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Hanna Behrend
Der schriftstellernde Schildermaler, der sich Robert Tressell
nannte, und sein bemerkenswertes Buch „Die Menschenfreunde in zerlumpten
Hosen"
Das kurze Leben des Robert Noonan
Habent sua fata libelli, Bücher
haben ihre Schicksale, schrieb Terentianus Maurus bereits Ende des 2. Jh.
n.Chr. The Ragged Trousered Philanthropists(RTP), dem Werk des 1870 geborenen unehelichen
Sohnes des irischen Polizeiinspektors und späteren Friedensrichters
Samuel Croker und Mary Noonan, war ein ungewöhnliches und verschlungenes
Schicksal sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland beschert.
Auch über Herkunft und Geschichte seines Schöpfers Robert (Bob)
Noonan gab es lange Zeit mehr Gerüchte und Mythen als gesicherte Erkenntnisse.
Letztere verdanken wir seinem Biographen, Frederick C. Ball, der 1951 eine
erste Schilderung des Lebens dieses Schriftstellers, Tressell of Mugsborough, verfasste, der er 1973 eine zweite, One
of the Damned. The Life and Times of Robert Tressell, folgen ließ, die die Ergebnisse seiner
weiteren Recherchen über Tressells Leben und das Schicksal seines Manuskripts
aufbereitet.
Von daher wissen wir auch, dass Noonan, der sein magnum
opus unter dem Namen Robert Tressell schrieb, um 1890 nach Südafrika auswanderte und dort heiratete. Die
junge Mrs. Noonan starb früh und hinterließ dem Witwer die fünfjährige
Tochter Kathleen. Noonan war damals als Vorarbeiter relativ wohlbestallt
und engagierte sich in antibritischen irischen Organisationen. Er konnte
sogar seine verwitwete Schwester mit ihrem Sohn, der im Ersten Weltkrieg
fallen sollte, einladen, ihren Wohnsitz in Chile zu verlassen und zu ihm
zu ziehen. Um die Jahrhundertwende verschlechterten sich jedoch die Arbeitsbedingungen
in Südafrika und so beschloss die Familie 1901, nach England zurückzukehren,
wo sie bei einer anderen Schwester in Hastings unterkamen, deren Sohn später
Kathleens Ehemann und Vater ihrer Tochter wurde.
Bob Noonan kam nach Hastings in einer Zeit der Wirtschaftskrise,
die sich besonders auf die Bauindustrie negativ auswirkte.
Der britische Kapitalismus war damals parasitärer und
weit weniger dynamisch als der deutsche oder US-amerikanische. Zwischen 1900
und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges stieg in Großbritannien der
Kapitalexport von £1,700 Millionen
auf £4000 Millionen während in der Industrie eine Depression bzw.
Krise nach kurzer Erholung auf die nächste folgte. In der ersten Dekade
des 20. Jahrhunderts fielen die Löhne um 10 Prozent. 18 Prozent der
Bevölkerung über 65 Jahren waren Wohlfahrtsempfänger. Zu Beginn
des 20. Jahrhunderts gab es in England 1 Million Bauarbeiter. 50 und 70 Prozent
der eingetragenen Arbeitslosen in London und Umgebung gehörten dieser
Branche an, eine derjenigen, die am schwersten von der industriellen Stagnation,
den Depressionen und Krisen betroffen war. Die Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter
hatten sich seit Beginn des Jahrhunderts daher auch erheblich verschlechtert.
Ihre einst militanten Gewerkschaften waren zahm und kompromissbereit geworden
und duldeten Lohndrückerei und Antreiberei. So war auch die Zahl der
Arbeitsunfälle auf dem Bau von 63,856 im Jahre 1897 auf 107.290 im Jahre
1901 angestiegen.
Der Arbeiter John Nettleton berichtete in einem Robert-Tressell-Gedächtnis-Vortrag
in Hastings 1981, dass Noonan in dieser Stadt, die er später in seinem
Buch Mugsboroughnannte, Arbeits- und Lebensbedingungen kennen lernte, die sich gewaltig
von denen weißer Arbeiter in Südafrika unterschieden. In Hastings
lernte er das Leben der einfachen britischen Bauarbeiter kennen. Dort trat
er auch der Social Democratic Federation, der marxistisch orientierten
Arbeiterorganisation, bei, dort begann er sein Werk zu schreiben, das am
Ende 1700 handschriftliche Seiten umfasste.1910 plante Robert, mit seiner
Tochter Kathleen nach Kanada auszuwandern und fuhr allein nach Liverpool,
um sich dort die Fahrkosten für diese große Reise zu erarbeiten.
Seit seiner Rückkehr nach England litt er an der damaligen Volkskrankheit
Tuberkulose und so schaffte er es nicht, seine Reisepläne zu verwirklichen.
Er erkrankte in Liverpool an einer Lungenentzündung, wurde im November
1910 ins Krankenhaus eingeliefert, wo er am 3. Februar 1911 starb. In einem
Armengrab wurde er beerdigt. Nettleton war einer der Gewerkschaftsfunktionäre,
die 1976 unter vielen Schwierigkeiten Noonans Grab auf einem Liverpooler
Friedhof ausfindig machten und dort einen Grabstein errichten durften.
RTP: Das handschriftliche Manuskript und seine Geschichte
Die Geschichte der RTP, an dem Noonan vier Jahre
gearbeitet und das Kathleen Noonan, damals eine Lehrerstudentin, kopiert
hatte, beginnt ein paar Jahre nach dem Tode seines Verfassers. Waise
geworden nahm Kathleen Noonan eine Stelle im Haushalt an. Durch Vermittlung
ihrer literaturinteressierten Arbeitgeberin, der sie anvertraute, dass sie
im Besitz eines Buchmanuskripts sei, das ihr Vater verfasst habe, gelangte
dieses in die Hände von deren Nachbarin Jessie Pope, die es im Auftrag
des Verlegers Grant Richards redigierte und für den Druck vorbereitete.
Die erste Auflage erschien 1914 und umfasste nur ca. zwei Drittel des Originalmanuskripts.
1918 erschien eine um weitere elf Kapitel der Ausgabe von 1914 gekürzte
Ausgabe. Die Ausgabe von 1914 wurde von Käte Güsfeld ins Deutsche
übersetzt und erschien 1925 im Deutschen Verlag Berlin und 1927 in der
„Universum“ Bücherei für alle GmbH Berlin.
Der 1927 Ausgabe in der „Universum“ Bücherei für
alle GmbH Berlin war ein Vorwort des Verlages vorangestellt, in dem die gekürzte
Ausgabe sehr positiv beurteilt wird:
„Der tragische Widerspruch solcher vom Klassenfeind, vom Erwürger
selbst großgepäppelten liberalen Philosophie ‚Der Menschenfreunde
in zerlumpten Hosen’ zu den elenden Dasein dieser maßlos Ausgebeuteten,
gibt dieser Erzählung das Gepräge und macht sie zu einer besonders
eigenartigen Erscheinung in der Arbeiterliteratur, zugleich zu einem erschütternden
Dokument proletarischen Lebens. – Ein Arbeiter, der selbst in der Hölle
maßloser Ausbeutung und Entrechtung gelebt hat, schildert das freudlose,
noch nicht vom Gedanken des Klassenkampfes und der revolutionären Erhebung
erhellte Leben, die Spießbürgerphilosophie dieser Arbeiter, ihre
oft an Einfalt grenzende Resignation. Der einzige Arbeiter, der gegenüber
seinen kleinbürgerlichen Arbeitsgenossen den Gedanken des Klassenkampfes
vertritt, wird von ihnen nicht verstanden und für ‚etwas verrückt’
erklärt. – Indem dies Büchlein in alle dieser Widersprüche
hineinleuchtet, wird es zu einer Satire auf allen Reformismus.“ (Tressell,
1927, S.i)
Erst 1946 fand man das handschriftliche Originalmanuskript
in stark beschädigter Form wieder, das der damals der Kommunistischen
Partei Großbritanniens nahestehende Verlag Lawrence & Wishart 1955
in einer ersten vollständigen Ausgabe herausgab. In dieser, von Frederick
C. Balls besorgten Ausgabe, der seine inzwischen publizierten Forschungsergebnisse
nutzte, sind durch verlorene Seiten entstandene Lücken und vom Verlag
eingefügte Übergänge kenntlich gemacht. Diese Ausgabe war
die Grundlage der ersten vollständigen deutschen Übersetzung von
Lore Krüger, die 1958 im Aufbau-Verlag Berlin-Weimar mit einem Nachwort
von Günter Klotz erschien.
Die 1914 und 1918 vorgenommenen Kürzungen durch Jessie
Pope nannte die Pionierin der englischen Arbeiterliteraturgeschichtsschreibung
Mary Ashraf (1903-1983) in ihrem Werk Englische Arbeiterliteratur vom
Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zwar „eine Schlächterei“,
fand aber auch, dass auch eine neue Ausgabe des Buchs Wiederholungen und
unvollendete Passagen streichen sollte.
„Wenn die heutigen Leser jemals wieder ähnliche Inspiration und Begeisterung
empfinden sollen, wie die ältere Generation ... [dann sollte[ das Buch
... lesbarer und attraktiver gemacht werden durch eine Aufmachung und eine
Darbietung, wie sie eines Klassikers würdig sind“
(Ashraf, S.682).
In der deutschen Ausgabe von 1958 bemängelt Günter
Klotz im Nachwort:
„Große Teile hatte Miss Pope im Auftrag des Verlegers gestrichen
und dabei häufig Stellen zusammengestellt, die im Original nicht miteinander
verbunden waren. Tressell hatte dem Buch einen optimistischen Schluss gegeben;
dieser war durch eine Stelle aus der Mitte des Buches ersetzt worden, die
in dem neuen Zusammenhang eine Andeutung zu enthalten schien, der Held des
Romans, der sozialistische Arbeiter Owen, hätte sich entschlossen Selbstmord
zu begehen. Einige Personen und Begebenheiten
waren ausgelassen worden, so unter anderen Barrington, der zweite Sozialist
des Buches. ... Alle diese Veränderungen waren der ursprünglich
beabsichtigten Wirkung des Buches abträglich. ... [Der Leser ist] einerseits
tief beeindruckt ... von der Chronik, die ein Jahr Hungerleben der Menschenfreunde
umfasst, [hat] andererseits aber Schwächen und objektive Fehler an dem
Kunstwerk wahrgenommen ..., die dessen Wert doch beträchtlich herabsetzen
müssten. Solche Mängel kann er nicht ganz zu Unrecht darin erblicken,
dass das Werk einer konfliktreichen spannenden epischen Handlung entbehrt,
dass offensichtlich vermeidbare Wiederholungen ungeniert stehen gelassen wurden,
dass der Erzähler unmittelbar oder durch den Mund seiner Gestalten zu
viel theoretisiert und dass vor allem jene Ideen, welche die erhoffte Einrichtung
eines ‚genossenschaftlichen Gemeinwesens’ erläutern, unserer gegenwärtigen
Wirklichkeit Widersprechendes in sich bergen, das schon vor der Entstehung
des Buches von Marx und Engels, aus der Analyse der Geschichte resultierend,
in den Grundzügen richtig vorausgesagt wurde. Überdies fällt
auf, dass der Autor nicht die vorderste Reihe der organisierten Arbeiterbewegung
in den Mittelpunkt des Geschehens stellt, sondern die rückständigsten
und unbelehrbarsten Lohnsklaven, die so menschenfreundlich sind, dass sie
ihre Ausbeuter gottesfürchtig und mit gebührender Verehrung im
Amte halten und alle Angriffe auf die eigene Freiheit des Verhungerns verbissen
abwehren.“ (Tressell, 1958, S.765-767.)
Der zweite Teil des Originaltitels, der in der englischen
Ausgabe von 1955 aus dem Faksimile der Originaltitelseite des Manuskripts
(Tressell 1955, S.7) ersichtlich wird, wurde in der deutschen Ausgabe ausgelassen
und steht erst wieder im Nachtrag von Else Tonke in der von ihr übersetzten
neuen Ausgabe: „Das ist die Geschichte von zwölf Monaten in der Hölle,
erzählt von einem der Verdammten und von Robert Tressell niedergeschrieben“
(Tressell 2002, S.629).
