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Beiträge zur Theorie  










Hanna Behrend

Enthierarchisierung der Kategorien: Ein feministischer Beitrag zur Diskussion um Klassentheorie und Klassenanalyse

Die Fragestellung

Mit dem der elektronischen Revolution geschuldeten Schrumpfen der Arbeitsplaetze in der nachfordistischen Gesellschaft veraendert sich quantitativ und qualitativ die Struktur der Arbeiterklasse, d.h. der abhaengig beschaeftigten NichtbesitzerInnen von Produktionsmitteln, in der Gesellschaft. Die Gesellschaftsklassen als eine Struktur der menschlichen Gesellschaft blieben jedoch erhalten.

Marx stuetzte sich in seiner Gesellschaftsanalyse auf die bereits vor ihm gemachte Entdeckung der Existenz von Gesellschaftsklassen. Mit der Entwicklung der buergerlichen Gesellschaft, mit dem Aufstieg der industriekapitalistischen Produktionsweise polarisiere sich die gesellschaftliche Struktur: "Die Epoche der Bourgeoisie zeichnet sich ... dadurch aus, dass sie die Klassengegensaetze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei grosse feindliche Lager, in zwei grosse, einander direkt gegenueberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat"1. Dieser Prozess hat jedoch die industriekapitalistische Entwicklung jedoch nicht ueberdauert sondern wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts von einem Differenzierungsprozess innerhalb der Arbeitrklasse abgeloest.

Klassenkaempfe waren fuer Marx und Engels die Hauptursache aller evolutionaeren oder revolutionaeren Veraenderungen der Gesellschaft2. Fuer sie ist "die [schriftlich ueberlieferte]Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ...die Geschichte von Klassenkaempfen"3.

Trifft noch heute zu, dass der Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft der Antagonismus zwischen Kapitalisten und Proletariat ist? Wie weit muss das, was Marx und Engels ueber die Klasse der Proletarier schrieben, was sie als deren Struktur, Wesen und Potenzen als Hoffnungstraeger der Gesellschaft, als Totengraeber des kapitalistischen Systems ansahen, kritisch bedacht, modifiziert oder als ueberholt und nicht mehr zutreffend betrachtet werden? Gibt es Erkenntnisse spaeterer TheoretikerInnen, die unsere eigene Zeit, ob wir diese nun postfordistisch, postmodern oder wie auch immer nennen, ihre gesellschaftliche Spezifik, vor allem ihr Veraenderungspotential und ihre historischen AkteurInnen zutreffender analysieren, als es Marx und Engels vor ueber einem Jahrhundert konnten?

Neben den aelteren und juengeren GesellschaftstheoretikerInnen, die sich der marxistischen Tradition als einer offenen Theorie kritisch verpflichtet fuehlten, entstanden materialistisch-feministische Auffassungen als eine, der Ueberwindung patriarchaler Geschlechterverhaeltnisse verpflichtete Denkrichtung, die entscheidende methodologische und erkenntnistheoretische marxistische Erkenntnisse durchaus wuerdigt und produktiv verarbeitet. Sie steht besonders, aber nicht nur den patriarchalen Zuegen des Marxismus, d.h. seiner Unterschaetzung der gesellschaftspraegenden Funktion der Geschlechterverhaeltnisses in allen schriftlich ueberlieferten Geschichtsperioden, seiner Ueberschaetzung der Warenproduktion und Vernachlaessigung der sogenannten unproduktiven Taetigkeiten im Reproduktionsbereich kritisch gegenueber und untersucht die daraus resultierenden Defizite der marxistischen Theorie. Aus dieser Sicht soll im folgenden Marx' und Engels' Verstaendnis der Klassentheorie und -analyse einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

Die Klassenstruktur der Proletarier aus der Sicht von Marx und Engels

Klasse war fuer Marx eine soziale, gleichzeitig aber auch eine politische Kategorie. Einerseits wird die Klasse der Proletarier im Kommunistischen Manifest ueber ihre sozio- oekonomische Situation definiert: "Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast ueberall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrueckt"4. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass "die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, ...in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutschland [dieselbe ist, sie] hat ihm allen nationalen Charakter abgestreift"5

Mit der Entwicklung der Industrie habe sich das Proletariat vermehrt und national wie international homogenisiert. Aus dessen Status in der Warenproduktion "entwickelten sich ...[die] gemeinsamen Bedingungen zu Klassenbedingungen...Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu fuehren haben; im uebrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenueber".6 Jedoch muss angemerkt werden, dass sie nicht nur individuell als Konkurrenten zu betrachten sind, sondern auch als differente Gruppierungen, der Frauen und Kinder, wie aus dem unten zitierten Artikel Friedrich Engels7 hervorgeht, oder der irischen und englischen Arbeiter. Dieser Klassenkampf einte die individuellen ProletarierInnen somit nur in Bezug auf die aus ihrer Erwerbstaetigkeit herruehrenden geschlechter-, alters- und ethnisch uebergreifenden Konflikte mit den Unternehmern. Diese Einheit werde "jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst".8 Fuer eine solche haelt Marx die Arbeitslosen und Lohndruecker (oft Frauen und Kinder)9.

Marx' Prognose: "In demselben Masse, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital entwickelt, in demselben Masse entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter...sind eine Ware...und daher gleichmaessig allen Wechselfaellen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt. In demselben Masse, in dem die Widerwaertigkeit der Arbeit waechst, nimmt daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Masse nimmt auch die Masse der Arbeit zu, sei es durch Vermehrung der Arbeitsstunden, sei es durch Vermehrung der in einer gegebenen Zeit geforderten Arbeit, beschleunigten Lauf der Maschine usw."10 Das trifft noch heute noch auf die ArbeiterInnen, vor allem im Trikont, aber auch in Europa zu, deren Taetigkeit nicht oder noch nicht den neuen "postfordistischen" Arbeitsbedingungen angepasst ist. Waehrend diese sich Niedrigtarife, ungesicherte Arbeitsplaetze, Abbau ihrer Rechte bzw. Rechtlosigkeit am Arbeitsplatz gefallen lassen muessen, weil nur dann ihre Arbeit das Kapital weltweit vermehrt, wenn sie durch wesentliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen die Konkurrenz mit der elektronisch gesteuerten Maschine bestehen kann, die immer weniger Arbeitsplaetze mit Zukunft, fuer kreative, innovative Arbeiten schafft. So fuehrte die beispiellose Erhoehung der Arbeitsproduktivitaet in der zweiten Haelfte des 20. Jahrhunderts durch elektronisch gesteuerte Produktion, Verwaltung, Vermarktung usw. der Waren keineswegs zur generellen Arbeitszeitverkuerzung; ganz im Gegenteil geht der Trend heute zum Arbeitsplatzabbau bei gleichzeitiger Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen besonders der Niedriglohngruppen, kurz zu den Erscheinungen, die Marx beschreibt. Durch diese Entwicklung homogenisiert sich jedoch die Arbeiterklasse nicht, vielmehr differenziert sie sich weiter.

Der Klassenkampf

Die Arbeiterklasse ist fuer Marx und Engels auch eine politische Kategorie. "Wir haben", schreiben sie in einem Rundbrief an Bebel, Liebknecht und andere vom September 1879, "seit fast vierzig Jahren den Klassenkampf als naechste treibende Macht der Geschichte und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den grossen Hebel der modernen sozialen Umwaelzung hervorgehoben"11.

Der Klassenkampf unter der Herrschaft des Kapitals habe fuer die Masse der Arbeiter "eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenueber dem Kapital, aber noch nicht fuer sich selbst. In dem Kampf... findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse fuer sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf."12 Im Zuge dieses Kampfes organisierten sich die Proletarier in Gewerkschaften und gruendeten eine politische Partei als ihre politische Klassenorganisation. Auf diesem Weg erfolgte die Herausbildung der Klasse an sich zur Klasse fuer sich. Erst die Klasse "fuer sich" koennte sich selbst und damit die gesamte Gesellschaft von den Fesseln der kapitalistischen Produktionsweise und Eigentumsordnung befreien.

