwicklung Japans zum Kapitalismus in Barrinton Moore 1969.

18 Nachdem die traditionale Herrschaftskultur "die Periode des Schocks überlebt hatte, die mancherorts ein bis anderthalb Jahrhunderte, an anderer Stelle auch nur wenige Jahrzehnte dauerte, begann sie sich zu regenerieren, wobei sie keine geringen Adaptionstendenzen demonstrierte. Charakter und Formen der Anpassung dieser Struktur variieren von Land zu Land erheblich, in Abhängigkeit von den jeweiligen Lebensnormen und -prinzipien, der Kultur und Religion, von der großen traditionellen Zivilisation überhaupt, der man angehört" (Wassiljew 1989, S.168).

19 Vgl Wahdathag 1999, Kepel 2002, Rashid 2001 und verallgemeinernd Krauss (erscheint in Kürze).

20 Gestritten wird nicht pro oder contra absolutistischer Herrschaftsausübung, sondern um deren Legitimationsinhalte und -formen. Der Übergang von der Schahdiktatur zur Diktatur der schiitischen Geistlichkeit im Iran ist ein aufschlussreiches Beispiel für die möglichen Folgen bzw. den Optionsrahmen dieser internen Herrschaftskonkurrenz.

21 "An dem Tag, an dem die Palästinenser institutionalisiert sind", zitieren Hardt/Negri (2002, S.122) den begeisterten Anhänger der palästinensischen Befreiungsbewegung, Jean Genet, "werde ich nicht mehr auf ihrer Seite sein. Sobald die Palästinenser eine Nation wie andere auch werden, werde ich nicht mehr hier sein." Wenn schon, wie Hardt/Negri meinen, mit der Errichtung eines Nationalstaates per se die repressiven Funktionen moderner Souveränität unweigerlich die Oberhand gewinnen, was heißt das dann erst im Kontext ungebrochener prämoderner, durch die Tradition des orientalischen Despotismus und seiner Legitimationskultur geprägter Souveränität?

22 Ein blutiges Lehrstück für die verheerende Auswirkung der Logik "Der Gegner meines Feindes ist mein Freund" bietet das Schicksal der iranischen Tudeh-Partei. Wahdathagh (1999, S.322) schreibt hierzu: "Im Februar 1983 wurde die moskauorientierte Tudeh-Partei und ihre Jugendorganisation, die 'Volksfedajin-Mehrheit', als letzte oppositionelle Organisation verboten. Die Tudeh-Partei stützte sich auf die Positionen eines sowjetischen Entwicklungsstrategen, der Khomeini zwar nicht als einen Sozialisten, aber als einen Antiimperialisten, einen Feind des imperialistischen Feindes schätzte. Die khomeinistische Basis sei die revolutionäre Kleinbourgeoisie, propagierte die Tudeh-Partei. Tatsächlich besteht die soziale Basis der Kaste der herrschenden Geistlichkeit aus den rückständigsten traditionellen Schichten der iranischen Gesellschaft, das Lumpenproletariat eingeschlossen. Mitte Mai 1983 wurden führende Parteimitglieder der Tudeh-Partei, wahrscheinlich unter Drogen, im staatlichen Fernsehsender vorgeführt. Sie bereuten einer 'fremden Ideologie' angehangen zu haben. In den Massenhinrichtungen 1980-82 und 1988 wurden Tausende verhaftet und in den Gefängnissen gefoltert und hingerichtet."

23 Weiter exemplarische Großregionen sind China und Indien. Auch die postkommunistische Gesellschaftsstrukturierung, in den Staaten der ehemaligen UdSSR fügt sich nicht in die lineare Sichtweise der vorherrschenden Globalisierungsdiskurse. Das gilt insbesondere auch für das subsaharistische Afrika, in dem sich staatlicher Zerfall, kleptokratische Anarchie, permanente Bürgerkriegszustände und neobarbarische Sozialverhältnisse vermischen.