Mehr als 20 Jahre später, nach dem Zusammenbruch des
ersten weltweiten Sozialismusexperiments, schrieb die Ostdeutsche Else Tonke,
der ein englischer Gastbauarbeiter die komplette englische Ausgabe zu lesen
empfohlen hatte:
„Das Buch „The Ragged-Trousered Philanthropists“ hat mich nicht mehr losgelassen,
seit es mir von meinem lieben alten Freund Ben gegeben worden war. Damit
es außer mir wenigstens noch meine Söhne in deutscher Sprache
lesen können, habe ich mich an den großen Berg Arbeit gemacht,
das Buch zu übersetzen. Die Faszination der ‚Menschenfreunde’ führte
dazu, dass sich an dieser Arbeit immer mehr Menschen völlig selbstlos
beteiligten.“ (Tressell, 2002, Rückseite Titelblatt)
Als Else Tonke sich mit Unterstützung der Lektoren
Gudrun Rehmann aus Detmold und Klaus Wondratschek aus Potsdam an die Übersetzungsarbeit
machte, war ihnen weder die Geschichte des Autors, seines Werks, noch die
früheren deutschen Übersetzungen bekannt. Sehr wahrscheinlich erwies
sich diese Unkenntnis am Ende als ein großer Vorteil. Im Vergleich mit
der sprachlich eher neutralen, keinem sozialen Register zuzuordnenden deutschen
Übersetzung von 1958 ist die neue Übersetzung zwar oft weniger
korrekt (so sind bei der Endkorrektur, anders als bei der durch Korrektoren
überprüften Ausgabe des Aufbauverlags, viele Fehler übersehen
worden), aber dafür hat sie einen großen Vorteil: Sie entspricht
insgesamt im sprachlichen Duktus und vor allem dem sozialen Register nach,
das die Übersetzerin kenntnisreich den „Menschenfreunden“ in den Mund
legt, weit mehr dem Original. Es ist die erste deutsche Übersetzung
in eine Sprache, wie sie von deutschen Bauarbeitern gesprochen und daher
von ihnen verstanden werden könnte.
Daher wünschte man dieser Ausgabe die bisher fehlende
Aufmerksamkeit der mit politischer Bildungsarbeit befassten Stiftungen, der
Gewerkschaften und Parteien und damit eine angemessene Verbreitung, vor allem
unter denjenigen, deren Lebenssituation viel Ähnlichkeit mit der im
Roman geschilderten Situation der „Menschenfreunde“ hat.
Worum geht es in diesem Buch? Der Titel Die Menschenfreunde
in zerlumpten Hosen ist bittere Ironie. Die selbst in zerlumpten Hosen
herumlaufen, sind nicht sich selbst sondern nur ihren Ausbeutern gegenüber
„Menschenfreunde“. Die Bauarbeiter sanieren ein anzüglich „The Cave“
genanntes Haus. Die Baufirma Rushton (Hetzer) unterbietet ihre Konkurrenten,
indem sie als Polier den verhassten Hunter (Jäger) einsetzt, der die
Arbeiter gnadenlos antreibt und zur Pfuscharbeit nötigt, und indem sie
an der Materialqualität und –quantität spart, wo sie nur kann.
Die Firma beschäftigt vorwiegend jene „unorganisierten und ignoranten
Menschenfreunde, die leichte Beute für Rushton, Hunter und ihre religiösen
Freunde“ sind und „wie die Sklaven in der Antike schuften, weil ihnen die
Angst vor dem Rausschmiss im Nacken sitzt“ (ebda).
Die Struktur des Romans hat Jack Mitchell in seiner an
der Humboldt-Univeität zu Berlin verteidigten und 1969 in England veröffentlichten
Dissertation Robert Tressell and The Ragged-Trousered Philanthropists
folgendermaßen beschrieben:
„Der Roman ist wie ein Wagenrad konstruiert. An der Radnabe werden die
Männer bei der Arbeit geschildert. Dorthin kehrt die Handlung stets
wieder zurück, nachdem der Autor, den einzelnen Speichen entlang Einsicht
in das ‚Privat’- oder Familienleben der Arbeiter, ihre Freizeitgestaltung
und Vergnügungen, ihre ‚politischen’ Aktivitäten usw. gegeben hat.
So erkennen wir, dass die Art und Weise, in der die Männer arbeiten,
ihre ganze Lebensweise bestimmt, dass die unfreie Arbeit der Ausgangspunkt
ihrer ganzen Unfreiheit ist“ (Mitchell, S.15)
Diese Bauarbeiter werden ohne die geringste Schönfärberei
gezeichnet.
„Kein britischer Sozialist hat jemals gewagt, wie Tressell den Hang zur
geistigen Korruption, der eine der vielen widersprüchlichen Erscheinungen
im Reifeprozess der Arbeiterklasse im imperialistischen Zeitalter ist, so
gnadenlos wahrheitsgetreu zu schildern“ (ebda, S. 113).
Wie aktuell mutet es z.B. an, wenn im Kapitel 1 einer der
Arbeiter sagt:
„’Klar – sogar hier in Mugsborough ... werden wir von denen überrannt!
Im Grand Hotel, wo wir letzten Monat gearbeitet ham, sind fast alle Kellner
und der Koch Ausländer.’ ... Es war ‚ne verdammte Schande, dass es diesen
Leuten erlaubt wurde, die Engländer brotlos zu machen; sie sollten ins
verdammte Meer gejagt werden’.“ (Tressell 2002, S.24)
Die Arbeiter können vier Gruppen zugeordnet werden,
den Kriechern und Speichelleckern, den zwischen Anstand und Opportunismus
ständig Schwankenden, den nur durch die Figur des Joe Philpot vertretenen
klassenbewussten und witzigen Facharbeiter, der sich seine Menschlichkeit
auch unter den entmenschlichenden Bedingungen erhält und schließlich
gibt es die beiden Sozialisten Owen und Barrington, die gewissermaßen
zwei Seiten der Persönlichkeit des Autors repräsentieren. Owen,
ein hochqualifizierter Schildermaler und Innendekorateur, Mitglied derSocial
Democratic Federation und tuberkulosekrank wie sein Schöpfer, verwendet
seine ganze Kraft dazu, seinen Kollegen die gesellschaftlichen Grundtatsachen
der kapitalistischen Gesellschaft zu vermitteln. Vergeblich versucht er in
der Mittagspause, ihnen diese so schlicht wie möglich zu erläutern.
Die Kollegen nehmen ihn nicht ernst, finden ihn lediglich unterhaltend. Unterstützt
wird er von Barrington, einem Mann bürgerlicher Herkunft, der auf dem
Betriebsausflug, einem Höhepunkt des Romans, den Mut hat, dem Lebensmittelhändler
Grinder (Schinder), der in einer Tischrede die Arbeiter verhöhnt und
die Sozialisten verleumdet, entgegenzutreten und in dem Kapitel The Great
Oration (in der 1958 Ausgabe: „Die große Rede“, in der Ausgabe
von 2002 weniger treffend „Der große Diskurs feierlich und würdig
durchgeführt“ genannt) Noonans Vision einer zukünftigen Gesellschaft
verkündet. Er beklagt, dass sein Einsatz für die Sache der Ausgebeuteten
von diesen nicht gewürdigt wird, sondern ihm sogar Argwohn und Hass einbringt
und dass dagegen diejenigen viel eher respektiert werden, die den Unternehmern
helfen, die Arbeiter auszubeuten. Dennoch lohne es sich, für die Kinder
und damit für die Zukunft zu kämpfen.
Die Noonansche Gesellschaftsutopie, die Barrington verkündet,
sieht vor:
„Da wir die größtmögliche Anzahl der Arbeit sparenden
Maschinen einsetzen werden und die besten wissenschaftlichen Methoden in
unseren [staatssozialistischen]Farmen und Fabriken anwenden, werden die von
uns erzeugten Gütermengen so enorm groß sein, dass wir imstande
sind, unseren Beschäftigten sehr viel höhere Löhne zu zahlen
– in Papiergeld -, und es wird möglich, unsere Produkte so billig zu
verkaufen, dass die öffentlich Bediensteten in die Lage kommen, alles
in Wohlstand zu genießen“ (Tressell, 2002, S.514)
Immer mehr Erwerbstätige würden daher aus den
Privatbetrieben in den öffentlichen Dienst wechseln und die sozialistische
Verwaltung stärken. Die Überproduktion würde durch die Beschäftigung
von immer mehr Arbeitskräften für Kultur- und Bildungsaufgaben
und durch die Senkung der Arbeitszeit auf vier bis fünf Stunden und
Berentung mit 45 Jahren verhindert werden.
„All diese Leute werden den Rest ihrer Tage ihren eigenen Neigungen entsprechend
verbringen können. Einige wollen vielleicht ruhig zu Hause sitzen und
sich auf die gleiche Weise amüsieren wie die Wohlhabenden mit freier
Zeit heutzutage – mit ein paar Hobbys oder der Teilnahme an der Organisation
gesellschaftlicher Veranstaltungen wie Bällen, Parties, Unterhaltungen,
der Ausrichtung von Volksfesten und sportlichen Wettkämpfen, Rennen
und allen Sportarten.
Einige werden es vorziehen, weiter dem Staat zu dienen, Schauspieler, Künstler,
Bildhauer, Musikanten und andere ihre Arbeit zum eigenen Vergnügen und
um der Ehre willen fortsetzen. ... Manche werden ihre Freizeit der Wissenschaft,
Kunst oder Literatur widmen. ... Das sind die Grundsätze, nach denen
das Kooperative Gemeinwesen der Zukunft eingerichtet sein wird, ein Staat,
... in dem niemand seinen Gewinn aus eines anderen Verlust erzielt und wir
nicht länger Herren und Diener, sondern Brüder, freie Menschen
und Freunde sein werden, da es keine erschöpften, seelisch gebrochenen
Männer und Frauen mehr geben kann, die ihr freudloses Leben in Plackerei
und Mangel verbringen müssen, und keine kleinen Kinder, die weinen,
weil sie hungrig sind und frieren.“ (ebda, S.517f.)
Die Rezeption des Werks durch die britischen Arbeiter
Trotz der Kürzungen und tiefgreifenden inhaltlichen
Veränderungen war die erste Ausgabe ein Bestseller. Zwischen 1914 und
1954 gab es insgesamt zwanzig Auflagen mit fast 140.000 Exemplarenund wesentlich
mehr LeserInnen, da die Exemplare unter den Arbeitern herumgereicht wurden.
Das war für ein Buch dieser Art eine ungewöhnlich hohe Verbreitung.
In den 30er Jahren war es möglich, ungeachtet der
elenden Arbeits- und Lohnbedingungen im Baugewerbe, der Unorganisiertheit
der Bauarbeiter,
„die Sechs-Penny-Ausgabe fast an jedem Bauplatz zu verkaufen, und oft
genug an Menschen, die selten oder niemals etwas Ernsthafteres lasen als
eine illustrierte Zeitung oder die Renn-Ausgabe der Abendzeitungen“ (Ashraf,
S.678).
Bert Hogenkamp berichtet, dass bei einem einzigen Meeting
während eines Bauarbeiterstreiks in Putney, London 1934 200 Exemplare
des Buchs verkauft wurden. Trotz seiner Popularität unter einem wenig belesenen Publikum,
blieb RTP dagegen den bürgerlichen Lesern in England lange Zeit unbekannt.
Frederick Ball schrieb: „Literaturhistoriker an den Universitäten Oxford
und Cambridge haben von dem Buch nie gehört“ (Ball, 1973, S.186). Es
stand in keiner Literaturgeschichte und auch in den renomierten Oxford
Companion to English Literature und Cambridge Guide to English Literature
fehlt bis heute jeder Hinweis auf das Werk oder den Autor. Nur der Oxford
Companion to Twentieth Century Literature in English (1996) enthält
einen kurzen Beitrag über Tressell und sein Werk.