Durch den Klassenkampf werden unweigerlich, wie Marx und Engels bereits im Kommunistischen Manifest erklaerten, "die Kollisionen der alten Gesellschaft ...den Entwicklungsgang des Proletariats" foerdern, indem die Bourgeoisie durch ihren nationalen und internationalen Konkurrenzkampf gezwungen sei, die politische Hilfe ihrer potentiellen Totengraeber in Anspruch zu nehmen. Deshalb gewaehre sie den Arbeitern Zugang zu Bildung und dulde das Proletariat als Juniorpartner in ihren politischen Kaempfen. Im dann gesetzmaessig folgenden Aufloesungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse schliesse sich ein Teil dieser Klasse dem Proletariat an. In deren Lebensbedingungen seien die der alten Gesellschaft "schon vernichtet. Der Proletarier ist eigentumslos; sein Verhaeltnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein mit dem buergerlichen Familienverhaeltnis"13. In Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats geht Engels naeher auf die proletarischen Familienverhaeltnisse ein und erklaert: "Wirkliche Regel im Verhaeltnis zur Frau wird die Geschlechtsliebe und kann es nur werden unter den unterdrueckten Klassen, also heutzutag im Proletariat ...Hier sind aber auch alle Grundlagen der klassischen Monogamie beseitigt. Hier fehlt alles Eigentum, zu dessen Bewahrung und Vererbung ja gerade die Monogamie und die Maennerherrschaft geschaffen wurden, und hier fehlt damit auch jeder Antrieb, die Maennerherrschaft geltend zu machen. Noch mehr als auch die Mittel fehlen; das buergerliche Recht, das diese Herrschaft schuetzt, besteht nur fuer die Besitzenden und deren Verkehr mit dem Proletariat; es kostet Geld und hat deshalb armutshalber keine Geltung fuer die Stellung des Arbeiters zu seiner Frau....Und vollends seitdem die grosse Industrie die Frau aus dem Hause auf den Arbeitsmarkt und in die Fabrik versetzt hat und sie oft genug zur Ernaehrerin der Familie macht, ist dem letzten Rest der Maennerherrschaft in der Proletarierwohnung aller Boden entzogen - es sei denn etwa noch ein Stueck der seit Einfuehrung der Monogamie eingerissenen Brutalitaet gegen Frauen"14.

In Die Deutsche Ideologie erklaert Marx, dass "die freilich noch sehr rohe, latente Sklaverei in der Familie das erste Eigentum [ist], das uebrigens hier schon vollkommen der Definition der modernen Oekonomen entspricht, nach der es die Verfuegung ueber fremde Arbeitskraft ist"15, eine wichtige, leider von ihm nicht weiter ausgefuehrte Feststellung. In den o.g. Ausfuehrungen von Engels blieb sie leider unbeachtet und auch Kautsky und Bebel teilten sein Konzept, dem zufolge er aus der Teilhabe der Proletarierfrau an der Warenproduktion ihre patriarchale Unterdrueckung ausschloss. Der Proletarier besitzt aber in seiner Frau, wie Marx sagte, Eigentum, wenn er ihre unbezahlte Hausarbeitskraft in Anspruch nimmt, was in der Regel auch dann der Fall ist, wenn sie erwerbstaetig, ja sogar wenn sie die einzige oder Haupternaehrerin der Familie ist. Die patriarchalischen Rechtsverhaeltnisse gestatteten und gestatten in den meisten Teilen der Welt heute noch auch dem proletarischen Ehemann Zugriff auf das (Arbeits-)Einkommen seiner Frau, machen es Frauen vielfach bis heute finanziell unmoeglich, sich von einem ungeliebten Gatten scheiden zu lassen und beschraenken ihr Recht auf den Nachwuchs und ihre Erbrechte. Auch die damaligen Frauenrechtlerinnen bemuehten sich um rechtliche Gleichstellung der Frau, was Engels fuer einen, nur die buergerliche Frau angehenden Kampf hielt, der von einer revolutionaeren Bewegung nicht zu unterstuetzen sei16.

Historische Prognosen

Im Kommunistischen Manifest heisst es: "Nur die proletarische Bewegung ist die selbstaendige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. ... Der moderne Arbeiter, ...statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevoelkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfaehig ist, noch laenger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfaehig zu herrschen, weil sie unfaehig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernaehren muss, statt von ihm ernaehrt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben".17

Wiewohl diese Prognose sich fuer einen betraechtlichen Teil der Erwerbstaetigen realisiert hat, ist die von Marx und Engels vorausgesehene dauerhafte Homogenitaet des Proletariats nicht eingetreten. Marx' politische Schlussfolgerung lautete: "Mit der bestaendig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwaelzungsprozesses (zur modernen Industrie - HB) usurpieren und monopolisieren, waechst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empoerung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozuesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise...Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schaegt. Die Expropriateurs werden expropriiert."18

Die hier postulierte Zwangslaeufigkeit, mit der sich die individuelle Verarbeitung von Sozialerfahrung aus der Stellung dieser Individuen im Produktionsprozess ableiten lasse, ist auch ein wichtiger feministischer Kritikpunkt an der marxistischen Geschichtstheorie und ihrer deterministischen Komponente.

Seit den 80er Jahren betrachten die meisten feministischen Theoretikerinnen Identitaet als Buendelung sozial erworbener Differenzierungen. Die britische Literaturwissenschaftlerin Catherine Belsey schreibt dazu: "Die gelebte Erfahrung der Individuen kann heute nicht mehr unmittelbar aus ihrer Stellung in den Produktionsverhaeltnissen bestimmt werden. Vielmehr versteht man die individuelle Erfahrung als komplexes Ergebnis einer Anzahl aufeinander wirkender Faktoren, unter ihnen Kultur im weitesten Sinn. Kultur sei ebenfalls ein komplexes Phaenomen und nicht unabhaengig von der Oekonomie, sie sei jedoch nicht einfach deren Ausdruck. Kultur sei verbunden mit dem, was zu einem bestimmten historischen Augenblick denkbar ist und somit eine materielle Praxis. Daraus ergaebe sich, dass nunmehr die Kategorien der Erfahrung, der Bedeutung und der Kommunikation Gegenstaende materialistischer Analyse seien....Feministische Studien haben sich ausfuehrlich mit der Rolle der Sprache bei der Festigung des Patriarchats und der Sicherung der untergeordneten sexuellen und haeuslichen Rolle der Frau beschaeftigt...Das Materielle als das Oekonomische der Bedeutung und der Kultur gegenueber zu privilegieren, bedeutet einfach die konventionelle idealistische Gegenueberstellung zwischen Bewusstsein und der realen Welt umzukehren und damit erneut zu betonen"19.