24 Die explizit fundamentalistisch-"gottesherrschaftlichen" Regime im Iran, im Sudan und in Afghanistan (Talibanregime) bleiben hier ausgespart, da hier keine 'Konkurrenzbeziehung' zwischen herrschendem Establishment und fundamentalistischer Bewegung besteht (was regimeinterne Zwistigkeiten nicht ausschließt).

25 "In Kuwait liegt die wahre Macht ausschließlich bei der Familie al-Sabah, die aus etwa 1500 Prinzen und Prinzessinnen besteht. Diese Familie regiert das Land nach dynastischen Prinzipien bereits seit 1756" (Tibi 2001, S. 340).

26 Zur Funktionsweise dieses Systems am Beispiel Marokkos schreibt Maghraoui (2001, S. 1180): "Kleinere Unternehmen profitieren typischerweise von lokalen Wirtschaftsbeziehungen, dubiosen Zuschüssen zum Wohnungsbau und zur Arbeitsbeschaffung, den Privilegien ihrer Stellung und den Erträgen erbrachter Dienste (seien sie legal oder illegal). Mächtige Unternehmer in Kernbereichen der Wirtschaft profitieren von Staatsverträgen, der Überschreibung von Land, freien Nutzungsrechten, Steuernachlässen, regionalen Monopolen und Schutzzöllen. Mit König Hassans Wissen teilten diese Akteure der Macht und ihre Familien Marokkos Agrar- und Industriezonen unter sich auf, indem jeder sich um seine politischen Freunde kümmerte und Eindringlinge verjagte. Schwer vorstellbar, wie das System reformiert werden könnte, solange diese Gruppen sich hinter ihrer Macht und ihren Privilegien verschanzen."

27 Über die nach dem Modell der nationalsozialistischen SS von Saddam Hussein aufgebaute irakische Staatssicherheit mit dem Namen "Apparat der Sehnsucht" schreibt der Iraki al-Khalil: "Die Baathisten erfinden ihre Feinde; Gewalt - und nicht etwa die Androhung - ist institutionalisiert, um stets eine Atmosphäre umfassender Angst und Verdächtigung zu reproduzieren und zu intensivieren ... Gewalt ruft Angst hervor, und sie erzeugt Komplizenschaft mit der bestehenden Macht, die zunächst die Partei verkörperte und dann auf Saddam Hussein als eine Autorität übertragen wurde" (zit. n. Tibi 1994, S. 98).

28 Marokkaner können immer noch mit Geld- oder Gefängnisstrafen bedacht werden, wenn sie die drei 'geheiligten Institutionen' Marokkos: den Islam, die Nation und die Monarchie, entweihen" (Maghraoui 2001, S. 1178).

29 Seit dem Tod des marokkanischen König Hassan II. im Jahre 1999, "haben etwa 5.600 Folteropfer Anspruch auf Wiedergutmachung angemeldet" (ebenda).

30 In Saudi-Arabien leben ca. 19,5 Mio. Menschen. In den arabischen Ländern leben 262 Mio. Einwohner, von denen 220,5 Muslime sind. "Dazu kommen nochmals schätzungsweise 781 Mio. Muslime in nicht-arabischen Ländern, so dass insgesamt die Muslimische Welt - bei aller sozioökonomischer und konfessioneller Differenzierung - etwas über eine Milliarde Menschen (=19% der Weltbevölkerung) umfaßt. Sie nimmt derzeit um fast 3% p. a. zu. Die größten muslimischen Gruppen wohnen damit außerhalb der arabischen Welt, die selbst nur 22% der Muslime beheimatet" (Barth/Schliephake 1998, S.28f.).

31 Während die sechs Ölmonarchien ein durchschnittliches BSP pro Kopf von 8618 US$ aufweisen, lauten die Vergleichszahlen z. B. für den Jemen 260 US$ pro Kopf bei 15,3 Mio. Einwohnern, Ägypten 790 US$ pro Kopf bei 58 Mio. Einwohnern, Iran 2200 US$ pro Kopf bei 64 Mio. Einwohnern, Pakistan 460 US$ bei 130 Millionen Einwohnern und für die indischen Muslime (ca. 13 % von 930 Mio. Menschen) 340 US$ pro Kopf.