Peter Miles stellt fest, dass das Werk den Leser für
die subversive Haltung des Autors den herrschenden sozialen, politischen
und kulturellen Strukturen gegenüber gewinnt. Dazu habe auch seine Verbreitung
durch persönliche Empfehlung vor allem unter den grass root Angehörigen
der englischen Arbeiterbewegung beigetragen. Diese Art der Literaturverbreitung
habe die agitatorische Wirkung des Werks befördert. Der Arbeiterdramatiker
Tom Thomas berichtete, dass er das Buch nach dem Ersten Weltkrieg auf einer
Antikriegs-Veranstaltung im Londoner Finsbury Park erstanden habe; wie vielen
anderen habe es auch ihm die Augen geöffnet und ihn begeistert. Er schrieb
eine Dramafassung, die 1927 von den Hackney People’s Players erstaufgeführt
wurde. Sein Motiv war, dieses beeindruckende Buch nicht nur dem vereinzelt
Lesenden zugänglich zu machen, sondern es zu einem Gemeinschaftserlebnis
werden zu lassen. Der Erfolg des Stücks, das in der Zwischenkriegszeit
zweimal aufgelegt und von verschiedenen Theatergruppen aufgeführt wurde,
trug zur Gründung derWorkers’ Theatre Movement (Arbeitertheaterbewegung)
in den 30er Jahre bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine von Frank Rhodes
verfasste Version des Buchs von den Unity Mobile Theatre Players an
verschiedenen Orten aufgeführt. Es gab noch eine weitere Dramafassung
von Stephen Lowe, die 1967 und 1983 im britischen Fernsehen gezeigt wurde,
wo damals auch eine Sendung über das Leben Robert Tressells lief. Das
Buch begeisterte bekannte englische Schriftsteller wie George Orwell und
Alan Sillitoe; letzterer berichtete, dass er es mit der Empfehlung erhalten
habe, es sei das Buch, das den Wahlsieg der Labour Party von 1945 bewirkt
habe. Über das Buch wurde von der Workers’ Film und Photo League
ein Werbefilm gedreht.
1931 wurde der Robert-Tressell-Club in England gegründet,
der sich der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller
(IVRS) anschloss.
Mit der wachsenden Gefahr, die das 1933 in Deutschland
zur Macht gekommene NS-Regime für die Demokratie und den Weltfrieden
bedeutete, veränderte sich in England auch die literatur- und kulturpolitische
Linie der Linken und speziell der britischen Kommunistischen Partei. Das
Kulturerbe der englischen Arbeiterliteratur spielte fortan eine recht geringe
Rolle. Aktuelle proletarische Kultur und Kunst wurden marginalisiert. Auf
kulturpolitischem Gebiet bedeutete die „Volksfrontpolitik“ eine Bevorzugung
antifaschistischer bürgerlicher AutorInnen.
Erst wieder mit den Aufkommen der verschiedenen Bürgerbewegungen
in den späten 60er Jahren, mit den Studenten- und Frauenbewegungen,
der neuen Linken und den Cultural Studies besann man sich wieder
auf dieses Erbe. Die 80er Jahre waren ein neuer Höhepunkt in der Geschichte
der RTP und des Autors Tressell. Von 1981 bis 1988 fanden die Robert Tressell
Lectures statt, die von David Alfred im Auftrag derWorkers’
Education Association (WEA), des angesehensten britischen Arbeiterbildungsvereins,
1988 herausgegeben wurden und Beiträge von namhaften Persönlichkeiten
wie dem Historiker, Soziologen und Schriftsteller Raymond Williams, dem linken
Politiker Tony Benn, dem Historiker Raphael Samuel, dem Arbeiterschriftsteller
Jack Jones, der Publizistin Eileen Yeo u.a. enthielten.
1981 begann die Restaurierung einer zur Erinnerung an die
verstorbene Ehefrau eines örtlichen Bauunternehmers gestifteten, von
Noonan 1905 geschaffene Wandmalerei in der Kirchenkanzel von St. Andrews
in Hastings. Von der Kirche, die 1970 abgerissen wurde, war nur das von Noonan
gemalte Panel erhalten geblieben, das auch gleichzeitig das Einzige war,
was von Noonans bildkünstlerischer Hinterlassenschaft übrig geblieben
war. In ganz England wurde erfolgreich für die Restaurationskosten Geld
gesammelt.
Bis heute wird RTP in Großbritannien aufgelegt. Das
Buch ist auch über Internet in Ausgaben von zwei Verlagen erhältlich.
Auch der Mehrzahl etablierter (west)deutscher AnglistInnen
blieb Tressell unbekannt, nur links orientierte anglistische Periodika wie
Hard Times, oder Gulliverkannten Buch und Autor. Unter westdeutschen
Arbeitern war RTP seit 1933 nicht mehr verbreitet worden. Die DDR- Anglistik
verdankt den Gastdozenten Mary Ashraf und Jack Mitchell, dass britische Arbeiterliteratur
vor allem an der Humboldt-Universität, aber auch an anderen DDR-Universitäten
ein Lehr- und Forschungsgegenstand wurde und bis zur Wende blieb. Aber auch
dort blieb die Wirkung des Werks auf den Kreis von Lehrkräften, StudentInnen
und AbsolventInnen beschränkt und fand unter Arbeitern keine Verbreitung.
Die gesamtdeutsche Brockhaus-Jubiläumsausgabe von
1996 kennt ihn immer noch nicht. Den für die englische Literatur zuständigen
Beiträgern kam offenbar nicht in den Sinn, auch die in der DDR erschienenen
Lexika fremdsprachlicher Literatur einzusehen, etwa Meyers Taschenlexikon,
„Fremdsprachliche Schriftsteller“ von 1971, das dreibändige „Lexikon
fremdsprachlicher Schriftsteller“ von 1980 oder „Englische Literatur im Überblick“
aus dem Reclam-Verlag Leipzig von 1986, die alle Einträge über
Tressell haben; das letztgenannte Nachschlagewerk berichtet relativ ausführlich
über Tressell und sein Werk im Abschnitt „Englische Arbeiterliteratur
1870 bis 1914“. Selbst „Meyers Neues Lexikon“ in acht Bänden, Leipzig
1964, enthält einen kurzen Beitrag über Robert Noonan, genannt
Tressell.
Die von Else Tonke übersetzte und 2001 im Scheunen-Verlag
erschienene Ausgabe Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen ist die
erste gesamtdeutsche Veröffentlichung des Werks seit 1927.
RTP - ein Klassiker der Arbeiterliteratur
Jack Mitchell (1932-1999) hält RTP für
“einen Beitrag zum weltweiten Durchbruch proletarischer und sozialistisch-realistischer
Prosa, der fast unmittelbar nach dem Übergang des Kapitalismus in seine
imperialistische und dekadente Periode um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert
erfolgte. In den wenigen Jahren zwischen der russischen Revolution von 1905
und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden außer Tressells Roman
[und einigen anderen, von Mitchell erwähnten britischen Arbeiterromanen]
Upton Sinclairs Der Dschungel, Jack Londons Die Eiserne Ferse, Martin
Andersen NexösPelle der Eroberer und Maxim Gorkis Die
Mutter. ... Die erreichte ästhetisch-literarische Reife war ... nicht
nur der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis der Avantgarde über
die historische Rolle ihrer Klasse geschuldet, sondern auch dem Reifen proletarischer
Sinnlichkeit, einer proletarischen Einfühlsamkeit, einer neuen Qualität
von Sensibilität und proletarischer Phantasie.“ (Mitchell, 1982, S.67f.)
Für Jack Mitchell nimmt Tressells Werk „eine Schlüsselstellung
in der englischen Literatur und in der Entwicklung der englischen Arbeiterliteratur
ein“ (Mitchell, S.3). Es ist
„bemerkenswert ‚anders’ als andere Werke, sowohl was seinen
Gegenstand als auch seine Struktur anlangt“ (ebda, S.22). Dieses Anderssein
habe viele wohlmeinende Forscher und Intellektuelle daran gehindert, Tressell
als Künstler anzuerkennen, wie das sein Arbeiterpublikum tat. Das Geheimnis
des Werks besteht Mitchell zufolge darin, dass es
„Teil der großen Tradition des englischen Romans und noch genauer,
der großen mit Bunyan beginnenden Volkstradition ist, die von Swift,
Defoe, Fielding und Smollet bis Dickens reicht. Tressell ist nach Charles
Dickens der nächste wichtige Schritt in dieser Tradition.“ (Mitchell
1982, S.23f.)
Mitchell schreibt ihm jene „Einfühlsamkeit“ (sensibility)
zu, unter der er, dem englischen marxistischen Literaturwissenschaftler Arnold
Kettle folgend,
„den Standpunkt oder im weitesten und umfassendsten Sinne das Klassenbewusstsein
einer Person verstand, die einer bestimmten Klasse oder Schicht angehörte.
Das umfasste seine Moralauffassungen, seine Gefühle und emotionalen
Reaktionen, seine Normen und Wertvorstellungen – das ganze Register seiner
verinnerlichten ‚instinktiven’ Reaktion bis hin zu allen seinen Erfahrungen.
Es ist das Wesen seiner ganzen Sichtweise“ (ebda, S.24).
Mary Ashraf (1903-1983), Mitchells Gutachterin und die
kritischeste der BewundererInnen von Tressells Werk, schreibt:
„The Ragged-Trousered Philanthropists ist die Wiedergabe der Realität
– in aller Wahrhaftigkeit; wir finden ihre äußeren Züge detailliert
und lebendig wieder, ebenso finden wir sie im typischen Verhalten der Charaktere,
in der vertieften Art der genauen Beobachtung des Typischen und Gewöhnlichen,
... . Vielleicht musste das Publikum, für das das Buch bestimmt war,
die schmutzigen Details seiner ständigen Umgebung sehen, um sich selbst
in jenem unversöhnlichen Portrait zu erkennen und die soziale Kritik
zu begreifen, die hinter dieser Abbildung des Typs verborgen ist“ (Ashraf,
S.679),
Ashraf stimmt Frederick Ball zu, dass das Hauptverdienst
Tressells das wunderbare Bild sei, das er von der Arbeiterklasse gebe:
„Geboten wird ein vollständigeres Bild als in irgendeinem Roman jener
Zeit zu finden ist“ (ebda, S.683).
Ronald Paul kommt zu dem Schluss, dass Tressell im Unterschied
zu anderen bedeutenden internationalen sozialistischen Romanciers seiner
Zeit eine
„konsequent antiheroische Gestaltung [seines Protagonisten gelang], die
geschickt abgestimmt ist mit einem überzeugenden Bild kollektiver Klassenerfahrung.
... Owen ist der Maßstab der sozialen und politischen Bandbreite des
Arbeitermilieus, in das diese Figur so fest eingefügt ist. Dieser sehr
reale Gemeinschaftssinn und diese kollektive Stärke machen das Buch
politisch optimistischer als es zunächst erscheint. Die Gestalt des
Owen ist deshalb so sympathisch, weil er seine grundlegende menschliche Solidarität
mit seiner wenig erfolgreichen Rolle als sozialistischer Agitator verbindet.
Paradoxerweise verdankt das Werk seine starke psychologische Wirkung seiner
Schwäche als Agitationsroman“ (Paul, S.238).
Paul hebt auch Tressells bewussten und wirksamen Einsatz
humoristischer Mittel hervor, von beißender Ironie bis zur Face und
Satire, die ein integraler Bestandteil seiner Erzählweise sind und die
sich wohltuend vom „düsteren Ernst und der gequälten Didaktik“
(ebda, S. 247) abheben, die andere Arbeiterromane beschwerlich zu lesen machen.
Für Peter Miles unterscheidet sich RTPvon anderen
sozialistischen Romanen dadurch,
„dass es sich selbst als ein agitatorisches Werk begreift und sich als
einen Gebrauchsgegenstand anbietet und nicht nur konsumiert werden will.
Es beschreibt das menschliche Leiden. Aber es befördert auch die Überzeugungsarbeit,
zeigt, dass sie machbar ist, besteht darauf, dass der Leser sich engagieren,
dass er das Buch dafür einsetzen kann“ (Miles, S.6).
In seiner Figurenanalyse bezeichnet Jack Mitchell Owen
als „den gelungensten, zutiefst menschlichen, moralisch höchst anziehenden
Arbeiterprotagonisten unserer Literatur“ (Mitchell, S.127) . Ihn habe Noonan
nicht nur mit einer Familie ausgestattet, was ihm Gelegenheit bietet, in
der Ehefrau Norah ein positives Frauenbild zu gestalten und seine Auffassungen
über sozialistische Eltern-Kind-Beziehungen zu demonstrieren.
In der Gestalt des Frank Owen erfülle, so Mitchell,
Tressell die Beziehungen zwischen einzelnen Arbeitern, zwischen Alten und
Jüngeren, zwischen Arbeitern und ihren Ausbeutern, zur Arbeit und zur
Politik mit Leben.