Zwar besass der Proletarier zu Marx' und Engels' Zeit und besitzt der/die Lohnabhaengige heute in der Regel kein Eigentum an Produktionsmitteln, aber in den westlichen Industrienationen haben heute grosse Teile der Erwerbstaetigen in Perioden der relativen Vollbeschaeftigung Gelegenheit gehabt, sich z.B. ueber ihre Spareinlagen an der Ausbeutung der armen Laender des Trikont zu beteiligen, wodurch auch sie in den Genuss nicht durch Arbeit erworbener Einkuenfte gelangten und in gewissem Umfang am status quo interessiert wurden. Die solidarische Interessengemeinschaft der Proletarier und die aus der gemeinschaftlichen Empoerung der "Sklaven" des Kapitals resultierende Aktionseinheit erwiesen sich eher als die Ausnahme denn die Regel und laeuteten daher keineswegs die Totenglocken fuer das System ein. Waehrend dieses im 20. Jahrhundert mehrere existentielle Krisen durch eigene Anstrengungen ueberwinden konnte, vermochten die Proletarier nicht, ihre Totengraeberrolle zu spielen. Zum einen hinderte sie ihre Konkurrenzposition zueinander daran. Gleichermassen wichtig ist der Umstand, dass die zunehmende Differenzierung der Arbeiterklasse die alte kulturelle Homogenitaet zerstoerte. Ihre Klassenzugehoerigkeit, die zur Zeit, als Marx in England lebte, den Arbeitern und ihren Familien eine gemeinsame Sozialisation und Kultur vermittelte20, auf deren Basis zu Zeiten auch politische Gemeinsamkeiten erwachsen konnten, leistet das zumindest in den entwickelten Industriestaaten nicht mehr. Die Uebereinstimmung von Klasse und Kultur schrumpfte in der postfordistischen Periode. Die Arbeiterklasse weist nur noch Rudimente einer klassenspezifischen Kultur auf. Das umfangreiche plurale Angebot dominanter Diskurse, die die verschiedenen Segmente der Kultur beherrschen, fuehrt dazu, dass die Erwerbstaetigen, aber auch die Arbeits- und Obdachlosen, SozialhilfeempfaengerInnen, AuslaenderInnen, Behinderte usw, ihre eigenen Ausbeutungs- und Lebensbedingungen in der Regel nur im verzerrten spiegel des herrschenden Diskurses wahrnehmen. Ihre gemeinsame Aktivitaet als Angehoerige einer Klasse reduziert sich inzwischen auf die Konservierung moeglichst vieler zuvor errungener und jetzt gefaehrdeter, Lohn- und Arbeitsbedingungen betreffender Rechte und auch das nur noch bei einer Minderheit meist gewerkschaftlich organisierter ArbeiterInnen. Ausserhalb des Betriebes sind sie in anderen kulturellen oder politischen Gemeinschaften, in Vereinen, Parteien, kirchlichen Gemeinden, der Familie u.a. Gemeinschaften eingebunden oder leben als Vereinzelte.

Die einzig revolutionaere Klasse

Marx ging davon aus, dass das Proletariat der Totengraeber des kapitalistischen Systems sein werde: "Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenueberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionaere Klasse. Alle uebrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der grossen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt."21 Heute gehen zwar kleinbaeuerliche und mittelstaendische Betriebe und kleine Geschaeftsleute staendig zugrunde, die katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt fuehrt jedoch global dazu, dass immer wieder erwerbslose Maenner und Frauen das Wagnis unternehmen, sich selbstaendig zu machen. Somit gibt es eine beschleunigte Wanderung von der Klasse der abhaengig Beschaeftigten zur quantitativ keineswegs schrumpfenden Schicht der KleineigentuemerInnen und umgekehrt.

Die Zuversicht hinsichtlich des unvermeidlichen Sieges des Proletariats ueber die Bourgeoisie bezogen Marx und Engels aus dem Umstand, dass ersteres im Unterschied zu "allen frueheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, [und]...ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern [suchten], indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen, die Proletarier sich die gesellschaftlichen Produktivkraefte nur damit erobern koennen, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen. Die Proletarier haben nichts von dem Ihrigen zu sichern, sie haben alle bisherigen Privatsicherheiten und Privatversicherungen zu zerstoeren. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich"22

Nur unter aussergewoehnlichen, ihre Existenz bedrohenden historischen Umstaenden haben sich die Proletarier bisher massenhaft unter die Fuehrung einer revolutionaeren politischen Partei begeben. Bewegungen, die das kapitalistische System von Grund auf veraendern wollten, wurden von ArbeiterInnen und anderen unterdrueckten Schichten nur dann und nur insoweit unterstuetzt, als sie die existentiellen materiellen Interessen dieser Klasse und Schichten vertraten und deren Reformwuensche glaubhaft zu erfuellen versprachen. Nur eine Minderheit derjenigen, die den bestehenden Gesellschaftszustand unertraeglich fanden, war je bereit, "alle bisherigen Privatsicherungen" zu zerstoeren. Ihre Forderungen beschraenkten sich stets auf Brot, Frieden und Spiele, was sie in der, den jeweiligen historischen Moeglichkeiten entsprechenden Weise artikulierten. An weitergehenden gesellschaftlichen Reformen, die notwendigerweise zu materiellen und ideellen Verlusten und ungewissen Gewinnen fuehren wuerden, hatten die Unterdrueckten und Ausgebeuteten kein Interesse. Zu derartigen Veraenderungen des status quo wurden sie nicht durch ihre bisherige Widerspruchsverarbeitungsweise motiviert. Solche Veraenderungen wurden ihnen von einer Minderheit, die zur Macht gelangt war, aufgezwungen.

Von kritischen Marxisten - z.B. von Hartmut Krauss - wird anerkannt, dass "in einer Reihe von Klassikertexten eine Tendenz zur Ueberverallgemeinerung unverkennbar ist, indem die konkret-empirische Gestalt des frueh- bzw. konkurrenzkapitalistischen (Industrie-) Proletariats als Grundlage fuer zukunftsbezogene Extrapolationen und 'Gesetzesaussagen' dient. Im Interesse von 'Proportionalitaetsgleichungen' bleiben a) konkurrenzbedingte Desintegrationsprozesse innerhalb der Arbeiterklasse und b) die Moeglichkeit zukuenftiger Qualitaetsspruenge in der Ausgestaltung des Widerspruchsverhaeltnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital...ausgeblendet bzw. werden als nebenrangig vernachlaessigt".23

Kritisch gesehen wird auch, dass der "unvermittelt und 'mechanisch' - mit Hilfe des Postulats einer 'zwanglaeufigen' Gesetzmaessigkeit - von der objektiven (sozial-oekonomisch determinierten) Lage auf die subjektive Bewusstseins- und Handlungsebene 'kurzgeschlossen' wird."24 Exemplarisch fuer diese Tendenz ist die Aeusserung von Marx, in der er voraussagt: Durch die Lebensbedingungen der Proletarier und "die harte, aber staehlende Schule der Arbeit", die sie durchlaufen muessen, in der "alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefasst sind, weil der Mensch in ihm selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewusstsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschoenigende, absolut gebieterische Not...zur Empoerung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muss das Proletariat sich selbst befreien...Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was er ist und was es diesem Sein gemaess geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen buergerlichen Gesellschaft sinnfaellig, unwiderruflich vorgezeichnet ".25

Wie die Geschichte des zu Ende gehenden Jahrhunderts lehrt, fuehrte die Expropriation der Expropriateure nicht zur Verfuegung der befreiten ProletarierInnen und die uebrigen befreiten Schichten ueber das expropriierte Eigentum, sondern zur Herausbildung einer neuen Schicht, der buerokratischen Nomenklatura, die, ohne Eigentuemer im buergerlichen Sinn zu sein, die Verfuegungsgewalt ueber das Privateigentum an Produktionsmitteln durch Uebernahme (nicht Zerschlagung) des Staates usurpierte. Diese Machtposition erhielt sie sich ueber die durch den Wegfall der Gewaltenteilung ausschliesslich in ihrer Gewalt befindlichen staatlichen Repressionsorgane, aber auch durch die de-facto-Zustimmung der Masse der Bevoelkerung zu ihrer eigenen politischen Entmachtung, die sie durch soziale Reformen und Sicherheit der Arbeits- und Lebensverhaeltnisse auf relativ niedrigem Niveau erkaufte. Diese Zustimmung zu sozialen und materiellen Vorteilen trug jedoch in nur geringem Masse dazu bei, den grundsaetzlichen Dissens zwischen den Massen der Erwerbstaetigen und den Machthabern zeitweise abzubauen. Die Massen fuehlten sich staendig bevormundet und vereinnahmt, weil ihnen die Moeglichkeit der selbstbestimmten persoenlichen Entscheidung unertraeglich beschnitten wurde. Das wiederum fuehrte zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Stagnation und zu wachsendem Verlust an Autoritaet und Glaubwuerdigkeit der politischen Fuehrungskraefte, was zur entscheidenden Ursache des Systemzusammenbruchs wurde. Diese Sozialerfahrung von Millionen Erwerbstaetigen hat die Ueberpruefung nicht nur der oben genannten Defizite der marxistischen Klassenanalyse auf die Tagesordnung gesetzt.