32 Im Kern handelt es sich bei diesen einheimischen Nutznießern um parasitär-feudale Rentiers, die die Ölrente ohne produktiven Eigenbeitrag einstreichen: "Denn die meisten dieser Staaten in der islamischen Welt produzieren nichts, sondern das Erdöl wird für sie produziert. Deshalb müßte der Ausdruck präzise lauten: Staaten, auf deren Boden das Erdöl produziert wird" (Zakariya zit. n. Meier 1994, S.457.).

33 Als ernst zu nehmende Drohung muß wohl die folgende Aussage des saudischen Außenministers, Prinz Saud al-Feisal, im Vorfeld der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 angesehen werden: "Islamische Menschenrechte sind nicht für eine bestimmte Gemeinschaft, sie sind universell ... ihre Quelle ist die islamische Scharia, die als eine allgemeine und umfassende Methode die Pflichten und die Aufgaben des Menschen festlegt ... Die Quelle der islamischen Menschenrechte ist der Schöpfer (al-Khaliq) ...; diese göttliche Quelle ist der Garant der Menschenrechte, indem sie sie heiligt und sie obligatorisch macht ..." (zit. n. Tibi 1999, S. 59).

34 Kirche in Not -Italienisches Sekretariat: Die Religionsfreiheit in den Ländern mit überwiegend islamischer Bevölkerung. Bericht 1998. Saudi-Arabien. www.alleanzacatollica.org/acs/acs_german/bericht_98/saudi_arabien.htm

35 Wie Sjukijajnen/Weidnitzer in einem Aufsatz von 1988 (S.853) berichten, wird in Saudi-Arabien das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus mit dem Tode bestraft.

36 Bales (2001) bestimmt den sozialökonomischen Status vieler dieser männlichen und insbesondere weiblichen Gastarbeiter in Saudi-Arabien und in Kuwait als 'neue Sklaverei'. Wie Arlacchi (2000) betont, war vor allem die Nachfrage nach Hauspersonal aufgrund der gestiegenen Einkommen in der Golfregion enorm angewachsen "und blieb auch während der achtziger und neunziger Jahre, als andere Bereiche - vor allem das Baugewerbe - durch den Preisverfall beim Öl in die Krise gerieten, unvermindert hoch ... Während die Lebensansprüche und Repräsentationsbedürfnisse wachsen, gibt es in den (einheimischen, H. K.) Familien immer weniger Frauen, die zur Erfüllung häuslicher Arbeit bereit sind" (S.179).

37 Der Spiegel Nr. 10/ 4.3.02, S.140.

38 Die bizarre und zunehmend obsolet werdende Allianz zwischen den USA und Saudi-Arabien basiert ganz wesentlich auf den gigantischen Waffenkäufen der Saudis bei amerikanischen Rüstungskonzernen: "Für F-15 Kampfflugzeuge, Awacs-Aufklärer, M1-Abrams-Panzer und anderes Militärgerät zahlten die Wüstenherrscher allein im letzten Jahrzehnt weit über 30 Milliarden Dollar" (Der Spiegel Nr.10/4.3.02, S. 133f.).

39 Zit. n. Der Spiegel Nr. 10/4.3.02, S. 148.

40 Ein schlaglichtartiger "Mini-Einblick" in die 'interfamiliären' Verbindungen der Oligarchie: Khalid Mahfouz, der Chefbankier des saudischen König und Eigentümer der Nationalen Handelsbank in Saudi-Arabien, der weltgrößten Privatbank, ist verheiratet mit einer Schwester von Osama bin Laden. Sein Sohn Abdul Rahman Mahfouz, ist "im Vorstand einer islamischen Organisation im Sudan, der Blessed Relief, die verdächtigt wird, an dem Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Mubarak beteiligt gewesen zu sein" (zit. n. Roth 2001, S. 192).