„Durch die ganzheitliche Gestalt Frank Owens erahnen wir, was Klassenkampf
auf einer höheren, organisierteren Ebene wirklich bedeutet; dass sein
letztes Ziel die Hervorbringung einer Welt ist, wo solche Männer und
Frauen sich frei und vollständig entfalten können. In diesem Sinne
ist Owen in gewisser Hinsicht das vorweggenommene Endergebnis des Sieges
im organisierten Klassenkampf.“ (Mitchell, S.128)
Dass Mitchell mit der Vorwegnahme einer sozialistischen
Gesellschaft die Überwindung des Konkurrenzkampfs zwischen den Arbeitern
und die uneigennützige Solidarität unter ihnen meint, geht aus
der von ihm hervorgehobenen Episode hervor, als Owen von der freien Arbeitsstelle
erfährt, für die sich der alten Arbeiter Jack Linden bewerben sollte:
„Owen zögerte: er war durchnässt, und der Weg zu Linden zog
sich lang hin, nahezu zwanzig Minuten zu Fuß. Dennoch, er wollte ihn
benachrichtigen, weil er unbedingt einer der ersten bei der Bewerbung sein
musste, Linden würde nicht so gute Chancen haben wie ein jüngerer
Mann. Owen tröstete sich damit, dass das Risiko, sich zu erkälten,
geringer war, wenn er ganz schnell ging. Mit nassen Sachen herumzustehen,
mochte gefährlich sein, aber solange man sich bewegte, war es in Ordnung.“
(Tressell, 2002, S.72)
Erst nach dem Besuch bei Linden kehrt er nach Hause zu
seiner kranken Frau zurück. Er schickt sie ins Bett und bringt, erschöpft
wie er ist, seinen Sohn zu Bett, trocknet seine nassen Sachen und bereitet
sich eine Mahlzeit. Owen behandle Nora als intellektuell gleichwertig, was
sie Mitchell zufolge auch ist:
„Sie ist nicht nur eine klassenbewusste Frau, sie ist auch eine gebildete
Sozialistin. Tressell hebt diese Dinge nicht hervor. Sie sind für ihn
selbstverständlich. Norah erklärt ihrem Sohn das Wesen der Ausbeutung
in einfachen, aber kämpferischen Begriffen, wie es Owen nicht besser
gekonnt hätte. Bei der Erziehung des kleinen Frankie gibt es keine Spur
der falschen ‚Objektivität’, die man manchmal in sozialistischen Familien
findet. Was immer Frankie fragt, beantworten seine Eltern vom Standpunkt
klassenbewusster Arbeiter. Es ist eine parteiliche Erziehung, aber keine
sektiererische. Frankie darf zur Sonntagsschule gehen und bekommt sogar Geld,
weil ihn die anderen Kinder dabei haben wollen und auch er dorthin gehen
will.“ (Mitchell, S.129)
Ein feministisches Urteil
Dieses Urteil ergänzt Eileen Yeo kritisch, in ihrer
Robert-Tressell-Vorlesung in Hastings am 26. April 1987. Tressell sei von
dem traditionellen Modell des männlichen Familienernährer ausgegangen.
„Der Ehemann als Beschützer war von den Chartisten festgeschrieben
worden, verständlicherweise, da die Kapitalisten Frauen und Kinder dazu
missbrauchten, um die politische Kraft der Industriearbeiter zu untergraben
(Alfred S.91). ... Obwohl seinen [Tressells] scharfen Augen das Ausbeuterische
an typischer Frauenarbeit (Hausarbeit in der Familie, als Putzfrau, als Näherin
in Heimarbeit) nicht entgangen war, erläutert er [in Barringtons großer
Rede] nicht, wie die Bürde der Hausarbeit, des Kinderkriegens und –aufziehens
usw. im Sozialismus reformiert werden solle“ (ebda, S.85f.).
Zurecht weist Yeo darauf hin, dass es zeitgleich
mit Tressell Frauen gab, die erste Ansätze zu einer feministischen Kritik
äußerten. Waren aber schon schreibende Arbeiter relativ selten,
so waren schreibende Arbeiterinnen absolute Ausnahmen. Dennoch gab es auch
in Hastings vereinzelt Frauen, die für die sozialistische Presse schrieben:
Yeo erwähnt Lily Bells Kolumne im Labour Leaderund Julia Dawsons Artikel für The
Clarion. Auch die militante Suffragette,
Kommunalpolitikerin und Abgeordnete der Independent Labour PartyHannah Mitchell (1871-1956) setzte sich nicht
nur wie Tressell für die geistige, sondern auch für die materielle
Unabhängigkeit der Frauen ein. Sie war der Meinung, dass für die
(männlichen) Sozialisten nur die Klassen-, nicht aber die Geschlechterfrage
zählte. Obwohl ihr eigener Ehemann sie so gut er es verstand unterstützte,
schrieb sie:
„Die meisten von uns verheirateten Frauen mussten feststellen,
dass das Frauenwahlrecht unsere Männer weniger interessierte als ihr
Mittagessen“ (H. Mitchell, S. 149).
Von ihr stammt auch der Ausspruch: „Wir verheirateten Frauen mussten unsere
Arbeit stets mit einer Hand leisten. Die andere war gefesselt.“
Eine wichtige Rolle spielte dieCooperative
Women’s Guild, die Frauenvereinigung der
Genossenschaftsorganisation, die sich zum Ziel setzte,
„ihren Mitgliedern den Weg zur aktiven Bürgerin zu
öffnen und ihnen die Kompetenzen für ein Leben in der Öffentlichkeit
zu vermitteln, d.h. sie zu befähigen, Meetings zu veranstalten, öffentlich
zu sprechen und für die Öffentlichkeit zu schreiben“,
wie die langjährige Generalsekretärin
der Organisation Margaret Llewellyn Davies (1861-1944) in ihren Schriften
Maternity. Letters from Working Women (1915) und Life as we have known it
(1931) erklärte.
Yeos feministische Kritik zeigt die historisch bedingten
gesellschaftskritischen Grenzen der Tressell’schen Gesellschaftskritik, die
auf den Umstand zurückzuführen sind, dass die damalige Arbeiterbewegung
eine in erster Linie von männlichen Industriearbeitern dominierte Bewegung
war, die deren Interessen als die Interessen aller Lohnabhängigen
ansah. Indem sie die Abhängigkeit der Arbeiterfrauen von ihren Ehemännern
durch die Institution des Familienlohns zementierte, blendete sie die Geschlechterverhältnisse
aus. Daraus ergab sich auch eine diskriminierende Haltung gegenüber
den Arbeiterinnen. Die Arbeiterbewegung war damals außerstande, die
Interessen der weiblichen Lohnabhängigen gleichberechtigt zu vertreten.
Noch weniger vermochten die Sozialisten dieser Periode Zukunftsvisionen zu
gestalten, in denen die Geschlechtergerechtigkeit einen Ort gehabt hätte.
Auch die marxistische Theorie bot lediglich Ansätze, die als Ausgangspunkt
für eine Analyse der Geschlechterverhältnisse hätten angesehen
werden können.
Ideologiekritik an den RTP
Ashrafs und Mitchells Einwände gegenüber Tressells
Ideologie bzw. seinen theoretischen Positionen, wie diese im Werk in Erscheinung
treten, widerspiegeln die von beiden Autoren und damals allgemein vertretene
marxistische Gesellschaftstheorie. Ihre ideologiekritische Bewertung der
RTP erhellt viele Facetten der damaligen weltanschaulichen Standpunkte, Wertungen,
Visionen und Illusionen. Sie steht in unaufgelöstem Widerspruch zur ästhetischen
und spezial rezeptionsästhetischen Bewertung des Buchs durch die gleichen
Autoren. Dies war damals weder Ashraf noch Mitchell selbst, noch uns, ihren
KollegInnen bewusst. Die historische Desillusionierung von 1989 mit ihren
gesellschaftstheoretischen Schlussfolgerungen ermöglicht es heute, diese
Widersprüche er erkennen. Beide Autoren waren kompetente und verdienstvolle
Literaturwissenschaftler, imstande, RTP sensibel als ein Wortkunstwerk und
nicht als eine Agitationsschrift zu analysieren und es als einen Klassiker
der britischen Arbeiterliteratur einzuschätzen. Bei ihrer Bewertung der
Wirkung des Werks vor allem auf das Arbeiter- und sozialistische Publikum
gingen sie ebenfalls von literaturwissenschaftlichen Kriterien aus.
Beide Autoren stellten aber bei Tressell künstlerische
Defizite fest, die sie ausschließlich ideologisch begründen. Warum
solche Mängel der künstlerischen Qualität die Wirkung des
Werks auf das Arbeiterpublikum in keiner Weise minderte, vermochten sie nicht
zu erklären.
Mary Ashraf drückte ihr Erstaunen darüber aus,
dass sich Tressell
„einen Ruf als politischer Erzieher erworben [habe], ungeachtet seiner
vulgärmarxistischen Ökonomie und seiner undialektischen Darstellung
der gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus, und was vielleicht noch
mehr überraschen mag, trotz seines halb Owenistischen und halb gildensozialistischen
Programms des allmählichen Auspressens und Auskaufens der Kapitalisten.
Dieser Roman hat für die Gewerkschaft geworben, obwohl die Gewerkschaftsbewegung
in ihm kaum eine aktive Rolle spielt“ (Ashraf, S.677).
So habe Barrington in seiner großen Rede den Klassenkampf
der Arbeiter mit keinem Wort erwähnt, noch ging er
„auf irgendwelche Initiativen der Arbeiterklasse in der Vergangenheit
oder auf irgendeinen vorangegangenen demokratischen oder proletarischen,
politischen oder ökonomischen Kampf [ein]. Die ‚Rede’ zeigt die Massen
nur als die passiven Opfer der Unterdrückung, und es gibt keine Andeutung
darüber, dass die Arbeiterklasse als Klasse die Macht übernehmen
wird. Eine sozialistische Regierung – wie sie zur Macht gekommen ist, erfährt
der Leser nicht – wird staatliche Industrien aufbauen, und allmählich
werden die Arbeiter die Dienste der Kapitalisten quittieren, weil sie in
den staatlichen Unternehmen besser bezahlt werden. Die Arbeiter werden ‚Teil
der Gemeinschaft’ sein. Vielleicht erklärt diese Haltung, warum Tressell
seine positiven revolutionären Ideen nicht durch objektivierte Handlung
ausdrücken konnte und warum es den Charakteren ... an individueller
Tiefe und Wärme mangelte, warum sie nur dazu dienen, das Spießertum
in der Arbeiterklasse und die Bestialität der Bourgeoisie satirisch
darzustellen, oder das Pathos von Opfern zu schaffen“ (ebda, S.681).
In der Tat wird in der Great Oration eine Zukunftsvision
beschrieben, in der die neue Gesellschaft scheinbar ohne Zutun von Menschen
zustande gekommen ist. Auch in vielen anderen damaligen utopischen Romanen
ist die neue bessere Welt irgendwann einmal da. Von einer gemeinsamen Strategie,
mit deren Hilfe die Transformation vollzogen wird, ist bei Tressell nicht
die Rede.
Der Ausgangspunkt dieser Kritik ist Tressells von seinen
Kritikern abweichende Auffassung über die Rolle der Arbeiterklasse.
Tressell sah in der Arbeiterklasse nicht nur Lohn- sondern auch geistig von
den Besitzern der Produktionsmittel Abhängige. Er sah keine „gesetzmäßige
Entwicklung“, die die Arbeiter naturnotwendig zur Erkenntnis führen
würde, dass der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft in ihrem
Interesse sei. Gewiss wehrten sie sich gegen allzu unverschämte Formen
der Ausbeutung und Diskriminierung und organisierten sich zu diesem Zweck
in Gewerkschaften, Genossenschaften und Sozialversicherungskassen. Nur eine
Minderheit hatte die Chance, Bildung zu erwerben, die es ihr ermöglichte,
sozialistische Visionen zu verstehen oder gar zu entwickeln.
Ashraf und Mitchell gingen dagegen von der Auffassung aus,
„dass die Arbeiterklasse als Klasse ihre historische Mission erfüllen
und die Macht übernehmen wird“.