Differenztheorie als Korrektiv der marxistischen Klassentheorie

Zu den feministischen theoretischen Leistungen, die von Belang fuer eine kritische Korrektur und Erweiterung der marxistischen Klassentheorie sein koennten, gehoeren die Differenztheorie und der ganzheitliche Arbeitsbegriff, die Gegenueberstellung von Produktionsweise und Lebensweise.

Dass Wirklichkeitserfahrung je nach sozialen Interessen hoechst kontrovers interpretiert werden kann und an sich keine objektive Wahrheit darstellt, ist eine sehr alte Erkenntnis. Sie fuehrte einerseits zur Leugnung jedweder erkennbarer Bedeutungen der Realitaet, d.h. zu einem vollstaendigem Relativismus. Das Ignorieren der Komplexitaet von Erfahrung hat andererseits, besonders in der juengsten Vergangenheit, reduktionistische Auffassungen legitimiert, aus denen wiederum grundsaetzlich inkompatible Interessengegensaetze - Maenner gegen Frauen; Arbeiter gegen Unternehmer - mit jeweils monolithischen Vertretungsanspruechen abgeleitet wurden. Das Verharren auf binaeren Denkstrukturen (die immer noch richtig und falsch als einzige Bewertungskategorien kennen) fuehrt auch unter Anhaenge linker politischer Stroemungen zur Unbereitschaft, neue Erkenntnisse, speziell der feministischen Theorie unvoreingenommen auf ihre emanzipatorische Qualitaet zu untersuchen. Die plurale Natur der Sprache und die Unmoeglichkeit, eine ewig gueltige eindeutige Interpretation von Wirklichkeit zu finden, ist im theoretischen Gesellschaftsverstaendnis vieler Marxisten Anathema. Dabei ist, nach Meinung der englischen Germanistin Chris Weedon nicht zwangslaeufig daraus ein absoluter und politisch kontraproduktiver Relativismus abzuleiten. Ihrer Meinung nach ist "Jede Interpretation ... bestenfalls zeitweilig gueltig und an den Diskurs gebunden, in dem sie produziert wurde. Sie ist anfechtbar ... , wie die Machtverhaeltnisse ... , zu denen dieser gehoert"26. Die Sprache gestattet es, dass sich Menschen einer Auswahl verschiedener Diskurse bedienen koennen, die unterschiedliche Bedeutungsvarianten fuer die sozialen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf die Individuen anbieten". Subjektivitaet als Prozess verstanden und nicht als konstante, fuer alle Individuen grundsaetzlich analoge konstante Groesse schliesse die gesamte Bandbreite von Befindlichkeiten von Menschen in den verschiedenen Situationen, Beziehungen, Entwicklungsstadien und eine ganze Palette von Reaktionen auf Umwelt, Sozial- und andere Erfahrung ein. Soziale Praegungen, so differenziert sie sein moegen, bedeuteten daher stets auch Anpassung an dominante, subdominante oder widerstaendische Diskurse, die so vielfaeltig und widerspruechlich wie ihre InterpretInnen sein koennen. In diesem Geflecht von subjektiver Motivation und Wahrnehmung herrschender, subdominanter und marginalisierter Diskurse ist das Individuum gleichzeitig Opfer und TaeterIn, passiv und aktiv, alten Normen unterworfen und neue Normen schaffend.

Der schwarzen, zunaechst US-amerikanischen, dann auch britischen Frauenbewegung, die sich stets vor allen als Teil der Bewegung gegen Rassismus verstand und zu keiner Zeit bereit war, die rassistische Unterdrueckung schwarzer Maenner zu leugnen oder zu bagatellisieren, ist der entscheidende Anstoss zu verdanken, aus der theoretischen Debatte um die Differenz praktische Frauenpolitik zu machen. Die Staerke und Unabhaengigkeit dieses Teils der Frauenbewegung beruht auf dem Spannungsverhaeltnis zwischen ihrer Zugehoerigkeit zu den rassistisch Ausgegrenzten und gleichzeitig sexistisch von weissen und schwarzen Maennern Unterdrueckten. Daher entwickelte sich unter schwarzen Feministinnen eine grosse Sensibilitaet fuer unterschiedliche Macht- und Herrschaftsverhaeltnisse. Sie gaben den Anstoss zu theoretischen Ueberlegungen, die auch fuer die marxistische Klassentheorie von Nutzen waeren.

Die Afroamerikanerin Mae Gwendolyn Henderson schlug vor, die Simultanitaet oder Synchronitaet von Diskursen bei der Bewertung gesellschaftlicher Erscheinungen zu beruecksichtigen. Dadurch koennten die Aspekte des Geschlechts und der Rasse, aber auch der Klassenzugehoerigkeit und andere Seiten der Identitaet eines Menschen ermittelt und in Bezug zueinander gesetzt werden .

Hendersons theoretischer Ansatz, die diskursive Pluralitaet eines Textes wahrzunehmen, ging auf Michail Bachtins Entdeckung des polyphonen Charakters des Romans als Form, in der sich die soziale Identitaet des Figurenensembles aeussert, zurueck. Daraus folgerte sie, dass sich das Subjekt als soziale Einheit mittels der Sprache als Vermittlerin von Bewusstsein konstituiert. Bewusstsein wie Sprache wuerden vom gesellschaftlichen Umfeld im Prozess sozialer Beziehungen gepraegt. Henderson interpretiert den Begriff des schoepferischen Dialogs als multiplen Dialog der Differenzen, auf den sich die komplexe Subjektivitaet der Individuen gruendet, in dem dialektische Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Identitaet des Subjekts aufgebaut werden.

Der feministischen Differenztheorie ist die Erkenntnis geschuldet, dass die Befreiung der Frau nur die Befreiung sehr verschiedener Frauen aus sehr unterschiedlichen Zwaengen und Unterdrueckungen sein kann. Sie muss auch die Befreiung von der Vereinnahmung durch Frauen hoeherer sozialer Schichten oder dominanter Ethnien oder Kulturen sein. Schliesslich wird die Frauenbewegung nur dann erfolgreich sein, wenn in ihrem Gefolge auch der Mann von den Fesseln der industriellen Leistungsgesellschaft befreit wird, die ihn zur Ausbeutung der Frau und zum Verzicht auf gleichberechtigten Anteil an der Betreuung seines Nachwuchses zwingt. Die marxistische Klassentheorie kann ihren emanzipatorischen Anspruch nur erfuellen, wenn sie den Klassenbegriff durch Beruecksichtigung der Differenztheorie anreichert.