41 "Mit den Petrodollars fand spätestens seit 1974 eine ökonomische, geostrategische und politische Achsenverschiebung statt: Von einer ehemals dominanten panarabistischen und sowjetisch-orientierten Konstellation hin zu einer konservativ-neoliberalen unter der Schirmherrschaft der USA und der Regionalmächte Ägypten und Saudi-Arabien" (Alnasseri 2001, S.567).

42 "Der Raum des Islam-Kapitals ist ... weniger der Nationalstaat. Lokale, regionale und internationale Räume stellen seine Operationsbezüge dar" (Alnasseri 2001, S.570).

43 "Die Globalisierung, die auf die europäische Expansion zurückgeht und im Zuge derer die Übertragung westlicher Strukturen in Ökonomie (Weltwirtschaft) und Politik (das internationale System der Nationalstaaten) auf den gesamten Globus erfolgte, hat keine globalen Zivilisationen hervorgebracht. Die Welt besteht nach wie vor aus verschiedenen Kulturen und Zivilisationen" (Tibi 1996, S.29f.).

44 Natürlich weisen diese 'Grundströmungen' eine äußerst differenzierte und z. T. heterogene Binnenstruktur auf, was im vorliegenden Kontext aber nicht behandelt werden kann. Hervorzuheben ist allerdings, dass der Kampf zwischen diesen drei kulturell-weltanschaulichen Strömungen von gänzlicher andersartiger Beschaffenheit ist, als der "Kampf der Kulturen" im Sinne Huntingtons.

45 Es ist ein zentraler Denkfehler, die herrschaftsadäquate Formung und Disziplinierung von Körper und Seele der Untertanen als Grundzug der 'Moderne' zu verabsolutieren und prämodernen Herrschaftsformationen abzusprechen. Der antiemanzipatorische Einfluss des Religiösen auf Denken, Fühlen und Körperlichkeit der Untertanen (Gebetshaltung, Fasten, Keuschheit, rituelle Gemeinschaftsformen etc.) liefert vielmehr erst das paradigmatische Material für die 'moderne' Disziplinarmacht.

46 Ein herausragendes Medium für die regressive Indoktrination religiöser Ideologie stellen die pakistanischen Koranschulen dar: "Da es in Pakistan kein effektives öffentliches Schulsystem gibt, richten militante Sekten eigene Schulen ein. Allein im Bundesstaat Pandschab gibt es mehr als 2.500 solcher Deeni Madressahs, religiöse Unterweisungsstätten. Laut einer amtlichen Statistik besuchen 219.000 Kinder, vorwiegend Knaben, solche Schulen. In einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter achtzehn Jahre alt ist, herrscht kein Mangel an Jungen, die man zu selbstmörderischer religiöser Eiferei verführen kann" (Bales 2001, S.235).

47 Zwischen 1988 und 1995 verdoppelten sich sowohl die Zahl der Industriearbeiter von knapp 2 auf über 4 Millionen als auch die Löhne im städtischen Sektor. "Das Bruttosozialprodukt verdoppelte sich zwischen 1985 und 1995, das Bruttoinlandsprodukt verdreifachte sich. Bis zum wirtschaftlichen Abschwung Ende 1997 wurde Thailand von Geld überflutet; dies verwandelte arme Reisbauern in Lohnarbeiter und heizte die Konsumnachfrage an" (Bales 2001, S.65f.).

48 Auf die konkreten Lebensumstände der thailändischen Sexsklavinnen, die in ihrer Abscheulichkeit den Bedingungen in einem faschistischen Konzentrationslager kaum nachstehen, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu das überhaupt sehr empfehlenswerte Buch von Bales.