Wer von dieser klassisch marxistischen Vision ausging,
musste von einem sozialistischen Kunstwerk erwarten, dass es die Arbeiter
wenigstens im Prozess einer sich vom Opferstatus befreienden Klasse gestaltete,
nicht aber das Spießertum in der Arbeiterklasse hervorkehrte.
Mary Ashrafs als auch Jack Mitchells Kritik an Noonan liegt
der Vorwurf zugrunde, der Schriftsteller habe die Arbeiter nicht im Prozess
des Überwindens ihrer spießigen Borniertheit bzw. ihres Opferstatus
gezeigt, sondern als statische, quasi unveränderliche soziale Gegebenheiten.
„Die letzten Kapitel der Ragged-Trousered Philanthropists sind, insgesamt
betrachtet, schwächer als die übrigen Teile des Buchs. Sie sind
statisch, als wüsste Tressell nicht recht, wie er aus der Grundsituation
heraus vorwärts schreiten müsse. Infolgedessen macht sich eine
Tendenz zur Wiederholung bemerkbar, weitere Arbeitssituationen zu schildern
usw., die dem eigentlichen Anliegen des Buchs wenig neues hinzufügen.“
(Mitchell, S. 193)
Ashraf, die Frederick Ball der „Heldenanbetung“ zeiht,
weil „Tressells Verdienste bei ihm nicht vorhandene Ausmaße annehmen“
(Ashraf, S.682), stimmt mit ihm aber überein, dass Tressell seine sozialistische
Vision nicht in Einklang mit seinen „Bildern aus dem Arbeiterleben“ bringen
konnte.
Wieder ist Ashraf zufolge Tressells Fehler weltanschaulicher
Art; seine sozialistische Vision ist mit der ihren nicht in Einklang zu bringen.
[S]eine Vision vom Sozialismus war in jeder Beziehung so unrealistisch,
dass sie sich mit der Hauptstruktur und dem Geist seines Romans nicht vertrug.“
(ebda, S. 686).
Während Ball dieses Defizit darauf zurückführt,
dass Tressell die Wirklichkeit wie ein Künstler (und nicht realistisch)
sah, meint Ashraf,
„Im Gegenteil. Es entsteht dort, wo seine künstlerische Wahrnehmung
und seine künstlerischen Mittel versagen. Ein großer Künstler
ist er dort, wo er konkret die Realität darstellt, sobald er dagegen
über Kunst oder über die Ideale des Sozialismus philosophiert,
werden andere Einflüsse deutlich: Idealisierung des Mittelalters, individualistische
Vorstellungen von persönlicher Freiheit und persönlichem Glück,
an Stelle wirklichem Kollektivismus als dem Ideal der sozialistischen Gesellschaft“
(ebda).
Selbstverständlich kann Tressells ästhetischer
Realismus sich nur auf die Realität des Arbeiterlebens und nicht auf
Zukunftsvisionen beziehen. Die Forderung nach einer „realistischen Sozialismusvision“
entsprang dem Determinismus vor allem des damaligen Parteimarxismus. Zum
einen philosophiert nicht Tressell, sondern die Figur Owen in den RTP über
die Ideale des Sozialismus und es kann daher nur darum gehen zu prüfen,
ob diese literarische Figur und ihre Visionen zeitgemäß und plausibel
sind und nicht, ob alles, was Owen sagt, den Visionen und weltanschaulichen
Positionen späterer LeserInnen entspricht. Wie Ashraf sieht auch Jack
Mitchell Schwächen vor allem im späteren Teil des Buches, die seiner
Meinung nach ebenfalls ideologischen Defiziten des Autors geschuldet sind.
Diese hätten ihre Ursache im Zustand der damaligen revolutionären
Arbeiterbewegung, der SDF, in der das immer noch das alte einseitig agitatorische
Vorgehen üblich war. Eine radikale Veränderung war notwendig geworden.
„Tressell ist sich dessen nicht bewusst. Er macht die Massen, nicht die
Sozialisten, für die Stagnation verantwortlich – daher seine Verzweiflung“
(Mitchell, S.196).
Mitchell führt Tressells Verzweiflung über die
Borniertheit der Arbeiter und Owens und Barringtons Glauben an die Effektivität
rationaler Agitation somit auf die überholte Strategie der Social
Democratic Federation zurück (Mitchell, S. 192). Diese setzte auf
den spontanen Zusammenbruch des Kapitalismus und hielt sich daher von den
alltäglichen gewerkschaftlichen und anderen politischen und wirtschaftlichen
Kämpfen der Arbeiter fern, die diese ihrer Meinung nach nur vom Kampf
um den Sozialismus ablenken würden; sie versprach sich davon lediglich
eine Milderung der Ausbeutung. Aus dieser politischen Haltung der SDF rühre
Mitchell zufolge Tressells „scheinbar unlösbares“ (Mitchell, S.193)
künstlerisches Dilemma:
„Die letzten Teile des Romans, in denen diese Schwäche am deutlichsten
hervortritt, wurden wahrscheinlich 1910 -11 geschrieben. Es war das letzte
Lebensjahr Tressells, das zusammenfiel mit einer wachsenden Stimmung in der
sozialistischen Bewegung, dass eine radikale Veränderung der Strategie
und Taktik notwendig sei, was dann 1911 zur Gründung der British Socialist
Party, der Vorgängerin der Kommunistischen Partei, führte“ (ebda,
S.195).
Mitchell zitiert Tressells Kritik an den Sozialisten im
Kapitel „Das Beano“ (Tressell 2002; in der Ausgabe von 1958 verständlicher
„Der Betriebsausflug“ betitelt), die zeigt, dass der Autor der RTP die Unreife
der sozialistischen Bewegung durchaus wahrzunehmen imstande war. Die Sozialisten
könnten sehr wohl das Wesen und die Ursachen der Armut erklären
und hätten auch einen „vernünftigen Plan zur Ausmerzung von Armut“.
Sobald man sie jedoch frage, wie dieser Plan verwirklicht werden sollte,
„erwiderten sie, sie hofften, es den anderen durch vernünftige Beweisführung
klarzumachen!“ (ebda, S.493).
In Zeiten, in denen es viel Elend, aber wenig organisierten
Widerstand gibt, klammern sich Weltverbesserer aller Couleurs an die Hoffnung,
ihre Agitation werde die Massen zur Einsicht bringen.
Tressell war aber nicht nur Mitglied der SDF, er war auch
aktives Mitglied der Bauarbeitergewerkschaft, deren Niedergang vermutlich
wesentlich zu seiner Depression beitrug. Es ist eher unwahrscheinlich, dass
die Strategie der SDF oder die theoretischen Positionen, wie sie vom Vorsitzenden
Hyndman vertreten wurden, Einfluss auf Tressells Gestaltung der beiden Sozialisten
in RTP hatten.
Verursachte Noonans Vertrauen in die weltverändernde
Kraft der Agitation und sein Mangel an Vertrauen in die „historische Mission“
der Arbeiterklasse, wie sie sich im Werk widerspiegeln, aber die von Mitchell
festgestellte künstlerische Schwäche? Ist „die Tendenz zur Wiederholung
, die dem eigentlichen Anliegen des Buchs wenig neues hinzufügen“ kann,
(Mitchell, S. 193) eine künstlerische Schwäche oder ein künstlerisches
Mittel, das Tressell einsetzt um den ungebrochenen, hoffnungslos erscheinenden
Kreislauf des Arbeiterlebens zu gestalten, der – nach Meinung des Autors
– nur durch die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen gesellschaftlichen
Veränderung gebrochen werden könne. Für diese Veränderung
hat er keine Strategie und kennt keine Akteure. Um der künstlerischen
Wahrheit die Ehre zu geben, kann er diese Fragen, wie er es tut, nur offen
lassen.
Die Kritik an Tressells Sozialisten
Die Sozialisten unter Tressells Arbeitern zeichnen sich
bereits durch ihre Sprache aus. Während ihre proletarischen Kollegen
wie Londoner Arbeiter sprechen und auch die Sprache der Bosse durch phonetische
und grammatikalische Abweichungen vom Standard Englisch gekennzeichnet ist,
die sie als wenig Gebildete ausweisen, ist
„Owens Sprache der Höhepunkt einer Tradition sozialistischer Traktate,
Vorlesungen und verschiedener Agitationstätigkeit der vergangenen zwanzig
Jahre. In ihrer Klarheit, Wandlungs-, Verallgemeinerungs- und Abstraktionsfähigkeit
ist sie ein perfektes Instrument für seine Zwecke. Tressells bewusster
Gegensatz zwischen der Sprache der einfachen Arbeiter und der Sozialisten
ist ein wichtiges Element seiner Beschreibung des Hauptproblems der britischen
Arbeiterbewegung: ihrer theoretische Schwäche, der Kluft zwischen der
Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus und den Massen.“ (Mitchell, S.
182)
Diese Kluft sei als Mittel der Satire gerechtfertigt, impliziere
aber eine politische Schwäche. Owens Reden wirkten dadurch gelegentlich
selbstgerecht und abgehoben. Auch Ashraf zitiert zustimmend Frederick Balls
Meinung, es sei nicht gelungen, „die Figur Frank Owens in die Gegenwart zu
integrieren“. Es entstehe der „Eindruck, dass Owen und Norah sich von ihren
Nachbarn unterscheiden, ihnen gegenüber als höhergestellt erscheinen
und so die unrealsten von allen Charakteren sind.“ (Ashraf , S.683). Ashraf
sieht dieses Gefälle zwischen den Sozialisten und der Masse der Proletarier
ebenfalls als Schwäche der Darstellung,
„der Grund dafür ist in dem unzureichenden Durchdringen des historischen
Materialismus zu sehen und in einer doktrinär sektiererischen Art sozialistischer
Theorie. ... Die Brücke zwischen Zukunftsvision und Gegenwart muß
in der Natur der Prognose liegen, und das Auge des Künstlers ist aufgerufen,
den Schnittpunkt zu finden, wo ursprüngliche Organisation, primitives
Klassenbewusstsein und Bestrebungen, die dem Proletariat durch seinen Kampf
aufgezwungen werden, sich in Richtung wissenschaftlicher Sozialismus umzuwandeln
beginnen.“ (ebda, S.683f.)
Ashraf geht, hier dem historischen Determinismus in der
kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts folgend, davon aus, dass sich
das Proletariat „gesetzmäßig“ auf die kommunistische Bewegung
zu bewegt. Diese Prognose hat sich als weltgeschichtlich allenfalls als zeitweilig
zutreffend, letztendlich aber als falsch erwiesen. Richtig ist jedoch dennoch,
dass der Künstler aufgerufen ist, den Schnittpunkt zu finden, wo ursprüngliche
Organisation, primitives Klassenbewusstsein und Bestrebungen, die den Ausgebeuteten,
Ausgegrenzten, Diskriminierten dieser Welt durch ihren Kampf aufgezwungen
werden, sich weiterentwickeln. Das kann in Richtung höherer, effizienterer
Organisation gehen, wodurch Situationen entstehen, in denen sich Massen den
Visionären anschließen, kann längerfristige Stagnation bedeuten
oder auch Fehlentwicklungen in rechtsextreme oder terroristische Richtung.
Stets gibt es mehrere Optionen, und nur im Rückblick kann ermittelt
werden, warum eine bestimmte und keine andere realisiert wurde. Bei Tressell
stehen wahrheitsgemäß wenige einsame Rufer in der Wildnis, die
die Vision einer besseren Welt für alle verkünden, der Masse der
unorganisierten, bornierten und leidenden Arbeitern gegenüber.
Warum und wo wirkt Owens Sprache, die sowohl „in ihrer
Klarheit, Wandlungs-, Verallgemeinerungs- und Abstraktionsfähigkeit
ein perfektes Instrument für seine Zwecke“ (Mitchell), d.h. für
das Überzeugen seiner Kollegen ist, selbstgerecht und abgehoben? Seine
Unterhaltung mit dem Arbeiter Easton zeigt, dass er keine Gelegenheit auslässt,
seine Kollegen dafür zu kritisieren, dass sie nicht zu entdecken versuchen,
wie das gegenwärtige System abzuschaffen wäre und denen nicht
helfen, die versuchen eine bessere Ordnung der Dinge zustande zu bringen.