Das "homogene Proletariat" und die politische Realitaet

Die von Marx und Engels diskutierten Differenzierungen innerhalb der Klasse der abhaengig Beschaeftigten reduzierten sich auf die Arbeiteraristokratie und das Lumpenproletariat. Letzteres wird bei Marx bereits im Kommunistischen Manifest ueber seine politische Rolle definiert. Als "passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft" koenne es durch die proletarische Revolution in die Arbeiterbewegung hineingeschleudert werden, aber in der Regel wuerde es "zu reaktionaeren Umtrieben erkauft".27 Die "Arbeiteraristokratie" dagegen ist eine ausschliesslich aus der Arbeiterklasse rekrutierte Schicht, die Marx und Engels durchwegs negativ bewerten. Sie werfen, vor allem in den 1870er und '80er Jahren, den arbeiteraristokratischen Fuehrungskadern der Arbeiterbewegung vor, sich von den radikalbuergerlichen oder liberalen Politikern korrumpieren zu lassen. Engels prangert bereits am 5.2.1851 in einem Brief an Marx die reformistische Rolle von Arbeiterfunktionaeren an, die sich durch das Angebot freier, durch Lokalsteuern finanzierter Schulbildung, Bibliotheken und Museen fuer die Interessen der Freihaendler einspannen lassen28 . Auch des Chartistenfuehrers Ernest Jones' Flirt mit den buergerlichen Radikalen ruegt Engels in einem Brief an Marx vom 7. Oktober 1858: "[Jones] hat hier ein Meeting gehalten und ganz im Sinne der neuen Allianz gesprochen...Mir scheint uebrigens Jones' new move [neue Wendung]...in der Tat damit zusammenzuhaengen, dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbuergert, so dass diese buergerlichste aller Nationen es schliesslich dazu bringen zu wollen scheint, eine buergerliche Aristokratie und ein buergerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen." Das verbuergerlichte Proletariat sei eine Folge der Ausbeutung der ganzen Welt durch das englische Kapital.29 Die "Entdeckung neuer Goldlande" wird von Marx in der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation als Ursache eines "ungeheuren Exodus [bezeichnet], der unersetzliche Luecken in den Reihen des britischen Proletariats hinter sich liess. Andre seiner frueher taetigen Glieder [wurden] durch den Koeder groesserer Beschaeftigung und augenblicklicher Lohnerhoehung bestochen..."30.

Ebenfalls als Bestechungsversuche sieht Engels in seiner Arbeit Ueber die Knappschaftsvereine der Bergarbeiter Sachsens31 die Beitraege der Kapitalisten zur Knappschaftskasse an. Die neu gegruendeten Wohnungsbaugenossenschaften, deren Mitglieder "Kraemer, Kommis, Handlungsreisende, Kleinmeister und andres Kleinbuergertum - hie und da auch ein Maschinenbauer oder sonstiger zur Aristokratie seiner Klasse gehoeriger Arbeiter" waren, wuerden nur im Ausnahmefall Arbeitern zu einem eigenen Heim verhelfen und die bessergestellten korrumpieren.32 Marx und Engels befuerchteten nicht ohne Grund, dass die auf dem Hoehepunkt industriekapitalistischen Aufschwungs zu beobachtende Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im allgemeinen und deren wachsende Differenzierung zur Entsolidarisierung der Proletarier und zur Korrumpierung ihrer Fuehrer fuehren wuerden. Um das zu verhindern, muessten politische Parteien gegruendet werden, deren Hauptaufgabe zunaechst die intensive Aufklaerung der Proletarier im Sinne der marxistischen Gesellschaftstheorie sein sollte.

Engels beklagte 1874 die politischen Folgen der Vertretung der Arbeiter im Parlament durch den "aeussersten linken Fluegel der 'grossen liberalen Partei'", der sie "bei jeder Wahl geprellt" habe. Seit der Reformbill waren die Arbeiter potentielle Waehler, weshalb ihre Sprecher, die "Vorsitzende und Sekretaere der Trade-Unions und politischen Arbeitervereine, sowie sonstige Arbeiterfuehrer" vom Establishment hofiert wurden. Engels kritisierte die versaeumte Bildung eine Arbeiterpartei und hielt die Wahlassekuranzgesellschaft, die Labour Representation League, fuer einen unzulaenglichen Ersatz, der nur im Interesse "der radikalen Bourgeois" sei33.

Die Facharbeiter stellten eine Macht dar, der " die Konkurrenz weder der Weiber- oder Kinderarbeit, noch der Maschinerie bisher imstande gewesen [ist], ihre organisierte Staerke zu brechen. ...Sie haben es fertiggebracht, sich eine verhaeltnismaessig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgueltig. Sie..sind in der Tat sehr nette traktable Leute fuer jeden verstaendigen Kapitalisten im besonderen und fuer die Kapitalistenklasse im allgemeinen."34

Noch haerter als Engels mit den Facharbeitern geht Marx 1878 mit den Gewerkschaftsfuehrern ins Gericht. Ueber das, was Arbeitervertreter im Parlament leisteten, war er hoechst unzufrieden. Die Fuehrung der englischen Arbeiterklasse sei "ganz in die Haende der verkaeuflichen Trades-Unions-Fuehrer und Agitatoren von Handwerk" uebergegangen. Die Politik der ins Parlament delegierten Gewerkschaftsfunktionaere sei der von Arbeiter- und speziell Bergarbeitervertretern unwuerdig. Sie stimmten fuer die prozaristische Politik der Liberalen und des englischen Premiers Gladstone, waehrend sie fuer die der Massenarbeitslosigkeit und dem Hunger preisgegebenen walisischen Bergarbeiter keinen Finger krumm machten35.

Diese politischen Erfahrungen wurden von Marx und Engels nicht [mehr] wissenschaftlich analysiert. Ihre Kommentare dazu beschraenkten sich auf die Hoffnung, proletarisches Klassenbewusstsein durch Aufklaerung, mittels marxistischer Bildungsarbeit zu erzeugen. Engels versprach sich proletarische Einsichten durch "ein paar [wirtschaftlich] grundschlechte Jahre"36 oder durch brutale staatliche Interventionen gegen die Arbeiter. "Die letzten sozialistischen Wahlsiege in Deutschland beweisen, dass die sozialistische Bewegung nicht abgewuergt werden kann, indem man ihr den Mund knebelt... Vielmehr wird das Sozialistengesetz fuer uns ein ausgezeichnetes Ergebnis haben. Es wird die revolutionaere Erziehung der deutschen Arbeiter vollenden. ... Niemand habe "der sozialistischen Bewegung in Deutschland solche Dienste geleistet wie er [Bismarck]"37.

Aber nicht einmal die Krisenjahre in den 1920ern, die Weltwirtschaftskrise 1929/30, oder die brutale politische Unterdrueckung der Arbeiterbewegung in der Nazizeit haben ihre Erwartungen erfuellt, dass wirtschaftliche Rezession und politische Unterdrueckung einerseits oder weltanschauliche Aufklaerung andererseits allein ausreiche, um massenhaft revolutionaeres Bewusstsein zu erzeugen und so zur revolutionaeren Erziehung der Arbeiter zu fuehren. Nur eine Minderheit deutscher ArbeiterInnen hat revolutionaere Schlussfolgerungen aus ihren politischen Erfahrungen gezogen. Das Desinteresse der marxistischen Theoretiker an soziologischen und psychologischen Erkenntnissen bzw. deren Tabuisierung in der Stalin-Aera, die bis in die heutige Zeit fortwirken, verhinderte Untersuchungen und Analysen ueber die Art und Weise, wie Individuen gesellschaftliche Widersprueche verarbeiten und fuehrte dazu, dass es keine subjekttheoretischen Vorstellungen gibt, die ausgereift genug sind, um zu einer Strategie der Gesellschaftveraenderung beizutragen, die sich von den bisher bestehenden hierarchischen, universalisierenden und damit einzelne soziale Gruppen und ihre Interessen privilegierenden wirklich abheben.