49 Praktisch alle Männer, die etwas darstellten, hielten sich zumindest eine Maitresse oder eine Nebenfrau. Für jene, die über weniger Mittel verfügten, war Prostitution eine durchaus annehmbare Alternative, da hier ein Mietverhältnis an die Stelle des uneingeschränkten Besitzes trat" (Bales 2001, S.65).

50 "Die reaktionäre Folgerung, Menschen in sozialem Elend oder sonstig desolaten Lebensverhältnissen seien letztlich selbst an ihrem Schicksal schuld - sie haben lediglich ihr Karma abzutragen, sprich: Vergehen aus früheren Leben zu büßen - , stellt in der Tat den Kern buddhistischer Lehre dar" (Goldner 1999, S.36).

51 Mit dieser Problematik habe ich mich in mehreren Arbeiten ausführlich befasst. Vgl. Krauss 1996, 1997/98, 2002.

52 Hardt/Negri versuchen integrale Prozesse einer "Weltgesellschaft im Werden" zu beschreiben, die von den spätkapitalistisch konstituierten Metropolen der westlich-abendländischen Kultur dominiert wird. Das "Empire" als angeblich räumlich totalisiertes Herrschaftssystem ist in diesem Diskursrahmen im Prinzip nichts anderes als das Kapital in seiner aktuellen globalen Durchsetzungs- und Entfaltungslogik. Allerdings wird dieser Entfaltungsprozess zugleich entdialektisiert, d. h. von seinen wirkungsmächtigen Gegenkräften (regionale prämodern-reaktionäre Herrschaftsbastionen) entsorgt und auf unangemessene Weise homogenisiert (das Empire) bzw. als einheitliches Subjekt hypostasiert.

53 Zwar wird die reale Heterogenität der postfordistischen 'Klasse der Lohnabhängigen' von Hardt/Negri zunächst noch eingeräumt, um dann aber dennoch in den Fehler einer 'homogenistischen' Version eines erweiterten Proletariatsbegriffs zu verfallen. Unbegriffen bleibt hier zum einen die klasseninterne Revolution, die in den westlichen Metropolen der Übergang vom proletarischen Pauper zum sozialrechtlich integrierten 'Arbeitnehmer' darstellt und die in der Verinnerlichung des spätkapitalistischen Konsumismus als sinngebendes Lebensführungsprinzip ihre politisch-ideologisch folgenreichste Subjektverankerung erfahren hat. Zum anderen werden unter der reichlich illusionären und voluntaristisch anmutenden Kulisse einer "neuen Art proletarischer Solidarität und Militanz" sozial, kulturell, politisch und ideologisch so unterschiedliche Ereignisse subsumiert wie die Geschehnisse auf dem Tiananmen-Platz (Peking), die Intifada, der Aufstand in Chiapas, die Streiks in Frankreich und Südkorea. Das "Zusammenziehen" dieser Ereignisse zu einem neuen 'proletarischen Klassenkampf' mag die nostalgisch-romantische Wehmut diverser 'Traditionslinker' im Gedenken an "bessere Tage" bedienen, im Kern führt diese Reanimation eines überlebten Glaubensartikels aber in die Irre. De facto handelt es sich hier um eine heterogene Gemengelage von spontanen Revolten, antitotalitären Demokratiebewegungen, religiös-nationalistischen Protestbewegungen wie der palästinensischen Intifada, in denen progressive (Befreiungs-)Momente von reaktionär-herrschaftlichen Einstellungen und Bestrebungen überlagert werden sowie gewerkschaftliche Kämpfen zur Verteidigung/Erweiterung von Besitzständen gegen neoliberale Angriffe. Die Nicht-Kommunikation zwischen diesen Bewegungen beruht primär - nach dem desaströsen Ende des kommunistischen "Parteimarxismus" - auf dem Fehlen einer sich universell artikulierenden Befreiungstheorie, welche die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem zum Ausdruck zu bringen hätte.

54 Mit dem lateinischen Verb posse = Macht als Tätigkeit bezeichnen Hardt/Negri das ontologische Potential der Menge.










 

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