(Tressell 2002, S.143.) Der von Owen belehrte Easton „wusste, das alles [was
Owen ihm sagte] war zutreffend. ... Er war sehr gereizt, als er dem anderen
zuhörte. Owen spürte es, fuhr aber ungeachtet dessen fort“ (ebda,
S.142). Owen warf seinem Kollegen vor, er habe kein Recht, gleichgültig
gegenüber dem Schicksal des Kindes zu sein, für dessen Leben auf
der Welt er verantwortlich sei. „Wer nicht hilft, für die Zukunft bessere
Verhältnisse zustande zu bringen, hilft das gegenwärtige Elend
zu verewigen und ist deswegen der Feind seiner eigenen Kinder“ (ebda.).
Easton war froh, als der Polier Hunter, Misery genannt, angekündigt
und das Gespräch damit beendet wurde. Dennoch nimmt er Owen nicht übel,
dass dieser ihn belehrt. Owen konnte sich später sogar herausnehmen,
Easton offen zu sagen, dass er ihm und nicht seiner Frau Ruth die größere
Schuld am Zusammenbruch ihrer Ehe gab. Ungeachtet der Unterschiede in Allgemeinwissen
und sprachlichem Ausdruck, ist Owen kein Außenseiter. Die Arbeiter
behandeln ihn als eine Vertrauensperson. Easton erzählt ihm von seinen
Geldsorgen und dass er froh ist einen Untermieter gefunden zu haben. Owen,
der später gemeinsam mit seiner Frau Norah bereit ist, Ruths aus ihrem
Seitensprung mit dem Untermieter Slyme stammendes Baby an Kindes statt anzunehmen,
darf Easton ungeschminkt die Meinung sagen. In seiner Familienangelegenheit
kann Easton auch Owens Meinung verarbeiten und akzeptieren. In der gesellschaftspolitischen
Debatte reicht aber seine Bildung nicht aus, um Owens Denkangebote anzunehmen.
Sie beunruhigen ihn aber immerhin.
Auch der kleine Bert bittet Owen, mit ihm zusammen arbeiten
zu dürfen. Wenn überhaupt ein Sozialist von den hier geschilderten
Arbeitern anerkannt und ihm zugehört wird, dann jemand wie er. Aber
Bildung und Verständnis dieser Schicht von Arbeitern reichten damals,
in einer Situation wirtschaftlicher Stagnation und politischer Apathie nicht
aus, um sich über den theoretischen Einstieg ein Verständnis ihrer
Lage zu verschaffen. Nur wenige Arbeiter waren damals bereit und fähig,
sich der geistigen Anstrengung zu unterziehen, die politische Bildung ihnen
abverlangte. Die von Tressell so realistisch gestalteten „ungebildeten“ Arbeiter
gehörten nicht dazu. Sie waren zur selbstverständlichen Anerkennung
der bestehenden Verhältnissen erzogen worden und stellten diese und
ihren eigenen untergeordneten Status darin nicht infrage, solange sich die
Situation nicht auf eine Weise veränderte, die es ihnen ermöglichte,
organisiert zu handeln und dabei politische Erfahrungen zu machen, die ihr
Verständnis für das Wesen der Gesellschaft erweiterten und damit
die Voraussetzung schufen, dass sie ihre Erfahrungen verallgemeinern konnten.
Gerade weil Tressell die negative Reaktion eben jener unaufgeschlossenen
Arbeiter auf Owens und Barringtons sozialistische Agitation so ungeschminkt
darstellte, war das Buch auch unter wenig aufgeschlossenen, unorganisierten
Arbeitern so populär. Sie konnten sich zur Kritik der Figur Frank Owens
an ihresgleichen verhalten, wie sie es für richtig hielten. Der Autor
Tressell gab auch die Eastons, Harlows oder Philpots nicht preis, ja nicht
einmal den Polier Crass. Wie weit sich die Leser der RTP mit den sozialistischen
„Vorlesungen“ identifizierten, blieb ihnen überlassen, sie konnten sie
auch einfach ignorieren und sich mit den bornierten Gegenargumenten im Buch
solidarisieren.
Ashraf und Mitchell übersahen, dass sich Arbeiter
mit dem Erwerb von Bildung und Qualifikation gleich welcher Art unvermeidlich
dem Habitus nach von der Masse ihrer unqualifizierten, ungebildeten und neuen
Erkenntnissen gegenüber nicht aufgeschlossenen Kollegen abzuheben beginnen.
Damit setzt aber unvermeidlich ein Prozess der Ablösung von ihrer Ursprungsschicht
ein. Auch die von der Arbeiterbewegung vermittelte marxistische Bildung isoliert
die solcherart Gebildeten von den nicht gebildeten Arbeitern, auch wenn sie
sich nicht wie viele Aufsteiger in die bürgerliche Intelligenz von ihresgleichen
abwenden sondern deren Interessen weiterhin vertreten. Sie vertreten diese
als Intellektuelle ihrer Klasse.
Antonio Gramsci wies darauf hin, dass
„im historischen Prozeß spezialisierte Kategorien für die Ausübung
der intellektuellen Funktion [entstehen], sie entstehen in Verbindung mit
allen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere aber in Verbindung mit den
grundlegenden gesellschaftlichen Gruppen und erfahren in Verbindung mit der
herrschenden gesellschaftlichen Gruppe tiefgreifende und umfassende Veränderungen
(Gramsci,226). ... Das Problem der Schaffung einer neuen Intellektuellenschicht
besteht folglich darin, kritisch die intellektuelle Tätigkeit herauszuarbeiten,
die bei jedem bis zu einem gewissen Grad vorhanden ist, und deren Verhältnis
zur körperlichen Arbeit in Richtung auf ein neues Gleichgewicht zu verändern.
... Die Daseinsweise des neuen Intellektuellen ... [muss] im aktiven Eingreifen
in das praktische Leben als Erbauer, Organisator mit ‚anhaltender Überzeugungskraft’
[bestehen] ... von der Technik-Arbeit gelangt er zur Technik-Wissenschaft
und zur historischen humanistischen Konzeption ...“ (ebda, S. 231f.)
Offenbar ist die Entstehung von Intellektuellen aus der
Lohnarbeiterklasse ein Prozess, der zur Zeit Tressells in anderen Schichten
dieser Klasse bereits weiter fortgeschritten war. Die Kritik an der Figur
des Frank Owen und seiner Sprache geht von einer fiktiven Homogenität
der Arbeiterklasse als der sozialen Grundlage gemeinsamer sozialer, politischer
und wirtschaftlicher Interessen aus. Gewiss gab es in bestimmten wichtigen
Fragen Interessenübereinstimmung zwischen verschiedenen Segmenten der
Lohnabhängigen. Eine Interessenidentität zwischen all denjenigen,
die im wesentlichen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Besitzer der Produktionsmittel
ihre Existenz bestritten, bestand aber bereits nicht mehr, wenn sie denn
je bestanden hat, als Engels 1892 im Vorwort zur englischen Ausgabe der „Lage
der arbeitenden Klasse“ schrieb:
„Zeitweilig gab es Besserung, selbst für die große Masse. Aber
diese Besserung wurde immer wieder auf das alte Niveau herbgebracht, durch
den Zustrom der großen Menge der unbeschäftigten Reserve, ...
Eine dauernde Hebung findet sich nur bei zwei ‚beschützten’ Abteilungen
der Arbeiterklasse. Davon sind die erste die Fabrikarbeiter. ... Ihre Lage
ist unzweifelhaft besser als vor 1848. ... Zweitens die großen Trade
Unions. Sie sind die Organisationen der Arbeitszweige, in denen die Arbeit
erwachsener Männer allein anwendbar ist oder doch vorherrscht. Hier
ist die Konkurrenz weder der Weiber- und der Kinderarbeit, noch der Maschinerie
bisher imstande gewesen, ihre organisierte Stärke zu brechen. Die Maschinenschlosser,
Zimmerleute und Schreiner, Bauarbeiter sind jede für sich eine Macht,
so sehr, daß sie selbst, wie die Bauarbeiter tun, der Einführung
der Maschinerie erfolgreich widerstehen können. Ihre Lage hat sich unzweifelhaft
seit 1848 merkwürdig verbessert; ... Sie bilden eine Aristokratie in
der Arbeiterklasse; sie haben es fertiggebracht, sich eine verhältnismäßig
komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgültig.
... sie sind in der Tat sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen
Kapitalisten im besondern und für die Kapitalistenklasse im allgemeinen.
Aber was die große Masse der Arbeiter betrifft, so steht das Niveau
des Elends und der Existenzunsicherheit für sie heute ebenso niedrig,
wenn nicht niedriger als je.“ (MEW, 22, S.173f.).
Die Krisen um die Jahrhundertwende haben das, was Engels
über die Bauarbeiter schrieb, weitgehend modifiziert. Wie die Hafenarbeiter
gehörten sie zu Noonans Zeit in Hastings in der Regel zu den befristet
tätigen Gelegenheitsarbeitern, deren Arbeitsplatz prekär, ungesichert
und schlecht bezahlt war. Inzwischen hat sich die Segmentierung der Lohn-
und GehaltsempfängerInnen stark ausgeweitet, neue Gegensätze und
Interessenkonflikte sind aufgebrochen und die Gruppe der prekär Beschäftigten
ist erheblich gewachsen. Allerdings sind auch neue gemeinsame Interessen
zwischen verschiedenen Segmenten von Erwerbstätigen und auch zwischen
diesen und sogenannten „Selbständigen“, sowie Klein- und mittelständischen
Unternehmern entstanden.
Gleichzeitig mit der Überzeugung von den homogenen
Interessen der Arbeiterklasse ging besonders die kommunistische Bewegung
davon aus, dass in der Partei eine Avantgarde geschaffen werden müsse,
die kraft ihrer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ dazu berufen sei, die
nicht wissenschaftlich gebildeten und aus ihrer Erfahrung mit entfremdeter
Arbeit bestenfalls ihre unmittelbaren gewerkschaftlichen Interessen erkennenden
Arbeiter zu führen.
Marx und Engels in Die deutsche Ideologiezufolge,
ist diese Entfremdung das gesellschaftliche Phänomen, bei dem
„[d]ie soziale Macht, d.h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch
das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen
entsteht, ... diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig,
sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern
als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt [erscheint], von der sie
nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können,
die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen
unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge
von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“ (MEW, 3, S.34) Bei den
Proletariern ... ist ihre eigne Lebensbedingung, die Arbeit, und damit sämtliche
Existenzbedingungen der heutigen Gesellschaft, für sie zu etwas Zufälligem
geworden, worüber einzelne Personen keine Kontrolle haben und worüber
ihnen keinegesellschaftliche Organisation eine Kontrolle geben kann, und der
Widerspruch zwischen der Persönlichkeit des einzelnen Proletariers und
seiner ihm aufgedrängten Lebensbedingung, der Arbeit, tritt für
ihn selbst hervor, namentlich da er schon von Jugend auf geopfert wird und
da ihm die Chance fehlt, innerhalb seiner Klasse zu den Bedingungen zu kommen,
die ihn in die andre stellen“ (ebda, S.77).
In der durch Entfremdung gekennzeichneten Gesellschaft
können sich die Arbeiter nicht befreien, wenn sie deren Wesen nicht
als entfremdet begreifen. Empirische Widerstandserfahrung allein ohne theoretische
Verallgemeinerung nützt ihnen ebenso wenig, wie utopische Visionen ohne
praktische Kampferfahrung. Gesellschaftliche Veränderungen sind also
ohne Intellektuelle, die auf der Grundlage verallgemeinerter Ausbeutungserfahrungen
die Strategie entwickeln, nicht möglich.
Die dafür erforderliche politische Bildung, wird auch
manuell Arbeitenden, die Gramsci zufolge alle bis zu einem gewissen Grad
ebenfalls intellektuelle Tätigkeiten durchführen, ermöglichen,
ihr Verhältnis zur körperlichen Arbeit neu zu gewichten (Gramsci,
S. 231); solche Bildung wird ihnen durch Gewerkschaften und Arbeiterparteien
ermöglicht. Sie löst einen sozialen Aufstieg aus, der Individuen
nicht selten aus der Solidarität mit ihrer Ursprungsklasse herausführte.