In Theorien ueber den Mehrwert, Ricardos Profittheorie 38 stellt Marx die Auffassungen Rousseaus denen von Malthus gegenueber. Marx identifiziert sich mit der Aeusserung des ersteren, dass "Je mehr sich das Monopol ausdehnt, desto schwerer ...die Kette fuer die Ausgebeuteten [werde]" und verspottet "den 'tiefen Denker' Malthus", weil dieser hoffte, "dass die Masse der classe moyenne waechst und das Proletariat (das arbeitende) einen immer verhaeltnismaessig kleineren Teil der Gesamtpopulation bildet" 39. Malthus leitet dieses Schrumpfen der Arbeiterklasse seinerseits aus der Entwicklung der Technik ab. Geradezu prophetisch erklaert er, dass zwar "'dann auch der einzelne Arbeiter nicht von einem Teil der schweren Buerde entlastet werden sollte, ...so wuerde sich doch die Zahl derjenigen vermindern lassen, denen die Gesellschaft eine so schwere Last auferlegt'40". Marx dagegen sah die Mittelklasse nur als unproduktive Parasiten an41. Da er die tiefen Strukturveraenderungen nicht voraussah, die sich innerhalb der Klasse der abhaengig Beschaeftigten infolge der elektronischen Revolution vollziehen wuerden, verspottete er folgerichtig Malthus als jemanden, der "die Notwendigkeit und Nuetzlichkeit 'unproduktiver Arbeiter' und blosser Parasiten verteidigen" wuerde42. Hieraus erhellt, dass die Arbeiterklasse fuer Marx auschliesslich die in der materiellen Warenproduktion taetigen Erwerbstaetigen waren. Diese Reduktion der potentiellen historischen AkteurInnen auf die Arbeiter in der materiellen Produktion ist eine entscheidene Schwaeche des theoretischen Werks von Marx 43.

Die Arbeiterklasse erhielt staendig neuen Zuwachs aus teilweise zugrundegehenden kleinbuergerlich-kleinbaeuerlichen und buergerlichen Schichten. Arbeiter stiegen andererseits in die Mittelschichten auf. Sie war (und ist) deshalb zu keiner Zeit eine homogene Klasse von Ausgebeuteten.

Die marxistischen Theoretiker hielten den Interessengegensatz zwischen den (ebenfalls als homogene Klasse betrachteten) Kapitalisten und der Arbeiterklasse fuer den gesellschaftlichen Hauptwiderspruch, von dem sich alle anderen Gegensaetze ableiteten, denen sie somit untergeordnete Bedeutung zumassen. Damit wurde aber ein Klassenbegriff universalisiert, der nur ein Herrschaftsverhaeltnis bezeichnet (wenngleich ein ausserordentlich wichtiges), nicht aber alle Herrschaftsverhaeltnisse, in denen sich die konkreten Individuen dieser eben nur in einer Hinsicht homogenen sozialen Gruppe befinden. Selbst wenn man die anderen ausgebeuteten sozialen Schichten und ihre Interessen vernachlaessigt, besteht die Arbeiterklasse als reale soziale Gruppe aus Maennern und Frauen, aus Menschen der verschiedensten Altersgruppen, Religions-, ethnischer, regionaler und nationaler Zugehoerigkeit, verschiedenster Schul- und Berufsausbildung, technischer Faehigkeiten, sowie von unterschiedlichem Wohlstand und gesellschaftlichen Status die eine unuebersehbar grosse Anzahl verschiedenster Taetigkeiten ganztaegig oder teilzeitlich ausueben; die Klasse umfasst also Gruppierungen, deren Interessen zwar in Bezug auf die Klasse der Kapitalisten relativ einheitlich, in jeder anderen Hinsicht aber unterschiedlich, in mancherlei Hinsicht sogar gegensaetzlich sind. So befinden sich alle Erwerbstaetigen in einem Ausbeutungsverhaeltnis gegenueber den Produktionsmittelbesitzern bzw. deren buerokratischen Repraesentanten. Gleichzeitig befinden sich die Arbeiterinnen in einer benachteiligten Position den maennlichen Arbeitern gegenueber und tuerkische oder aus anderen Laendern stammende Arbeiterinnen in einer solchen sowohl den deutschen UnternehmerInnen, den deutschen ArbeiterInnen und ihren tuerkischen oder aus anderen Laendern stammenden Kollegen gegenueber, womit keineswegs alle Interessengegensaetze benannt sind, die sich nicht ausschliesslich auf die Konkurrenzsituation reduzieren lassen. Auch in dieser Situation stehen sich die Erwerbstaetigen keineswegs gleichberechtigt gegenueber. Diese unterschiedlichen bzw. gegensaetzlichen Interessen wurden von Anfang an als untergeordnet betrachtet. Damit eignete dem marxistischen Klassenbegriff ein vereinnahmender Universalismus.

Darueber hinaus existieren Machtverhaeltnisse auch dort, wo es sich nicht oder nur periphaer um Ausbeutung handelt. Aus einem Machtgefaelle resultierende Abhaengigkeit charakterisisert das Verhaeltnis von Eltern und den von ihnen versorgten Kindern, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, ProfessorInnen und StudentInnen/AssistentInnen; zwischen AerztInnen und PatientInnen, StaatsanwaeltInnen und RichterInnen einerseits und Beklagten bzw. Angeklagten andererseits; zwischen Genossenschaftsbauern und -baeuerinnen und den von ihnen gewaehlten Vorstaenden, zwischen baeuerlichen Familienbetrieben/landwirtschaftlichen Genossenschaften und den Banken, Handelseinrichtungen, der regionalen und staatlichen Buerokratie; zwischen einzelnen Staaten und Staatenverbaenden/ueberstaatlichen Einrichtungen usw. Solche Abhaenigkeitsverhaeltnisse enthalten stets auch Unterdrueckungspotentiale und koennen daher einerseits Anpassung, andererseits Subversivitaet, Empoerung, Rebellionen ausloesen, die dazu beitragen, gesellschaftliche Veraenderungen zu erzwingen.

Kritik des marxistischen Primats der Produktionsweise

Die Grundfrage menschlicher Reproduktion aus der Sicht des Feminismus ist, wie Arbeit ganzheitlich auf den Menschen bezogen werden kann, wie alle zur Reproduktion menschlichen Lebens erforderlichen Taetigkeiten gleichberechtigt unter Maennern und Frauen verteilt werden koennen.. Ein Arbeitsbegriff, der sich auf die Wirtschaftlichkeit ausschliesslich der Warenproduktion beschraenkt und die zur Reproduktion des menschlichen Lebens erforderlichen unproduktiven, weil nicht rationalisierbaren und damit den Kapitalisten wachsenden Profit sichernden Taetigkeiten ausschliesst, kann die Befreiung weder die Frau noch der Menschheit auf Dauer sichern und moeglicherweise die Existenz der Gattung infragestellen

Ein produktiver Begriff von Wirtschaftlichkeit duerfte nicht nur, wie von Oekologen zurecht betont wird, die Kosten der Wiederherstellung der Natur, die durch den Produktionsprozess zerstoert wurde, einbeziehen. Er muesste auch die Gesamtheit der Reproduktionskosten der menschlichen Gattung enthalten: die Kosten also der Versorgung der noch nicht oder nicht mehr im Produktionsprozess (im weitesten Sinn) Stehenden. Zu einem gewissen Teil geschieht dies bereits in Abhaengigkeit von politischen Konstellationen. Aber es wird von der Gesamtheit der Steuerzahler als ein Teil staatlicher Leistungen finanziert und nicht den Kosten der Warenproduktion zugeschlagen. Auf dem Feld der Kinder-, Kranken- und Altenfuersorge kann, anders als bei der Produktion von Lebensmitteln, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nicht verringert, sondern im Gegenteil nur erweitert werden, wenn die Lebensqualitaet steigen soll. Frigga Haug wies verdienstvoll darauf hin, dass die Frage, "ob es richtig war, die Befreiung der Frauen und damit der Menschen an die Arbeit zu binden", zu verneinen sei, wenn "unter Arbeit ausschliesslich Erwerbsarbeit" gefasst werde . Aber auch Frigga Haug ersetzte diesen Arbeitsbegriff durch den der selbstbestimmten gesellschaftlichen Taetigkeit, wodurch sie ihn entoekonomisierte. Es gehe vielmehr um das Zusammenfuehren gleichberechtigter Teile menschlicher Reproduktionstaetigkeit, die wie Frigga Haug betonte, unterschiedlichen Zeitoekonomien unterliegen 44. Nur ein solcher Arbeitsbegriff koenne es Maennern und Frauen gleichermassen ermoeglichen und beide Geschlechter gleichermassen verpflichten, in ihrer Lebensarbeitszeit auch Kinder grosszuziehen und Alte zu betreuen sowie Sanierungsarbeiten an der Natur zu leisten, um diese unbeschaedigt an zukuenftige Generationen weiterzugeben.