Und selbst wer wie „Frank Owen, der Facharbeiter, Sozialist, Mitglied der
Malergewerkschaft und des örtlichen Trades Council, Tressells
höchster und konzentriertester Ausdruck seines Glaubens an die Humanität
der Arbeiter“ (Mitchell, S.122), kein Aufsteiger ist, sondern das Leben und
die Interessen der Bauarbeiter in jeder Hinsicht teilt, entfernt sich durch
seine durch die politische Bildung erworbene Intellektualität unweigerlich
in gewissem Maße von den Lebensgewohnheiten der Kollegen.
Ashraf konstatiert einerseits, dass
„Owens ziemlich fernabgelegener Intellektualismus ... die Dinge beinahe
vom Standpunkt eines Außenseiters sieht (Ashraf, S.685)
Andererseits erklärt sie aber, Tressell
„unterwirft die allgemeinen Lebenserfahrungen der Arbeiter einer bewussten
Kritik, ... er steht auf keinen Fall außerhalb. Owens Charakter ist
niemals überzeugender oder realistische als dann, wenn er trotz seines
Sozialismus und seiner geistigen Überlegenheit unter der gleichen primitiven
Verzweiflung und Furcht leidet, wie unzählige der am meisten Ausgebeuteten
und Zurückgebliebenen.“ (ebda, S,687f.)
Zu seiner Persönlichkeit gehörte notwendigerweise
beides: Sein Intellektualismus – Folge seiner Nutzung der Bildungsmöglichkeiten,
die ihm die Arbeiterbewegung damals bot – , der es ihm ermöglichte,
sich vom naiven Eingebundensein in den Herrschaftsdiskurs zu befreien und
seine und die Situation seiner Klasse und Schicht zu reflektieren. Dazu gehörte
aber auch sein Eingebundensein in das Elend des Arbeiterdaseins in prekären,
schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsstellen. Diese Facette seines Lebens
konnte er, anders als die anderen, historisch und politisch reflektieren.
er musste sich somit von seinesgleichen unterscheiden. Er verzweifelt an
seinen Kollegen, die sich weigern, zu entdecken, wie das gegenwärtige
System abzuschaffen wäre und die denen nicht helfen, die versuchen
eine bessere Ordnung der Dinge zustande zu bringen. An keiner Stelle des
Romans gibt er es auf, für ihre Interessen so gut wie er diese versteht
zu kämpfen, aber er kann nicht umhin, sich von seinesgleichen zu unterscheiden.
In dieser Beziehung gehört er zu der Minderheit der Intellektuellen
aus der Arbeiterklasse, die weiterhin die Arbeits- und Lebensverhältnisse
ihrer Herkunftsschicht teilen und nicht als Funktionäre, Abgeordnete,
Wissenschaftler oder Beamte diese Arbeits- und Lebensverhältnisse dauerhaft
verlassen.
Es gelang Tressell hervorragend, lebensnahe Arbeiter eines
ganz bestimmten Segments der Arbeiterklasse zu zeichnen, sowie in den Figuren
des Frank Owen und Barringtons Arbeiterintellektuelle seiner Zeit abzubilden.
Der von Tressell beschriebene Teil der Klasse war für sich genommen
unfähig, die eigene Lage zu reflektieren, geschweige denn die kapitalistische
Gesellschaft zu transformieren; die in diesem Milieu vorhandene, eher geringe
intellektuelle Potenz wird durch die beiden Figuren Owen und Barrington repräsentiert;
sie artikulieren erste, gewiss doktrinäre Überlegungen, wie eine
solche Transformation zustande kommen könne. Mit diesen Überlegungen
mussten sie bei der subjektiven Befindlichkeit ihrer Kollegen bei diesen
auf Widerspruch stoßen.
Mitchell verweist auf Gorkis „Die Mutter“ und bedauert,
dass
„Die ‚Menschenfreunde’ die neue revolutionäre Humanität der
Arbeiter auf ihrem höchsten und organisiertesten Niveau – des bewussten,
organisierten Kampfes – nicht zeigten ...“ (Mitchell, S.122).
Ihnen allen und nicht nur den Sozialisten in RTP eigne
vielmehr eine revolutionäre Romantik, die sich in dem im Buch gestalteten
Bemühen, das Volk für den Kampf zu bilden, manifestiere. Dieses
Bemühen scheint mir weniger einer revolutionären Romantik als vielmehr
der Unreife dieses Teils der Arbeiterklasse zur damaligen Zeit geschuldet
zu sein. Somit ist der Vergleich zwischen RTP und Gorkis „Mutter“ ahistorisch.
Die Verwandlung von Gorkis Wlassowa von einer ihre ständige Demütigung
widerspruchslos hinnehmenden unterdrückten Frau zu einer Revolutionärin
entspricht der Situation eines bedeutsamen Teils der zahlenmäßig
relativen kleinen Industriearbeiterschaft und ihres familiären Umfelds
im vorrevolutionären Russland. Gorki geht mit dieser Gestalt aber auch
keinen Schritt über das für das im damaligen zaristischen Russland
Plausible hinaus. Die Wlassowa erklärt uns nicht, wie der sozialistische
Staat errichtet werden und wie das Gemeinwesen organisiert sein würde.
Sie schließt sich den Streikenden im Betrieb ihres Sohnes an und fordert
zur Teilnahme an dem Streik auf. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ihre
Weiterentwicklung entspricht den Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen,
die in Zeiten des aktiven Widerstands in diesen involviert werden.
Die den Kritiken von Ashraf und Mitchell inhärente
Forderung, Tressell hätte die Weiterentwicklung dieser Arbeiter und
ihre allmähliche Integration in die revolutionäre Bewegung erkennbar
machen sollen, hätte für dieses spezielle Segment der Arbeiterklasse
im Widerspruch zur historischen Wahrheit gestanden. Die Forderung an Tressell
nach einem Protagonisten, der eine realistische Vision des Sozialismus vertritt,
ist unrealistisch, weil es eine einzige allein richtige und „realistische“
sozialistische Vision, die „nur“ verwirklicht zu werden braucht, nicht gibt.
Im Mittelpunkt von Tressells Darstellung stehen reale Arbeiter und unter
diesen einige wenige ebenfalls wirklichkeitsnahe Gestalten, die ihre Zukunftsvorstellungen
ihren Kollegen vermitteln wollen, um diese zu einer anderen Haltung und damit
zu anderem Handeln zu bewegen. Ihre Zukunftsvorstellungen sind so defizitär
wie es auf andere Weise heute die unseren sind und notwendigerweise sein
müssen, da Visionen keine Baupläne sind. Alle bisherigen Vorstellungen
und Visionen von der gerechten Gesellschaft haben dazu beigetragen, diejenigen,
die sie entwickelten, verbreiteten und durchzusetzen versuchten, von bestimmten
veralteten und inhumanen Positionen zu befreien. Dieser Emanzipationsprozess
ist niemals ganz ohne Wirkung auf die Gesellschaft geblieben, auch wenn die
Weltverbesserer geschlagen wurden und keine der Vorstellungen und Visionen
verwirklicht werden konnte.
Wie wir heute wissen, fehlten auch der von Mitchell beschworenen
kommunistischen Partei Großbritanniens und nicht nur dort emanzipierte
AkteurInnen, die Gemeinschaftlichkeit des Handelns ohne die Reproduktion
herrschaftsförmiger hierarchischer gesellschaftlicher Beziehungen hätten
organisieren und dauerhaft installieren können. Sie fehlten allen bisherigen
Befreiungsbewegungen von Unterdrückten und fehlen bis heute. Dies aber
wäre eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen eines sozialistischen
Projekts.
Sind die Ragged-Trousered Philanthropists ein gelungenes
Kunstwerk?
Die literaturwissenchaftliche Kritik von Ashraf und Mitchell
an den RTP, die hier auch für andere, von gleichen oder ähnlichen
weltanschaulichen Prämissen urteilenden KritikerInnen stehen, orientierte
sich damals noch sehr stark an Georg Lukàcs’ literaturtheoretischer
Auffassung von der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit.
Diese hat zwar
„die materialistische Basis der marxistischen Literaturtheorie verstärkt.
... Verhängnisvoll muß diese Rolle insofern genannt werden,
weil seine Auffassung nicht frei von mechanistischen Zügen war und wirklich
neue Lösungsvorschläge aus der poetischen Praxis sozialistische
Schriftsteller nicht oder doch nur einseitig berücksichtigte“,
schrieb Werner Mittenzwei 1977 in seinem Vorwort zur Herausgabe
von Lukàcs’ Kunst und objektive Wahrheit.
„Indem der Künstler Einzelmenschen und Einzelsituationen gestaltet,
erweckt er den Schein des Lebens. Indem er sie zu exemplarischen Menschen,
Situationen (Einheit des Individuellen und Typischen) gestaltet, indem er
einen möglichst großen Reichtum der objektiven Bestimmungen des
Lebens als Einzelzüge individueller Menschen und Situationen unmittelbar
erlebbar macht, entsteht seine ‚eigene Welt’, die gerade darum die Widerspiegelung
des Lebens in seiner bewegten Gesamtheit, des Lebens als Prozeß und
Totalität ist, weil sie in ihrer Gesamtheit und in ihren Details die
gewöhnliche Widerspiegelung der Lebensvorgänge durch den Menschen
steigert und überbietet.“ (Lukàcs, S.78) „... eine solche Darstellung
kann unmöglich die tote und falsche Objektivität einer ‚parteilosen’
Abbildung ohne Stellungnahme, ohne Richtung, ohne Aufruf zur Aktivität
sein. ... diese Parteinahme [wird] nicht vom Subjekt willkürlich in
die Außenwelt hineingetragen ..., sondern [ist] eine der Wirklichkeit
selbst innewohnende treibende Kraft ..., die durch die richtige, dialektische
Widerspiegelung der Wirklichkeit bewusst gemacht und in die Praxis eingeführt
wird. Die Parteilichkeit der Objektivität muß sich deshalb im
Kunstwerk gesteigert wiederfinden. Gesteigert im Sinne der Klarheit und Deutlichkeit;
denn das Material des Kunstwerks wird ja vom Künstler bewusst auf dieses
Ziel hin, im Sinne dieser Parteilichkeit gruppiert und geordnet. Gesteigert
aber auch im Sinne der Objektivität; denn die Gestaltung des echten
Kunstwerks geht eben darauf hinaus, diese Parteilichkeit als Eigenschaft
der dargestellten Materie selbst zu gestalten, als treibende Kraft, die ihr
innewohnt, aus ihr organisch herauswächst.“ ((Lukàcs, S.78-80).
In der Tat ist Lukàcz zuzustimmen, dass es keine
‚parteilose’ Gestaltung von Realität „ohne Stellungnahme, ohne Richtung“
gibt. Das schreibende oder sprechende Subjekt, der Dichter, Schriftsteller
oder Wissenschaftler bringt sich und seine Weltsicht unvermeidlich in jeden
von ihm produzierten Text ein und dies legt Thema und Herangehensweise fest,
„ordnet das Material“ und bestimmt bei Kunstwerken auch die Erzählweise.
Leider hat die Vulgarisierung dieser Überlegungen besonders
von den 30er bis Ende der 50er Jahre die Aufnahmebereitschaft der marxistisch
orientierte LiteraturwissenschaftlerInnen für neue produktive theoretische
Positionen stark behindert. Diese Vulgarisierung führte zu normativen
Forderungen an Sujet, Erzählweise, Figurenensemble und dazu, realistische,
nicht dem Wunschbild der Verhältnisse, das kommunistische Parteiführungen
vertraten, entsprechende Darstellungen zu verketzern, als verstießen
sie gegen die „objektive Wahrheit“, weil sie angeblich „untypische“ Erscheinungen
in den Mittelpunkt stellten. Als typisch galten Figuren und Situationen nur,
wenn sie dem Klischee des „positiven Helden“ entsprachen und die vom Parteiapparat
antizipierten Zukunftsvorstellung ebenfalls getreu vorwegnahmen. Für
diese Simplifizierung war Lukàcs natürlich nicht verantwortlich
zu machen. Jedoch enthielten seine theoretischen Auffassungen von der Widerspiegelung
der Realität im Kunstobjekt im Kern eine spezifische Potenz, die sich
unter den Bedingungen einer stalinistisch deformierten kommunistischen Bewegung
sehr wohl kunst- und wahrheitsfeindlich auswirken konnte. So war für
den in Spanien gefallenen englischen Publizisten und Literaturkritiker Ralph
Fox (1900-1937), einen der prominentesten englischen Marxisten, ein Held,
der
„am Werk ist, seine Verhältnisse zu ändern, mit dem Leben fertig
zu werden, den Menschen, der sich in Übereinstimmung mit der geschichtlichen
Entwicklung befindet und imstande ist, Herr seines eigenen Schicksals zu
werden“ (Fox, S. 124)
das Wesensmerkmal sozialistischer Literatur. Daher war
für ihn ein Werk, das die Fremdbestimmtheit des Menschen unter kapitalistischen
Verhältnissen zum Gegenstand hatte, kein realistisches und schon gar
kein sozialistisches Werk. Übereinstimmung mit der geschichtlichen Entwicklung
bedeutete auch für ihn, seine Überzeugung von der historischen „Gesetzmäßigkeit“
des Sozialismus, die letztendlich keine andere Option zuließ, zum Gestaltungsprinzip
zu machen .