Dies wird natuerlich so lange eine Utopie bleiben, bis es fuer die Durchsetzung solcher Vorstellungen ein historisches Subjekt gibt. Dieses Subjekt kann sich allerdings nicht auf den Teil der Menschheit beschraenken, der in der Warenproduktion erwerbstaetig ist und in seiner/ihrer Eigenschaft als kapitalistisch Ausgebeutete/r an einer solchen Veraenderung kein Interesse hat. Da die Erwerbstaetigen aber auch Eltern, Jugendliche, zukuenftige RentnerInnen, NaturfreundInnen und potentiell durch oekologische Schaeden von Allergien und Krebs Bedrohte sind, sind diese Individuen aus anderen als durch ihre Erwerbstaetigkeit begruendeten Interessen Betroffene und an veraenderungen Motivierte.

Anneliese Braun hat die Beziehung zwischen patriarchalischen und kapitalistischen Verhaeltnissen thematisiert und beide als Verursacher der globalen Krisen bezeichnet. "In einer Gesellschaft, welche die Produktion der Lebensmittel dem Profitprinzip bzw. dem Mehrprodukt untergeordnet hat, sind patriarchalische Verhaeltnisse unvermeidlich, um die Reproduktion des unmittelbaren Lebens, die Geburt und Erziehung des Nachwuchses zu gewaehrleisten45. Sie sind eine Voraussetzung, damit profitorientierte Ware-Geld- Beziehungen sich ohne Ruecksicht auf Lebensansprueche und Naturbedingungen immer weiter ausbreiten und die Existenz von Leben auf der Erde in Gefahr bringen koennen.

Patriarchalische Verhaeltnisse disziplinieren nach wie vor die Mehrheit von Frauen auf der Erde...Patriarchalische Verhaeltnisse halten auch Maenner gefangen in ihrer einseitigen Zentriertheit auf Lohnarbeit. Wuerden sich Maenner gleichberechtigt an der Reproduktionsarbeit in der Familie beteiligen wollen und koennen, dann haetten sie einen unmittelbaren Einblick in soziale und natuerliche Gefaehrdungen, welche das Kapital mit sich bringt und welche sie derzeit wegen ihrer fast ausschliesslichen Eingebundenheit in ihre Erwerbsarbeit in der Regel nicht sehen. Nicht wenige von ihnen sind mehr oder weniger 'sozial debil', weil sie von den Folgen ihrer Arbeit fast abgeschottet leben... Patriarchalische und Kapitalverhaeltnisse kumulieren mit ihrem Zusammenwirken die Antagonismen zwischen den Lebensanspruechen einer wachsenden Bevoelkerung und der Produktion von Lebensmitteln. In 'Zusammenbruchsoekonomien'46 osteuropaeischer ehemals 'staatssozialistischer' Laender und im Trikont werden derzeit auf weite Strecken kaum Lebensmittel produziert, weil weder Profitwirtschaft lohnend ist noch eine freie selbstbestimmte Entwicklung den Produzenten moeglich erscheint...Nicht zuletzt sind es patriarchalische Verhaltensweisen, welche Maenner veranlassen, zu tradierten Formen des Krieges, des Raubes, des Marodierens, der Kriminalitaet zu greifen und Frauen fuer sich arbeiten zu lassen. ...Patriarchalische Verhaeltnisse sind persoenliche Abhaengigkeitsverhaeltnisse (der Frauen von Maennern und von ihnen geschaffener Institutionen), welche hinwiederum auf dinglichen Abhaengigkeitsverhaeltnissen (von Warenbesitzern und -produzenten) beruhen... Ueberwindung dieser dualen Abhaengigkeitsverhaeltnisse gehoert deshalb zu den Voraussetzungen, um beide Bereiche wieder unmittelbar miteinander zu verbinden, ihre direkte Interdependenz wieder herzustellen und damit die Produktion von Lebensmitteln der Reproduktion des unmittelbaren Lebens unterzuordnen. Das wuerde bedeuten, dass die Lebensweise und nicht allein die Produktionsweise bestimmend wird fuer die menschliche Geschichte, dass sich veraenderte Bewertungen und damit andere Strukturen fuer die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamt arbeit herausbilden und damit geschlechtshierarchische Arbeitsteilung verschwindet"47.

Enthierarchisierung des Hauptwiderspruchs

Das Geschlechterverhaeltnis ist der Gradmesser der Vermenschlichung des Menschen oder, wie Marx schrieb: " Das unmittelbare, natuerliche, notwendige Verhaeltnis des Menschen zum Menschen [also das gesellschaftliche Grundverhaeltnis-HB] ist das Verhaeltnis des Mannes zum Weibe. In diesem natuerlichen Gattungsverhaeltnis ist das Verhaeltnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhaeltnis zum Menschen, wie das Verhaeltnis zum Menschen unmittelbar sein Verhaeltnis zur Natur, seine eigene natuerliche Bestimmung ist. In diesem Verhaeltnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, in wie weit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. Aus diesem Verhaeltnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen...In diesem Verhaeltnis zeigt sich auch, in wie weit das natuerlichste Verhalten des Menschen menschlich oder wie weit das menschliche Wesen ihm zum natuerlichen Wesen geworden ist. In diesem Verhaeltnis zeigt sich auch, in wie weit also der andere Mensch als Mensch zum Beduerfnis geworden ist, in wie weit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwesen ist"48. Auch aus marxistischer Sicht kann menschliche Emanzipation somit nicht ohne Beruecksichtigung des Geschlechterverhaeltnisses konzipiert werden.

Klasse, Geschlecht, ethnische Zugehoerigkeit sind nur drei der gesellschaftlichen Differenzen, die die Individualitaet des menschlichen Subjekts praegen. Ihre jeweilige Bedeutung fuer das Subjekt ist von Zeit und Raum, von der Dialektik der jeweiligen Beziehungen dieser Differenzen zueinander fuer das Subjekt und von seiner konkreten aktuellen Situation abhaengig. Die klassische marxistische Hierarchisierung dieser Begriffe, d.h. die Subsumierung aller Differenzen unter den "Hauptwiderspruch Klasse" ist obsolet, weil die historische Praxis ihrre Unbrauchbarkeit demonstriert hat. Klasse ist zwar wie Lenin schrieb ein in sich widerspruechlicher, veraenderlicher Prozess, der sich aus der Stellung der Individuen "in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen [Waren- HB]Produktion nach ihrem Verhaeltnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Groesse des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, ueber den sie verfuegen"49 herleitet. Klassenzugehoerigkeit kann aber nur in Verbindung mit soziokultureller Praegung, den intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Erfahrungen des Individuums von gesellschaftlicher Praxis, in dialektischer Verschraenkung mit seinen anderen Praegungen, speziell der Geschlechts- und ethnischen, aber auch der Zugehoerigkeit zu einer Generation, Nation, Religion, in Abhaengigkeit vom Bildungsgrad die jeweiligen Subjekte zu produktiver Verarbeitung gesellschaftlicher Widersprueche veranlassen. Dies und nicht ein aus der Zugehoerigkeit zu einem homogen konzipierten Klassenbegriff und aus dem gesellschaftlichen Antagonismus zwischen Produktionsmittelbesitzern und von ihnen auf der Grundlage der Mehrwertproduktion des Arbeiters Ausgebeuteten abgeleiteter reduktiver Klassenkampfbegriff ist die Voraussetzung, das Subjekt fuer die Teilhabe an progressiven gesellschaftlichen Veraenderungen zu motivieren.

© Hanna Behrend




1 Marx/Engels, Kommunistisches Manufest, "Ausgewaehlte
Schriften in zwei Baenden", Bd.I, Berlin (Ost)1957, 24
2 "Die [geschriebene] Geschichte aller bisherigen Gesellschaft
ist die Geschichte von Klassenkaempfen. Freier und Sklave,
Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbuerger und
Gesell, kurz Unterdruecker und Unterdrueckte, standen in stetem
Gegensatz zueinander, fuehrten einen ununterbrochenen, bald
versteckten, bald offenen Kampf, der jedesmal mit der
revolutionaeren Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete
oder mit dem gemeinsamen Untergang der kaempfenden Klassen."
Marx/Engels, Das Kommunistische Manifest, 23f
3 Marx/Engels, Das Kommunistische Manifest, 23
4 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest , 31
5 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 33
6 Deutsche Ideologie, M/E,Werke, III, 53f
7 Siehe FN 36
8 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 32
9 "Von 100 Arbeitern von gleicher Geschicklichkeit, bestimmen
den Arbeitslohn nicht die 950 beschaeftigten, sondern die 50
unbeschaeftigten...Die Arbeiter machen sich Konkurrenz nicht
nur, indem einer sich wohlfeiler anbietet als der andre,
sondern indem einer fuer zwei arbeitet.In M/E,Werke, VI, 542.
10 Marx/Engels, Das Kommunistische Manifest, 29f
11 M/E,Werke, 19, 158-166
12 Das Elend der Philosophie, M/E, Werke, IV, 181
13 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 33
14 Marx/Engels, Ausgewaehlte Schriften in 2 Baenden, Bd.II,
Ursprung der Familie, 214
15 Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie, Berlin 1953, 29
16 Marx/Engels, Ursprung der Familie, 214-216. Diese Auffassungen wurden weder von Eleanor Marx und ihrem Mann, noch von Clara Zetkin geteilt. Die sozialistische Feministin Gertrud Guillaume-Schack kollidierte ebenfalls mit Engels mit ihrer Meinung. Vgl. Hanna Behrend, Emanzipatorische Leistungen und Defizite marxistischer und feministischer theoretischer Positionen, in H. Behrend, Hg. "Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft", Bd.I, Berlin 1995, 40-44
17 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 34
18 Das Kapital, Bd.I, Dietz Berlin 1947, 803
19 Catherine Belsey in einem unveroeffentlichtem Vortragsmanuskriptmanuskript aus dem Jahre 1989
20 Joanna Bourke, Working-Class Cultures in Britain 1890-1950. Gender, Class and Ethnicity, London, New York 1994, ist der Auffassung, dass es diese Arbeiterkultur geschlechter- und ethnizitaetsuebergreifend bis 1950 gibt, dass sie aber politische Uebereinstimmung keineswegs umfasst.
21 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 33
22 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest,34f
23 Hartmut Krauss, Wiederkehr der Proletaritaet oder Neustrukturierung sozialer Ungleichheit? In "Hintergrund" I/94, 39; auch enthalten in Hartmut Krauss, Das umkaempfte Subjekt. Widerspruchsstrukturen in der Gesellschaft und ihre Verarbeitung, In Bd.2 Hanna Behrend (Hg), "Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft", Berlin 1995
24 Hartmut Krauss, Proletaritaet, 40
25 Die Heilige Familie, M/E,Werke, II, 138
26 Chris Weedon, Feminist Practice and Poststructuralist Theory, London 1987 [Feministische Praxis und poststrukturalistische Theorie, 1989], 86
27 Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 33. In Die Klassenkaempfe in Frankreich 1848 bis 1850, Marx/Engels, 126, bezeichnet er die Finanzaristokratie als "die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Hoehen der buergerlichen Gesellschaft". Von der franzoesischen Mobilgarde heisst es, sie rekrutiere sich aus dem Lumpenproletariat, "das in allen grossen Staedten eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse bildet" (ebenda, 138).
28 Engels an Marx, 5. Februar 1851, M/E,Werke, 27, 180
29 M/E,Werke, 29, 358
30 Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, 21. und 27. Oktober 1864, M/E, Werke, 16, 10
31 Engels, Ueber die Knappschaftsvereine der Bergarbeiter Sachsens, , 17. und 21. Februar 1869, M/E,Werke, 16, 347
32 Engels, Zur Wohnungsfrage, M/E,Werke, 18. In der gleichen Schrift heisst es auch ueber die Lage in Deutschland: "Endlich aber ist der Bourgeois- und kleinbuergerliche Sozialismus in Deutschland bis auf diese Stunde stark vertreten. Und zwar einerseits durch Kathedersozialisten und Menschenfreunde aller Art, bei denen der Wunsch, die Arbeiter in Eigentuemer ihrer Wohnung zu verwandeln, noch immer eine grosse Rolle spielt... Andererseits aber in der sozialdemokratischen Partei selbst, bis in die Reichstagsfraktion hinein, findet ein gewisser kleinbuergerlicher Sozialismus seine Vertretung.", ebenda, 328f.
33 Engels, Die englischen Wahlen, in "Der Volksstaat", Nr.26, vom 4.Maerz 1874, M/E,Werke, 18, 496f
34 Engels, England 1845 und 1885, Marx/Engels,Werke 21, 194-197
35 Marx an Liebknecht, 11.2.1878, in Marx/Engels, Briefe, Moskau-Leningrad 1933, 498
36 "Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das [das verbuergerlichte Proletariat] allerdings gerechtfertigt. Hier koennen nur ein paar grundschlechte Jahre helfen, aber diese scheinen seit den Goldentdeckungen so leicht nicht mehr herzustellen." Engels an Marx, 7.10.1858, M/W,Werke,29, 358.
37 Engels, [Das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten in Deutschland - Die Lage in Russland], in "La Plebe", Nr.12,
30.3.1879, M/E,Werke, 19, 148f
38 M/E,Werke XXVI ,2, 469
39 Theorien ueber den Mehrwert, T.R. Malthus, M/E,Werke, 26,3, 57f
40 T.R. Malthus, Essai sur la Population, Genf 1836, S.113 in M/E,Werke 26,3,57-58
41 "Der grossen Masse sog. 'hoeherer' Arbeiter - wie der Staatsbeamten, Militaers, Virtuosen, Aerzte, Pfaffen, Richter, Advokaten usw.-, die zum Teil nicht nur nicht produktiv sind, sondern wesentlich destruktiv, aber sehr grossen Teil des 'materiellen' Reichtums teils durch Verkauf ihrer 'immateriellen' Waren, teils durch gewaltsame Aufdraengung derselben sich anzueignen wissen, war es keineswegs angenehm, ...bloss als Mitkonsumenten, Parasiten der eigentlichen Produzenten... zu erscheinen." (Theorien ueber den Mehrwert, M/E,Werke 26,1, 145f )
42 M/E,Werke, 26,1,145f
43 Marx und Engels haben allerdings die Moeglichkeit, sich korrigieren zu muessen, wenn die Entwicklung ihre Thesen reformbedueftig macht, bereits im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1872 eingeraeumt. Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, 16
44 Frigga Haug, Oekonomie der Zeit, darin loest sich schliesslich alle Oekonomie auf, in: "Das Argument" 184, Nov/Dez 1990, 889
45 zitiert sie U.Beer 1990, Geschlecht, Struktur, Geschichte, New York
46 R. Kurz ,1991, Der Kollaps der Modernisierung, Frankfurt/M
47 Anneliese Braun, Emanzipation im Kontext patriarchalischer und Kapitalverhaeltnisse, in H. Behrend (Hg) "Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft", Bd.1, Berlin 1995, 105f
48 Marx, Oekonomisch-philosophische Manuskripte, 1844, Leipzig 1970, 183
49 W.I. Lenin Die grosse Initiative, 1919, Ausgewaehlte Schriften, Muenchen 1963, 956












 

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