Ist Tressells Werk künstlerisch unbefriedigend und
unwirksam, weil seine Arbeiter borniert waren und seine Sozialisten sie nicht
überzeugen konnten? Bedeutete das, dass er unfähig war, „seine
positiven revolutionären Ideen durch objektivierte Handlung auszudrücken“?
War die Wirkung des Buchs auf das Arbeiterpublikum wirklich durch Noonans
ideologische Haltung oder die utopisch-sozialistischen theoretischen Positionen
beeinträchtigt, die er vertrat?
Im Roman reflektiert Noonan den tatsächlichen Zustand
jener große Masse der Arbeiter, für deren Lebensweise Elend und
Existenzunsicherheit charakteristisch sind, dadurch, dass die von ihm realistisch
und wahrheitsgetreu geschilderten Arbeitergestalten mehrheitlich entweder
angepasste Spießer oder hilflose Opfer des Systems sind, die ihre Befreiung
nicht durchsetzen konnten, ja nicht einmal wollten. Aber selbst unter diesen
gab es Sozialisten wie Owen und Barrington, gewiss eine verschwindende Minderheit,
aber dennoch Teil dieser Schicht. Sie wurden zwar von ihresgleichen entweder
als Narren oder Schurken angesehen und dennoch war vor allem Owen bei den
meisten seiner Kollegen eine Vertrauensperson, der zugehört wurde. Wahrheitsgetreu
lässt Tressell sie unausgereifte, teilweise verworrene, teilweise aber
durchaus auch heute noch bedenkenswerte emanzipatorische Ideen äußern.
Zu Noonans seinen sozialistischen Helden in den Mund gelegten Vorstellungen
gehörten, wie Mitchell richtig vermerkt, Thomas Carlyles Einsichten
in die Bedeutung menschlicher Arbeit, John Ruskins Auffassungen über
entfremdete Arbeit und William Morris Überlegungen zur Notwendigkeit,
die Menschen von entfremdender Arbeit zu befreien und ihnen zu ermöglichen,
sich mittels nicht entfremdeter Arbeit zu verwirklichen. Für die politisch
gebildeten und engagierten britischen Arbeiter um die Jahrhundertwende waren
sie, aber auch Bellamyund Morris die Autoren, die ihnen Visionen einer alternativen Gesellschaft
vermittelten. Morris ist einer der wenigen Schriftsteller, die ein relativ
konkretes Revolutionskonzept vorstellen. In seiner Utopie, „News from Nowhere“
(1890), unterstützt eine im Verlauf eskalierender Klassenkämpfe
entstandene Übergewerkschaft zunächst staatssozialistische Forderungen,
durch deren Realisierung die Organisiertheit der ArbeiterInnen wächst.
So können diese die Kapitalisten zwingen, Veränderungen zuzulassen,
und sogar in ihren eigenen Reihen „die unvermeidliche Korruption ihrer Führer
aufzudecken und abzustellen“ (Behrend, S.66). Schließlich führt
ein Generalstreik der inzwischen organisationserfahrenen Ausgebeuteten zur
Übernahme der Macht, wobei die Armee auf die Seite des Volkes übertritt.
„Grundsätzlich vertrat Morris wie Marx und Engels die Meinung, dass
sich der geschichtliche Transformationsprozeß auf dem Wege sowohl spontaner,
ungewollter und ungezielter Handlungen als auch bewusst sozialistisch orientierter
Aktivitäten vollziehen würde.“ (Ebda).
In gewisser Weise tragen Frank Owen und George Barrington
die mit diesen und anderen emanzipatorischen Ideen verbundene Tradition unter
das Volk. Dieses ist wenig aufnahmebereit und ein Wandlungsprozess scheint
nicht in Sicht. Gezeigt wird jedoch, dass die Arbeiterklasse imstande ist,
aus ihren Reihen Intellektuelle hervorzubringen, die Denkfähigkeit und
Engagement für gesellschaftliche Veränderungen entwickeln. Eine
Minderheit mit ungenügenden Führungsqualitäten und Überzeugungskraft,
gewiss. Die Gestalt des Frank Owen, ausgerüstet mit Herz und Verstand,
manifestiert jedoch in jeder Episode seine Lernfähigkeit. Die im Buch
gezeigte Zukunftshoffnung besteht in der Existenz und Unermüdlichkeit
solcher Gestalten wie Owen und Barrington und in der Fähigkeit zu Solidarität
und Mitmenschlichkeit, die selbst unter ungebildeten, spießigen und
sogar fremdenfeindlichen Proleten vorhanden ist. Das ist nicht wenig und mehr
zu zeigen war mit der Wahrheit nicht vereinbar. Die zeitgenössischen
proletarischen Leser und gewiss auch heutige Leser aus den Kreisen der in
prekären Billigjobs Arbeitenden können in in Owen und Barrington
ihre Kumpel erkennen – keine Apparatschiks. Das fordert ihre Bereitschaft
heraus, klüger und einsichtiger als die „Menschenfreunde“ zu sein, über
deren Argumente zu lachen und sie in Frage zu stellen. Es ist auch zumindestens
strittig ob, wie Ashraf meinte, es den Charakteren wirklich „an individueller
Tiefe und Wärme mangelte“.
Tressells Werk hält seinem Publikum, den kaum organisierten,
wenig gebildeten, in prekären, unsicheren, befristeten Beschäftigungen
tätigen britischen Bauarbeitern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
den Spiegel in einer Weise vor, die es ihnen ermöglichte, sich darin
kritischwiederzufinden. Nicht wenige erkannten durch die Lektüre
dieses Werks, dass sie selbst an der verkehrten Stelle philantropisch waren
und dass wahre Menschenfreundlichkeit den Kampf gegen ein unmenschliches
Gesellschaftssystem erfordere.
Deshalb löst Tressels „burleske und satirische Darstellung
der Verzweiflung des Helden angesichts der Dummheit und des Individualismus
seiner Arbeitskollegen, einer Verzweiflung, die zuzeiten an Verachtung grenzt,
nicht Abneigung, sondern ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit
und des gemeinsamen Interesses aus“ (Ashraf, S.677f.).
Dass Noonan seine sozialistischen Zukunftvorstellungen
in die Schilderung des Arbeiterlebens einbrachte, war seinem ästhetischen
Konzept geschuldet. Es ging ihm um die Gestaltung der von ihm damals als
nicht lösbaren Widerspruch empfundenen Unfähigkeit der Arbeiterklasse,
ihre Klasseninteressen zu erkennen und in diesem Sinne zu handeln. Diesen
Widerspruch hat er so gestaltet, dass sein Adressat, die Arbeiter, ihn nicht
nur passiv wahrnahmen, sondern sogar, in gewiss unterschiedlichem Maße,
für sich zu lösen versuchten. So wie Tom Thomas hat RTP vielen
Arbeiterlesern die Augen geöffnet.
Strukturell gehen sowohl der „großartige Money-Trick“
als auch der „Große Diskurs“ durchaus organisch aus der Erzählung
hervor, stellen also keinen künstlerischen Bruch dar. Der Vortrag ist
für die Zuhörer Unterhaltung. Owen erheitert sie, sie nehmen was
er sagt zwar nicht ernst, spielen aber gerne mit. Auch Barringtons „Predigt“
wird als Rednerleistung gewürdigt, nicht, weil alle Zuhörer mit
dem Inhalt einverstanden wären. Zur Tradition der englischen Arbeiterbewegung
gehören die freie und überzeugende Rede, aber auch die in den Chapels,
den Gotteshäusern derNonconformist (nicht mit der englischen
Staatskirche konformen) Religionsgemeinschaften, etwa der Methodisten, gehaltenen
Predigten. Barrington wird – wie es u.a. im Hyde Park Corner bei den politischen
Reden Tradition ist – von „hecklers“ (Zwischenrufern) bedrängt. Einer
wirft ihm vor „so geschwollen zu reden, als hätte er die Weisheit mit
dem Löffel gefressen“ (Tressell 2001, S.504), aber der Arbeiter Philpot
sorgt dafür, dass die Störungen nicht überhand nehmen. Im
Buch sorgen die Zwischenrufer dafür, dass die Vorträge nicht zu
langweiligen Monologen werden.
Natürlich konnten in einem realistischen Werk die
Sozialisten Owen und Barrington ihren Zuhörern keine anderen Zukunftsvisionen
vorstellen, als die, welche die kleine Minderheit sozialistisch orientierter
Arbeiter damals vertrat. Diese waren geprägt von Robert Owens und gildensozialistischen
Ideen, die ihnen Vorstellungen über eine gerechte Gesellschaft vermittelt
hatten. Von Marx’ „Lohn, Preis, Profit“ und „Lohnarbeit und Kapital“ hatten
sie einiges über das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
übernommen. Wahrscheinlich kannten sie „Das Kommunistische Manifest“
und hatten ihm entnommen, dass die Arbeiter die Klasse seien, die das kapitalistische
System überwinden müsse. Konkrete Vorstellungen, wie die real existierenden
Arbeiter sich organisieren und Wege zur Überwindung der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung finden würden, gab es in der britischen Arbeiterbewegung
allenfalls in rudimentärem Umfang und unter der Masse der Bauarbeiter
waren klare Vorstellungen kaum vorhanden. So musste zwangsläufig die
Darstellung der sozialistischen Zukunft und des Weges dahin vor allem für
diejenigen Kritiker unbefriedigend und lückenhaft bleiben, die „theoretisch
klare Vorstellungen“ einforderten. Selbst die schlichte und anschauliche
theoretische Begründung ihrer Armut, wie Owen sie seinen Kollegen mit
der Darstellung des großen Money-Trick nahe zu bringen versuchte, hat
die meisten von ihnen bereits überfordert. Die sozialistische Vision
Barringtons schien für seine Zuhörer nur noch eine unterhaltsame
Fiktion zu sein, der sie mit ihrem common sense, ihrem Gemeinverstand begegneten.
So entsprechen ihre Einwände den bis heute charakteristischen Argumenten
gegen gesellschaftliche Veränderungen, die den Besitzlosen zugute kommen:
Gewiss hat vor allem die Wahrhaftigkeit, mit der das Arbeiterleben
dargestellt wurde, der völlige Mangel an Schönfärberei bei
der Figurengestaltung und die sarkastische Schilderung der gesellschaftlichen
Zustände den außergewöhnlichen Erfolg des Buches bedingt.
„Die Menschenfreunde“, besonders in der gekürzten Ausgabe, befriedigten
wie selten ein Buch die Erwartungen der proletarischen Leser. Es interessierte
diese weniger, wie eine gerechte Gesellschaft konstruiert sein müsste,
eine solche erwarteten sie jedenfalls nicht zu ihren Lebzeiten. Sie wollten
so wenig Predigten hören wie es die „Menschfreunde in zerlumpten Hosen“
im Buch wollten. Sie wollten nicht belehrt, sondern, wenn sie nach ihrem schweren
Arbeitstag zu einem Buch griffen, unterhalten werden. Sie fanden sich und
ihre Lebensumstände wahrheitsgetreu, ungeschminkt, ohne Pathos und gleichzeitig
höchst unterhaltsam in einer ihnen gewohnten und verständlichen
Sprache dargestellt wieder. Ein Buch, das sie zum Lachen brachte und erschütterte,
unkompliziert zu lesen war, weil es die Geschichte in einfachen, klaren Sätzen
mit einem Wortschatz, über den jeder Bauarbeiter verfügte, erzählte.
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Anmerkungen:


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